lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2008
33130-131
lendemains 130/ 131 33. Jahrgang 2008 130/ 131 Gunter Narr Verlag Tübingen Frankreichbild im Wandel Arrêt sur images : la bande dessinée II Mai ’68 Briefwechsel zwischen Rita Schober, Victor Klemperer und Werner Krauss 086308 Lendemains 130/ 131 15.08.2008 14: 26 Uhr Seite 1 Etudes comparées sur la France / Vergleichende Frankreichforschung Ökonomie . Politik . Geschichte . Kultur . Literatur . Medien . Sprache 1975 gegründet von Evelyne Sinnassamy und Michael Nerlich Herausgegeben von / édité par Wolfgang Asholt, Hans Manfred Bock, Alain Montandon, Michael Nerlich, Margarete Zimmermann. Wissenschaftlicher Beirat / comité scientifique: Réda Bensmaïa . Tom Conley . Michael Erbe . Gunter Gebauer . Wlad Godzich . Gerhard Goebel . Roland Höhne . Alain Lance . Jean-Louis Leutrat . Manfred Naumann . Marc Quaghebeur . Evelyne Sinnassamy . Jenaro Talens . Joachim Umlauf . Pierre Vaisse . Michel Vovelle . Harald Weinrich . Friedrich Wolfzettel L’esperance de l’endemain Ce sont mes festes. Rutebeuf Redaktion/ Rédaction: François Beilecke, Corine Defrance, Andrea Grewe, Wolfgang Klein, Katja Marmetschke Sekretariat/ Secrétariat: Nathalie Crombée Umschlaggestaltung/ Maquette couverture: Redaktion/ Rédaction Titelbild: Kartenlesendes Mädchen am Arc de Triomphe du Carrousel, Paris @ stockxpert international LENDEMAINS erscheint vierteljährlich mit je 2 Einzelheften und 1 Doppelheft und ist direkt vom Verlag und durch jede Buchhandlung zu beziehen. Das Einzelheft kostet 16,00 €/ SFr 27,80, das Doppelheft 32,00 €/ SFr 51,50; der Abonnementspreis (vier Heftnummern) beträgt für Privatpersonen 48,00 €/ SFr 76,00 (für Schüler und Studenten sowie Arbeitslose 38,00 €/ SFr 60,00 - bitte Kopie des entsprechenden Ausweises beifügen) und für Institutionen 54,00 €/ SFr 85,50 pro Jahr zuzüglich Porto- und Versandkosten. Abonnementsrechnungen sind innerhalb von vier Wochen nach ihrer Ausstellung zu begleichen. Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn nicht bis zum 30. September des laufenden Jahres eine Kündigung zum Jahresende beim Verlag eingegangen ist. Änderungen der Anschrift sind dem Verlag unverzüglich mitzuteilen. Anschrift Verlag/ Vertrieb: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen, Fon: 07071/ 9797-0, Fax: 07071/ 979711. Lendemains, revue trimestrielle (prix du numéro 16,00 €, du numéro double 32,00 €; abonnement annuel normal - quatre numéros - 48,00 € + frais d’envoi; étudiants et chômeurs - s.v.p. ajouter copie des pièces justificatives - 38,00 €; abonnement d’une institution 54,00 €) peut être commandée / abonnée à Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen, tél.: 07071/ 9797-0, fax: 07071/ 979711. ISSN 0170-3803 Die in LENDEMAINS veröffentlichten Beiträge geben die Meinung der Autoren wieder und nicht notwendigerweise die der Herausgeber und der Redaktion. / Les articles publiés dans LENDEMAINS ne reflètent pas obligatoirement l’opinion des éditeurs ou de la rédaction. Redaktionelle Post und Manuskripte für den Bereich der Literatur- und Kunstwissenschaft/ Courrier destiné à la rédaction ainsi que manuscrits pour le ressort lettres et arts: Prof. Dr. Wolfgang Asholt, Universität Osnabrück, Romanistik, FB 7, D-49069 Osnabrück, e-mail: washolt@uos.de; Sekr. Tel.: 0541 969 4058, e-mail: ncrombee@uos.de. Korrespondenz für den Bereich der Politik und der Sozialwissenschaften/ Correspondance destinée au ressort politique et sciences sociales: Prof. Dr. Hans Manfred Bock, Universität Kassel, FB 5, Nora Platiel-Straße 1, D-34109 Kassel, hansmanfredbock@web.de Druck: Gulde, Tübingen Verarbeitung: Nädele, Nehren Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 086308 Lendemains 130/ 131 15.08.2008 14: 26 Uhr Seite 2 Editorial ................................................................................................................. 3 Dossier Thomas Amos (ed.) Arrêt sur images: la bande dessinée Teil 2 Olivier Deprez: Barbier d’après Proust et vice-versa ............................................ 6 Joachim Sistig: Jacques Tardi - un auteur sous influence.................................. 15 Karl R. Kegler: „J’qbqbe. Le m’n fquz de j’qbpbe! “.............................................. 23 Pascal Lefèvre: Persepolis de Marjane Satrapi, un succès incompréhensible? .. 34 Dossier Adelheid Schumann (ed.) Frankreichbild im Wandel Adelheid Schumann: Das Frankreichbild deutscher Jugendlicher zwischen gestern und heute ............................................................................... 39 Adelheid Schumann: Der Wandel des Frankreichbildes in den Lehrwerken für die Oberstufe ................................................................................................ 43 Christiane Fäcke: Das Frankreichbild in neueren Französischlehrwerken der Sekundarstufe............................................................................................... 61 Lieselotte Steinbrügge: L’Etranger von Albert Camus. Über die Haltbarkeit eines Schulklassikers.......................................................................................... 77 Isabella v. Treskow: Die Banlieue-Proteste 2005 in überregionalen deutschen Printmedien ....................................................................................... 94 Adelheid Schumann/ Diana Poggel: Zum Frankreichbild deutscher Jugendlicher. Eine Umfrage bei 12bis 16-jährigen Schülerinnen und Schülern .................... 112 Dossier Mai 68 Walther Fekl: Der Mai der anderen. Der französische Mai 68 im Spiegel der deutschen Pressezeichnung ..................................................... 128 Peter Ronge: Französische Karikaturen des Präsidenten Charles de Gaulle aus der Zeit um das Krisenjahr 1968 ................................................................ 144 Arts & Lettres Stephan Leopold: Problematische Hegemonie, libidinöse Investition Zur Frage kolonialer Allegoriebildung am Beispiel von Albert Camus (L’Etranger) und Kateb Yacine (Nedjma).................................... 162 Actuelles Roland Höhne: Kommunal- und Kantonalwahlen 2008 .................................... 199 Documents Victor Klemperer / Rita Schober: Briefe 1948 - 1959 ............................................. 214 Werner Krauss / Rita Schober: Briefe 1951 - 1975................................................ 249 Manfred Naumann: Stellungskämpfe in der Romanistik der Humboldt-Universität 1951/ 52 .................................................................... 282 Comptes rendus P. de Ronsard: Amoren für Cassandre (B. Nickel) ............................................................. 287 Manuskripte sind in doppelter Ausführung in Maschinenschrift (einseitig beschrieben, 30 Zeilen à 60 Anschläge) unter Beachtung der Lendemains-Normen einzureichen, die bei der Redaktion angefordert werden können. Manuskripte von Besprechungen sollen den Umfang von drei Seiten nicht überschreiten. Auf Computer hergestellte Manuskripte können als Diskette eingereicht werden, ein Ausdruck und die genaue Angabe des verwendeten Textverarbeitungsprogramms sind beizulegen. Prière d’envoyer les typoscripts (30 lignes à 60 frappes par page) en double exemplaire et de respecter les normes de Lendemains (on peut se les procurer auprès de la rédaction). Les typoscripts pour les comptes rendus ne doivent pas dépasser trois pages. Les textes écrits sur ordinateur peuvent être envoyés sur disquettes, avec une version imprimée du texte et l’indication précise du programme de traitement de textes employé. 3 Mit dem 1. Juli hat Frankreich die EU-Präsidentschaft übernommen, um mit der „Union pour la Méditerranée“ eine Initiative zu starten, die einerseits notwendig ist, um den ins Stocken geratenen Barcelona-Prozeß wieder in Gang zu bringen, die aber andererseits, wie die Auseinandersetzungen zwischen Berlin und Paris im Vorfeld (bis hin zum „de“ oder „pour“ „la Méditerranée“) gezeigt haben, durchaus mit französischen politischen Ambitionen verbunden ist, das EU-Kräfteverhältnis zugunsten des als „französisch“ betrachteten mediterranen Südens zu verschieben. Wenn der französische Außenminister meint, „Europe: l’avenir passe par la Méditerranée“ (Le Monde, 11.7.2008), dann demonstriert das deutlich, dass neue Prioritäten gesetzt werden, die nicht ohne Konsequenzen für das deutsch-französische Verhältnis bleiben können. Und der von Nicolas Sarkozy während seines Präsidentschaftswahlkampfes so vehement kritisierte „kulturelle Relativismus“, d.h. die Ablehnung von universell gültigen Menschenrechten, wird vom Präsidenten Sarkozy nun in Hinblick auf die Mittelmeerstaaten praktiziert, wobei in Kauf genommen wird, dass sein Vorgänger Chirac den Feiern am 14. Juli fernbleibt. Zum einen kommt darin eine Renaissance eines nicht unbedenklichen geopolitischen Denkens zum Ausdruck, zum anderen illustriert dieses Denken ein weiteres Mal, in welchem Ausmaß die deutschfranzösischen Beziehungen ihre impulsgebende Bedeutung für die EU verloren haben. So hat es bis jetzt keine deutschfranzösische Initiative gegeben, um nach dem irischen Referendum auf die Krise der EU-Reform zu reagieren. Im Gegenteil: es scheint so, als ob Berlin wie Paris zu einer ‘Normalität’ gefunden haben, in der der jeweils andere ein Partner wie andere geworden ist. Dies wäre nicht nur eine Depuis le 1er juillet, la France a pris la présidence de UE pour lancer avec l’„Union pour la Méditerranée“ une initiative qui, d’une part, paraît nécessaire afin de relancer le processus de Barcelone qui semble stagner. Mais, d’autre part, comme l’ont montré les discussions préalables entre Berlin et Paris (jusqu’au „de“ ou „pour“ „la Méditerranée“), elle est certainement liée aux ambitions politiques françaises de faire évoluer les rapports de forces dans l’UE au profit du sud méditerranéen, considéré „français“. Si le ministre français des affaires étrangères affirme : „Europe: l’avenir passe par la Méditerranée“ (Le Monde, 11.7.2008), cela manifeste clairement que les priorités sont fixées autrement et ne seront pas sans conséquences pour les relations franco-allemandes. Et le „relativisme culturel“, c’est-à-dire le refus des droits de l’homme acceptés universellement, que Nicolas Sarkozy a si durement critiqué lors de sa campagne pour les élections présidentielles, il le pratique à l’égard des pays riverains de la Méditerranée, tout en s’accommodant de l’absence de son prédécesseur Chirac aux cérémonies du 14 juillet. Ici s’exprime d’un côté, la renaissance d’une pensée géopolitique non sans risque, de l’autre, cette pensée illustre une fois de plus combien les relations franco-allemandes ont perdu leur force d’impulsion pour l’UE. Il n’y a pas eu, jusqu’à présent, d’initiative franco-allemande pour réagir à la crise de la réforme de l’UE après le votre négatif au référendum des Irlandais. Au contraire: Berlin, tout comme Paris, semble avoir retrouvé une ‘normalité’ dans laquelle l’autre est devenu un partenaire tout comme les autres. Ceci serait non seulement une ignorance envers l’histoire commune, mais aussi un symptôme inquiétant pour l’avenir européen qui ne peut guère être ima- 4 Ignoranz der gemeinsamen Geschichte gegenüber, sondern auch ein bedenkliches Symptom für die europäische Zukunft, die ohne gemeinsame Projekte des deutsch-französischen Paars kaum vorstellbar ist. Ohne die Symptome über Gebühr zu deuten: ist es nicht aufschlussreich, dass die Fünfundvierzig-Jahrfeier des Deutsch-Französischen Jugendwerks (eine bunte und optimistische Veranstaltung) in Berlin ohne die Beteiligung der entsprechenden Minister stattfand? Eine weitere Entwicklung in Frankreich gibt zu Bedenken Anlass. Die öffentliche Meinungsbildung und das zivilgesellschaftliche Engagement werden immer mehr durch eine Presse- und Medienlandschaft beeinträchtigt, in der Vielfalt und vor allem Kritik kaum noch Platz finden. Seit längerem befindet sich die (neben dem Canard Enchaîné) letzte unabhängige nationale Zeitung, Le Monde, in einer so schwierigen Situation, dass eine Abhängigkeit von Finanzinvestoren und/ oder Unternehmenskonglomeraten nicht auszuschließen ist. Da der Präsident dem öffentlichen Fernsehen zudem noch Werbeeinnahmen untersagen möchte, wird dies in Zukunft noch stärker von den staatlich garantierten Einnahmen abhängig und damit noch leichter als bisher zu kontrollieren sein. Zu welcher unkritischen Medienöffentlichkeit diese Entwicklungen schon jetzt geführt haben, lässt sich bei einem längeren Aufenthalt in Frankreich tagtäglich beobachten. Es wäre an der Zeit, dass Lendemains diesen Veränderungen im deutsch-französischen Vergleich ein Dossier widmet. Mit diesem Doppelheft präsentiert die Zeitschrift ihren Lesern und Leserinnen gleich vier Dossiers: die Fortsetzung des von Thomas Amos koordinierten BD- Schwerpunkts, ein Landeskunde-Fachdidaktik-Dossier (Frankreichbild im Wanginé sans projets communs du duo franco-allemand. Sans vouloir surinterpréter les symptômes: n’est-ce pas révélateur que la fête des 45 ans de l’Office franco-allemand pour la jeunesse (un événement varié et optimiste) à Berlin ait eu lieu sans la participation des ministres respectifs? Un autre développement en France donne lieu à des préoccupations. La formation d’opinion publique et l’engagement civil sont de plus en plus empiétés par un paysage de la presse et de l’audiovisuel dans lequel la diversité et surtout la critique n’ont pratiquement plus de place. Depuis un certain temps, le dernier quotidien national indépendant (à côté du Canard Enchaîné), Le Monde, se trouve dans une situation si difficile qu’une dépendance d’investisseurs financiers et/ ou de conglomérats d’entreprises ne peut plus être exclue. Puisque le Président veut en plus interdire la publicité à la télévision publique, celle-ci dépendra d’autant plus des subventions garanties par l’Etat et pourra alors être contrôlée encore plus facilement. Ce développement a créé un espace médiatique peu critique, ce qu’on peut déjà observer quotidiennement lors d’un séjour prolongé en France. Il est grand temps que Lendemains consacre un dossier à ce développement en comparant la situation française et allemande. Ce double numéro de notre revue présente quatre dossiers à ses lectrices et lecteurs: la suite du dossier sur la „Bande dessinée“ coordonné par Thomas Amos, un dossier se rapportant à la civilisation et la didactique (Changements de l’image de la France), pour lequel nous remercions Adelheid Schumann et ses collaboratrices, deux contributions au sujet de la mémoire visuelle 1968 que nous ont proposés Walther Fekl et Peter Ronge ainsi qu’un dossier portant sur l'historique 5 del), für das wir Adelheid Schumann und ihren Mitarbeiterinnen danken, zwei Beiträge zur bildlichen Erinnerung an 1968, die uns Walther Fekl und Peter Ronge angeboten haben, und ein fachgeschichtliches Dossier, das die Tradition der Krauss- und Klemperer-Thematik fortführt. Rita Schober, die am 13. (und am 20.) Juni 2008 ihren 90. Geburtstag feierte, sei mit etwas Verspätung umso herzlicher gratuliert und dafür gedankt, dass sie uns die Briefe, die Victor Klemperer und Werner Krauss ihr schrieben, zur Verfügung gestellt hat. Diese von Karlheinz Barck und Wolfgang Klein dankenswerterweise erläuterten Briefe stellen ein einzigartiges Dokument der ersten Jahrzehnte der DDR-Romanistik dar, das durch die Erinnerungen von Manfred Naumann an die kurze, aber entscheidende und aufschlussreiche gemeinsame Zeit der beiden Briefpartner von Rita Schober an der Humboldt-Universität der beginnenden 1950er Jahre ideal ergänzt und kommentiert wird: auch dem ehemaligen Lendemains-Mitherausgeber sei dafür herzlich gedankt. Trotz aller gerade für „Editorials“ gebotenen „modestia“ glauben wir damit unseren Leserinnen und Lesern ein Heft vorzulegen, das in seiner thematischen Vielfalt unter romanistischen Zeitschriften seinesgleichen nicht oft findet. Ein solches Profil und eine solche Zeitschrift auch in Zukunft zu erhalten, sollte daher ein (auch) fachpolitisches Anliegen sein. Auch wenn die Zeitschrift sich dem medialen Wandel stellen muß und wird, bleibt es doch wichtig, sie auch in Zukunft (und für die Zukunft) in ihrer Print-Version zu erhalten. Alle Leserinnen und Leser können dazu mit ihrem Abonnement beitragen: wir bitten um Ihre Hilfe in diesen nicht immer einfachen Übergangszeiten. de la discipline, qui poursuit la tradition de la thématique de Krauss et de Klemperer. Nous présentons nos félicitations avec un peu de retard mais d’autant plus cordiales à Rita Schober, qui fêta son quatre-vingtdixième anniversaire le 13 (et 20) juin 2008 et la remercions d’avoir mis à notre disposition les lettres que Victor Klemperer et Werner Krauss lui ont adréssées. Ces lettres - annotées par Karlheinz Barck et Wolfgang Klein que nous remercions également pour ce travail - représentent un document unique des premières décades de la Romanistique en RDA. Ce document est complété et commenté d’une manière idéale par les souvenirs de Manfred Naumann se rapportant à la courte mais décisive et révélatrice époque commune des deux correspondants de Rita Schober à l’université Humboldt au début des années 50: nous remercions donc vivement cet ancien coéditeur de Lendemains. Malgré toute la „modestia“ qui convient aux „Editoriaux“, nous pensons présenter à nos lectrices et lecteurs un numéro qui dans sa variété thématique ne trouve pas souvent son égal parmi les revues de Lettres Romanes. Un des défis de notre discipline devrait donc être de conserver à l’avenir un tel profil et une telle revue. Même si la revue doit et devra faire face au changement médiatique, il reste important de la conserver à (et pour) l’avenir dans sa version sur papier. Toutes les lectrices et tous les lecteurs peuvent y contribuer avec leur abonnement: nous vous prions de nous aider dans cette période transitoire pas toujours facile. Wolfgang Asholt * Hans Manfred Bock 6 Olivier Deprez Barbier d’après Proust et vice-versa Regardez vous-même si vous voyez mieux avec ce verre-ci, avec celui-là, avec cet autre. Marcel Proust: Le Temps retrouvé, Paris, Gallimard, 277. 1. Lirécrire, la lecture comme création Dans le jeu des croisements intermédiatiques, le lecteur a, lui aussi, son rôle à jouer. Après tout, la modernité n’a cessé d’insister sur le rôle de la réception de l’œuvre, 1 aspect devenu aussi important que la création elle-même. La création se joue sous l’auspice d’une règle énoncée par Kierkegaard selon laquelle tout lecteur est destiné à se transformer en auteur. Il va de soi que cette règle demeure purement utopique tant que le lecteur n’a pas acquis ce qu’Eco 2 appelle les compétences de lecture et que rien ne se produit tant qu’à ces compétences on n’ajoute pas le désir de s’inscrire dans le mouvement propre à la création. Franz Kafka qui était lecteur de Kierkegaard n’a-t-il pas précisé que Le Château était fait pour être récrit et non simplement lu? Ce que la règle de Kierkegaard nous rappelle cependant, c’est que tout auteur est d’abord un lecteur et qu’une dynamique existe entre ces deux entités. La règle du poète danois peut se lire en deux temps. D’une part, elle signifie que le lecteur, un jour non défini, se transformera en auteur. Le lecteur qui lit cette œuvre x deviendra l’auteur d’une œuvre y. D’autre part, elle peut signifier que le lecteur se transforme en auteur au cours de la lecture. Autrement dit l’œuvre qui intègre le lecteur comme acteur de la production textuelle ouvre sa dimension génétique à une instance ambivalente: le lecteur-auteur. Le lecteur prend donc sur lui une part du sens de l’œuvre et participe à la production de l’œuvre. De ce point de vue, la réception recoupe la création. Les deux dimensions coïncident. Le lecteur se livre à une performance de lecture et de cette manière s’approprie une part de l’œuvre. C’est ce que font les meilleurs critiques et c’est ce que font beaucoup de créateurs qui créent ce qu’ils créent parce qu’ils ont lu et vu tel livre, tel film, telle peinture, etc. Plus radicalement parlant, on peut parler d’une lecturécriture qui s’inscrit dans le mouvement de l’œuvre et la prolonge au sens qu’appelle la remarque de Franz Kafka. C’est donc une conception active, ambivalente et créatrice de la lecture qui s’affirme. C’est aussi un nouveau type de lecteur qui s’invente, un lecteur-créateur qui ne se contente pas de réagir et d’interagir avec les stimulations du texte, mais, 7 bien au-delà de l’interactivité qui n’est jamais qu’une réponse formatée aux stimuli textuels, ce nouveau type de lecteur crée sa lecture. Il bascule ce faisant vers le pôle de l’écriture établissant une dynamique et un échange avec le pôle de la lecture. 2. Lire vs écrire vs dessiner vs lire vs écrire: lire dans un contexte intermédiatique Cette figure du lecteur-scripteur prend dans un contexte intermédiatique une allure plus complexe. Cette instance est alors prise dans un jeu de croisements intersémiotiques et intermédiatiques qui ajoutent des nouvelles dimensions au lecteurperformer. Il suffit d’imaginer un lecteur qui soit, par exemple, dessinateur de bandes dessinées et qui prolonge sa lecturécriture d’une façon spécifique en usant de la citation. Encore faut-il préciser qu’il s’agit d’une forme de citation particulière puisque la citation se résume à inscrire un nom de personnage issu d’un texte x dans ses planches, cette insertion stimulant sa propre création. Dans un second temps, un autre dessinateur lisant les planches et connaissant le texte x duquel est issu le nom du personnage réalisera sa performance de lecturécriture en s’aidant non seulement de ce qu’il lit et voit dans les planches mais s’appuyant aussi sur le texte x. Ce faisant le dessinateur-lecteur-scripteur produit une lecturécriture qui résulte du croisement de deux médias distincts. La forme de la lecturécriture peut être diverse. Elle peut prendre la forme du commentaire ou la forme d’une bande dessinée. La bande dessinée gravée que j’ai réalisée d’après Le Château de Franz Kafka 3 est une forme de lecturécriture. Précisons le schéma que l’on vient de décrire du dessinateur-lecteur-scripteur. En tant que dessinateur de bandes dessinées et lecteur de La Recherche du Temps perdu, l’apparition du nom du baron de Charlus à la page 16 de Lycaons 4 m’incite à croiser ma lecture de Barbier avec la connaissance que j’ai du texte de Proust. Cette configuration induit un tout autre type de lecture que si je n’avais eu aucune connaissance du texte de Proust. La citation m’induit à lire la double page de Lycaons en chaussant les lunettes de La Recherche du Temps perdu. Un jeu de correspondances et d’échanges se met en place qui ouvre à de nouveaux plans les pages de Lycaons et en retour les pages de La Recherche. 3. Une performance de lecture En guise de préambule, on notera que la citation tirée de l’œuvre de Proust qui apparaît à la page 16 de Lycaons opère sur un mode extrêmement ambivalent. D’un côté, l’importance que lui accorde l’auteur est signifiée par la position centrale de la citation qui apparaît dans la case centrale de la grille. Cependant, la citation aussitôt énoncée est refoulée puisque le personnage d’abord désigné comme 8 étant le baron de Charlus est immédiatement démasqué dans la première case du troisième strip: „Mais! Mais! Tu n’es… pas de ça… Tu t’es déguisé en Charlus… Ordure! Tu es Durdunel“. L’ambiguïté d’un tel refoulement se manifeste en plusieurs endroits de l’exclamation. Primo, le redoublement de la conjonction „Mais“ évoque le diminutif qui désigne parfois le baron de Charlus, ses proches l’appelant „Mémé“, ce diminutif est la contraction de l’un de ses deux noms; le baron de Charlus se nomme aussi Palamède de Guermantes. Secundo, le déguisement est un caractère inscrit au cœur même de la machinerie du personnage du baron de Charlus. Proust souligne plusieurs fois le côté théâtral du baron: 5 „…ce visage auquel une légère couche de poudre donnait un peu l’aspect d’un visage de théâtre“. Tandis que plus loin, le baron se réfère à Racine: 6 „Il y a plus de vérité dans une tragédie de Racine que dans tous les drames de monsieur Victor Hugo“. Dans la fameuse scène de colère du baron dont la victime est le narrateur, Proust écrit: 7 „toute la scène que m’avait faite M. de Charlus étant préparée et jouée, il leur avait lui-même demandé d’écouter, par amour du spectacle“. Et dans le dernier volume 8 de son œuvre, Proust compare le baron au roi Lear. L’injure évoque quant à elle les aspects masochistes du baron qui aime à se faire flageller et injurier. Le nom „Durdunel“ insiste sur l’injure puisqu’il reprend la dernière syllabe du mot „ordure“ transformé en „Durdunel“. Le mot „ordure“ est lui typiquement proustien puisqu’il convoque le contraire de ce qu’il signifie: „or dur“, autrement dit „or pur“ si l’on veut bien opérer l’inversion dans le sens vertical de la lettre d qui devient ainsi un p, opération que l’on se permet car l’inversion est la loi majeure du texte de Proust. Ce qui se cambre, s’élève, se dresse, s’abaisse immanquablement, le nom „de Cambremer“ (autre nom déterminant de La Recherche) le suggère à foison. On y lit „ambre“, c’est-à-dire cette matière caractérisée par ses tonalités jaune brun. On y lit „Cambre“ qui évoque „Combray“ un autre nom célèbre dans le texte de Proust. Se cambrer, c’est se redresser, ce que ne cesse de faire le baron de Charlus lorsqu’il se sent regardé. „Mer“ évoque certes la mer et la mère, d’où l’amertume, la douleur, la perte, l’absence, et tous ces thèmes qui défilent dans La Recherche. „Mer“ est aussi la première syllabe de „merde“, tout comme „Cambr“ est la première partie du mot „Cambronne“. Et dans le texte de Proust, on sait que l’ambre, l’or, désigne à la fois la peinture de Rembrandt et la merde aussi bien. 9 Le mouvement ascendant et descendant suggéré maintes fois par le recours à la figure de l’ascenseur et de l’aviateur, lie donc le regard à la défécation, l’œil à l’anus. On pourrait dans le même élan, mais c’est une pure extrapolation, franchir un pas supplémentaire dans l’interprétation et suggérer que le nom „Durdunel“ pourrait à son tour masquer un élément qui se traduirait par „dur du n’œil“ aussi bien que par „dur d’une oreille“. Au lieu de nous enfoncer dans les taillis de l’interprétation, gardons de cet écart interprétatif l’idée de la négation des sens. „Durdunel“ signalerait ni plus ni moins que l’incapacité à voir et à entendre. L’hypothèse est d’autant plus séduisante que le personnage qui interpelle le soi- 9 disant baron de Charlus s’adresse de manière frontale à son interlocuteur. Il s’agit d’un plan subjectif construit de telle manière que le lecteur s’inscrit dans le point de vue du personnage faisant face fictivement au personnage au sexe bandé représenté en plan serré dans la case, ce qui favorise l’identification du lecteur avec le personnage interpellé. On pourrait dès lors déduire que la planche à travers le personnage à moitié nu s’adresse au lecteur le mettant au défi de mieux voir et de mieux entendre. La métamorphose à l’œuvre dans la case serait l’écho d’une métamorphose moins visible, celle qui atteint le lecteur qui accepte de se laisser interpeller par le livre et qui devient, en participant au sens de ce qu’il voit, un peu l’auteur de ce qu’il lit et regarde. Il n’est pas vain d’entendre encore et de voir dans le nom „Durdunel“ une contraction de „dur de la lune“, ce qui à première vue paraît obscur sauf si l’on songe que l’astre céleste est dans le texte de Proust une image des plus ambivalentes qui évoque tantôt un œil tantôt l’anus, les deux organes se superposant dans le texte de La Recherche comme on l’a signalé. Le regard chez Proust est sexuel, souvent, si pas toujours. Quand Swann, vieilli et malade, aperçoit Mme de Saint-Euverte, 10 il ne peut s’empêcher de laisser son regard filer sur la poitrine de la marquise. De même, Charlus, alter ego inversé de Swann, a un regard des plus mobiles dès lors qu’un jeune homme se présente à lui comme le montre la première rencontre du narrateur avec le baron: 11 „des regards d’une extrême activité“, écrit Proust. Swann et Charlus sont des modèles du narrateur, Swann parce que son roman préfigure et résume en quelque sorte La Recherche, Charlus parce que sa romance calque la romance du narrateur, ce que les documents publiés dans le volume VII révèlent. 12 Le regard enfin du narrateur lui-même accède au désir lorsqu’il rencontre Gilberte pour la première fois et de façon plus explicite quand il rencontre la très justement nommée „petite bande“ à laquelle Albertine, le second amour du narrateur, appartient. Il n’est pas vain dès lors de penser que la dureté de la lune (contraction à son tour de lunette, la lunette désigne un instrument d’optique aussi bien que le lieu d’aisance, on parle de la lunette du cabinet) renvoie à la dureté du sexe bandé du personnage dénudé et mieux encore évoque la sodomie qui est une parodie de la fécondation. Une telle interprétation est favorisée par la proximité d’une séquence d’images qui suit cet épisode à la page 17 de Lycaons. Le personnage „Durdunel“ y est sodomisé et assassiné par le personnage à demi nu, à présent transformé en monstre hybride d’homme à tête de lynx (avant dernière case de la page 17), tandis que dans la case suivante, une fleur aux pétales largement ouverts semble attendre l’insecte qui viendra la féconder donnant ainsi à la double page où se déroulent ses actions l’intensité trouble d’un délit (d’un délire? ) sexuel et d’une fécondation fantastique. Or cette double page, dès lors que la métaphore de la fécondation se met en place, joue le jeu de la création sur le mode du palimpseste. L’image de la fleur et de la fécondation croisée avec l’image de l’hybridation homme vs lynx convoque en sous-texte une scène déterminante de La Recherche. Au cours de cette scène, 10 le lecteur, à l’instar du narrateur, assiste à la représentation étrange d’un épisode amoureux du baron de Charlus et de Jupien, le giletier de la marquise de Villeparisis. Cet épisode est pour l’auteur de La Recherche l’occasion de développer une théorie complexe et singulièrement passionnante du rapport entre les genres et les espèces. S’il fallait absolument énoncer une théorie de l’influence intermédiatique, c’est dans ces pages de Proust qu’il faudrait aller la chercher. Dans cette scène, le baron joue le rôle du bourdon tandis que Jupien dont le nom contient des anagrammes des plus explicites („pine“, „jupe“, „nue“, „nie“ pour s’en tenir aux plus évidents) joue le rôle de la fleur. Ce jeu a notamment pour objectif de suggérer l’importance de la fécondation entre deux règnes différents, le règne animal et le règne végétal. Voici le commentaire que Proust écrit à propos de cette scène: „Si la visite d’un insecte, c’est-à-dire l’apport d’une semence d’une autre fleur, est habituellement nécessaire pour féconder une fleur, c’est que l’autofécondation, la fécondation de la fleur par elle-même, comme les mariages répétés dans une même famille, amènerait à la dégénérescence et la stérilité, tandis que le croisement opéré par les insectes donne aux générations suivantes de la même espèce une vigueur inconnue de leurs aînées“. La théorie du croisement est on ne peut plus simple et élémentaire. Il faut croiser les genres et les espèces pour obtenir de bonnes fleurs bien vigoureuses. Si l’on traduit cela en termes de poétique, on écrira que le croisement entre les genres littéraires, entre les modes d’expressions, prédisposent à obtenir des fleurs de rhétoriques, des figures, et donc des bouquets, des œuvres autrement dit d’une grande force. Proust n’en reste pas cependant à ce degré élémentaire de la théorie, il pousse un cran plus loin la réflexion: „Cependant cet essor peut être excessif, l’espèce se développer démesurément; alors, comme le corps thyroïde règle notre embonpoint, comme la défaite vient punir l’orgueil, la fatigue le plaisir, et comme le sommeil repose à son tour de la fatigue, ainsi un acte exceptionnel d’autofécondation vient à point nommé donner son tour de vis, son coup de frein, fait rentrer dans la norme la fleur qui en était exagérément sortie“. Une telle restriction peut s’interpréter de la manière suivante. Primo, le croisement doit être régulé comme le „corps thyroïde règle notre embonpoint“. Ce qui signifie que le croisement ne peut se réaliser dans n’importe quelle condition. La défaite menace l’orgueilleuse fleur qui se livrerait à de tels excès, elle succomberait à la fatigue et finirait par s’endormir. Une fois encore traduisons en termes de poétique cette restriction. Le croisement entre les genres ne peut se faire n’importe comment, il doit obéir à des règles. De plus, il convient de doser ce croisement au risque de menacer la création elle-même. D’un tel risque, on se prémunit par un „acte exceptionnel d’autofécondation“. En d’autres mots, la relation intermédiatique ne peut déboucher sur un regain de création qu’à la condition de tenir compte de la spécificité du média (il en va de même du rapport intersémiotique). 11 La théorie proustienne des relations intermédiatiques est donc plus sophistiquée qu’on ne pouvait le supposer dans un premier temps. En effet, s’il importe que le texte entretienne des rapports avec d’autres genres (ou d’autres médias), il convient aussi que le texte cherche en lui-même les raisons de sa croissance et finalement de sa beauté, c’est-à-dire de sa disposition formelle. Le tropisme sexuel qui imprègne l’œuvre de Proust peut dès lors se lire comme un commentaire méta-représentatif qui ne cesse de souligner l’importance et le danger à la fois des croisements. En est-il de même chez Barbier? Avant de répondre à cette question, revenons au baron. Dans le passage que l’on vient de lire et de commenter, le baron est assimilé à l’insecte qui vient ensemencer la fleur. Considérons que l’insertion du nom du baron dans la planche de Lycaons agit sur ce modèle de l’insémination des fleurs par les insectes. Option de lecture renforcée par la présence de la fleur (dernière case de la page 17) qui paraît attendre le passage à l’acte de l’insecte. En introduisant le nom du baron, Barbier introduit dans son œuvre la possibilité d’un regard tiers qui génère une poétique du regard spécifique. La poétique du regard chez Proust est une poétique très mobile de la métamorphose perpétuelle. Le kaléidoscope est la figure d’optique qui régente l’ensemble de ce qui est vu brisant la belle continuité de la perspective. Une telle poétique qui défait la représentation met l’accent sur les aspects métareprésentatifs de l’œuvre. Chez Proust, le personnage, et plus spécialement le personnage du baron de Charlus, est un médiateur entre le plan de la représentation et le plan de la méta-représentation. Le baron lorsqu’il morigène durement le narrateur lui reproche aussi bien de ne pas avoir écrit que de ne pas savoir lire. De tels reproches sont essentiels dans le dispositif poétique de création de La Recherche. En effet, tout le roman est la quête de l’écriture, c’est au dernier volume que le narrateur prend conscience de la matière de son livre à faire. Sur le plan de la lecture, le texte ne cesse de solliciter des lectures plurielles. Le baron quant à lui attire l’attention du narrateur sur des éléments périgraphiques auxquels les lecteurs ne font pas nécessairement attention et qui pourtant influencent le sens général de l’œuvre: 13 „Qu’y avait-il comme décoration autour du livre que je vous fis parvenir? “, s’exclame-t-il. Le baron est donc de ce point de vue un instrument déterminant qui incite à mieux lire et à mieux entendre en ce qui se rapporte au lecteur, mais dans le cas de Barbier, c’est de mieux écrire et de mieux dessiner qu’il s’agit. Le style est affaire de vision, a écrit Proust. La vision est bien tout, c’est elle qui ordonnance la page, c’est elle qui fait vibrer l’espace et le sens. Est-ce un hasard si un œil observe le personnage „Durdunel vs Charlus“ se sauvant dans la dernière case de la page 16? Ce ne peut en être un quand on aperçoit en haut de la page 17 le même personnage se frottant les yeux comme s’il ne pouvait croire ce qu’il voyait. Et que voit-il sinon ce que nous voyons nous aussi, les lecteurs! C’est-à-dire un monde hybride où l’animal se lie à l’humain (l’homme-lynx), où le végétal semble jaillir du torse d’un personnage masculin. C’est sans doute parce qu’il n’en croit pas ses 12 yeux qu’il périt sous les griffes de l’homme-lynx, c’est parce qu’il n’a pas voulu prendre la mesure de ce qu’il voyait: un bal offert à la luxure de l’échange contrenature, un acte de fécondation aggravé par un acte d’auto-fécondation. C’est pour n’avoir pas pris la mesure de l’ordre méta-représentatif que „Durdunel“ doit disparaître. „Durdunel“ disparu, c’est sur le mode virtuel le lecteur malvoyant et malentendant qui se trouve congédié. Congédié doublement, il est vrai, puisqu’il est empêché de participer au bal qui se donne, en d’autres termes à la création de ce qu’il voit et lit. La sodomie de „Durdunel“ prend alors un sens des plus équivoques. D’une part, se trouve réalisé, ne serait-ce que sur le mode parodique, l’acte de fécondation, et, d’autre part, le personnage qui n’a su ni voir ni entendre ce dont il était question est très littéralement enculé. „Durdunel“ se fait enculer parce qu’il passe à côté de ce qui importe, il n’en croit pas ses yeux. Or en croire ses yeux dans le cas des planches de Barbier, c’est se laisser emmener dans la danse comme le suggèrent le bal et les couples qui valsent. C’est entrer dans le processus de fécondation dont le bal est un préliminaire. En effet, lorsque, au motif du bal, se superpose (case centrale de la page 17) le motif de la tête de lynx, on commence à percevoir que Barbier pointe un ordre qui n’est plus l’ordre de la représentation. De quel ordre s’agit-il? Si l’on observe la case centrale de la page 17, que voit-on surgir? La tête de lynx subit là une étrange métamorphose qui la fait ressembler tout à coup à une coupe de l’appareil génital féminin. On peut quasiment lire le schéma des ovaires à la place des yeux du félin et le dessin du vagin à la place de la gueule. On constate un effet de miroir entre la page 16 et la page 17. Au centre de la planche 16, se trouve le personnage au sexe bandé. Au centre de la page 17, se trouve suggéré le sexe de la femme. En tant qu’image, le sexe féminin évoque l’origine, le lieu d’où l’être humain provient, la source de l’existence. On peut encore tirer comme conclusion que la figure du sexe masculin répond sur un mode inversé au sexe féminin (contraste qui a constitué longtemps une figure importante de la représentation de l’être humain). En suggérant cette figure, Barbier n’incite-t-il pas le lecteur à remonter à la source de la création, à la genèse de la planche? Or la genèse est double ici. La source de la planche, c’est d’abord la matière graphique. L’image apparaît dans la matérialité du médium employé. La source de l’image et de la planche, c’est la technique liquide qu’affectionne l’auteur, c’est le pot d’encre colorée dans lequel il trempe ses pinceaux pour donner vie à ses bandes dessinées. Ce fragment de Lycaons a pour seconde source le texte de La Recherche. Le nom du baron de Charlus, les habits 1900 des danseurs, le fait que le personnage à demi nu interpelle le baron en disant „je connais tes goûts“, l’association de la femme et de la fleur, l’insistance sur le rapport inversé du sexe féminin et du sexe masculin, sont quelques indices qui s’ils n’induisent pas nécessairement une parfaite connaissance du texte de Proust de la part de Barbier convoquent ce texte-là notamment (bien que ce fait ne puisse entrer légitimement en ligne de compte, je 13 peux témoigner en tant que lecteur et en tant qu’auditeur avoir entendu Alex Barbier me réciter des passages entiers de La Recherche, l’auteur faisant preuve d’une mémoire redoutable et d’un talent d’acteur des plus étonnants). Enfin, que les ovaires, c’est-à-dire, le site par excellence de l’origine, soient assimilés au regard accentue l’importance de l’épisode du personnage se frottant les yeux et souligne ce qui est en jeu. L’effet de miroir de la planche 16 et de la planche 17 propose une liaison étroite entre le nom du baron et la naissance du regard. Telle liaison est loin d’être fortuite. Dans le texte de La Recherche, 14 Proust souligne l’aspect réfléchissant du regard du baron de Charlus: „M. de Charlus avait beau en fermer hermétiquement l’expression, les yeux étaient comme une lézarde, comme une meurtrière que seule il n’avait pu boucher et par laquelle, selon le point de vue où on était placé par rapport à lui, on se sentait brusquement croisé du reflet de quelque engin intérieur“. Si l’on prend la peine de relier la notion de lézarde à la notion de reflet, on peut interpréter cette partie du texte en suggérant que le regard du baron est une ouverture vers un pan caché du texte, pan caché et défendu, l’idée de la meurtrière le souligne, mais pan qui se dévoile malgré tout. Or ce pan secret qui perce à travers la lézarde du regard du baron n’est autre qu’un objet réfléchissant. Le regard du baron est donc explicitement relié à l’idée du reflet et par extension à l’idée de miroir. Tout cela incite le lecteur à basculer du plan représentatif au plan méta-représentatif qui est ce plan où la planche se désigne elle-même et désigne ce faisant la source de sa création. Plan déterminant du point de vue du lecteur-auteur puisque c’est en glissant vers ce versant de l’œuvre que l’on peut épouser le geste de création qui a prévalu à ce qu’on lit et à ce qu’on voit. On peut encore redoubler ce que l’on voit dans les pages de Lycaons par une image de La Recherche. „Durdunel“, qui s’apparente au baron, est, à l’instar du baron, un célibataire, du moins semble-t-il être un célibataire en contraste avec les couples qui dansent (cf. planche 17). L’on sait que chez Proust, la notion de célibataire de l’art est centrale car elle stigmatise ces gens qui comme le baron et son envers Swann sont, tout en étant des amateurs éclairés des choses de l’art, incapables de créer de leur propre chef. Le célibataire est celui qui reste à l’écart de la danse, celui qui ne parvient pas à se décider à épouser la cause de la création. Barbier n’offre-t-il pas une transposition de cette réflexion lorsqu’il montre le personnage de Durdunel esseulé sur un banc alors qu’à ses côtés les couples valsent? Epouser la cause de la création, entrer dans la danse des générations de créateurs, c’est accepter la part matérielle de la création, c’est accepter un geste, une technique, une poétique, bref, c’est se mouiller, prendre parti au sens marital du terme pour le meilleur et pour le pire selon la formule consacrée. La leçon que nous donne Barbier en ces pages en tous les cas et que nous lisons avec les lunettes de La Recherche nous apprend que si l’on veut accéder au plan de la vision, la vision comme style, autrement dit la vision comme acte de création, il faut d’abord avoir l’œil et l’ouïe fines et pour cela, il faut lire et encore lire. 14 En second lieu, Barbier nous apprend que la création n’est jamais aussi bien portante que lorsqu’elle prend le risque de l’échange intermédiatique (l’œuvre de Barbier fourmille de tels échanges: bd vs peinture, bd vs photographie, bd vs cinéma, bd vs littérature). Barbier a pu insérer un fragment de La Recherche qui au lieu de l’écraser sous le poids du prestige de la citation a au contraire stimulé sa capacité de création. L’une des conséquences d’un tel geste étant de relancer l’intérêt de la lecture d’un texte menacé toujours de se figer dans le Panthéon un peu triste et gris des textes classiques. Au bout du compte, si Proust nous a aidé à mieux lire Barbier, c’est Barbier aussi, qui en nous ramenant à Proust, nous a aidé à mieux lire Proust. L’on voit ainsi que les rapports intermédiatiques ne sont pas univoques et que les œuvres ne se figent que parce qu’il leur manque ce qui est le plus précieux pour une œuvre: un lecteur, un spectateur, qui accepte à son tour de se transformer en auteur. 1 Cf. Hans Robert Jauss: Pour une esthétique de la réception, Paris, Gallimard, 1978. 2 Cf. Umberto Eco: Lector in fabula, Paris, Grasset, 1985. 3 Olivier Deprez: Le Château (d’après Franz Kafka), Paris-Bruxelles, Frémok, 2003. 4 Alex Barbier: Lycaons, Paris-Bruxelles, Frémok, 2005. 5 Marcel Proust: A l’ombre des jeunes filles en fleurs, Paris, Gallimard, collection Folio, 405. 6 Ibid. 7 Marcel Proust: Le côté de Guermantes II, Paris Gallimard, collection Folio, 241. 8 Marcel Proust: Le Temps retrouvé, Paris, Gallimard, collection Folio, 213. 9 Marcel Proust: A l’ombre des jeunes filles en fleurs, op. cit., 451. 10 Marcel Proust: Sodome et Gomorrhe, Paris, Gallimard, collection Folio, 216. 11 Marcel Proust: A l’ombre des jeunes filles en fleurs, op. cit., 394. 12 Marcel Proust: Albertine Disparue, Paris, Gallimard, collection Folio, 277-278. 13 Marcel Proust: Le côté de Guermantes, Paris, Gallimard, collection Folio, 237. 14 Marcel Proust: A l’ombre des jeunes filles en fleurs, op. cit., 405. Resümee: Olivier Deprez, Barbier nach Proust und umgekehrt. Der Leser kann ebenfalls in der Kreation der Werke eine Rolle spielen, wie es Kafka unterstreicht, wenn er behauptet, dass Das Schloss nicht dazu da ist, um gelesen, sondern um neu geschrieben zu werden. Eine Dynamik stellt sich her zwischen dem Pol des Lesers und dem des Autors. Im intermedialen Kontext bietet der Leser-Performer, der Leser-Autor, der das, was er liest kreiert, ein komplexes Lesegebilde, das auf verschiedene Medien trifft. Das ist der Fall beim Leser-Performer von Lycaons, Comic von Alex Barbier, der auch Leser des Werkes von Marcel Proust ist. Lycaons enthält ein Zitat von Proust und kann wie ein Palimpsest gelesen werden. Der Leser-Performer geht beim Lesen kreuzweise vor. Im Herzen dieses intermedialen Kreuzens entsteht ein meta-repräsentatives Lesen, das von einer Theorie über den intermedialen Einfluss verdoppelt wird. Filigran wird eine intermediale Poetik skizziert. 15 Joachim Sistig Jacques Tardi - un auteur sous influence Le roman-feuilleton imaginé Dès le début de sa carrière, à l’âge de 28 ans, Tardi se fait une spécialité de combiner et d’entrelacer différents styles et techniques dans une même œuvre. Le Démon des glaces (1974) s’inspire déjà de personnages-type et de motifs issus de l’univers de Jules Verne qu’il utilise pour créer son premier scénario en hommage au roman populaire de la Belle Epoque. C’est aussi sa première BD directement publiée en album et qui annoncera déjà dans sa conception emblématique le principe créateur et la source d’inspiration de son auteur. L’utilisation de la technique de la carte à gratter dans Le Démon des glaces suit la même logique en imitant les anciennes gravures sur bois qui accompagnaient les romans de Verne. Dans sa recherche d’un authentique style de l’époque, Tardi se sert de textes et de médias calqués sur des modèles datant du début du 20e siècle. Il s’agit donc d’un contexte intertextuel délibéré qui va de l’emprunt à la reprise sur un mode amplifié, parfois à la limite de la caricature. Tardi garde toujours cette prédilection pour les années 1900 précédant la Première Guerre mondiale. Loin d’une idéalisation décorative, ses bandes dessinées oscillent sans cesse entre la fiction fantasque - à l’instar de 20000 lieues sous les mers ou De la Terre à la Lune - et l’horreur de la réalité telle qu’elle est rapportée aussi par sa propre famille 1 et racontée dans les œuvres de Céline qu’il illustrera au cours des années (Voyage au bout de la nuit, 1988; Casse-pipe, 1989; Mort à crédit, 1991). S’il est vrai que chaque œuvre littéraire est, par définition, un „objet de consommation, dans un circuit d’échange (réel - auteur - œuvre - public)“ où „le vraisemblable semble faire corps avec la littérature“, 2 il est d’autant plus vrai que le roman populaire, les bandes dessinées et autres spécimens paralittéraires créent leurs propres univers (in)vraisemblables. Ici se reflètent les valeurs, les sentiments et ressentiments de ce public de masse avec ses états d’âme collectifs qui incitent à la consommation divertissante. Tardi, quant à lui, répond également à cette logique tout en gardant pour lui la liberté de choisir le contexte intertextuel et les implications politiques contre la guerre et l’Etat autoritaire. Si les littératures populaires se caractérisent par une intertextualité gratuite, Tardi se fait une spécialité de définir un cadre intertextuel précis à chacun de ses œuvres. Ce principe s’applique dès Le démon des glaces et se poursuit, entre autres, dans la série fantastico-policière Adèle Blanc-Sec (huit albums depuis 1976 chez Casterman). D’un scénario très précisément ancré dans son époque, clairement identifiable grâce aux nombreuses allusions et citations intertextuelles, surgit un message dont la portée universelle dépasse les limites strictement historiques. La presque 16 totalité des œuvres de Jacques Tardi forme un manifeste sanglant et pamphlétaire contre la guerre et l’exploitation de l’individu, victime d’un patriotisme hypocrite et d’un capitalisme déchaîné soutenus par les églises au service du pouvoir politique en place. Il contribue ainsi à une mythologie iconographique de la gauche en noir et blanc - volontairement sommaire dans l’ensemble - dans la plus pure tradition du roman-feuilleton. Dans le quatrième épisode d’Adèle Blanc-Sec, Le Secret de la Salamandre (1981), apparaît en plein milieu de figures et de scènes provenant du roman populaire, à la manière d’un Eugène Sue, Gaston Leroux ou Henri Rochefort, une planche en forme de caricature politique contre l’exploitation capitaliste rappelant fortement le style de George Grosz (43) avec un bourgeois bien-pensant, le chapelet dans sa main droite, assis sur le globe terrestre à côté d’un dictateur qui tire à la mitraillette. Les deux personnages sont entourés de plusieurs installations industrielles réparties sur le globe et le symbole du dollar américain plane au-dessus de leurs têtes. Bien après la chute du mur et l’éclipse des utopies salutaires (en apparence) de toutes sortes, Tardi continue à contribuer à une historiograhie d’en bas dans la tradition d’une gauche pathétique enracinée dans le souvenir de la Commune. Il poursuit cette logique jusqu’à la récente création du cycle en quatre volumes du Cri du peuple (2002-2004), en collaboration de Jean Vautrin, où il retrace les étapes historiques précédant la semaine sanglante du mois de mai 1871. Vautrin assure un scénario de roman-feuilleton inspiré de détails historiques qui sont fortement imprégnés de références intertextuelles issues du portrait de la Commune dressé par Victor Hugo dans Les Misérables. Les personnages du Commissaire Mespluchet et du Lieutenant Morel, inspiré de Javert, représentent d’une manière aussi schématique que chez Hugo un pouvoir corrompu et sans pitié. Du côté du peuple les allusions aux modèles issus des Misérables sont clairement perceptibles. Il y a la mégère à l’image de la Thénardière, il y a Gavroche, il y a les idéalistes ressemblant à Marius et les bohémiens dont les portraits sont nourris de personnages réels tels que Gustave Courbet (51) qui présente à ses amis son tableau le plus discret et le plus révolutionnaire en même temps - L’origine du Monde. Les citations picturales se poursuivent à travers l’œuvre de Tardi qui s’en fait une marque de reconnaissance. Mais Tardi ne cherche pas l’effet esthétique, il est presque hanté par le réel, le quotidien vécu. Il est constamment à la recherche des meilleurs sources de références historiques pour faire passer le message pacifiste derrière les images racontant les horreurs de la Grande Guerre: „Distraire en réveillant les consciences.“ 3 L’intertextualité sert d’outil au service d’un engagement et d’une véracité partiale. L’ensemble des textes - hypotextes et paratextes - forment l’architexte qui représente un réservoir de savoir, de sensibilité et de prises de position propres à l’instant historique dessiné dans une histoire de BD. Tardi en fait un choix intentionnel selon ses besoins narratifs. En ce sens il se distingue des auteurs du roman-feuilleton qui contribuaient à l’établissement de l’architexte à la fin du 19e 17 siècle en reproduisant sans cesse les mêmes scénarios avec les mêmes intrigues et les mêmes personnages-type. Dans sa recherche d’une authentique ressemblance avec le roman-feuilleton Tardi va encore plus loin. La toute récente publication de L’Etrangleur 4 est l’adaptation du roman policier Monsieur Cauchemar de Pierre Siniac, dont la réputation se basait principalement sur des dénouements surprenants et paradoxaux de même que sur son humour rabelaisien. La publication du récit sous forme d’album fut précédée de cinq numéros mensuels (de mars à août 2006) d’un véritable journal du même titre et savamment orchestrés de faits divers, publicités et chroniques cinématographiques de films (La dolce vita, North by Northwest, Rio Bravo etc.) sortis à l’époque, servant de décor au scénario de L’Etrangleur. Si la (re-)création perpétuelle du roman populaire selon ses propres règles mécaniques correspond à l’aliénation de la production industrielle de l’époque, le procédé de Tardi reflète, au contraire, un maximum d’autonomie. Il mélange les modèles et les registres littéraires à sa guise. Le vulgaire et le solennel s’entremêlent. Ainsi dans une planche pathétique (Le cri du peuple, t.1, 41) qui présente une scène de fraternisation entre le peuple de la Butte Montmartre et les soldats envoyés pour supprimer la révolte des Communards, Tardi montre l’accouplement de deux chiens entre les pieds d’une chanteuse de caf’conc’ et un général déserteur en train d’entonner La Marseillaise. Dans cette mise en abyme sont cités des lieux communs de registres contraires, réunis dans un contexte d’appel idéologique faisant appel à une démocratie directe à l’instar de la Commune de 1870. De même que dans ce cycle historique en quatre albums 5 Tardi cherche souvent la collaboration d’un scénariste-écrivain dont la démarche et les idées sont identiques aux siennes. Dans sa préface Jean Vautrin souligne l’esprit de convergence entre les deux auteurs lors de leur coopération: J’ai voulu donner, à rebours des modes et des tendances de nombrils, un grand roman populaire aux éclairages violents et faire revivre le Paris de la Commune, ses joies, ses exactions, ses excès, ses amours, ses énergies refoulées. J’ai voulu raconter l’émergence d’un fantastique espoir de justice sociale, aller au plus près de la fraternité des hommes et parler des Communards avec le parti pris libertaire qui est le mien et que partage Tardi.6 Ainsi, depuis ses premières publications Tardi s’inspire de pré-textes apportés par des auteurs proches de ses propres points de vue, en leur donnant une forme et une vitalité qui lui sont caractéristiques. Dès sa première BD - Un cheval en hiver -, publiée en mai 1970 dans Pilote, juste après avoir terminé ses cours des Arts décoratifs de Paris, il se base sur un scénario de Jean Giraud. S’ensuivent des collaborations avec Pierre Christin (Rumeur sur le Rouergue, 1976), Jean-Claude Forest (Ici même, 1979), Benjamin Legrand (Tueur de cafards, 1984), Didier Daeninckx (Le Der des ders, 1997), Daniel Pennac (La Débauche, 1999) et aussi avec sa compagne, Dominique Grange (Grange bleue, 1984), sans parler des adaptation des romans de Céline et de Léo Malet, dont il sera encore question plus loin. La collaboration avec les écrivains-scénaristes est intensive et porte sur chaque 18 planche. Les esquisses circulent sans cesse entre Tardi et les auteurs qu’il a aimé illustrer. Parfois le courant passe moins bien comme c’est le cas avec Daniel Pennac pour La Débauche: „Lui [Pennac] voulait le moins de texte possible. Mais moi, pour arrêter le lecteur sur un détail, je dois le bloquer par des mots. On avait de longs tête-à-tête, puis il repartait avec les esquisses qu’il dialoguait, corrigeait et recorrigeait.“ 7 Autour des centres d’intérêt - la Grande Guerre et l’entre-deux-guerres - Tardi accumulent ses épisodes de BD qui forment dans leur totalité un architexte au service de l’auteur avec des motifs qui reviennent souvent dans ses différentes œuvres. Le peloton de Dragons par exemple, dont fait partie Bardamu dans Voyage au bout de la nuit (1988, 20) et qui sera anéanti par les obus allemands, fait sa réapparition dans C’était la guerre des tranchées (1993, 58) où le soldat Huet est également confronté à des Chasseurs à cheval tués de manière semblable par des soldats allemands. La structure intertextuelle de C’était la guerre des tranchées est complétée, au-delà des motifs répétés régulièrement, par des citations signalées dans le texte. Des propos engagés contre la guerre signés par Céline (55) et Gabriel Chevalier (36) sont confrontés aux communiqués officiels de la direction militaire française (Général Rebillot, 46; Abbé Sertillanges, 47). Toutes ces citations sont accompagnées de scènes de guerre particulièrement atroces dénonçant ainsi le profond cynisme du discours patriotique de l’époque. Le décor en noir et blanc amplifie les contrastes entre la vie et la mort comme c’est le cas, d’ailleurs, dans la majorité de sa production de BD. Certaines planches tirées de C’était la guerre des tranchées (108/ 109) reparaissent de manière identique - toujours en noir et blanc - dans les deux adaptations du roman de Didier Daeninckx Le Der Des Ders (1997, 75/ 76) et Varlot Soldat (1999, 7/ 8). Ce roman policier de genre série noire sur fond d’entre-deux-guerres reprend les mêmes positions d’accusation contre l’atrocité de la guerre et l’hypocrisie patriotique de la classe politique défendues par Tardi depuis son premier grand succès de BD La Véritable Histoire du soldat inconnu (1974). Varlot est un détective privé hanté par les souvenirs traumatisants de la guerre. Après la fin de celle-ci, il est toujours persécuté par des scènes de combats atroces. Même le cas de chantage sur lequel il travaille au cours de l’épisode touche à un chapitre sombre de la guerre passée. Au cours du récit, Tardi introduit régulièrement les images choc dont se souvient Varlot de manière obsessionnelle. Il y a particulièrement la citation répétée d’une même scène de violence contre un ancien camarade (18, 23, 33, 46) qui donne un rythme à l’intrigue en servant de leitmotiv évoquant l’ambiance de peur omniprésente. L’auto-citation prend ici une dimension structurelle au sein de l’échafaudage du drame. A l’image d’un cercle fermé et hermétique, l’existence des poilus tourne même après la fin de la guerre forcément autour de ce traumatisme psychique qui ne les lâche plus. L’album Varlot soldat fait le résumé iconographique des scènes d’horreur dans les tranchées. A l’origine, ces planches devaient servir simplement d’illustration à un catalogue pour une exposition en Belgique. Mais au fur et à mesure que le projet avançait, Tardi et Daeninckx se sont finalement décidés à en faire une publication à part. 19 Le roman noir illustré Le genre policier est l’autre forme littéraire de prédilection „tardienne“ à côté du roman-feuilleton. Toujours sous la couverture du tableau historique, Tardi dresse le portrait de l’individu impuissant et à la merci d’un système d’intérêts et d’interdépendances opaques. Le détective privé qui est confronté à un monde impénétrable et confus, dont il découvre les structures souterraines, prend une valeur de symbolique sociale. Tel Varlot qui met à jour la profonde déchirure au sein de la société française au lendemain de la Grande Guerre, Nestor Burma, personnage fétiche de l’univers Malet, établit le psychogramme d’une population traquée sous l’Occupation allemande. Dans 120, rue de la Gare (1988) le célèbre „détective de choc Nestor Burma“ quitte le camp des prisonniers français à Constance en novembre 1941 pour plonger dans une autre prison cauchemardesque derrière les coulisses meurtrières de Paris. Les vains essais de répandre de la lumière dans le jungle de la ville sont condamnés à l’échec de prime abord. L’esprit de la Cité a quitté ces lieux. Fiat lux: le nom de l’agence privée de Nestor Burma - emprunté du livre de la Genèse - annonce, au contraire, l’apocalypse où la lumière n’a plus raison d’être. Par un procédé de mise en abyme, la culpabilité d’un pays déchiré se reflète dans la culpabilité des acteurs. Les démarches respectives dans les adaptations de Céline et Léo Malet sont complètement différentes: l’œuvre de Céline représente aux yeux de Tardi un chefd’œuvre du point de vue de l’évocation de décors et d’ambiances qu’il tente juste d’accompagner par ses illustrations „comme une autre ponctuation du texte, un rythme en surimpression“. 8 Les romans de Malet, cependant, font défaut de structure, „un bric-à-brac fabuleux à étayer, replâtrer“. 9 Ce manque de cohésion et de structure est compensé par la présence permanente de la topographie de Paris, qui donne au récit sa réalité superficielle. Tardi profite de ce vide structurel pour créer sa propre histoire - passablement divergente par rapport au texte de Malet - où les personnages oscillent, en permanence, entre le réel et l’univers onirique de la jungle parisienne. Son dessin simple et riche de contrastes clairs foisonne de détails. En marge de l’intrigue, Tardi cite une multitude de paratextes datant de l’époque, qui contribuent ainsi à l’authenticité d’apparence. A plusieurs reprises certains personnages sont représentés en lisant un journal avec la une toujours bien visible: Le Crépuscule, Le Soir, Le Cri du Peuple, Le Petit Parisien, Elégance Beauté Monde, Signal, Pariser Zeitung et Le Franciste. L’orientation collaborationiste des journaux est complétée par les affiches et avertissements officiels dans les rues de Paris: „Exposition: Le Juif et la France“, „Confiance aux Allemands! “, „Français! Au secours! Institut d’Etude des Questions Juives“, „Travail, Famille, Patrie“ et même un macabre arrêt de la Cour Martiale (126) rédigé et en français et en allemand annonçant la condamnation à mort du maquisard „Jacques Tardi“ [! ]. Les titres de bouquins cités au cours du récit sont signés Céline (L’école des cadavres) et Hitler (Mein Kampf). Paris est submergé de germanismes et de paroles nazies. Les quelques rares 20 marques de résistance contre l’occupant allemand omniprésent se trouvent sous forme de graffitis griffonnés sur les murs nocturnes: „A bas les traîtres de Vichy“, „A bas la Collaboration“, „Vive le Général de Gaulle“. Discours et contre-discours de l’époque contribuent au portrait d’une population hantée par la schizophrénie de positions morales opposées. La totalité des personnages jouant un rôle dans l’histoire autour de l’énigmatique 120, rue de la Gare est tombée en suspicion. Plusieurs d’entre eux sont mêmes munis d’une double identité à l’instar du principal coupable lui-même, l’avocat maître Montbrison, dont le premier indice signalant sa culpabilité est un volume de „La Lettre Volée“ d’Edgar Allan Poe (50/ 88) oublié dans son salon et représenté dans un gros plan central. Par la suite cet indice conduit Burma sur la trace d’un testament volé. Plus que l’allusion à la pièce à conviction, c’est la référence intertextuelle à l’ancêtre du roman policier moderne qui mérite d’être soulignée ici. L’univers fantasque et mystérieux des cryptographies et des caractères paranoïaques issus des récits de Poe (Double crime dans la Rue Morgue, Le Scarabée d’or, La Chute de la Maison Usher etc.) se trouve à l’origine de l’intuition tardienne. En référence à l’esthétique de ce grand inspirateur du roman noir, Tardi cache un autre indice dans un volume de Les origines du roman noir en France de Maurice Ache, que Burma découvre dans une bibliothèque à côté du Palais de la Justice à la recherche d’indications concernant le Marquis de Sade, dont l’ombre plane également en permanence sur l’intrigue. Pour passer du roman noir à la série noire Tardi se tourne vers un autre auteur spécialiste du récit policier français: il s’agit de Jean-Patrick Manchette. Au début de leur collaboration autour de la BD Griffu (1982) ce n’est pas seulement la démarche (anti)littéraire qui donne la motivation à leur travail commun, mais aussi leur orientation politique respective: „Manchette a été l’un des premiers, dans le roman policier français, à aborder de front la chose politique.“ 10 Mais l’ambiance de violence urbaine autour d’histoires de scandales immobiliers et de députés compromis dans ces affaires a changé complètement de caractère dans la récente publication, datant de fin 2005, de l’adaptation du roman Le Petit Bleu de la côte Ouest de Manchette. Le roman fut publié initialement en 1976. Dix ans après la mort de Manchette en 1995, Tardi veut dresser ainsi un monument en référence à l’esprit du roman noir, qui - selon l’annonce de l’éditeur - sera peut-être suivi de deux autres adaptations de textes de la plume de Manchette. En préambule de la version Tardi, précédant l’introduction de François Guérif, figure un éloge du „vrai“ roman noir „que la plupart des écoles romanesques de ce siècle ont échoué à atteindre“ 11 signé par Manchette en personne. Qu’est-ce donc, le roman noir? Il veut divertir avec „des histoires de meurtres, des histoires horribles faites pour être lues dans le train“, 12 mais il veut en même temps réveiller le doute: „Les auteurs de romans noirs s’insinuent dans le goût du public des choses que celui-ci n’a pas forcément envie d’entendre.“ 13 En d’autres termes, „distraire en réveillant les consciences“ 14 - il y a une large convergence entre les idées de Tardi et de Manchette. 21 Si les questions de politique concrète n’entrent plus en jeu à la façon de l’intrigue de Griffu., le roman noir reste pourtant „témoin de son temps“. 15 Juste une allusion politicienne sert de métaphore pour la désorientation totale du héros - „l’intérieur de Georges Gerfaut est sombre et confus, on y distingue vaguement des idées de gauche“. 16 L’existence n’a plus de sens pour Gerfaut au moment où il est confronté à deux tueurs à gages qui tentent de le tuer sans qu’il ne comprenne leur motivation. Cette confrontation fait basculer sa vie qui, jusqu’ici, était dominée par des symboles de succès social et encadrée par une société de compétition démunie d’humanité. En fuite devant ses pourchasseurs Gerfaut est, par conséquent, facilement prêt pour quitter son ancienne identité et pour recommencer sa vie. Le décor réaliste en noir et blanc ressemble à celui des adaptations de Malet avec une forte présence de paratextes textuels et graphiques. Mais contrairement à la relative liberté créative face au récit de Malet, Tardi suit le texte de Manchette à la lettre. Il y a une quantité considérable d’indications concernant la musique, la télé, la publicité et les marques de produits en vogue des années 70, où l’action est située. Ces indications en marge de l’intrigue donnent au récit son propre rythme narratif et contribuent au portrait des différents personnages. Gerfault écoute un genre de jazz qualifié de „cool“ et „intellectuel“: „du jazz de style West- Coast, du Gerry Mulligan, du Jimmy Giuffre, du Bud Shank, du Chico Hamilton“. 17 Le goût du „méchant“ agent secret Alonso Emerich va plutôt vers le main-stream: „des variétés américaines sirupeuses, du Tony Bennett, du Billy May“. 18 Les références intertextuelles touchent tous les genres, tous les médias et Tardi s’en sert, comme il veut, pour meubler ses récits. Un des deux tueurs se distingue par sa préférence pour les séries de BD américaines. Chez Tardi (16) il se plonge dans la lecture d’une BD en attendant Gerfault, exactement comme décrit par Manchette: „Le mensuel s’intitulait Strange et racontait les aventures du Capitain Marvel, de l’intrépide Daredevil, de l’Araignée et d’autres personnes. L’homme lisait avec concentration, en remuant les lèvres.“ 19 Sur la planche le tueur est entouré, en effet, de héros sortis de la BD américaine (Spiderman, Daredevil, Captain America etc.). A côté des citations iconographiques évoquant le contexte historique (les journaux tels que France-Soir et Le Monde, les publicités de Michelin, Cutty Sark, Gitanes etc.) Tardi se sert aussi de citations symboliques discrètes en tant que commentaire sur l’état psychologique des personnages. Par deux fois on trouve Le cri d’Edvard Munch encastré en marge d’une planche (12, 14) où Gerfault est représenté en train de se disputer avec son épouse qu’il quittera au cours de l’intrigue. La vie dans la cité se réduit à l’échange de valeurs matériels et symboliques. Ce portrait de la décadence urbaine devant le décor de la grande ville, qui porte comme toujours le nom de Paris, est précurseur des textes plus récents d’un Houellebecq, d’un Beigbeder ou d’un Bret Easton Ellis exprimant leur critique de la même manière violente face à un monde désorienté, suivant exclusivement les valeurs symboliques creuses dictées par les idoles du néo-libéralisme régnant. 22 Tardi reste toujours fidèle à sa position contestataire. Il y a une ligne directe à établir entre ses adaptations littéraires, à commencer par Céline, en passant par Malet (dans la „version“ Tardi), Daeninckx, Vautrin et jusqu’à Manchette. L’ensemble de l’œuvre de Tardi forme, pour ainsi dire, un hypertexte de contestation politique et sociale constitué d’hypotextes fournis par ses écrivains préférés. 1 „Les récits de guerre ont nourri mon enfance. Les tranchées de 14 racontées par ma grand-mère. La débâcle de 40 déclinée par mon père. Obligatoirement, ce sont des situations dramatiques qui marquent l’imagination d’un gamin.“ (propos de Tardi recueillis par J. Bigorgne pour Ouest France, 15-02-1993, zitiert nach: www.casterman.com/ adele/ fr/ bio.htm). Tardi a dédié C’était la guerre des tranchées (1993) à son grand-père et 120, rue de la Gare (1988) à son père qui a passé en tant que militaire professionnel les premières années après la Deuxième guerre mondiale avec sa famille - et donc en compagnie de son fils Jacques - en Allemagne. 2 Kristeva, Julia: Sémiotique, Paris, Seuil, 1969, 147/ 148. 3 Propos de Tardi recueillis par Véronique Châtel pour La Liberté (15-01-1998) zitiert nach: www.casterman.com/ adele/ fr/ bio.htm. 4 Casterman, 2006. 5 A signaler la parution récente d’une magistrale édition en un volume des quatre albums qui contient également un CD de chansons communardes (Casterman, 2005). 6 Vautrin, Jean/ Tardi, Jacques: Le cri du peuple, t.1, Tournai, Casterman, 2001, 5 (Préface de Jean Vautrin). 7 Propos de Tardi recueillis par Laure Garcia pour Le Nouvel Observateur (4-10- 2001),54. 8 Id. 9 Id. 10 Id. 11 Manchette, Jean-Patrick/ Tardi, Jacques: Le Petit Bleu de la côte Ouest, Paris, Les Humanoïdes Associés, 2005, 4. 12 Id. (Propos de Tardi cités dans la préface de François Guérif). 13 Id. 14 Cf. l’annotation 3. 15 Manchette, Jean-Patrick/ Tardi, Jacques: Le Petit Bleu de la côte Ouest, op. cit., 4 16 Ib., 6. 17 Ib. 18 Manchette, Jean-Patrick: Le Petit Bleu de la côte Ouest, Paris, Gallimard (Folio Policier), 1976, 16 19 Ib., 33. Resümee: Joachim Sistig, Jacques Tardi - ein beeinflusster Autor untersucht intertextuelle und intermediale Bauelemente in den bandes dessinées des vielfach ausgezeichneten Zeichners und Autors Jacques Tardi, die seit seiner ersten Publikation Un cheval en hiver im Jahre 1970 bis zu seinem jüngsten Werk Le Petit Bleu de la côte Ouest (2005) konstant zum dramaturgischen Repertoire Tardis zählen. Als Schwerpunkt rücken besonders die BD-Adaptationen der literarischen Vorlagen von Céline, Vautrin, Malet, Daeninckx etc. in das Zentrum der Betrachtung. 23 Karl R. Kegler „J’qbqbe. Le m’n fquz de j’qbpbe! “ „Vous croyez en Dieu? “ - „Pardon“ Une rencontre dans un restaurant sur les toits de Manhattan. On en vient au sujet de la conversation: c’est de Dieu que l’on parle. Pamela Fisher, „avec un regard incolore qui perce et qui glace“ se révèle par un défaut d’élocution digital: 1 „Ion- Robert souhaite te frofoser de nous rejoindre et de partager nos idées.“ Ion-Robert-Puck est une personne laide avec le ricanement d’un toxicomane. Il est, comme sa compagne, la copie-robot d’un homme. Prononcé par sa camarade, son nom se transforme en un „Fuck“ obscène. La question suivante se perd sous les salves des armes automatiques. Des forces spéciales tirent sur les deux androïdes, instruments d’une secte intransigeante, les mettant en pièces. La tête arrachée de Ion-Robert, ricanant encore, écrase le nez de Nike Hatzfeld, le seul être humain qui a participé à cette rencontre arrangée. Puis, Hatzfeld s’aperçoit que cette androïde formée d’après son amie disparue est coupée en deux. Cette atmosphère imprégnée de violence et de distanciation est typique du graphic novel d’Enki Bilal, Le sommeil du monstre. C’est la première partie d’un récit prévu à l’origine comme trilogie et finalement, devenu une tétralogie dont le deuxième volume, 32 Décembre, parut en juin 2003 et le troisième, Rendez-vous à Paris, en mai 2006. Terminé en 2007 avec le dernier volume, Quatre? , le projet couvre presque une décennie dans l’œuvre de l’artiste franco-bosniaque. Le caractère hybride et étrange de la réalité qui caractérise le scénario, se reflète dans le nom du protagoniste. Nike Hatzfeld, spécialiste de la mémoire et doté lui-même d’une mémoire extraordinaire, est orphelin de la guerre civile yougoslave. Il doit son prénom aux baskets Nike de cet homme abattu, au côté duquel on l’a trouvé nouveau-né. Son surnom est attribué à un journaliste français qui l’a transporté dans cet hôpital et auquel se réfèrent ses souvenirs les plus anciens. 2 A part les cris des mourants, le bruit des explosions, l’odeur de sang et d’excréments, Nike se souvient, se rappelant ce lieu, de deux nouveaux-nés, eux aussi orphelins, Leyla et Amir, qui se trouvaient avec lui dans la même salle d’hôpital où les étoiles d’été les regardaient à travers le plafond effondré. Nike décide, se fiant à sa mémoire, de protéger à jamais ces frères et sœurs du hasard. Ce cadre esquissé constitue le point de départ d’une histoire complexe, ambiguë. Bilal lie, à travers son protagoniste, le souvenir de la guerre civile yougoslave à Sarajewo à des expériences de Nike, Leyla et Amir, vivant dans un avenir mécanisé et fragmenté, où une secte terroriste, dans une perspective de globalisation, 24 l’ordre Obscurantis, se met à détruire l’héritage culturel et scientifique de l’humanité. En arrière-plan, un obscur Dr. Optus Warhole agit, un maître en technologies cyborg manipulatives. Tandis que Nike s’empêtre de plus en plus dans un cauchemar de manipulation et devient étranger à lui-même, les flash-back du souvenir qui le reconduisent, pas à pas, au jour de sa naissance, commentent directement l’histoire. La référence, esquissée ci-dessus, aux tendances futures, soit techniques, soit sociales, est une anti-utopie avec des points de départ divers. Ce n’est pas un hasard si le titre du conte graphique implique une réminiscence à l’eau-forte de Goya. - La raison a-t-elle subie une mutuation en monstre? Ou Bilal pose-t-il la question de savoir quels produits créent les rêves d’un monstre, si c’est déjà le sommeil de la raison qui crée des monstres? 1998, trois ans avant les attentats du 11 septembre 2001: le scénario de Bilal anticipe la menace d’une organisation agissant de façon globalisante et dont Bilal anticipe l’origine dans le contexte de l’anarchie politique régnant dans l’ancienne Union Soviétique et au Pakistan. Les attentats du groupe terroriste visent les villes. A l’arrière-plan des panels destinés à New York, apparaît le Chrysler-Building détruit. Une attaque aux armes-laser, effectués par les satellites, endommage la Tour Eiffel. Mais il serait prématuré de prendre le conte graphique de Bilal pour une étude anticipée des courants du terrorisme fondamentaliste. La réalité sociale est devenue opaque dans le scénario ébauché de l’avenir. Des organisations comme le F.B.I.I., l’organisation succédant au F.B.I., se différencient peu, avec leur logique institutionnelle impénétrable, des projets des réseaux terroristes. La réalité, déterminée par des forces manipulatives, est complexe et sombre, comme un labyrinthe éclaté en morceaux. Certaines parties en sont compréhensibles dans leur logique intérieure, mais elles ne s’unissent plus en une grande figure cohérente, dont la partie intérieure est, comme dans le mythe chrétien, la scène de chasse au monstre et le triomphe final du héros. Au figuré, c’est le Minotaure qui est devenu l’architecte d’une réalité monstrueuse; la forme du bâtiment ne le dompte plus et ne l’empêche plus d’en sortir. Le héros ne tue plus le monstre, il est à sa merci. L’enchaînement des fils d’Ariane, qui lie les biographies de Nike, Leyla et Amir en un tissu, sert, à travers l’histoire, de fil interprétatif. La recherche de ces compagnes depuis sa plus tendre enfance, constitue pour l’expert de mémoire le devoir de surmonter ses propres souvenirs. Il se retire dans sa vie privée. D’autre part, c’est l’amitié, pour laquelle Nike s’est décidé en tant que nouveau-né sans avoir rencontré Leyla et Amir, qui se révèle comme message de réconciliation intégratif. Le récit révèle que c’est le père d’Amir, tireur d’élite serbe, qui a tué le père de Nike dans Sarajewo détruite par la guerre. La force de l’amitié qui surmonte les obstacles prouve que c’est elle le vrai caractère humain. Ceci a d’autant plus de poids que la possibilité de remplacer les hommes par des copies androïdes semblant identiques laisse planer un doute permanent sur la sincérité et sur la nature humaine des acteurs. Ces doutes portent finalement sur sa propre identité et authenticité quand, au cours de l’histoire, le père de Nike est ravalé au rang d’un outil manipulable et copiable, qui doit agir 25 dans des réseaux virtuels-réels, en raison d’un enchaînement du cerveau et de la technologie ordinatrice. Les rêves de Villèm Flusser 3 et Hans Moravec, 4 qui, au début des années 90, affabulaient sur la fusion de modèles de personnalités humaines avec des capacités accumulatrices de la technique, se transforment en cauchemar, quand les organisations qui utilisent ces techniques poursuivent des projets à la Orwell. Comme l’Etat total dans le livre d’Orwell, l’ordre Obscurantis poursuit un „programme de révisionnisme historique“ 5 et réduit la langue à 499 mots qui sont „permis“. Tandis que Flusser formule des phrases comme „daß das Individuum nicht existiert, daß man das Individuum genauso teilen kann wie das Atom“, le scénario de Bilal illustre les implications cruelles de manipulabilité et de manque de liberté qui résultent de la puissance technique anticipée, qui reproduit des humains, les coupe et les copie comme s’ils étaient des objets. A cause de ses facultés mnémotechniques phénoménales, Hatzfeld apparaît dans la logique perverse de telles possibilités manipulatrices comme un objectif intéressant qu’on peut utiliser pour écrire de nouveau l’histoire mondiale. Le F.B.I.I. qui, à ce moment-là, travaille en coopération avec l’ordre Obscurantis, installe dans son nez cassé un radiogoniomètre pour une arme-satellite et un interface dans le cerveau. Mais Warhole poursuit ses propres plans. Il pactise simultanément avec l’ordre Obscurantis et produit une copie androïde de Hatzfeld, laquelle, comme on peut le supposer, doit remplacer l’expert de mémoire dans la réalité, pour diffuser de faux souvenirs. L’Hatzfeld réel, devenu manipulable par l’interface implantée dans son cerveau, est envoyé sur un sité archéologique secret; ce qu’on y découvre accentue les doutes sur la création divine et fait l’objet de la haine de l’organisation terroriste fondamentaliste. Hatzfeld doit y servir d’émetteur pour une attaque satellite, puis on veut le sacrifier, une fois le site détruit. Pour contrôler l’Hatzfeld téléguidé, Warhole utilise un homme-machine-cyborgue drogué, utilisé comme interface à des technologies ordinatrices et de surveillance. Le plan échoue. Sur le lieu du site archéologique, le camp de formation de l’organisation terroriste est détruit. Le cyborg, dégradé au rang d’un agent des intérieurs étranges, préfère la mort à une existence qui n’est pas libre et permet à Hatzfeld de s’enfuir. La haine envers le constructeur de cette absence de liberté est plus forte que l’instinct de conservation. 6 Pour l’objet câblé humain, une existence-cyborg, subordonnée à Warhole, est moins attrayante: „Je ne suis plus qu’un légume coiffé d’un cerveau en surrégime artificiel. Je n’aime pas beaucoup ma nouvelle vie … si vous voyez ce que je veux dire….“ 7 Tandis qu’est présenté ici le potentiel manipulateur de ces technologies ordinatrices et de mémoire, potentiel qui, dans l’imagination de Moravec et de Flusser, intervient directement dans le cerveau humain, rendant reproductible l’individualité personnelle, le personnage d’Optus Warhole montre le profit à l’égard du pouvoir et de l’autonomie renversée naissant par ses technologies sur son propre corps et celui des autres „J’ai toujours été un joueur d’échecs doublé d’un joueur de poker. Même en recherche et en médecine… je suis un fou zigzagant, et cela m’a toujours réussi…“ 8 Wahrhole déclare aussi d’être un artiste, 9 qui soumet la technolo- 26 gie, l’esprit et le savoir des autres, pour mettre en scène une œuvre obscène de mort, de torture et de dépendance. Ce n’est pas un hasard si son nom fait penser a Andy Warhol. En même temps, la traduction littérale, „war hole“, a une nuance menaçante. Warhole s’est reproduit lui-même par des copies cybernétiques, auxquelles il a donné - „c’est une éthique personelle“ 10 - des parties entières de son corps, mais ensuite, il les sacrifie et les détruit sans scrupules. Ce qui reste de son propre corps, c’est seulement sa tête, liée à un système pour prolonger la vie, avec un cerveau élargi, et celle-ci se perdra aussi. L’esprit et le souvenir de Warhole passent, dans le troisième album, à une structure, parasitaire, difforme, qui prolifère sur le corps de Hatzfeld. Mais, entre-temps, une série de copies androïdes sont près d’occuper, sous une forme juvénile, des positions-clés dans le monde entier. L’une de ces copies se met en scène sous le nom de guerre anagrammatique Holeraw comme „very great artist“, dont l’art, „absolute evil art“, consiste à organiser des happenings sanglants où les copies androïdes, vêtues de blanc avec des faces blanches maquillées, se tuent mutuellement dans des espaces blancs, écrivant la signature de l’artiste en lettres rouges sang. Pour la qualité visuelle du conte pictorial, c’est un sommet impressionannt. „Ce n’est pas de l’art brut. C’est de l’art brutal.“ 11 Nike Hatzfeld, qui observe ce spectacle dans le deuxième volume, voit mourir une copie androïde de Pamela Fisher. „C’est vous la perfection“ - C’est moi la perfection.“ Il est évident que Bilal continue, dans son conte graphique, le genre de la SF dystonique dont il existe de nombreux exemples. Le roman de C. S. Lewis, That Hideous Strenght, paru en 1945, offre un parallèle frappant. 12 Autre exemple, plus contemporain, le G.A.S. (1997) de Matt Ruffs. 13 Dans le roman de Ruff, une intelligence mégalomane met en scène des meurtres „cyniques“ d’hommes qui sont devenus dangereux pour elle: des robots les tuent en niant leurs idéaux. Dans l’œuvre de Lewis, la tête animée artificiellement d’un savant exécuté devient le commandement d’une vaste institution scientifique; on sait enfin que c’est le diable lui-même qui a l’expérience en son pouvoir. Warhole, lui aussi, réduit finalement à une tête animée artificiellement, possède toutes les qualités d’un super-méchant. Comme le diable dans le conte de fées italien, il a un nez en or. Warhole gouverne ses outils humains ou androïdes à travers des mouches, mi-organiques, mi-électroniques. Comme la tête de cochon qu’on vénère dans le roman de Golding, 14 paru en 1954, Warhole est „le seigneur des mouches“. Cette caractéristique le rapproche, d’après la tradition hébraïco-chrétienne, de Beelzebub. Son comportement d’une violence cynique et doté d’un pouvoir manipulateur, souligne encore cette interprétation. Dans les bulles de la BD, un moyen explicite cette interprétation: Warhole parle avec une „voix noire“, ses dialogues sont inversés, imprimés blanc sur noir. 27 Le personnage en arrière-plan, caractérisé ainsi, ne poursuit pas un but politique ou autrement défini. Le projet de Warhole s’élargit et se perpétue sans cesse, pareil à la démesure et à l’inquiétude de la notion du progrès. Ce n’est pas un hasard, car c’est sur l’emploi extrêmement habile du coffre à outils du progrès qu’est fondé le pouvoir de Warhole. L’étroitesse d’esprit, la faiblesse et la vulnérabilité de la nature humaine offrent beaucoup de points de départ pour des manipulations cyniques. Le terrain actuel importe peu: Imaginez la même chose à une plus grande échelle… à l’échelle d’entreprises, de sectes, de religions, de nations, de races… et pourquoi pas de gènes, de cellules, de bactéries, de virus… ou encore, au hasard, d’orphelins qui ne se sont pas vus depuis trente-trois ans… ou de l’ensemble de tout ça….15 Dans le deuxième volume de la trilogie, Warhole/ Haleraw’s donne un échantillon de son absolute evil art dans un happening avec une issue mortelle. Celui-ci consiste en un nuage noir, puant affreusement, qui sort d’un lieu commémoratif du „conflit entre la Chine, la Russie et la Mongolie.“ „Avant de se désagréger, elle se donnera des pluies des larmes issues de la décomposition de deux millions de soldats et de civils morts au champ de la connerie….“ 16 La pluie acide du nuage tue ou mutile la plupart des critiques d’art présents tandis que les survivants continuent leurs interprétations d’œuvres intellectuelles. Finalement, on découvre que même le résultat du site archéologique mentionné ci-dessus ne pourrait être que la mise en scène macabre de Warhole, qui fait passer un message de brutalité à l’humanité, vieux de plusieurs millions d’années et qui fait expertiser cette trouvaille par des autorités religieuses et morales disparaissant soudainement à la fin du deuxième volume et reparaissant dans le troisième volume comme cadavres mutilés sur la planète Mars. Une telle fixation sur l’archi-canaille qu’est Warhole, fixation qui se trouve surtout dans les deuxième et troisième volumes, enlève à l’histoire beaucoup de sa qualité équivoque et des points de départ qui distinguent le premier volume. Malheureusement, au cours du récit, Bilal s’écarte de plus en plus du droit chemin. Dans le dernier volume, il construit finalement un happy end invraisemblable, où un Warhole purifié se révèle une entité inter-dimensionale extraterrestre et réunit les séparés. Il semble presque que l’artiste ne puisse plus manipuler toute cette vue du monde imprégnée d’un pessimisme si profond. La seule solution, c’est la mutation des méchants qui deviennent tout à coup des bienfaiteurs. C’est pourquoi, Bilal doit inventer un deus ex machina pour nouer les bouts volants de son histoire. Malgré cette critique qui vise surtout le dernier volume de la tétralogie, l’intérêt spécifique de l’histoire consiste à la lire, du côté graphique et du côté contenu, comme un commentaire fictif des imaginations technico-scientifiques du présent. Les renvois à Flusser et Moravec l’ont déjà démontré. Les dessins de Bilal forment un portfolio visuel pour les champs „mise en scène du corps“ et „prothèse“. Ce n’est pas seulement la „cyborgisation“ par le rattachement de l’homme à la technologie informatique, mais aussi la mise en scène voulue ou non voulue des person- 28 nages par le make-up, les cicatrices, les pansements, les rayures, les tatoos ou les applications techniques. Cette mise en scène appartient à l’ambiance futuriste du conte SF, mais elle présente les personnages principaux comme des caractères humains brisés, portant des blessures et des cicatrices. Explicitement, Nike Hatzfeld est marqué par un tel signe. Son nez cassé sera blessé encore deux fois au cours de l’histoire; enfin, il sera victime d’une prolifération parasitaire de Warhole sur son corps, qui soumet sa volonté et ses sens. Ainsi, Bilal réussit de manière permanente à créer une image de la vulnérabilité de Hatzfeld et de l’accomplissement douloureux de son souvenir. La mise en scène du corporel appartient au calcul du dessinateur. Bilal y expérimente un large spectre de possibilités de donner un aspect étrange à la réalité ou de la changer, avec des traits de force et de menace. L’un des personnages, l’amie d’Amir, Sascha Krylowa, subit une infection, transmise par les mouches de Warhole, par laquelle sa peau se transforme et prend une couleur anthracite. Auparavant, on coupe les cheveux d’Amir et de Sascha, prisonniers d’une obscure secte totalitaire comme à des détenus d’un camp de concentration. Les hôtes de Warhole/ Halerwas qui visitent le „all-white“-happening ont „pâlis“ dans l’ascenseur qui les transporte au lieu du spectacle; on les vaporise avec du gaz. A part ces images brutales, l’aspect médical de la prothèse n’est pas négligé. Le père adoptif de Leyla étant en train de devenir aveugle, un savant israélien lui rend la vue à l’aide d’une prothèse opto-organique qui lui permet de voir jusque dans l’espace. Il meurt enfin, „gravement heureux“ 17 en quittant l’atmosphère terrestre dans „un ascenseur des étoiles“. La sphère des étoiles est pour Bilal, chose évidente, un contre-projet à la brutalité terrestre. La technique, pour Bilal, n’est pas une chose négative. La science et l’astronomie, représentées par le personnage de la petite sœur de Nike, l’astrophysicienne Leyla Mirkovic-Zohary, sont le contrepoids positif de la technologie-cyber, nontransparente et manipulatrice, incarnée par Warhole. L’ordre Obscurantis attaque de préférence des instituts de recherche. En se disant choqué, Bilal défend une position éclairée qui localise d’un côté la science rationnelle, de l’autre l’irrationalité des sectes fondamentalistes ou d’un art effréné. La réalité, rendue par Bilal dans ses dessins se trouve à vrai dire au-delà de ce dualisme. Le brisé, le menaçant, l’incompréhensible prédominent. Des réseaux de communication ressemblant à des insectes poilus ou à des virus grossis, envahissent les villes qui ont subi une mutation et se sont transformées en des lieux inhospitaliers et dangereux. Des descriptions comme par exemple „Moscou - Air froid (-22º) empoisonné à très empoisonné (7/ 10)“ 18 signalent, chose trompeuse, avec leur recours aux valeurs de température et de l’environnement, que cette menace latente est plus facile à manier. La technique, instrument omniprésent, est impénétrable et incontournable comme une force démoniaque. Depuis longtemps, elle a franchi les limites définies clairement de validité et des disciplines, caractéristiques de la méthodique classique des sciences naturelles. Par exemple, deux astronautes dans leur télescopehubble, sont attaqués par les mouches de Warhole qui sont „partiellement électro- 29 niques, organiques, chimiques, voire même virtuelles“. 19 Les frontières de la médecine, de la science et de la subculture se perdent. Lorsque Hatzfeld ne peut plus supporter les douleurs causées par l’implant dans son nez, il consulte un médecin, un ami à lui, qui pratique comme un résistant à des endroits divers dans la clandestinité. Il soigne Hatzfeld avec un mélange de moyens pharmacologiques et rituels; dans sa galerie, il vend des reproductions de peintres inconnus. „Vous avez vu quelque chose de contrariant? “ Les volumes de la tétralogie Le sommeil du monstre, l’œuvre la plus récente de Bilal, s’inscrivent dans une longue tradition de contes pictoriaux depuis les années soixante-dix. Bilal commence sous l’influence du mouvement de 68; ses premiers albums, la série Légendes d’aujourd’hui, rassemblent des contes féeriques et bizarres avec un message qui critique la société. Le conte Le vaisseau de pierre, créé en 1976 en collaboration avec Pierre Christin, présente l’histoire d’un village breton qui est transposé sur la côte du Chili à cause d’un méga-projet touristique; les villageois peuvent y continuer leur vie simple, loin du commerce moderne. A la fin des années soixante-dix, le tandem composé du dessinateur Enki Bilal et du scénariste Pierrre Christin se consacre à des sujets plus politiques. Le volume Les phalanges de l’ordre noir traite en 1979 le sujet de la force extrémiste et terroriste en Europe. En 1981 paraît Partie de chasse, un conte qui, avec l’action d’un récitcadre, une chasse de fonctionnaires du bloc de l’Est, renvoie à l’histoire des régimes communistes de l’Europe de l’Est. Christin et Bilal font des expériences, à cette époque-là, avec des documentations d’images, qui consistent en des photographies repeintes, des articles de journaux et des récits de voyage. En 1984 naît ainsi la „documentation“ Los Angeles - L’étoile oubliée de Laurie Bloom, en 1990 Cœurs sanglants, un récit fictif sur une secte mondiale dont les membres se livrent à des duels rituels, afin d’obtenir un niveau d’initiation supérieur. Les membres plus élevés subissent une amputation partielle du visage suivant leur rang - une religion de la mutilation. Les intérêts et les champs d’activité entre le fantastique, la documentation, la critique de la société et la SF convergent entre 1980 et 1992 dans la Trilogie Nikopol, créée avec son vieil ami. Les volumes paraissent à de longs intervalles de six ans, ce qui leur donne un caractère autonome; ce sont des contes achevés qui ne sont reliés que légèrement par les personnages agissants. L’histoire d’Alexandre Nikopol, instrumentalisé par le dieu égyptien Horus, revenu sur terre, et qui vit aussi avec lui en une sorte de communauté symbiotique, commence dans un Paris fasciste dans l’avenir et se termine dans le troisième volume lorsque les personnages principaux se séparent dans une ville arctique près de l’équateur, issue d’une anomalie due au changement climatique. L’atmosphère change et s’assombrit à travers les trois volumes. Tandis que le début de la trilogie est absurde et enjoué - on rencontre le panthéon où les dieux jouent au Monoploy - la trilogie se 30 referme sur des couleurs tristes. Horus s’oppose au tribunal des dieux contre lequel il se rebellait au début. Le centre de l’ Equateur City se casse quand une pyramide cosmique s’y écrase. Les chemins des personnages se séparent. Horus donne en cadeau à son compagnon humain quand ils se disent adieu, l’oubli, et c’est aussi l’oubli d’un grand amour. Avant les adieux, le dieu égyptien commence son dernier monologue: J’ai voulu rapprocher des hommes, mais ils sont petits… et ils resteront éternellement avec leurs nationalismes rampants, leurs religions butées, leur inaptitude au pouvoir et leurs limites temporelles […] Il faut avant tout réinstaller l’harmonie par le chaos, replonger dans le non, en un mot remplacer l’homme par quelque chose de mieux. L’ordre, Nikopol! 20 Nikopol qui, à ce stade final, perd de plus en plus la faculté de parler correctement, réplique en changeant plusieurs lettres de l’alphabet: J’qbpbe, le m’en fquz de j’qbbbpbe! Le vieux aimeb et mqbib panz je pézqbbpbe je dluz tqaj! [L’ordre, je m’en fous de l’ordre! Je veux aimer et mourir dans le désordre le plus total! ] Le sommeil du monstre renoue avec le ton sombre et une vision du monde fragmentée, révélés dans le discours du dieu égyptien et se manifestant d’une manière impressionnante dans la perte par Nikopol de la faculté de parler. Les aspects surnaturels, rappelant les contes de fées, qui sont présents dans la trilogie Nikopol, disparaissent. Le scénario, qui a lieu trente-trois ans après le siège de Sarajevo de 1993, donc en 2026, prolonge dans l’avenir des tendances du présent. L’histoire semble futuriste, pourtant elle n’est pas excentrique ou inadaptée. La force des dieux est remplacée par une spéculation technique. Ce ton sobre s’explique si l’on tient compte du fait que Bilal, qui a quitté la Yougoslavie avec ses parents à l’âge de dix ans, essaie ici d’assumer les événements de la guerre civile yougoslave. Les rapports biographiques sont absolument évidents. Le prénom du protagoniste Nike est un anagramme du prénom de Bilal, Enki. Enfin, les traits du protagoniste Nike Hatzfeld ressemblent beaucoup à ceux de son inventeur. Le bref aperçu de l’œuvre de Bilal en tant que scénariste et dessinateur montre bien d’autres rapports révélateurs. 21 L’œuvre la plus récente de Bilal se situe, malgré son ton nouveau, dans la continuité des descriptions du type fin des temps qui critiquent la société ou des anti-utopies post-atomiques, qui, à l’époque de la menace atomique et de l’opposition des deux blocs, étaient un sujet favori de la littérature BD, mais qu’on ne trouve presque plus aujourd’hui. Bilal remplace la thématique dystopique-fantastique par des relations aux conséquences actuelles: questions éthiques et politiques, fondamentalisme, possibilités de manipulation par des technologies nouvelles. Néanmoins, certaines constellations fondamentales concernant les motifs persistent. La thématique fondamentale de la trilogie Nike et de la tétralogie Monstre est qu’un esprit étranger, trop puissant, manipulateur domine le protagoniste. Dans la trilogie sur Nikopol, c’est l’esprit d’un dieu égyptien revenu sur terre, et, dans la tétralogie présentée ci-dessus, c’est une volonté mé- 31 chante et manipulatrice qui s’exprime à travers le média de la technologie et un art pervers et opaque. Les deux protagonistes, Nikopol et Hatzfeld, échouent à cause de cette manipulation dans la recherche de leur grand amour. Une constante visuelle fondamentale est la prédilection de Bilal pour des corps blessés ou équipés de prothèses comme l’on en voit déjà dans Cœurs sanglants ou dans la trilogie Nikopol où, dans le premier volume, Horus ajuste sur Nikopol un rail transformé en guise de prothèse de jambe. Dans ce droit fil, Immortel ad vitam, la suite de la thématique Nikopol, ces motifs sont devenus un phénomène envahissant. La démocratie s’est transformée en une dictature médico-eugénique, dans laquelle les habitants d’un New York futur de l’an 2095 sont composés d’organes remplacés. La tendance à équiper les corps de prothèses et à les cyborgiser apparaît comme le trait universel d’une histoire de l’humanité future. Dans Le sommeil du monstre les implants organico-cybernétiques décrits plus hauts signalent ce développement, à savoir une sorte d’asservissement technologique. Dans une interview avec Antoine De Gaudemar, Bilal rapproche en 1998 ce déplacement de la fantaisie anti-utopique de la chute des régimes communistes à l’Est. La fin de l’opposition est-ouest n’aboutit à aucune libération, mais crée d’autres conflits embrouillés: Pendant cinquante ans, on a vécu entre deux blocs, et finalement ce bipolarisme était plus confortable: il y avait deux camps, et on était d’un côté ou de l’autre. Aujourd’hui, on ne sait plus où l’on est avec les intégristes d’un côté, le FN [Front National] de l’autre, l’esclavage technologique partout: les élans nés après la chute du Mur semblent avec le recul bien naïfs, presque grotesques.22 Dans ce contexte contemporain, un motif central du romantisme trouve, avec la thématique du double, reflété plusieurs fois, son adaptation moderne, androïde et biotechnologique. Mais ce n’est pas la seule image traditionelle. Le ciel étoilé est le contraste entre la vulnérabilité humaine et la dureté d’un monde fragmenté. C’est par cette image que commence et s’achève le souvenir de Hatzfeld dans Le sommeil du monstre. Pierre Christin a uni, avec Enki Bilal, en 2000, les aspects divers qui résultent de l’analyse proscrite, reconstruite ici, dans une image-synthèse. Le dessinateur et le scénariste choisissent pour ce projet le modèle de cette institution qui représente aujourd’hui l’appréciation complète de la réalité humaine: le musée. Christin et Bilal esquissent dans Le Sarcophage la conception d’un „musée de l’avenir“, qui se compose de trois parties. On y trouve un conservatoire de la mémoire, une usine de la modernité et, enfin, la centrale de l’avenir. A part les reliques d’idéologies politiques et fondamentalistes, la section destinée à la mémoire rassemble un jardin zoologique de cultures indigènes et de bêtes sauvages, une collection de monuments et l’assemblée finale des Etats nationaux, qui, tous ensemble, produisent une marée de souvenirs et les vendent à la librairie du musée. Dans cette partie s’oppose la modernité, en tant qu’usine produisant des rêves, à la perfection cosmétique comme des drogues, des performances sportives extraordinaires, des millionnaires et des prisons. Dans le troisième complexe sont ras- 32 semblés les méthodes et moyens qui garantissent le droit de disposition sur les aspects mentionnés: la technique de communication et les armes. Une „salle de l’immortalité“ y succède: Das Klonen und die Macht über die biologische Abstammung führen zur Vision eines „a-menschlichen Menschen, der sein Schicksal vollkommen beherrscht und beliebig gestaltet.23 Une quatrième section du musée dans laquelle on ne peut entrer qu’avec des vêtements de protection, relativise à vrai dire toutes les fantaisies du pouvoir: elle mène à un réacteur contaminé. Les contes graphiques de Bilal sont extraits de ce musée de l’avenir. Il a choisi délibérément Tchernobyl comme lieu pour ce musée. L’avenir est situé sur un terrain contaminé. 1 Bilal, Enki: Le sommeil du monstre, Paris, 1998, 13. 2 Le journaliste Jean Hatzfeld est un personnage réel qui a commenté la guerre à Sarajewo et qui publia un livre en 1994; cf. Hatzfeld, Jean: L’air de la guerre. Sur les routes de Croatie et de Bosnie-Herzégovine, Québec, 1994. Sherbrooke. 3 Flusser, Villém: “Gedächtnisse”, in (ed.): Ars electronica: Philosophien der neuen Technologien, Berlin, 1989, p. 41-55. 4 Moravec, Hans: Mind Children. Der Wettlauf zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz, Hamburg, 1990. 5 Bilal, 1998, 21. 6 C’est un motif qui apparaît encore une fois, ensuite transformé dans le troisième volume du conte. La haine de la copie envers son créateur est si immense qu’elle le détruit ou détruit du moins ce qui subsiste de lui. 7 Bilal, 1998, 55. 8 Bilal, 1998, 49. 9 Bilal, Enki: 32 Décembre, Paris, 2003, 48 10 Bilal, 1998, 49. 11 Bilal, 2003, 44. 12 Lewis Clive Staples: That hideous strength: a modern fair-tale for grown-ups, London, 1945 13 Ruff, Martin: Sewers, Gas & Electric,. The Public Works Trilogy, New York, 1997. 14 Golding; William: Lord of the Flies, London, 1954. 15 Bilal, 2003, 48. 16 Bilal, 2003, 44. 17 Bilal, 1998, 68. 18 Bilal, 1998, 16. 19 Bilal, 1998, 41. 20 Bilal, Enki: Froid équateur, Paris, 1992; cité d’après Castermann, 2005, 34. 21 Cf. aussi, pour des informations plus détaillées, y compris une bibliographie jusqu’en 1998: Mietz, Roland/ Nielsen, Jens/ Hamann, Volker: “Bilal”, in: Reddition 32, 1998, 47-83. 22 Interview menée par Antoine De Gaudemar, journaliste à la Libération, le 23 septembre 1998. http: / / bilal.enki.free.fr/ interviews.php3. Visité mars 2006. 33 23 Christin, Pierre/ Bilal, Enki: Le Sarcophage, Paris, 2000; cité ici d’après l’édition allemande, Der Sarkophag, Berlin, 2001, 43. Resümee: Karl R. Kegler, „J'qbpbe, le m'en fquz de j'qbpbe! “ Der französisch-bosnische Comickünstler Enki Bilal hat in den ersten Bänden der als Tetralogie angelegten graphischen Erzählung „Le Sommeil du Monstre“ ein vielschichtiges Zukunftsszenario vorgelegt, das sich durch die bedrohliche Charakterisierung einer undurchschaubaren Komplexität fragmentarisierter Lebenswelten auszeichnet. Ausgangspunkt für Bilals Szenario ist die Erinnerung an den jugoslawischen Bürgerkrieg. Neben die Zeichnung der ideologischen und terroristischen Desintegration der Gesellschaft des 20. Jahrhunderts tritt zudem die Auslotung des Potentials manipulativer Technologien. Das Medium der Comicerzählung ist auf diese Weise als fiktionaler und zugleich bildlich-anschaulicher Kommentar zu technisch-wissenschaftlichen Wunschvorstellungen der Gegenwart zu lesen. Grundthematik der monstre-Tetralogie ist das Beherrschtsein des Protagonisten durch einen fremden, übermächtigen, manipulativen Geist, der sich über das Medium der Technologie und in gleicher Weise im l'art pour l'art einer ebenso perversen wie opaken Kunst ausdrückt. 34 Pascal Lefèvre Persepolis de Marjane Satrapi, un succès incompréhensible? Le succès phénoménal de Persepolis [...] est hallucinant. Il était impossible de s’attendre à ça. On pensait prendre un gros risque, on a sorti le premier tome de Persepolis à trois mille exemplaires. Et quatre ans après, on en était à pus de 200.000 vendus, pour les quatre tomes. (Menu, l’éditeur interviewé par Bellefroid, 2005: 13) Quand L’Association, 1 un éditeur français de bandes dessinées alternatives publia à la fin de l’an 2000 le premier album d’une dessinatrice iranienne inconnue, Marjane Satrapi, 2 il ne s’était pas du tout attendu à un tel succès. Aujourd’hui, tous les quatre volumes de Persepolis (2000-2004) sont parus et ils ont été traduits dans différentes langues (anglais, allemand, espagnol, italien, néerlandais...) avec un succès plus ou moins similaire. C’est sans concurrence le meilleur best-seller dans le catalogue de L’Association. 3 Non seulement les chiffres sont étonnants pour un débutant, mais aussi la portée d’une telle création: comme Maus de Spiegelman, Persepolis a su intéresser aussi un public qui généralement ne lit pas de bandes dessinées. 4 Tous deux parlent d’un fait historique crucial (l’holocauste chez Spiegelman, la révolution islamique en Iran chez Satrapi) et les répercussions sur leur situation familiale. 5 Tous deux ont choisi un format plus réduit que d’habitude dans la bande dessinée, un format qui ressemble plutôt à un roman. Bien qu’elles aient d’abord été publiées par tranches (deux ou quatre), leur version finale et intégrale de plus de deux cents pages constitue une œuvre aboutie et complète. Comme Maus, 6 Persepolis est indiscutablement venue au bon moment politique: juste au moment de la parution du deuxième tome (bien avant les traductions) en septembre 2001, le monde s’est vu l’objet du plus spectaculaire acte de terrorisme à New York et Washington D.C. Depuis cet instant, les islamistes fondamentalistes ont su imposer leur existence effrayante, mais ce n’était pas leur premier acte terroriste et beaucoup d’autres ont suivi depuis lors. Ces actes incompréhensibles aux yeux des occidentaux ont suscité en même temps un certain intérêt en Europe et aux Etats-Unis pour l’islam fondamentaliste. Tout d’un coup on s’est souvenu de la première grande manifestation de cette veine extrémiste en 1979: la révolution islamique en Iran, qui donna une impulsion décisive à l’extrémisme religieux et qui partout affronterait et menacerait les régimes établis (Egypte, Afghanistan, Algérie,...). En outre, d’autres facteurs peuvent expliquer le succès de Persepolis, comme le fait que cette bande dessinée fut créée par une jeune femme séduisante, qui s’oppose au dogmatisme de la religion fanatique et vit à Paris comme une femme occidentale sans voile. Qu’elle reste liée à son pays, dont elle est fière, constitue nullement un obstacle à la consécration de son travail, au contraire cela ajoute à 35 sa crédibilité. Même si le contenu est assez important, on peut s’étonner que le public n’ait pas rejeté le côté visuel, parce que Satrapi n’est pas vraiment un maître du dessin classique et le reconnaît volontiers: En fait, mon travail le plus important pour Persepolis, ce n’est pas de dessiner: j’ai un dessin minimaliste, même si je travaille beaucoup les expressions. Je ne dessine pas beaucoup de décors, je ne travaille pas les cadrages, je trouve d’ailleurs que ce n’est pas nécessaire pour ce que je raconte. Et je suis paresseuse, je n’ai pas envie d’en faire plus. Non, l’essentiel de mon boulot, c’est de me souvenir comment je ressentais les choses quand j’avais six, dix ou treize ans. Parce que je trouve beaucoup plus intéressant que le livre évolue avec mes sensations d’alors plutôt que de faire semblant en tant que femme de 31 ans. (Vincent, 2002) Comme la critique du New York Review of Books Patricia Storace (2005) l’écrivait: on ne peut isoler aucune vignette qui puisse être considérée comme une œuvre d’art, au contraire, l’essentiel de la bande dessinée n’est pas une case isolée mais la collaboration des différentes vignettes pour raconter une histoire et les dessins de Persepolis savent bien communiquer. Bien sûr, le texte dans les bulles et récitatifs joue aussi un rôle important dans la suite des séquences: régulièrement la voix off de l’auteur (Satrapi adulte) à l’imparfait amende, complète ou juge le passé (Carrier, 2004). L’apport d’images ne peut être réduit à l’illustration d’une histoire racontée par le texte. Au contraire, les images font toute la différence: une artiste ne représente seulement quelque chose, mais elle exprime en même temps une philosophie parce que chaque dessin est, par son style, une interprétation visuelle du monde, une ontologie visuelle (Lefèvre, 2007: 8). Pendant la lecture d’une bande dessinée, le lecteur n’a pas d’autre possibilité que de voir le monde comme l’artiste le représente. Et quelle est l’interprétation visuelle de Satrapi? Cet auteur se sert seulement de grosses lignes noires et de zones égales en noir ou blanc. Comme elle n’utilise jamais de hachures, les tonalités et les textures possibles sont très limitées, mais dans ces images contrastées le blanc joue un aussi grand rôle dans la construction que le noir. Plusieurs fois le blanc devient phosphorescent en relation avec le noir; mais Satrapi ne cherche pas d’effets picturaux comme le clair-obscur d’un Milton Caniff, les contrastes chez elle continuent à démarquer clairement les contours des personnages. Le blanc autant que le noir peut servir de contour (par exemple quand quelqu’un est vêtu d’un costume noir dans un contexte noir, une ligne blanche aide à tracer les contours de ce personnage). En outre, Satrapi simplifie comme beaucoup d’autres dessinateurs de bande dessinée (entre autres Hergé et Schulz) toujours la réalité en quelques lignes de base. De la même manière, les motifs décoratifs sur les vêtements ou les objets sont simplifiés pour la lisibilité; ils ne sont pas modelés selon la lumière ou leur position. En outre, les quelques rares décors n’ont, eux non plus, aucune prétention réaliste, ils sont seulement là parfois pour indiquer de façon rudimentaire le lieu de l’action sans beaucoup de précisions, ni beaucoup de détails. La suggestion de la profondeur en général n’est pas importante pour Satrapi: la majorité de ses dessins joue au contraire plutôt sur l’aplat (comme dans la mise en scène, 36 qu’on analysera plus loin). Bien qu’on puisse voir dans quelques vignettes quelques lignes de fuite de la perspective linéaire, il manque plusieurs fois des indications de profondeur ou bien Satrapi applique un système alternatif comme l’oblique. Elle nous propose aussi des vues impossibles dans la réalité comme une section orthogonale d’un escalier ou une vue transparente d’un voile pour montrer comment la coiffure détermine la forme extérieure d’un voile. L’auteur ne cherche pas seulement la clarté dans son dessin, mais aussi dans sa mise en scène: la plupart du temps les personnages sont de profil ou de face et souvent un vide (en noir ou blanc) autour d’eux les met en valeur. Très souvent les personnages sont placés l’un à côté de l’autre au premier plan; Satrapi cherche plutôt la planimétrie que la profondeur. Même les quelques scènes de foules restent très claires: par exemple, même si un groupe de personnes forme une entité formée et fermée par le noir de leurs vêtements, le blanc de leur visages donne à chacun une individualité. Dans un groupe armé seuls les visages des soldats au premier plan sont montrés et les autres restent en silhouette derrière: de cette manière, Satrapi sait isoler au premier plan un petit nombre de figures pour les mettre en valeur. En outre, dans les scènes de foules elle applique souvent un seul rythme visuel: tous les corps d’une foule sont dessinés dans une posture plus ou moins similaire. On peut trouver aussi les rythmés visuels dans les grands tableaux symboliques: par exemple dans le chapitre „Les Bijoux“ la combinaison d’une vue plongeante sur les voitures et d’une vue oblique des flammes géantes pour montrer la fuite vers le nord à cause des bombardements. Même dans sa simplicité Satrapi essaie des effets décoratifs: elle aime par exemple dessiner des courbes et spirales dans des situations diverses (pendant une balade dans un parc, une fête le soir, un rêve ou une prière). Ces spirales n’ont pas un sens univoque, mais fonctionnent surtout sur le plan décoratif et peuvent suggérer des sentiments variés. Le style naïf fonctionne aussi comme un facteur relativisant: quel que soit le drame (perdre ses proches dans la guerre ou la révolution, séparation de familles), le style offre au lecteur une certaine distance fictive. Dans Persepolis l’image en soi ne peut jamais être choquante, les réalités horribles (guerre, tortures…) sont toujours traduites ou filtrées par ce dessin naïf. En somme, l’ensemble des images et textes clairs, les histoires courtes fonctionnent d’une façon assez convaincante selon les critiques. Dans la presse généraliste et spécialisée ce style a suscité beaucoup de références: il est à la fois comparé aux autres styles dans la bande dessinée contemporaine comme celui de Spiegelman dans Maus (Theokas, 2003) ou de l’ami de Satrapi David B. (Platthaus, 2004) et à d’autres styles plus anciens: Matisse (Harvey, 2005: 181), les enluminures des ouvrages médiévaux (Maire, 2001), une combinaison de frises perses et de griffonnages enfantins (Cave, 2003), gravures sur bois (Gravett, 2005: 71), l’expressionnisme et miniatures perses (Ederstadt, 2003). On pourrait même y ajouter quelques autres références comme Gustave Doré ou l’art brut/ naïf. Doré pour la représentation des scènes historiques très proches de Histoire pittoresque, dramatique et caricaturale de la Sainte Russie (1854), l’art brut ou naïf pour la 37 forte suggestion d’authenticité: le manque de raffinement semble suggérer un créateur honnête derrière ces lignes simples. L’aspect indexical ne peut être négligé: ce style enfantin est utilisé pour raconter des scènes de son enfance. Cela peut donner l’impression que c’est l’enfant Satrapi qui a dessiné sa propre ‘aventure’ - mais cette impression fonctionne un peu moins dans les scènes plus adultes parce que le style n’évolue pas avec l’âge. En tout cas, le décalage entre la candeur des dessins et les faits sérieux (répression politique, tortures...) qu’ils décrivent finit par générer quelque chose de convaincant. Le contraste entre l’image naïve et un contenu plus compliqué fonctionne. Son style est peut-être fait de contrastes, mais les caractères et les événements qu’il représente ne sont pas si contradictoires: par exemple les pilotes de guerre emprisonnés à la suite du putsch manqué acceptèrent de bombarder l’Irak en échange de la diffusion de l’hymne national. Après un succès commercial et critique, c’est toujours plus facile de formuler les raisons de ce succès. Quand un lecteur non averti feuillette les pages, il pourrait se demander pourquoi c’est un best-seller, mais on a pu voir qu’en général les lecteurs et les critiques ont accepté ce style naïf et simple. Les raisons proposées ici sont les suivantes: ce style était assez efficace ou convaincant pour une histoire autobiographique. 1 En 1990 six auteurs (David B, Killofer, Matt Konture, Stanislas, Lewis Trondheim et Mokeït) décident de créer une structure commune, L’Association, non seulement pour éditer leurs bandes dessinées, mais aussi pour promouvoir une autre bande dessinée que celle qui était possible chez les grands éditeurs. Cette maison n’a pas fini de croître, et aujourd’hui L’Association est considérée généralement comme un éditeur important (ils gagnent pas mal de prix à Angoulême) et d’autres maisons d’éditions ont copié quelques uns de ces formats ou formules. 2 Marjane Satrapi est née en 1969 à Rasht, en Iran, mais elle vit depuis 1994 à Paris. 3 Comme Menu l’explique dans l’interview avec Thierry Bellefroid (2005: 13), L’Association vend d’ordinaire 500, 1000, 1500 exemplaires de ses livres, sauf pour ceux de David B. ou de Lewis Trondheim, où l’on tourne aux alentours de 8 à 12 000. En revanche, les 200.000 exemplaires vendus en cinq ans restent relativement limité, comparés aux plus grands best-sellers dans la bande dessinée francophone: un nouvel Astérix se vend en quelques semaines encore à plus d’un million d’exemplaires. 4 Persepolis a suscité entres autre des projets pédagogiques comme celui http: / / www.acorleans-tours.fr/ lettres/ coin_prof/ usages-tice/ textes/ sat/ satrapi1.htm. 5 Spiegelman n’était pas le premier à entreprendre cette approche: déjà au début des années 1970 au Japon, il y avait Keiji Nakazawa qui faisait Hadashi no Gen [Gen d’Hiroshima], une manga sur la bombe atomique sur Hiroshima et ses effets sur sa famille. 6 Maus commença à être publié en chapitres dans le magazine RAW en 1980, deux ans avant il y avait eu sur la télévision américaine (et européenne) la mini-série (de 4 épisodes) Holocaust - dirigé par Marvin J. Chomsky et écrite par Gerald Green pour NBC, 1978. D’après les estimations, 220 millions d’Américains et Européens suivirent cette série, et un grand débat s’ensuivit (Morey, 2006). Pour beaucoup d’Américains c’était le premier fois qu’ils étaient confrontés plus ou moins directement avec l’Holocauste. 38 Quelques références Bellefroid, Thierry: Les éditeurs de bande dessinée, Paris: Niffle, 2005. Carrier, Mélanie: „Persepolis et les révolutions de Marjane Satrapi“ au site Belphégor, Vol. IV, 1, Novembre 2004, <http: / / etc.dal.ca/ belphegor/ vol4_no1/ articles/ 04_01_Carrie_ satrap_fr.html> Cave, Rob: „Persepolis - The Story of a Childhood“, in: Ninth Art, 8-8-2003. Version digitale sur http: / / www.ninthart.com/ printdisplay.php? article=636 consulté le 5 janvier 2006. Eberstadt, Fernanda: „God Looked Like Marx“, in: The New York Times, 11-5-2003. Version digitale sur http: / / www.nybooks.com/ articles/ article-preview? article_id=17900 consulté le 5 janvier 2006. 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Marjane Satrapi“, au site BD Sélection, 2002, http: / / www.bdselection.com/ php/ ? rub=page_dos&id_dossier=51 consulté le 5 janvier 2006. Resümee: Pascal Lefèvre, Persepolis von Marjane Satrapi: ein unverständlicher Erfolg? fragt sich warum dieser Comic ein wichtiges Phänomen ist, nicht nur wegen seiner unglaublichen Verkaufszahlen, aber auch wegen der Reichweite dieses Erstlingswerks. Man hat versucht die Gründe für diesen Erfolg herauszufinden. Zunächst war das Timing ideal (der islamische Terrorismus der letzten Jahre), aber es gibt auch Gründe dafür im Werk selbst: die Art und Weise wie Satrapi ihre Geschichte mit ihren einfachen aber klaren Zeichnungen erzählt. Der naive Aspekt suggeriert zudem eine gewissen Authentizität und Glaubwürdigkeit. 39 Adelheid Schumann (ed.) Frankreichbild im Wandel Adelheid Schumann Das Frankreichbild deutscher Jugendlicher zwischen gestern und heute Das vorliegende Dossier versammelt einige Beiträge zum Frankreichbild deutscher Jugendlicher und fragt nach der Rolle, die der Französischunterricht mit seinen Lehrwerken, die Frankreichberichterstattung von Presse und Fernsehen, sowie die direkten Kontakt- und Austauscherfahrungen der Jugendlichen bei der Entwicklung ihres Frankreichbildes spielen. Zwar existiert eine große Anzahl von Studien über die gegenseitigen Wahrnehmungsmuster zwischen Deutschland und Frankreich 1 und sind die historischen und politischen Faktoren und Entwicklungen, die das Frankreichbild in Deutschland und das Deutschlandbild in Frankreich nachhaltig beeinflusst haben, umfassend aufgearbeitet, doch liegen nur wenige neuere Untersuchungen zu den spezifischen Einstellungen von Jugendlichen vor. Seit den 80er Jahren, als im Auftrag des Deutsch-Französischen Jugendwerkes größere Vergleichsstudien angefertigt wurden 2 und die Jugendlichen beider Länder die Gelegenheit erhielten, ihre Vorstellungen vom Nachbarland und seiner Bevölkerung ausführlich darzulegen, sind keine neueren Umfragen zum Frankreichbild von Schülern und Schülerinnen mehr durchgeführt worden. Dafür geriet die Einstellung der Jugendlichen zur französischen Sprache und zum schulischen Französischunterricht immer mehr in den Fokus der öffentlichen Diskussion. Die Tatsache, dass sich seit den 80er Jahren eine zunehmende Zahl von Schülern und Schülerinnen von Französisch als Fremdsprache abwandten und sich insbesondere in der Oberstufe ein zunehmendes Desinteresse am Erlernen der französischen Sprache entwickelte, 3 alarmierte vor allem die Bildungspolitik und die Französischlehrerverbände und führte dazu, dass zahlreiche Untersuchungen zur Abwahl des Faches Französisch in der Oberstufe durchgeführt wurden. Dabei stand die Frage nach den Problemen und Schwierigkeiten des Französischlernens im Mittelpunkt: welche Lernprobleme treten beim Französischlernen gehäuft auf, wie kann man die Schüler am besten für die französische Sprache begeistern, welche Unterrichtsmethoden und welche Unterrichtsinhalte könnten Abhilfe schaffen? Ein zentrales Ergebnis dieser Umfragen bestand in der Erkenntnis, dass Französisch als eine schwer zu erlernende Sprache gilt, die im schulischen Fächerka- 40 non eine hohe Selektionsfunktion ausübt und mehr als die anderen schulischen Fremdsprachen zu Frustrationserlebnissen bei den Schülerinnen und Schülern führen kann. Rückschlüsse auf das Frankreichbild der Jugendlichen ließen diese Untersuchungen jedoch nicht zu, höchstens ließen sich Erkenntnisse über die Kritik der jungen Leute am Frankreichbild ihrer Französischlehrwerke gewinnen. 4 Dass sich seit einigen Jahren ein Wandel in dem deutschen Frankreichbild vollzieht, lässt sich aus den letzten großen Umfragen zum Frankreichbild der Deutschen ablesen. 5 Die Ergebnisse dieser Umfragen deuten darauf hin, dass der Wahrnehmungswandel vor allem von der jüngeren Generation ausgeht und zu einem großen Teil auf dem Erfahrungswissen und den direkten Kontakterfahrungen der Jugendlichen beruht. Die alten Stereotypen bestehen zwar unverändert fort und werden auch in allen Umfragen erneut bestätigt, doch scheint sich daneben eine ganz neue jugendliche Perspektive auf Frankreich zu entwickeln, die das moderne, hochtechnisierte und multikulturelle Frankreich in den Blick nimmt und die Douce France mit ihrem savoir vivre in den Bereich der Mythen verweist. Wir möchten mit diesem Dossier einige Überlegungen und Erkenntnisse zu den Ursachen und Quellen dieser Veränderungen im Frankreichbild präsentieren. Dabei steht an erster Stelle der Blick auf das Frankreichbild, das von den Lehrwerken des Französischunterrichts verbreitet wird. Adelheid Schumann untersucht in ihrem Beitrag zu dem „Wandel des Frankreichbildes in den Lehrwerken für die Oberstufe“ die Entwicklung des Frankreichbildes in den Lehrwerken seit 1945. Dabei geht es um eine Inhaltsanalyse (Räume, Zeiten, Gesellschaft, Kultur), eine Perspektivenanalyse (Textsorten, Bildmedien, Wahrnehmungsperspektiven) und eine Orientierungsanalyse (Erfahrungsbereiche, Zielperspektiven) der Werke und eine kritische Sichtung der Veränderungen der landeskundlichen und lernpsychologischen Konzepte im Verlauf der letzten 50 Jahre. Ebenfalls der Lehrwerkanalyse gilt der Beitrag von Christiane Fäcke: „Das Frankreichbild in neueren Französischlehrwerken der Sekundarstufe I“. Christiane Fäcke untersucht die Lehrwerke für die ersten vier Lernjahre und konzentriert sich auf die Bereiche „Touristisches Frankreich“, „Historisches Frankreich“, „Gastronomisches Frankreich“, „Multiethnisches Frankreich“ und „Französische Jugendkultur“. Lieselotte Steinbrügge befasst sich in ihrem Beitrag „L’Etranger von Albert Camus. Über die Haltbarkeit eines Schulklassikers“ mit der literarischen Schullektüre und dabei insbesondere mit dem Schulklassiker Albert Camus und dem meistgelesenen Roman des Französischunterrichts in Deutschland: L’Etranger. Dabei geht sie den Fragen nach, warum dieses Werk seit 40 Jahren an der Spitze des schulischen Lektürekanons steht, wie es im Unterricht gelesen wird - früher und heute - und welche Vorstellungen von Frankreich und Algerien dabei bei den Schülern evoziert werden. In dem Beitrag von Isabella von Treskow „Die Banlieue-Proteste 2005 im Visier der deutschen Printmedien. Schock aus der Mitte Europas“ geht es nicht mehr um das vom schulischen Französischunterricht vermittelte Frankreichbild, sondern um 41 journalistische Wahrnehmungsperspektiven und ihren Niederschlag im Frankreichbild der Presse. Am Beispiel der Berichterstattung einiger überregionaler deutscher Zeitungen und Zeitschriften über die Banlieue-Unruhen in Frankreich im Jahre 2005 gelingt es der Autorin, einige in den Texten verborgene Frankreich-Klischees und historische Konnotationen (Frankreich als Land des Luxus und der Revolte) aufzudecken und den traditionellen Elementen in der deutschen Frankreichwahrnehmung Neuerungen und Veränderungen gegenüber zu stellen. In dem letzten Beitrag kommen die deutschen Jugendlichen auf indirekte Weise selbst zu Wort und erhalten die Gelegenheit, ihr Frankreichbild zu präsentieren. Adelheid Schumann und Diana Poggel haben in Gymnasien und Gesamtschulen des Landes Nordrhein-Westfalen im Sommer 2007 eine große Umfrage durchgeführt und 12-16jährige Schüler und Schülerinnen nach ihren Kenntnissen, Erfahrungen und Vorstellungen über Frankreich befragt. Die Ergebnisse werden in dem Beitrag „Zum Frankreichbild deutscher Jugendlicher. Eine Umfrage bei 12- 16jährigen Schülern und Schülerinnen“ präsentiert. Als wichtigste Quelle ihres Frankreichbildes geben zwei Drittel der Jugendlichen die eigenen Erfahrungen im Kontakt mit Franzosen und Französinnen an. Danach folgt das Fernsehen als zweitwichtigste Quelle aus Sicht der Jugendlichen und erst an dritter Stelle werden der schulische Französisch- und Geschichtsunterricht und sein Einfluss auf die eigenen Vorstellungen von Frankreich angeführt. Das Frankreichbild der Jugendlichen ist zwar keineswegs frei von stereotypen Vorstellungen, doch zeigen die Ergebnisse der Umfrage deutlich, dass direkte Kontakterfahrungen zu neuen Akzentsetzungen in der Sicht auf das Nachbarland und zu einer eindeutigen Erweiterung der Wahrnehmungsperspektiven führen. 1 Zur Geschichte des deutschen Frankreichbildes vgl. Hans-Manfred Bock: „Wechselseitige Wahrnehmung als Problem deutsch-französischer Beziehungen“, in: Frankreich- Jahrbuch, Opladen, Deutscher Verlagsverbund, 35-56; Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation, Stuttgart, Metzler, 2005; Adelheid Schumann: „Stereotype im Französischunterricht. Kulturwissenschaftliche und fachdidaktische Grundlagen“, in: Adelheid Schumann und Lieselotte Steinbrügge (eds.): Didaktische Transformation und Konstruktion, Frankfurt, Peter Lang, 113-130; Isabella von Treskow: „Deutsche und französische Grenzüberschreitungen“, in: Französisch heute 32, 2001, 327-339; Karl Ferdinand Werner: „Vom Frankreichbild der Deutschen“, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 4, 35, 1979, 305- 310. 2 Dieter Tiemann: „Französische und deutsche Schüler über ihre Nachbarn am Rhein“, in: Marieluise Christadler (ed.): Deutschland - Frankreich. Alte Klischees - Neue Bilder. Duisburg, Sozialwissenschaftliche Kooperative, 1981, 170-185; Dieter Tiemann: Frankreich und Deutschlandbilder im Widerstreit. Urteile französischer und deutscher Schüler über die Nachbarn am Rhein, Bonn, Europa Union Verlag, 1982. 3 Christoph Bittner: „Der Teilnehmerschwund im Französischunterricht - eine unabwendbare Entwicklung? Eine empirische Studie am Beispiel der gymnasialen Oberstufe“, in: Französisch heute 34, 2003, 338-353; Lutz Küster: „Schülermotivation und Unterrichts- 42 alltag im Fach Französisch“, in: Französisch heute 38, 2007, 210-226; Franz-Joseph Meißner: „Gymnasialer Fremdsprachenunterricht in Nordrhein- Westfalen im Lichte der Statistik (1965-1990)“, in: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 8, 1997, 1-26; Marcus Reinfried und Annette Kosch: „Sprachvermittlung in der Krise? Die Entwicklung des Französischunterrichts in Deutschland seit dem Elysée-Vertrag“, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 58, 2003, 17-27. 4 Axel Polleti: „Französischlehrbücher im Urteil von Schülern und Lehrern“, in: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 2, 1993, 183-190. 5 Die letzten größeren Umfragen wurden im Jahre 2000 von EMNID für Die Zeit und im Jahre 2003 von Allensbach für die Frankfurter Allgemeine Zeitung durchgeführt, sowie im Jahre 2002 gemeinsam von SOFRES und EMNID für das Deutsch-Französische Jugendwerk. Vgl. Renate Overbeck und Gabriele Padberg: „Regards croisés. Was Deutsche und Franzosen voneinander denken und wissen“, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 2, 2006, 49-53; Klaus Peter Schmid: „Modern, einflussreich, genießerisch. Was die Deutschen von Frankreich und den Franzosen halten“, in: Die Zeit, 2000, www.zeit.de. 43 Adelheid Schumann Der Wandel des Frankreichbildes in den Lehrwerken für die Oberstufe 1. Oberstufenlehrwerke für den Französischunterricht seit 1945 Das deutsche Frankreichbild hat im Verlauf der letzten Jahrzehnte einen deutlichen Wandel erfahren. Während die Deutschen in den 50er und 60er Jahren die Douce France und ihr Savoir vivre bewunderten und Frankreich als privilegiertes Ferienziel betrachteten, ist heute ein realistischer, um nicht zu sagen nüchterner Blick auf Frankreich zur Regel geworden. Dank zahlreicher Städtepartnerschaften und Jugendkontakte kennt man sich gegenseitig gut, besser jedenfalls als alle anderen Europäer, und diese Nähe hat zweifellos zu einer Entmythologisierung der gegenseitigen Vorstellungen beigetragen. Insbesondere bei der Jugend ist eine zunehmende Distanz zu der Französischen Kultur und der Französischen Sprache festzustellen. Betrachtet man die aktuellen Entwicklungen der Schülerzahlen im Fach Französisch, 1 so stellt man fest, dass seit den 80er Jahren besonders in der Oberstufe ein stetiger Rückgang im Fach Französisch zu verzeichnen ist. Zwar hat sich der Anteil der Französischlernenden in der Sekundarstufe I seit den 60er Jahren kaum verändert, und konnte Französisch sich eindeutig gegenüber Latein durchsetzen als zweite Fremdsprache nach Englisch, 2 doch es nutzen mittlerweile etwa drei Viertel der Schüler und Schülerinnen die Möglichkeit, das Fach nach der 11. Klasse abzuwählen. Die Gründe für diese Abkehr vom Französischen sind häufig beschrieben worden: 3 Französisch gilt bei den Schülern und Schülerinnen als eine schwere Sprache und der Französischunterricht als grammatiklastig und zu wenig kommunikationsfördernd, mit Spanisch steht zudem eine attraktive Alternative zur Verfügung. Im außerschulischen Alltag spielt Französisch für die Jugendlichen anders als Englisch keine große Rolle, und deshalb stellt seine Beherrschung für sie offensichtlich kein lebensnotwendiges und erstrebenswertes Lernziel dar. Für den Französischunterricht bedeutet das, dass die Motivation für das Fach sich heute nicht mehr auf außerschulische gesellschaftliche Faktoren stützen kann wie noch in den 60er und 70er Jahren, als vor dem Hintergrund des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags sich jeder Französischlernende auf der Höhe seiner Zeit fühlen durfte, sondern aus dem schulischen Arbeitsprozess heraus entwickelt werden muss. Das bedeutet, dass eine positive Einstellung zu Frankreich, seiner Sprache und Kultur nur dann entstehen kann, wenn die fachlichen Inhalte des Französischunterrichts von den Schülern als interessant und für sie relevant erlebt werden, d.h. wenn sich bei ihnen ein positives Frankreichbild ent- 44 wickelt, das den Wunsch weckt, mit Franzosen kommunizieren zu können. Alle aktuellen Untersuchungen zur Einstellung von deutschen Jugendlichen gegenüber dem Französischunterricht 4 kommen zu dem Schluss, dass die Unterrichtsinhalte für die Motivation eine zentrale Rolle spielen und dass das Frankreichbild der Lernenden maßgeblich von den im Französischunterricht behandelten Themenbereichen und Textsorten (Literatur, Landeskunde, Film) beeinflusst wird. Es erscheint deshalb notwendig, sich genauer mit den Inhalten auseinanderzusetzen, die den Französischunterricht der Oberstufe bestimmen, insbesondere denen der Übergangsphase (10./ 11. Klasse), die offensichtlich für das Abwahlverhalten der Schülerinnen und Schüler ausschlaggebend sind, und der Frage nachzugehen, wie die Auseinandersetzung mit der französischen Gesellschaft und Kultur in der Schule angeleitet und welches Frankreichbild vermittelt wird. Dabei soll ein kurzer Blick zurück auf die Lehrwerke und Lehrmaterialien für den fortgeschrittenen Französischunterricht seit den 50er Jahren dazu beitragen, die Wandlungen im schulisch vermittelten Frankreichbild aufzuspüren und die Besonderheiten der aktuellen Wahrnehmung und Darstellung Frankreichs deutlich zu machen. Zu unterscheiden ist bei diesem Blick auf den Französischunterricht auch zwischen dem Frankreichbild der westdeutschen Lehrwerke und dem der ostdeutschen Lehrwerke, die sich erheblich voneinander unterscheiden. Im Rahmen der vorliegenden Studie werden jedoch nur die Entwicklungen in der Bundesrepublik berücksichtigt. Für das Frankreichbild in den schulischen Lehrwerken der DDR liegen jüngere Untersuchungen von Dorothee Röseberg, Françoise Bertrand und Marc Thuret vor, auf die hier verwiesen werden soll. 5 Als Jürgen Krauskopf in den 80er Jahren 6 die letzte groß angelegte Inhaltsanalyse von Französischen Oberstufenlehrwerken in der Bundesrepublik durchführte, 7 konnte er noch davon ausgehen, dass Lehrwerke die zentrale Text- und Arbeitsgrundlage für den schulischen Französischunterricht darstellen. Das hat sich seitdem grundlegend geändert. Die zahlreichen für die Sekundarstufe II konzipierten Lese- und Arbeitsbücher liefern nur noch einen kleinen Teil der Unterrichtsmaterialien, daneben kommen themenorientierte Dossiers oder frei gewählte Pressetexte, literarische Ganzschriften und Jugendlektüren und zunehmend auch Spiel- und Dokumentarfilme zum Einsatz. Eine informelle Umfrage bei Französischlehrern und Fachleitern in Nordrhein-Westfalen ergab, dass die meisten Oberstufenlehrwerke von den Lehrenden als Steinbruch benutzt werden und höchstens noch in der 10./ 11.Klasse als vollständiges Grundlagenwerk Verwendung finden. Die bundesweite Einführung des Zentralabiturs 8 führt darüber hinaus dazu, dass die Themenbereiche der Oberstufe sich zukünftig immer enger nach den staatlichen Vorgaben richten müssen und der Spielraum für Themenvielfalt geringer wird. Doch auch in den vergangenen Jahren war schon ein enger Zusammenhang zwischen den inhaltlichen Vorgaben der Rahmenrichtlinien und den für die Oberstufe produzierten Unterrichtsmaterialien festzustellen und wenig Mut zur Innovation auszumachen. Das gilt insbesondere für das literarische Profil des fortgeschrittenen Französischunterrichts, das sich, wie Franz Rudolf Weller in seiner in der 45 zweiten Hälfte der 90er Jahre durchgeführten Untersuchung zum Lektürekanon des Französischunterrichts konstatiert, seit den 60er Jahren kaum verändert hat und sich im Wesentlichen auf einen Kern von ca. 12-16 literarischen Werken stützt. 9 Aber auch bei der Auswahl der landeskundlichen Themen sind eindeutige Präferenzen und Konzentrationen auf einige wenige Bereiche erkennbar. In den Lehrwerken für die Oberstufe findet man sie modellhaft bearbeitet. Auch wenn die Oberstufenlehrwerke heute also nicht mehr als zentrale Textgrundlage für den Französischunterricht in der Oberstufe gelten können, so bieten sie auf Grund ihrer inhaltlichen Orientierung an den Rahmenrichtlinien und ihrer Modellfunktion für landeskundliche Einzeldossiers 10 dennoch einen guten Überblick über die Themenschwerpunkte, die vorzugsweise behandelt werden und stellen eine wichtige Grundlage für das Frankreichbild der Schüler dar. Bei der folgenden Analyse sollen sie deshalb im Mittelpunkt stehen und die landeskundlichen Dossiers und literarischen Textausgaben für die Schule nur ergänzend in die Betrachtung einbezogen werden. 2. Kriterien für die Analyse des Frankreichbildes in Lehrwerken Wenn man im Sinne der imagologischen Forschung davon ausgeht, dass das Bild eines Landes das Ergebnis des Zusammenspiels von Kenntnissen über landeskundliche und kulturelle Sachverhalte, von medial und sozial vermittelten Vorstellungen und von eigenen Erfahrungen mit dem Land und seinen Bewohnern darstellt, 11 dann muss sich die Analyse seiner Vermittlung im Lehrwerk mit folgenden Fragen befassen: • Welches Wissen wird von den Texten und den Bildern transportiert? Welche landeskundlichen Inhalte im Bezug auf Räume, Zeiten, Menschen und ihre Kultur werden präsentiert? Welche Schwerpunktsetzungen und Selektionen werden dabei vorgenommen und welche gesellschaftlichen Bereiche werden ausgespart? • Welche Vorstellungen werden erweckt, bestätigt oder widerlegt? Werden nationale Stereotypen bedient oder dekonstruiert? Werden Kulturkontraste oder Kulturvergleiche evoziert, Gegensätze oder Gemeinsamkeiten herausgestellt? Handelt es sich eher um harmonisierende bzw. idealisierende Darstellungen des Landes oder ist der Zugang problemorientiert und kritisch? Bieten die Text- und Bildmaterialien unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven und Darstellungsmodi? • Welche Erfahrungen werden im Sinne einer Lernerorientierung einbezogen und aktiviert? Auf welche Begegnungssituationen und interkulturellen Erfahrungen wird vorbereitet: Jugendaustausch, Ferienaufenthalte, europäische Partnerschaft? Werden Identifikationsangebote gemacht und jugendkulturelle Erfahrungsbereiche angesprochen? Welche fremdsprachendidaktischen Zielvorstel- 46 lungen werden entwickelt: interkulturelle Verständigung, Orientierungskompetenzen in der Zielkultur, kulturelle Partizipation, allgemeine Bildung? Diesen Analysefragen liegt die Vorstellung zu Grunde, dass das Frankreichbild eines Lehrwerks sich einerseits aus der Zusammenstellung seiner landeskundlichen und kulturellen Inhalte sowie ihrer medialen Präsentation in Form von verschiedenen Textsorten und Wahrnehmungsperspektiven zusammensetzt, sein Wirkungspotential aber andererseits davon abhängt, wie weit es ihm gelingt, die Vorstellungswelten und Erfahrungsbereiche der jugendlichen Lerner anzusprechen oder herauszufordern. Entsprechend der genannten Kriterien soll im Folgenden eine Analyse der Oberstufenlehrwerke für den Französischunterricht durchgeführt werden, 12 die zwischen Inhalten, Perspektiven und Orientierungen unterscheidet: • Die Inhaltsanalyse umfasst die Darstellung von Räumen (Stadt/ Land, Frankreich/ Frankophone Länder), Zeiten (Vergangenheit/ Gegenwart), Gesellschaft (soziale Schichten, ethnische Zusammensetzung, Wirtschaft, Umwelt, Politik), Kultur (Alltagskultur/ Hochkultur, Feste und Traditionen). • Die Perspektivenanalyse zielt auf die Verteilung von Textsorten (Literatur, Presse, Wissenschaft), Bildmedien (Typen, Funktionen), Wahrnehmungsperspektiven (Eigenwahrnehmung/ Fremdwahrnehmung). • Die Orientierungsanalyse gilt der Lernerorientierung des Materials im Sinne seines Aktivierungspotentials von Erfahrungsbereichen (Jugendkultur, Begegnungssituationen), Erfahrungsperspektiven (Innensicht/ Außensicht), Zielperspektiven (Orientierungskompetenz, Interkulturelle Kompetenz, Kommunikative Kompetenz). 3. Landeskundliche und kulturelle Inhalte der Oberstufenlehrwerke Wenn man sich die Lehrwerke für den fortgeschrittenen Französischunterricht seit den 50er Jahren ansieht, so lassen sich deutlich drei Generationen voneinander unterscheiden. Die in den 50er und 60er Jahren erschienenen Werke geben einen repräsentativen Überblick über Frankreich, der zentrale Bereiche der Landeskunde und die wichtigsten Epochen der Literatur umfasst und darauf abzielt, das Land als eine territoriale und kulturelle Einheit zu präsentieren, wie das Epitaph des Prosalesebuches Etudes Françaises deutlich ausweist: La France est de tous les pays, je ne dirai pas le plus uni, mais le plus un. Ses divergences se fondent en une vaste synthèse. (Paul Gautier, né en 1872) Seit Mitte der 70er Jahre lässt sich eine Tendenz zur größeren Diversifizierung erkennen. Landeskunde und Literatur werden voneinander getrennt und in unterschiedlichen Oberstufenlehrwerken präsentiert. Am deutlichsten sichtbar wird diese Tendenz in der Neuauflage von La Civilisation Française von 1974, die nun 47 in zwei Bände aufgeteilt ist: Teil 1: La France et les Français, Teil 2 : La littérature française. Gleichzeitig beginnen im Zuge der Diskussion um eine landeskundliche Neuorientierung des Französischunterrichts 13 landeskundliche Dossierreihen aus dem Boden zu schießen und die inhaltliche Ausrichtung des Französischunterrichts zu verändern. Die Dossiers tragen exemplarische Problembereiche der französischen Gesellschaft in den fremdsprachlichen Unterricht und haben das Ziel, bei den Schülerinnen und Schülern ein sozialkritisches Bewusstsein zu erzeugen. Sowohl die Lehrwerke als auch die Dossiers dieser Lehrwerkgeneration sind mit didaktischen Arbeitsvorschlägen in Form von Fragen zu den Texten ausgestattet, was sie deutlich von der ersten Generation von Oberstufenlehrwerken unterscheidet, die reine Lesebücher waren und höchstens über ein paar Vokabelerklärungen für die deutschen Lerner verfügten. Doch behalten sie in der Systematik des Themenaufbaus die landeskundliche Sachorientierung bei, die schon die ersten Nachkriegslehrwerke gekennzeichnet hatte: erst Geographie, dann Geschichte, Wirtschaft und Politik, schließlich die gesellschaftliche Struktur Frankreichs in der Gegenwart und aktuelle kulturelle Strömungen. Das ändert sich grundlegend bei der dritten Generation von Lehrwerken ab Ende der 80er Jahre. Die Werke verfolgen eine lernerorientierte Inhaltsstrukturierung, bei der die jugendlichen Adressaten im Mittelpunkt stehen, die Themenbereiche also aus der Jugendperspektive entfaltet werden und die Inhalte zu einigen in sich geschlossenen themenorientierten Dossiers zusammengefasst sind. 14 Außerdem wird die strikte Trennung zwischen Landeskunde und Literatur wieder aufgehoben und die Literatur, die im Zuge der interkulturellen Ausrichtung des Fremdsprachenunterrichts von der Didaktik als empathiefördernde Textsorte neu entdeckt worden war, 15 erhält in den nach wie vor primär landeskundlich ausgerichteten Oberstufenlehrwerken nunmehr die Rolle eines lernerorientierten Schlüssels zu sensiblen Themenbereichen. Die didaktischen Passagen, die in den Werken der 70er und 80er Jahre nur wenige Zeilen pro Text umfassten, sind inzwischen zu umfangreichen Analysewerkzeugen angewachsen und nehmen teilweise mehr Raum ein als die zu analysierenden Texte. In jüngster Zeit scheint sich die Entwicklung einer weiteren Generation von Oberstufenlehrwerken abzuzeichnen. Als Prototyp kann die letzte Umgestaltung des Lehrwerks Horizons zu einem Basisdossier mit baukastenartig konzipierten Folgedossiers gelten. Diese Werke versuchen, die Flexibilität der Dossiers mit der Systematik der Lehrwerke zu verbinden. Das Basisdossier enthält die didaktisch relevanten methodischen Grundlagen, die einzelnen Dossiers dagegen die aktuellen themenorientierten Materialien. Die Wandlung der Lehrwerkkonzepte im Verlauf der vergangenen 50 Jahre findet ihren deutlichen Niederschlag in der inhaltlichen Struktur der Werke. Im Einzelnen sind folgende Entwicklungen festzustellen: 48 3.1 Räume Die Lehrwerke der ersten und zweiten Generation konzentrieren sich ausschließlich auf Frankreich als nationalem Territorium und blenden die frankophonen Länder vollständig aus. Dabei nimmt in den älteren Werken die Behandlung von Paris und dem Gegensatz Paris - Provinz einen relativ breiten Raum ein, während die Werke der 70er und 80er Jahre diese Thematik deutlich zugunsten sozialer Themen zurückdrängen. Die neueren Lehrwerke widmen sich wieder verstärkt dem Thema Paris, setzen aber ganz andere Akzente und zeigen nicht nur die repräsentative Seite der Hauptstadt, sondern führen die Lerner auch in Problemzonen wie z.B. die banlieue. Bei der Darstellung von Provinzen gehen die neueren Werke eher exemplarisch vor und vermeiden die Kontrastierung von Paris und Provinz. Statt einer fast enzyclopädischen Präsentation aller Regionen Frankreichs, wie sie z.B. noch in La Civilisation Française von 1950 angestrebt wurde, werden einzelne Regionen herausgegriffen (Alsace, Rhône-Alpes, Provence) und in ihrer kulturellen Differenz vorgestellt. Daneben findet spätestens seit Mitte der 90er Jahre eine deutliche Ausweitung des Raumes zugunsten der frankophonen Länder statt. Alle nach 1995 erschienenen Lehrwerke widmen den französischsprachigen Ländern umfangreiche Kapitel, wobei das frankophone Afrika am häufigsten thematisiert wird, 16 dicht gefolgt von Quebec und der Karibik. 3.2 Zeiten: Auch bei der historischen Dimension der Lehrwerke sind deutliche Unterschiede zu erkennen. Für die Werke der ersten Generation bildet die Geschichte Frankreichs das Zentrum landeskundlichen Interesses. Bis zu 50% der Texte sind historischen Themen gewidmet, wobei Rückgriffe auf kulturkundliche Tendenzen der Vorkriegszeit zu erkennen sind und von einem durch die Geschichte geformten Nationalcharakter ausgegangen wird. 17 In allen Lehrwerken der 50er und 60er Jahre ist eine durchgehende Idealisierung der französischen Geschichte festzustellen mit der Verherrlichung ihrer Helden (Jeanne d’Arc, Louis XIV, Napoléon) und einem nahezu vollständigen Verzicht auf die Darstellung konfliktreicher Epochen wie z.B. dem Zweiten Weltkrieg und der Occupation. 18 Die deutsch-französische Aussöhnung kommt zwar in allen Werken vor, allerdings wird sie vorzugsweise unter dem Aspekt „Avenir“ behandelt und in die zukunftsträchtige Kombination France - Allemagne - Europe eingebunden. Texte zur französischen Gegenwart fehlen entweder ganz oder nehmen nur einen geringen Raum ein. Das ändert sich grundlegend mit dem 1974 erschienenen Lehrwerk Salut Lectures, das radikal bricht mit der Rückwärtsgewandtheit der früheren Lehrwerke und eine konsequent gegenwartsbezogene Darstellung Frankreichs bietet, bei der politische und soziale Aspekte im Mittelpunkt stehen. Diese Veränderung der Schwerpunktsetzung wird von den späteren Lehrwerken fortgesetzt. Die Werke der 70er Jahre verzichten weitgehend auf die glorreiche Darstellung der Vergangenheit Frankreichs und konzentrieren sich auf politische, soziale und ökonomische Alltagsprobleme. Dieser Trend hält in den 90er Jahren an. Die Geschichte Frankreichs nimmt einen immer 49 kleineren Raum ein in den Lehrwerken, bis sie ab 1995 endgültig auf die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen reduziert ist, wobei allerdings zunehmend auch die konfliktreiche Vergangenheit dieser Geschichte mit ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart in den Blick genommen wird. Dafür erhält der Gegenwartsbezug ein immer stärkeres Gewicht, wobei die sozialen Probleme, die points chauds Frankreichs, im Zusammenhang mit der durch Migration und kultureller Mischung sich verändernden Gesellschaft in den Vordergrund rücken, bis sie in den Horizons-Dossiers (2004f) schließlich das Zentrum bilden. 19 3.3 Gesellschaft Wie bereits erwähnt, werden soziale und politische Probleme in den Werken der 50er und 60er Jahre vorwiegend unter historischen und kulturkundlichen Aspekten betrachtet. Erst in den 70er Jahren entwickeln sie sich zu ernstzunehmenden Interessensschwerpunkten. So findet man bei Salut Lectures (1974) z.B. eine umfassende Darstellung sozialer und politischer Strukturen, allerdings werden soziale Konflikte nicht thematisiert. Mai 68 ist zwar mit einem Foto und einer Anmerkung im Übungsband vertreten, das führt aber nicht dazu, dass kritische Fragen zur französischen Gesellschaft aufgeworfen werden. Es bleibt bei einer insgesamt harmonisierenden Darstellung, was vor allem der Wahl vorwiegend referentieller Textsorten geschuldet ist. 20 Das ändert sich auch nicht wesentlich in den folgenden Werken der zweiten Generation, in denen soziale Themen auf der einen Seite einen immer größeren Raum einnehmen und Frankreich als eine moderne Industrienation präsentiert wird, in der wachsende Urbanisation und industrielle Konzentration zu sozialen Konflikten führen. Gleichzeitig erfolgt die Behandlung dieser Themen aber auf einer merkwürdig abstrakten, eher strukturellen Ebene, die nicht dazu geeignet ist, die menschliche Seite der Probleme zu erfassen. Eine deutliche Dynamisierung der sozialen und politischen Thematik zeichnet sich erst in den 80er Jahren ab, als die wachsende Problemorientierung der Lehrwerke, ablesbar an Kapitelüberschriften wie „Le problème des banlieues“, „La France et le problème de l’énergie“, „L’Etat menacé? “, „La crise de l’enseignement“, 21 sich in den Präsentationsformen niederzuschlagen beginnt und neben referentiellen Textsorten auch expressive Texte, Bilder des täglichen Lebens, Karikaturen und Werbeanzeigen Verwendung finden und einen Hauch von authentischem französischen Alltag verbreiten. Die dominanten sozialen Themen der Lehrwerke der 90er Jahre werden in den 80er Jahren bereits vorbereitet: Jugend, Umwelt, Immigration. Das Thema Jugend avanciert, wie bereits gesagt, in der dritten Generation von Oberstufenlehrwerken zum Dreh- und Angelpunkt der Wahrnehmung Frankreichs. Dieser dem didaktischen Paradigmenwechsel von der Instruktion zur Konstruktion geschuldete Wandel führt dazu, dass die Lernerperspektive der deutschen Schüler in die landeskundliche Progression der Oberstufenlehrwerke eingearbeitet wird und soziale Themen, die aus deutscher Sicht wichtig erscheinen und in Deutschland breit diskutiert werden, nun eine Übertragung auf französische Verhältnisse erfahren. 50 Besonders deutlich wird das bei der Behandlung des Umweltthemas, das in keinem der neueren Lehrwerke fehlen darf, und an dem Thema der Immigration. Der deutsche Lehrwerksblick auf die Probleme Frankreichs mit seiner Migrationsbevölkerung, der nicht nur die Oberstufenlehrwerke dominiert, sondern sich auch in zahlreichen landeskundlichen Einzeldossiers niederschlägt, 22 wäre zweifellos eine Extrastudie wert, die im Rahmen dieses knappen Überblicks über die inhaltliche Ausrichtung französischer Oberstufenlehrwerke nicht geleistet werden kann. Doch sollen kurz einige zentrale Merkmale der Präsentation dieses Themas vorgestellt werden: • Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen in allen Werken algerische Immigranten, die mit dem Algerienkrieg und der kolonialen Vergangenheit Frankreichs in Verbindung gebracht werden und als Auslöser für soziale Konflikte gelten. Schwarzafrikaner werden nicht unter dem problembeladenen Gesichtspunkt der Immigration behandelt, sondern ausschließlich im Themenbereich „Francophonie“ als Mitglieder der frankophonen Völkergemeinschaft vorgestellt. • Der französische Rassismus wird als ein weit verbreitetes Phänomen dargestellt. Durch das Vorhandensein einer so starken rechtsradikalen Partei wie dem Front National erscheint er geradezu als legalisiert. Antirassistische Bewegungen wie SOS Racisme kommen zwar auch zu Wort, jedoch in geringerem Maße als die rassistischen gesellschaftlichen Kräfte. • Die banlieue wird als sozialer Brennpunkt thematisiert. Er symbolisiert die Ausgrenzung der Immigranten und ihrer Familien, insbesondere der Zweiten Generation, und steht für das Scheitern der französischen Integrationspolitik. • Als weiterer Konfliktherd wird die affaire du foulard in mehreren Lehrwerken präsentiert und die Gefahr einer Entstehung von islamischen Parallelgesellschaften heraufbeschworen. • Die Innenperspektive des Problembereichs, beispielsweise in Form von Lebensgeschichten aus der Sicht der Immigranten, erscheint nur vereinzelt (Bleu Blanc Rouge, Parcours). Erst in den Horizons-Dossiers der Jahre nach 2005 wird ein systematischer Perspektivenwechsel angeleitet und kommen die arabischen Jugendlichen mit ihren Problemen selbst zu Wort. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Thema Immigration in den Französischlehrwerken ein eher negatives Frankreichbild transportiert: Frankreich erscheint als ein Land, das sich schwer tut mit seinen Immigranten und dem es aufgrund von Mechanismen der sozialen Ausgrenzung und rassistischer Tendenzen in der Gesellschaft nicht gelingt, seine Immigranten zu integrieren. 23 3.4 Kultur In den aktuellen Französischlehrwerken präsentiert sich die französische Kultur überwiegend als moderner Lifestyle, d.h. als eine Alltagskultur, in der Medien und neue Technologien eine zentrale Rolle spielen. Dabei steht entsprechend der im Verlauf der 90er Jahre entwickelten Lernerorientierung die Jugendkultur mit ihren 51 spezifischen Kommunikationsformen, ihrer Musikszene, ihren Lieblingsfilmen und ihren modischen Trends im Mittelpunkt. Werke wie Mots de passe und Parcours widmen fast die Hälfte ihrer thematischen Dossiers der Jugendkultur und bei Horizons findet mit jeder Neuausgabe (1995, 2002, 2004) eine stärkere Akzentuierung der Jugendkultur statt, während die klassischen Themen der Hochkultur wie Literatur und Kunst immer weiter zurückgenommen werden. Eine gewisse Kontinuität ist einzig im Bereich des Chansons festzustellen. Dank seiner Fähigkeit, moderne musikalische Trends zu integrieren und sich in der französischen Jugendszene zu behaupten, bleibt das Chanson über alle didaktischen Entwicklungen der letzten Jahre hinweg ein aktueller Themenbereich, der geeignet erscheint, jugendliche Französischlerner anzusprechen. Andere kulturelle Themenbereiche wie Feste und Traditionen, sowie nationale Symbole, die auf das Kollektive Gedächtnis Frankreichs Bezug nehmen und eine aus der kulturellen Aktualität hinausweisende historische Dimension eröffnen, werden selten explizit angesprochen, 24 sind dafür aber in den Bildmaterialien zu politischen Themen (L’Etat, La vie politique) durchaus präsent. Vergleicht man die auf Aktualität und Modernität fokussierte Darstellung der französischen Kultur in den neueren Oberstufenlehrwerken mit denen der früheren Lehrwerke, so wird ein grundlegender Paradigmawechsel von einer einseitigen Vergangenheitsorientierung zu einer nicht minder einseitigen Gegenwartsorientierung sichtbar. Die Oberstufenlesebücher der ersten Generation widmen häufig bis zur Hälfte ihrer Texte der kulturellen Tradition Frankreichs und gehen dabei nicht nur ausführlich auf die französische Literatur ein, sondern bieten vor allem auch einen breiten Einblick in philosophische Strömungen und religiöse Traditionen, die das Geistesleben Frankreichs in der Vergangenheit bestimmt haben. In den Werken der 70er und 80er Jahre ändert sich diese Ausrichtung, wie oben bereits dargelegt, zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung der Gegenwart und wird die Literatur als zentrales kulturelles Thema in eigene Lehrwerke ausgegliedert, doch bleibt die Thematisierung des geistigen Lebens Frankreichs und der philosophischen und religiösen Basis seiner Kultur dennoch in reduzierter Form erhalten. In Kapiteln wie „La vie de l’esprit“ (Salut Lectures), „Les forces religieuses“ (La Civilisation Française), „Vie culturelle“ (Civilisation Française Contemporaine) wird der Brückenschlag zwischen geistigen Traditionen und modernen kulturellen Institutionen versucht und Gegenwärtiges auf Vergangenes bezogen. Auffällig ist darüber hinaus, dass in dieser zweiten Generation von Oberstufenlehrwerken das patrimoine culturel Frankreichs in Form von Fotos von Baudenkmälern und symbolträchtigen Gebäuden präsent ist und dazu verwendet wird, die Spuren der Vergangenheit in der Gegenwart sinnfällig zu machen. Das inhaltliche Profil der Oberstufenlehrwerke hat sich, wie die Analyse der relevanten Themenbereiche deutlich zeigen konnte, innerhalb der vergangenen 50 Jahre grundlegend gewandelt und mit ihm das Frankreichbild, das von den Materialien vermittelt wird. Als charakteristisch für den Wandel sind folgende Aspekte anzusehen: 52 • Aktualisierung: An die Stelle der Vergangenheitsorientierung der älteren Lehrwerke, die ein in sich geschlossenes, relativ harmonisches Frankreichbild ermöglichte, sind ein konsequenter Gegenwartsbezug und ein multiperspektivisches Frankreichbild getreten. Damit verbunden ist die Orientierung auf gesellschaftliche Probleme, insbesondere von Jugendlichen, und ihre spezifische Ausformung in Frankreich. • Internationalisierung: Der ehemals eindeutig begrenzte Raum des französischen Hexagone hat sich zu öffnen begonnen, und neben Frankreich als dem zentralen landeskundlichen Gegenstand des Französischunterrichts treten zunehmend frankophone Länder mit ihren Kulturen. Diese Öffnung gilt auch für die in Frankreich lebenden Immigranten mit ihren sozialen und kulturellen Problemen. Sie sind im Verlauf der letzten 10 Jahre immer präsenter geworden in den Lehrwerken und vermitteln das Bild eines multikulturellen Frankreich. • Globalisierung: Die Thematisierung übernationaler Zusammenhänge in Wirtschaft und Politik in den Lehrwerken für den Französischunterricht ist ebenfalls als eine aktuelle Entwicklung anzusehen, die den Blick auf ökonomische und soziale Vernetzungen in Europa und in der ganzen Welt offenbart. Das Thema wird vor allem im Zusammenhang mit Umweltproblemen und dem technischen Fortschritt angesprochen und transportiert das Bild eines modernen, weltweit agierenden Frankreich. 4. Wahrnehmungsperspektiven und Präsentationsformen Die Frage, welche Themen am besten geeignet sind, junge Deutsche für Frankreich zu interessieren und ihnen ein ansprechendes und gleichzeitig realistisches Bild von Frankreich zu vermitteln, lässt sich nicht unabhängig von der Art der Präsentation beantworten. Folgt man den Erkenntnissen konstruktivistischer Lerntheorien, dann können die Themen nur dann Interesse wecken, wenn sie bei den Lernern mentale Konstruktionsprozesse anregen und sie zu einer Vernetzung ihres bereits vorhandenen Wissens mit neuen Erkenntnissen führen. Dabei spielt einerseits die Wahl der Diskursebene in Form von Textsorten eine wichtige Rolle, andererseits lenkt die mediale Präsentation des Themas die Wahrnehmung. Im Folgenden soll näher untersucht werden, wie sich die Präsentation Frankreichs in den Oberstufenlehrwerken im Laufe der Jahre gewandelt hat. 4.1 Textsorten Bei den Textsorten ist eine zunehmende Diversifizierung zu beobachten. Während die Lehrwerke der 50er und 60er Jahre noch mit einem Spektrum von nur zwei Textsorten auskamen, literarischen Texten und Sachtexten aus Geschichte, Geographie und Politik, und sich dabei mit referentiellen und deskriptiven Textpassagen begnügten, hat sich die Bandbreite der verwendeten Textsorten mittlerweile vervielfacht: Zeitungstexte sind zu den wichtigsten Informations- und Meinungsträ- 53 gern geworden, biographische Texte und Interviews bieten Innenansichten, literarische Texte dienen der Entwicklung von Empathie, Werbetexte und politische Plakate lenken die Aufmerksamkeit auf ökonomische Bedürfnisse und soziale Probleme, Übersichten und Info-Graphiken liefern landeskundliche Hintergrunddaten, Sketche und Bildgeschichten überraschen mit alternativen Wahrnehmungsperspektiven. 25 Hinter dieser Diversifizierung der Textsorten verbirgt sich ein didaktischer Konzeptionswechsel. Lernziel des Französischunterrichtes ist nicht mehr der Erwerb eines möglichst umfassenden landeskundlichen Wissens, sondern die Fähigkeit, sich mit Franzosen kommunikativ und interkulturell zu verständigen und sich in den innerkulturellen Dialog einzubringen, was die Kenntnis unterschiedlicher Wahrnehmungsperspektiven und Diskursebenen voraussetzt. Die Lernenden werden heute mit einer Mischung aus referentiellen, expressiven und appelativen Texten konfrontiert, die es ihnen ermöglichen soll, sich mit unterschiedlichen Verhaltensmustern auseinander zu setzen und differente Zugänge zu den sozialen und kulturellen Problemen Frankreichs kennen zu lernen. Vergleicht man zum Beispiel die Behandlung eines so universellen Themas wie „La Famille“ in einem Lehrwerk der ersten, der zweiten und der dritten Generation, so wird deutlich, welche Wandlung des Frankreichbildes mit der Diversifizierung der Textsorten verbunden ist. Für die Behandlung des Themas werden in Qu’est-ce que la France? (1961) zehn Texte vorgelegt, davon neun literarische (zwei Gedichte und sechs Prosatexte) sowie ein Sachtext zur Erziehung. Alle Prosatexte mit einer Ausnahme stammen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und thematisieren in narrativer und deskriptiver Form Kindheitserlebnisse und Erziehungskonzepte aus einer vergangenen Zeit. Sie spiegeln in relativ einheitlicher Weise traditionelle französische Familienmodelle wieder und präsentieren Idealvorstellungen. Das Werk von 1981, Civilisation Française Quotidienne, wählt einen vollkommen anderen Zugang zum Thema Familie. Wieder werden zehn Text zu einem Dossier gebündelt, davon stammen fünf Texte aus der Zeitung. Sie geben Meinungen zur Rolle und dem Wert der Familie in der aktuellen Gesellschaft wieder. Zwei Texte sind Auswertungen von Umfragen zur Einstellung von Jugendlichen zur Familie gewidmet, sie enthalten also ebenfalls Meinungsbilder. In zwei Texten kommen Soziologen zu Wort, einmal in Form einer direkten Meinungsbekundung in einem Interview, einmal in Form eines soziologischen Sachtextes. Eine B.D. zum Thema „Divorce“ von Claire Brétécher rundet als überspitzte Momentaufnahme der Krise der Familie das Dossier ab. Das Bild, das in diesem Lehrwerk von der französischen Familie entworfen wird, besteht aus einem Mosaik von verschiedenen Meinungen, wobei die Aktualität und die Problemorientierung des Zugangs durch die Wahl der Textsorten vorgegeben ist. In dem neuesten Lehrwerk Horizons. Basisdossier: Les jeunes (2004) dominiert die Perspektive der Jugendlichen. In den sechs Texten zum Themenbereich Familie werden zweimal die Ergebnisse einer Umfrage zur Einstellung von französischen Jugendlichen zur Familie wiedergegeben, zwei Texte stützen sich auf Leser- 54 briefe von Jugendlichen, ein soziologischer Text bietet eine sachliche Analyse der Beziehungsprobleme in modernen Großstadtfamilien und der einzige literarische Text inszeniert einen Erfahrungsaustausch von Kindern aus kaputten Familien. Hinzu kommen eine Reihe von Fotos und Karikaturen, die die thematischen Schwerpunkte illustrieren. Allen Texten ist eine Aktivierungs- und Kontextualisierungsfrage zur Einstellung deutscher Jugendlicher vorangestellt und im Rahmen der Textarbeit werden die Lerner zu interkulturellen Vergleichen angeregt. Die französische Familie wird in diesem Lehrwerk in den übernationalen Kontext der Entwicklung familiärer Beziehungen in westlichen Industrienationen gestellt, die Sicht auf französische Familienmodelle verzichtet zugunsten einer expliziten Lernerorientierung auf die Betonung französischer Besonderheiten. Die Mischung der Textsorten garantiert eine gewisse Perspektivenvielfalt, auch wenn die Fokussierung auf die jugendliche Lernerperpektive diese Vielfalt wieder einschränkt. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Entwicklung der Textsortenvielfalt in den Oberstufenlehrwerken dazu geführt hat, das Bild Frankreichs zu aktualisieren und zu diversifizieren und dadurch einer Stereotypenbildung entgegenzuwirken. Unterschiedliche Ansichten und Zugänge zu den Themenbereichen werden einander gegenüber gestellt und gestatten den Lernern Einblicke in innerkulturelle Aushandlungsprozesse. 4.2 Bildmedien Seit jeher haben Bildmedien im Fremdsprachenunterricht eine wichtige Rolle gespielt, 26 die Entdeckung ihrer interkulturellen und motivationalen Potentiale in den 90er Jahren hat aber dazu geführt, dass die Zahl der Bildmedien sich in den Lehrwerken signifikant erhöht hat und neue, vor allem die Alltagskultur Frankreichs betreffende Arten von Bildern Einzug gehalten haben in die fremdsprachlichen Unterrichtsmaterialien. In den Lehrwerken der ersten Generation findet man ausschließlich Fotos von typischen Landschaften und repräsentativen Gebäuden, sowie Porträt-Abbildungen berühmter Staatsmänner, Philosophen und Schriftsteller. Maximal 15% der Seiten sind bebildert. Diese Bilder dienen einerseits der Illustrierung der Texte, andererseits transportieren sie Informationen zum Kulturellen Gedächtnis Frankreichs. Über diese informative Funktion hinaus haben sie keinerlei didaktische Funktion. In den Lehrwerken der dritten Generation hingegen gibt es fast keine Seite mehr ohne Bilder, und die Bilder werden durch eine Fülle von Aufgaben in den fremdsprachlichen Lernprozess einbezogen und spielen vor allem für kulturvergleichende und kulturvernetzende Lernphasen eine wichtige Rolle. Fotos prominenter Persönlichkeiten sind kaum noch anzutreffen, dafür Bilder von jungen Leuten und Alltagssituationen, Comics und Karikaturen, Info-Graphiken, Werbe- und Wahlplakate und Filmbilder. Ein Lehrwerk wie Nouveaux Horizons (Nouvelle Edition) von 2002 enthält beispielsweise über 175 Bilder oder Bildcollagen (auf 260 Seiten), davon 38 Fotos von Alltagssituationen, 20 Fotos von Landschaften und Baudenkmälern, 16 Fotos von Jugendidolen (Popsänger etc.), 23 Karikaturen, 15 Werbe- und Wahlplakate, 17 Info-Graphiken, 6 Filmbilder etc. Der weitaus 55 größte Teil der Bilder dient der Darstellung der französischen Alltagskultur mit besonderer Betonung der Jugend. Die Bilder dienen also nicht einer repräsentativen Darstellung Frankreichs, sondern sollen die jugendlichen Lerner auf Kommunikationssituationen mit Franzosen und Französinnen vorbereiten. Die relativ hohe Anzahl von Karikaturen verweist auf eine starke Problemorientierung des Lehrwerkes. In den Karikaturen werden auf pointierte und anregende Art soziale und politische Probleme angesprochen und innerfranzösische Diskussionen aufgegriffen. 4.3 Wahrnehmungsperspektiven Wie aus den Ausführungen über die Entwicklung der Inhalte, Textsorten und Bildmedien in den Oberstufenlehrwerken für den Französischunterricht deutlich hervorgeht, hat sich ein grundlegender Wandel im schulischen Blick auf Frankreich vollzogen. An die Stelle einer harmonisierenden Darstellung Frankreichs auf der Grundlage ausgewählter literarischer und wissenschaftlicher Werke ist im Verlauf der 80er und 90er Jahre eine auf den jugendlichen deutschen Lerner ausgerichtete Einführung in französische Alltagskultur und Alltagsprobleme getreten, wobei vor allem solche Texte und Bilder die Grundlage liefern, die Einblicke in innerfranzösische Aushandlungsprozesse bieten und damit ein sehr vielfältiges und keineswegs einheitliches Bild von Frankreich transportieren. In den neueren Werken werden darüber hinaus die Geschichte und aktuelle Ausprägung der gegenseitigen deutsch-französischen Wahrnehmung thematisiert und insbesondere stereotype französische Deutschlandbilder in Bildmedien (Karikaturen, Werbung) und Texten (Madame de Staël, Victor Hugo, Romain Rolland) auf ihre langfristigen Auswirkungen hin untersucht. Zwei Lehrwerke (Bleu Blanc Rouge, Reflets de la France) wählen die deutsch-französische Wahrnehmung sogar als Ausgangsperspektive für das gesamte Werk und präsentieren nicht nur ausführliche landeskundliche Hintergrundinformationen zur historischen und politischen Einordnung der gegenseitigen Bilder, sondern geben auch Anleitungen zum Perspektivenwechsel und zum Vermeiden interkultureller Missverständnisse. 27 5. Orientierungen und Lernziele Es kann nicht überraschen, dass das Frankreichbild der neueren Oberstufenlehrwerke im Wesentlichen den kommunikativen und interkulturellen Lernzielen, die seit den 90er Jahren für den Fremdsprachenunterricht als verbindlich festgelegt wurden, entspricht. In den Rahmenrichtlinien NRW für den Französischunterricht der Sekundarstufe II wird diese Orientierung folgendermaßen formuliert: In Bezug auf das Leitziel des Französischunterrichts in der gymnasialen Oberstufe, die interkulturelle Handlungsfähigkeit, umfasst der Bereich ‘Interkulturelles Lernen, soziokulturelle Themen und Inhalte’ all jene Kenntnisse, Haltungen und Einstellungen, die die Schülerinnen und Schüler befähigen, in Wirklichkeitsfeldern zu agieren, in denen die französische Sprache Kommunikationsmedium ist. (...) In diesem Zusammenhang 56 vermittelt der Unterricht Orientierungs-, Erklärungs- und Deutungswissen, das Grundlagen für eine handelnde Auseinandersetzung mit den komplexen Lebenswirklichkeiten frankophoner Gesellschaften schafft. Hierbei misst er dem im engeren Sinne landeskundlichen Bereich der sozialen, ökonomischen, ökologischen, politischen und historischen Realitäten ebenso viel Bedeutung zu wie dem literarischen Feld der subjektiven und ggf. imaginären Wirklichkeiten und Weltsichten.28 Der Erwerb eines solchen Orientierungs-, Erklärungs- und Deutungswissens wird in den Lehrwerken dabei vor allem durch eine konsequente inhaltliche Lernerorientierung und die Diversifizierung innerfranzösischer Wahrnehmungsperspektiven exemplarisch angeleitet und auf die Entwicklung eines umfassenden landeskundlichen oder literarischen Wissens verzichtet. Den Lernern werden die französischen Nachbarn als potentielle Kommunikationspartner näher gebracht. Authentische Berichte über Begegnungssituationen und Anleitungen zu Austauschprojekten tragen zur konkreten Vorbereitung auf solche Kommunikationssituationen bei. Ein Blick in die allerneuesten Lehrwerke zeigt allerdings, dass durch diese intensive Lernerorientierung, die landeskundlichen Inhalte zunehmend in den Hintergrund gedrängt werden und die Besonderheiten der französischen Kultur teilweise aus dem Blick geraten. Das offensichtliche Bemühen um die Vergleichbarkeit französischer und deutscher Jugendlicher und ihrer Lebensweise birgt einerseits die Chance eines großen Verständigungspotentials, andererseits aber auch die Gefahr einer gewissen Nivelierung kultureller Unterschiede. Doch, wie anfangs bereits erwähnt, werden in der Realität des Französischunterrichts zusätzlich themenspezifische Materialien eingesetzt, die dieses, im Rahmen von Lehrwerken kaum lösbare Problem der Einseitigkeit, zu beheben versuchen. Die heutigen Lehrwerke liefern Zugänge zu Frankreich, vermögen zweifellos Interesse zu erzeugen und auf Begegnungssituationen vorzubereiten, eine breites landeskundliches Hintergrundwissen können sie in der Regel nicht vermitteln. Deshalb erscheint es absolut notwendig auf das Zusammenspiel von Lehrwerken und spezialisierten Zusatzmaterialien verschiedenster Art zu setzen, um die Vielfältigkeit des in den Lehrwerken entwickelten Frankreichbildes durch landeskundliches und kulturelles Wissen zu untermauern und den deutschen Lernern eine solide Wissensgrundlage zu schaffen, die es ihnen ermöglicht, ihr persönliches Bild von Frankreich zu entwickeln. Übersicht über Oberstufenlehrwerke für den Französischunterricht 1. Auflage Verlag Titel 1950 Hirschgraben La Civilisation Française. Lesebuch für die Oberklassen 1961 Diesterweg Qu’est-ce que la France? Französisches Lesebuch für Oberstufen 1967 Klett Aspects de la France 1971 Klett Etudes Françaises. Prosalesebuch 1974 Diesterweg Salut Lectures. Explications et Exercices 57 1974/ 77 Hirschgraben La Civilisation Française C1/ C2. Lese- und Arbeitsbuch für die Sekundarstufe II 1975 Klett/ Hatier Civilisation française contemporaine 1979 Diesterweg Aspects de la littérature française. Lese- und Arbeitsbuch für den französischen Literaturunterricht der Sekundarstufe II 1981 Klett/ Hatier Civilisation Française Quotidienne 1988 Klett Etudes Françaises. Horizons. Lesebuch zur Einführung in die Textarbeit auf der Oberstufe 1990 Cornelsen Reflets de la France. Lese- und Arbeitsbuch für die gymnasiale Oberstufe 1995/ 96 Klett Nouveaux Horizons 1/ 2. Lesebuch zur Einführung in die Oberstufenarbeit 1995 Diesterweg Mots de passe. Lese- und Übungsbuch für die Sekundarstufe II 1998 Schöningh Bleu Blanc Rouge. Ein Lese- und Arbeitsbuch für Grund- und Leistungskurse 1998 Cornelsen Parcours. Französisch für die Oberstufe 1999 Cornelsen Reflets de la France/ Nouvelle Edition 2002 Schöningh En Route vers Bleu Blanc Rouge. Lese- und Arbeitsbuch für den Einstieg in die gymnasiale Oberstufe 2002/ 05 Klett Nouveaux Horizons/ Nouvelle Edition. Lesebuch zur Einführung in die Oberstufenarbeit 2004 sqq. Klett Horizons. Basisdossier und Folgedossiers im Baukastensystem 1 Vgl. Franz-Joseph Meißner: „Gymnasialer Fremdsprachenunterricht in Nordrhein-Westfalen im Lichte der Statistik (1965-1990)“, in: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 8, 1997, 1-26; Franz-Joseph Meißner: „Zum Französischunterricht in der Bundesrepublik“, in: Französisch heute 28, 1997, 8-23; Christoph Bittner: „Der Teilnehmerschwund im Französischunterricht - eine unabwendbare Entwicklung? Eine empirische Studie am Beispiel der gymnasialen Oberstufe“, in: Französisch heute 34, 2003, 338-353; Marcus Reinfried und Annette Kosch: „Sprachvermittlung in der Krise? Die Entwicklung des Französischunterrichts in Deutschland seit dem Elysée-Vertrag“, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 58, 2003, 17-27; Lutz Küster: „Schülermotivation und Unterrichtsalltag im Fach Französisch“, in: Französisch heute 38, 2007, 210-226. 2 Im Schuljahr 2006/ 07 verteilten sich laut Angaben des Statistischen Bundesamtes die Schülerzahlen in den Fremdsprachen folgendermaßen: 1. Englisch 7.515.046, 2. Französisch 1.759.800, 3. Latein 819.373, 4. Spanisch 259.301, 5. Russisch 108.975. Vgl. www.destatis.de 58 3 Vgl. Henning Düwell: Fremdsprachenunterricht im Schülerurteil. Untersuchungen zu Motivation, Einstellungen und Interessen von Schülern im Fremdsprachenunterricht. Schwerpunkt Französisch, Tübingen, Gunter Narr, 1979; Franz Josef Meißner: „Zielsprache Französisch - zum Unterricht einer ‘schweren’ Schulsprache“, in: Französisch heute 3, 1998, 241-257; Werner Bleyhl: „J’accuse“, in: Französisch heute 3, 1999, 252-263; Reinhold Freudenstein: „Der Französischunterricht muss (immer noch) umkehren! “, in: Neusprachliche Mitteilungen aus Wissenschaft und Praxis 52, 1999, 151-156; Christoph Bittner, op. cit., 338sq. 4 Die Motivationsprobleme im Französischunterricht gelten als hausgemacht, vgl. Axel Polleti: „Französischbücher im Urteil von Schülern und Lehrern“, in: Praxis des neusprachlichen Unterrichts 40, 1993, 183-190; Adelheid Schumann: „Zur Förderung von Motivation im Französischunterricht durch Inhaltsorientierung“, in: Wolfgang Börner und Klaus Vogel (eds.): Emotion und Kognition im Fremdsprachenunterricht, Tübingen, Gunter Narr, 2004, 263-276; Lutz Küster: „Schülermotivation und Unterrichtsalltag im Fach Französisch“, in: Französisch heute 38, 2007, 210-226; 5 Vgl. Dorothee Röseberg: „Les deux France im Deutschland der 50er Jahre. Frankreichbilder in Schulbüchern der DDR und der Bundesrepublik Deutschland“, in: Dorothee Röseberg (ed.): Frankreich und „das andere Deutschland“. Analysen und Zeugnisse, Tübingen, Stauffenburg Verlag, 1999, 97-134; Françoise Bertrand: „Bonjour les amis und Bonjour, chers amis. Frankreich in den Lehrwerken für den Französischunterricht der DDR“, in: Dorothee Röseberg (ed.): Frankreich und „das andere Deutschland“. Analysen und Zeitzeugnisse. Tübingen, Stauffenburg Verlag, 1999, 135-172; Marc Thuret: „’Sagaland ist abgebrannt’. Frankreichbilder und Französischunterricht in der DDR“, in: Adelheid Schumann (ed.): Kulturwissenschaften und Fremdsprachendidaktik im Dialog. Perspektiven eines interkulturellen Französischunterrichts, Frankfurt, Peter Lang, 2005. 6 Vgl. Jürgen Krauskopf: Das Deutschland- und Frankreichbild in Schulbüchern, Tübingen, Gunter Narr, 1985; Jürgen Krauskopf: „Das Deutschlandbild in französischen Deutschbüchern und das Frankreichbild in den deutschen Französischbüchern der Sekundarstufe I von 1949-1989“, in: Eberhard Kleinschmidt (ed.): Fremdsprachenunterricht zwischen Sprachenpolitik und Praxis, Tübingen, Gunter Narr, 1989, 225-232. 7 Vorher hatte es bereits eine Reihe von Analysen von Oberstufenlehrwerken gegeben, vgl. Friedrich Bentmann: „Frankreich im deutschen Lehrbuch der französischen Sprache“, in: Ulrich Doertenbach und Fritz Schenk (eds.): Deutschland-Frankreich. Ludwigsburger Beiträge zum Problem der Deutsch-Französischen Beziehungen, Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt, 1963, 114-125; André Drijard: „L’image de la France dans les manuels scolaires allemands pour l’enseignement du français“, in: Ulrich Doertenbach und Fritz Schenk (eds.): Deutschland-Frankreich. Ludwigsburger Beiträge zum Problem der Deutsch-Französischen Beziehungen, Stuttgart, Deutsche Verlags-Anstalt 1963, 126- 138; Anton Göller: „Zum Frankreichbild unserer Oberstufenlesebücher“, in: Praxis des Neusprachlichen Unterrichts 16, 1969, 46-51; Gerhard Ludewig: „Das Frankreichbild im Lehrbuch“, in: Robert Picht (ed.): Perspektiven der Frankreichkunde, Tübingen, Niemeyer 1974, 208-219; Rainer Riemenschneider: „Frankreich wie es im Schulbuch steht. Zur Analyse von Fremdsprachenbüchern“, in: Marieluise Christadler (ed.): Deutschland - Frankreich. Alte Klischees - Neue Bilder, Duisburg, Sozialwissenschaftliche Kooperative, 1981, 186-206. Seit den 90er Jahren wurden vorzugsweise Lehrwerke für die Sek. I analysiert, vgl. Dagmar Abendroth-Timmer: Der Blick auf das andere Land. Ein Vergleich der Perspektiven in Deutsch-, Französisch- und Russischlehrwerken, Tübingen, Gunter Narr, 1998; Christiane Fäcke: Egalität - Differenz - Dekonstruktion. Eine inhaltskritische 59 Analyse deutscher Französisch-Lehrwerke, Hamburg, Verlag Dr. Kovac, 1999; Renate Fery und Volker Raddatz (eds.): Lehrwerke und ihre Alternativen, Frankfurt, Peter Lang, 2000, 57-64. 8 In Nordrhein-Westfalen wurde das Zentralabitur zum ersten Mal im Schuljahr 2006/ 07 durchgeführt. 9 Vgl. Weller, Franz Rudolf: „Literatur im Französischunterricht heute, Bericht über eine größere Erhebung zum Lektüre-Kanon“, in: Französisch heute 31, 2000, 138-159. 10 Die ersten Dossierreihen erschienen Anfang der 70er Jahre (Cornelsen/ Velhagen-Klasing). Mittlerweile haben alle Schulbuchverlage landeskundliche Dossierreihen für den Französischunterricht herausgebracht. Die bekanntesten sind: Kursmaterialien Französisch (Lensing), Landeskunde Sek. I/ II (Cornelsen), Problèmes d’aujourd’hui (Klett), Propositions (Klett), Modelle des neusprachlichen Unterrichts Französisch (Diesterweg), Grund- und Leistungskurs Französisch (Hueber), Unterrichtsmaterialien Französisch (Stark), Materialien zum Kursunterricht Französisch (Aulis). Die Dossiers unterscheiden sich von thematisch entsprechenden Lehrwerkskapiteln vor allem durch Aktualität und Perspektivenvielfalt. 11 Vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation, Stuttgart, Metzler, 2005, 87. 12 Vgl. Übersicht über die analysierten Lehrwerke im Anhang. 13 Zur Entwicklung der sozialwissenschaftlichen Landeskunde in Deutschland vgl. Robert Picht (ed.): Perspektiven der Landeskunde. Ansätze zu einer interdisziplinäre orientierten Romanistik, Tübingen, Niemeyer, 1974; Gisela Baumgratz und Robert Picht (eds.): Perspektiven der Frankreichkunde II. Arbeitsansätze für Forschung und Unterricht, Tübingen, Niemeyer, 1978; Hans-Jürgen Lüsebrink und Dorothee Röseberg (eds.): Landeskunde und Kulturwissenschaft in der Romanistik. Theorieansätze, Unterrichtsmodelle, Forschungsperspektiven, Tübingen, Niemeyer, 1995. 14 Einige Werke (Bleu Blanc Rouge, Reflets de la France) stellen hingegen das Thema der deutsch-französischen Beziehungen in den Mittelpunkt und verfolgen auf diese Weise eine auf die gegenseitige deutsch-französische Wahrnehmung ausgerichtete, ebenfalls lernerorientierte inhaltliche Konzeption. 15 Zum Beitrag literarischer Texte zum interkulturellen Lernen im Fremdsprachenunterricht vgl. Ansgar Nünning: „Fremdverstehen durch literarische Texte: von der Theorie zur Praxis“, in: Der fremdsprachliche Unterricht Englisch 5, 2001, 4-9; Daniela Caspari: „Fremdverstehen durch literarische Texte - der Beitrag kreativer Verfahren“, in: Franz Josef Meißner und Marcus Reinfried (eds.): Bausteine für einen neokommunikativen Französischunterricht, Tübingen, Narr, 2001, 169-184. 16 Vgl. Anke Poenicke: Die Darstellung Afrikas in europäischen Schulbüchern für Französisch am Beispiel Englands, Frankreichs und Deutschlands, Frankfurt, Peter Lang, 1995. 17 Vgl. Krauskopf 1985, op. cit., Kap. 4 Politische, didaktische und kulturelle Aspekte des Frankreichbildes. 18 Vgl. Krauskopf 1985, op. cit., 123sq. 19 Die Dossierreihe des Lehrwerkes Horizons (2004sq.) umfasst bislang folgende Themenhefte: Francophonie, Société multiculturelle, Points chauds, Relations franco-allemandes 20 Vgl. auch Kap. 4 Wahrnehmungsperspektiven und Präsentationsformen. 21 Vgl. Civilisation Française quotidienne, op. cit., 107, 162, 169, 192. 22 Le défi du racisme (Diesterweg 1987), Français et Algériens (Bayrischer Schulbuchverlag 1993), Intégration et exclusion (Aulis 2002), Maghrébins, Maghré...bien? (Klett 2003), Société multiculturelle (Klett 2005). 60 23 Dass in Frankreich eine ähnliche Vorstellung von der deutschen Integrationspolitik vorherrscht und die französische Integrationspolitik von den meisten Franzosen für fortschrittlich gehalten wird, sollte im Sinne eines interkulturellen Perspektivenwechsels unbedingt in die schulische Behandlung des Themas einbezogen werden. 24 Eine Ausnahme bildet das Werk Reflets de la France, das in seiner Ausgabe von 1990 einen historischen Schwerpunkt (Aufklärung, Französische Revolution, Napoleon) aufweist. 25 Ein Blick auf die statistische Auswertung der relevanten Textsorten belegt diese Entwicklung: Die erste Lehrwerkgeneration (1950-71) besteht durchschnittlich zu 53,2% aus literarischen Texten und zu 37,8% aus Sachtexten (Geschichte, Geographie, Politik). Die zweite Lehrwerkgeneration (1974-81) enthält durchschnittlich nur 10,7% literarische Texte, dagegen 42,9% Sachtexte (Geschichte, Geographie, Politik) und 22,8% Pressetexte. Die dritte Lehrwerkgeneration weist einen Anteil von 23,6% an literarischen Texten, 26,1% Sachtexten (Geschichte, Politik, Soziologie), 32,6% Pressetexten, 5,6% Offiziellen Texten (Deklarationen, Gesetze, Politikerreden), 3,5% Werbetexten und 9,1% weiteren Textsorten auf. 26 Vgl. Marcus Reinfried: Das Bild im Fremdsprachenunterricht. Die Geschichte der visuellen Medien am Beispiel des Französischunterrichts, Tübingen, Narr, 1992. 27 Reflets de la France, op. cit., 11, Deutsche und französische Kulturstandards im Vergleich. 28 Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung NRW (ed.): Richtlinien und Lehrpläne Sek. II Gymnasium/ Gesamtschule Französisch, Düsseldorf, 1999, 25. Résumé: Adelheid Schumann, Développement et transformation de l’image de la France dans les manuels français pour l’enseignement avancé: L’image de la France présentée par les manuels pour l’enseignement du français en Allemagne a changé au cours des dernières années. Le changement concerne surtout le contenu. Les manuels des années 50, 60 et 70 propageaient une image homogène de la France et des Français fiers de leur histoire, leur philosophie et leur littérature. Depuis les années 70 et 80, les problèmes sociaux passent au premier plan, notamment ceux des jeunes et des immigrés, tandis que le passé et la culture de la France sont réduits à quelques réflexions sur l’histoire des rapports franco-allemands et le rôle de la France en Europe. Mais ce sont aussi les perspectives qui changent et les objectifs didactiques. Sous l’influence de la conception d’un enseignement orienté vers l’apprenant, la perspective des jeunes prédomine et influence le choix des sujets traités et des types de textes. Dans les manuels actuels les textes d’opinion et les textes d’appel ainsi que des études de cas et des récits biographiques prédominent et invitent les élèves à l’intercompréhension interculturelle. 61 Christiane Fäcke Das Frankreichbild in neueren Französischlehrwerken der Sekundarstufe 1. Einleitung Der Französischunterricht hat trotz sinkender Schülerzahlen und der übergroßen Dominanz des Englischen wohl immer noch entscheidenden Einfluss auf das Frankreichbild in Deutschland. Neben aktuellen tagespolitischen Ereignissen und landläufigen Klischees und Stereotypen über Frankreich und die Franzosen werden Kenntnisse und Einstellungen über unser Nachbarland auch und gerade durch den Französischunterricht an deutschen Schulen geprägt. In diesem Zusammenhang spielen Lehrwerke in der Sekundarstufe I eine wichtige Rolle, insofern als sie entgegen etlicher pädagogischer und fremdsprachendidaktischer Vorstellungen 1 immer noch die zentrale Grundlage des Unterrichts bilden und somit ein thematisches, methodisches und sprachliches Orientierungsmuster für Lehrende wie Lernende bieten. 2 Damit prägen Französischlehrwerke auch die in Deutschland verbreiteten Vorstellungen über Frankreich, die französische Sprache und Kultur sowie nicht zuletzt auch über die in Frankreich lebenden Menschen. Welches Frankreichbild bzw. welche Frankreichbilder werden in Französischlehrwerken vermittelt? Welche Veränderungen haben sich in verschiedenen Lehrwerkgenerationen in den vergangenen Jahrzehnten ergeben? Welche Schwerpunkte werden in aktuellen Lehrwerken gesetzt? Welche Intentionen verfolgen die Lehrwerke mit ihren Inhalten und Schwerpunkten? Diesen Fragen gehe ich im Folgenden zunächst am Beispiel älterer Französischlehrwerke und dann im Blick auf aktuelle Lehrwerke nach. 2. Das Frankreichbild in älteren Französischlehrwerken 2.1 Etudes Françaises Der Französischunterricht ist seit 1945 von mehreren Lehrwerkgenerationen geprägt. Infolge der unhinterfragten Dominanz der Grammatik-Übersetzungs-Methode und infolge fehlender Konkurrenz unter den Schulbuchverlagen war in den 60er- und 70er-Jahren ein Lehrbuch für den Französischunterricht prägend: Etudes Françaises. 3 Der erste Teilband bezieht sich auf den Anfangsunterricht und umfasst Situationen und Episoden aus dem Alltag, z.B. une panne de voiture, 4 la sortie du lycée 5 oder notre appartement. 6 Hier wird ein etwas steifes Bild der französischen Protagonisten präsentiert, die - nicht allein durch die Zeichnungen - 62 sehr brav und hausbacken wirken. So verbringt die Schülerin Mireille ihren freien Nachmittag mit einem Fahrradausflug mit einer befreundeten Familie, mit Picknick, Ballspiel im Grünen und mit Blumenpflücken. 7 Gleichzeitig wird ein standardisiertes touristisches Bild Frankreichs präsentiert mit Verweis auf den Eiffelturm, die Normandie oder die Loire. 8 Insgesamt sind die Lehrwerkfiguren glücklich und zufrieden miteinander, Konflikte gibt es nicht. Die Mitglieder der Familie Legrand, bestehend aus Monsieur und Madame sowie den Kindern Claudine und Marcel, streiten sich nicht, beschweren sich nicht und gehen sehr vorbildlich miteinander um. Der Alltag in Frankreich wird illustriert z.B. durch Gegenstände im Haus, durch den Tagesablauf einer Hausfrau oder durch das Schulsystem (z.B. Stundenplan). Insgesamt sind die genannten Figuren der Mittelschicht zugehörig, Vielfalt an Lebensmodellen oder unterschiedliche Biografien fehlen. 9 Minderheitenangehörige, die in den 60er-Jahren in Frankreich gelebt haben, werden nicht benannt. Darüber hinaus fällt aus heutiger Sicht auch die Selbstverständlichkeit des Rauchens des Vaters der Familie auf. Der zweite Teilband fokussiert, bedingt durch den nunmehr erweiterten Sprachstand der Lernenden, historische, kulturelle, literarische und gesellschaftspolitische Themen in Bezug auf Frankreich. Die ausgewählten Texte beziehen sich auf Les frères Montgolfier, 10 Louis Pasteur 11 oder auf Le sacrifice des bourgeois de Calais. 12 Die Geschichte Frankreichs wird am Beispiel von Jeanne d’Arc, 13 Henri VI, 14 Louis XIV 15 oder auch an Napoléon Bonaparte 16 entfaltet. Daneben wird auf Molière 17 und auf Victor Hugo 18 verwiesen. Auch das Land selbst wird beschrieben: … il existe pourtant un paysage typique: la route qui monte et qui descend, la rivière ou le canal entre des saules ou des peupliers, de petits champs, des prés, de petits bois et, çà et là, un village gris aux toits rouges. Ce n’est pas un paysage grandiose, mais il n’est jamais monotone. C’est un jardin: la douce France.19 Insgesamt dominiert hier ein positives, idyllisches Frankreichbild, das die Größe und Besonderheit der französischen Geschichte, Literatur und Kultur betont. Kritische und differenzierende Perspektiven, die beispielsweise den Algerienkrieg, soziale Konflikte in Paris oder das Vichy-Régime umfassen, sind hier ausgeschlossen. 20 2.2 Etudes Françaises. Echanges Exemplarisch für die 1980er-Jahre steht Etudes Françaises. Echanges. 21 Auch dieses Lehrwerk spiegelt wie das oben genannte didaktisch-methodische Positionen seiner Zeit und bildet gleichzeitig ein Spiegelbild der deutschen und französischen Gesellschaft der 1980er-Jahre. Auch hier dominiert ein schönes, touristisch geprägtes Frankreichbild. Paris wird durch den Eiffelturm, Montmartre oder die bouquinistes präsentiert, lediglich in Ansätzen finden sich Aussagen der Einwohner, wie z.B. die einer Putzfrau vor der Mona Lisa oder die eines schwarzen Straßenkehrers auf den Grands Boulevards. 22 Dieser Schwarze ist der erste aus Zen- 63 tralafrika stammende Minderheitenangehörige, der jemals in einem Französischlehrwerk in Deutschland auftaucht. 23 Weiterhin dominieren Lehrwerkfiguren aus der weißen französischen Mittelschicht, eine heile Familienwelt bestehend aus Großeltern, Eltern und Kindern mit Katze. Im Lehrwerk findet sich darüber hinaus ein Rezept für Crêpes 24 oder ein Lied wie Meunier, tu dors. 25 Neben der dominierenden Orientierung an Paris kommen auch andere französische Regionen zur Sprache, wie die Dordogne 26 oder die Provence, 27 insgesamt dominiert auch hier ein positives touristisches Frankreichbild. Auch in den Folgebänden kommen optimistische, schöne und touristische Seiten einzelner französischer Regionen zur Sprache, so beispielsweise die Normandie 28 oder die Bretagne. 29 Anders als in früheren Lehrwerken gibt es bereits Themen, die erste Ansätze interkulturellen Lernens in der Fremdsprachendidaktik widerspiegeln. So wird mit La Louisiane 30 bereits ein Land der Frankophonie thematisiert und mit dem Text S’exprimer autrement 31 werden kulturspezifische Gesten präsentiert. Insgesamt zeigt sich hier ein „typisches“ Frankreichbild, in dem klischeehafte Vorstellungen über Frankreich und die Franzosen aufgegriffen und wenig kritisch dargestellt werden. Dies äußert sich in der Auswahl von Themen und Texten über La pétanque, 32 Astérix 33 oder Un dîner au restaurant. 34 Daneben wird auch hier wieder ein Themenspektrum abgedeckt, das zentrale Bereiche der französischen Geschichte und Kultur umfasst, so z.B. Jeanne d’Arc 35 oder Louis XIV. 36 2.3 Passages In den 1990er-Jahren ändert sich das Frankreichbild in Französischlehrwerken weiter und entspricht auch hier wieder dem Jahrzehnt, in dem das Lehrwerk entstanden ist. So wird im ersten Band von Passages 37 bewusst eine deutliche Umkehr vollzogen: statt der Orientierung auf Paris und Frankreich findet die Handlung in verschiedenen frankophonen Ländern - Marokko, Senegal und La Martinique - statt, wobei der Handlungsbogen durch die Reise auf einem fantastischen Segelboot gespannt wird. 38 Erst im 2. Band wird der Blick auf Frankreich geworfen, z.B. auf Le calendrier des fêtes, 39 Alltag in der Schule 40 oder die départements. 41 Auch in Passages findet sich ein sehr positives, touristisches Frankreichbild, das mit seinen Illustrationen und Fotografien stark an Reisekataloge erinnert. 42 Die 1990er-Jahre sind auch von moderner Kommunikationstechnologie geprägt, was sich ebenfalls widerspiegelt: Emails, Computerrecherche, TGV und Handy durchziehen das gesamte Lehrwerk. Anders als in vorangegangenen Lehrwerken zeigt sich die Wirkung interkultureller Diskurse im Blick auf Multiethnizität sehr deutlich. Die jugendlichen Protagonisten des Lehrwerks sind zwei junge Deutsche und fünf Franzosen, von denen zwei eindeutig Minderheitenangehörige sind: Feisal, dessen Eltern aus Marokko stammen, und Ahmadou, der mit seinen Eltern in Paris lebt. 43 Nach der Reise durch die Frankophonie im ersten Band spielt die Handlung ab Band 2 in Frankreich selbst. Den roten Faden bildet eine Kriminalgeschichte, d.h. 64 Waffenhandel nach Togo, worin die Jugendlichen verwickelt sind. Analog zu Kriminalgeschichten aus dem Bereich der Kinder- und Jugendliteratur wird auch hier keine Gewalt präsentiert und die Jugendlichen sind kaum wirklich bedrohlicher Gefahr ausgeliefert. Landeskundliche Informationen über Frankreich werden somit en passant vermittelt, so dass auch hier wieder ein touristischer Blick auf Frankreich geworfen wird und französische Alltagskultur - gastronomische Besonderheiten, das Schulsystem oder auch Einkaufssituationen - präsentiert ist. Dieses Bild Frankreichs wird im 4. Band 44 weiter ausgebaut, insofern als in fünf Dossiers bestimmte Schwerpunkte fokussiert sind. So wird französische Jugendkultur durch die Génération Internet präsentiert, wobei das Leben Jugendlicher in Frankreich heute durch einen bestimmten look (Piercing, Tatoos, Kleidung), durch Handy und Internet oder durch den rap tricolore, der sich in der Pariser banlieue etabliert hat, charakterisiert ist. 45 Ein weiterer großer Themenbereich bezieht sich auf Rassismus. Hier werden Texte von Paul Smaïl oder Tahar Ben Jelloun ebenso aufgeführt wie Sachtexte aus dem Nouvel Observateur oder ein Gedicht aus dem Englischen. 46 Auch die Europäische Union bildet einen thematischen Schwerpunkt, wobei politische Entwicklungen im 20. Jahrhundert hin zur EU sowie deren System vorgestellt werden. Darüber hinaus kommen auch historische Dimensionen zur Sprache, beispielsweise Europa zur Zeit der Aufklärung und des Kolonialismus. 47 Insgesamt präsentiert Passages ein von Vielfalt bestimmtes Frankreichbild und verabschiedet sich damit deutlich von einem homogenen Kulturbegriff, der Nation, Einwohner und deren Kultur gleichsetzt. 48 Vielfalt in sozialer, kultureller, ethnischer oder geschlechtsspezifischer Hinsicht wird in den Mittelpunkt gestellt. Damit wird eher einem Bild postmoderner Diversität Rechnung getragen. 49 3. Das Frankreichbild in neueren Französischlehrwerken Lehrwerke spiegeln in ihren Inhalten gesellschaftspolitische Realitäten ihrer Zeit. Daher sind die Übergänge i n Bezug auf das jeweilige Frankreichbild in den einzelnen Lehrwerken fließend. Gerade Passages wäre auch unter die neueren Lehrwerke zu subsumieren, zumal der letzte Band erst im Jahr 2001 erschienen ist. Seit der Publikation von Passages Ende der 1990er-Jahre ist jedoch bereits die nächste Generation an Französischlehrwerken erschienen, die sprachdidaktische und auch inhaltliche Weiterentwicklungen gegenüber den älteren Lehrwerken aufweist. Daher definiere ich Lehrwerke, die nach 2000 erschienen sind, als neuere Lehrwerke und gehe im Folgenden auf deren Frankreichbild ein. Exemplarisch beziehe ich mich dabei auf Découvertes, 50 auf Tout va bien 51 und auf A plus! 52 Schwerpunkte der verschiedenen Frankreichbilder werden im Folgenden thematisch strukturiert präsentiert. Insgesamt werden in den neueren Lehrwerken touristische Perspektiven auf ein schönes Frankreich erneut vorgestellt, was auch gastronomische und historische Aspekte umfasst. Daneben spie- 65 len aktuelle Entwicklungen in Zusammenhang mit Multiethnizität und Migration ebenso wie Charakteristika der Jugendkultur eine Rolle. 3.1 Touristisches Frankreich Gegenüber älteren Lehrwerken wurde von Seiten der Lehrwerkkritik wiederholt der Vorwurf einer zu starken Konzentration auf touristische Perspektiven über ein schönes und idyllisches Frankreich erhoben. 53 Diese Kritik führte bislang nicht zu einer grundlegenden Abkehr von dieser Seite der Lehrwerke. Auch in den aktuellen Lehrwerken wird Frankreich in landschaftlicher Schönheit bei sonnigem Wetter und strahlenden Farben gezeigt. Dies wird deutlich an Fotografien von Schlössern der Loire, 54 von Paris 55 oder Lyon. 56 Gezeigt werden touristische Ausflugsziele, die auch auf Postkarten 57 abgebildet sind, so beispielsweise der Eiffelturm, der Louvre oder Notre-Dame. Die präsentierten Landschaften zeigen meistens einen blauen Himmel, idyllische Täler, Berge und Felder, daneben auch Weinberge und Gemüseanbau. Die dahinter stehende Einladung an potentielle Touristen, la douce France selbst zu entdecken, ist unmissverständlich. Die Lehrwerke erinnern an die folkloristische Schönheit eines Landes, wie sie in Reiseführern gezeigt wird. Lediglich einige wenige Ausnahmen lassen sich in Zusammenhang mit einem gesellschaftspolitischen und -kritischen Landeskundebild bringen, insofern als auch Industrie 58 oder z. T. moderne Hochhausarchitektur gezeigt wird, wobei sich in Überblicksdarstellungen zu Paris die Arche de la Défense oder auch die Tour Montparnasse finden, weniger jedoch Wohnsiedlungen in der banlieue parisienne. Dieser touristische Blick wird in die Situation eines Schüleraustauschs eingebunden: La classe de Borna a préparé ce jeu après son échange avec le collège d’Etampes. La case départ est la case avec la photo du métro. Notez la lettre. A côté de la photo, il y a la description d’une curiosité parisienne. Trouvez la photo qui va avec la définition.59 Daneben werden auch individuelle Urlaubsreisen vorweg genommen, die die Schülerinnen und Schüler selbst unternehmen könnten: Choisissez votre château! Marin, sa marraine et son cousin ont décidé de „faire“ la vallée de la Loire à vélo avec Antonia. Ils dormiront au camping et feront entre 30 et 35 kilomètres par jour. Marion et Antonia se renseignent sur les itinéraires et sur les châteaux de la Loire. Il y a presque cent châteaux, des grands, des très grands et des moins grands! Neuf châteaux sur dix sont propriété privée.60 Informationen über historische Zusammenhänge wie die Entstehungsgeschichte oder die ursprünglichen Besitzer vervollständigen das Bild. Insgesamt erscheinen einige der Lektionstitel direkt aus dem Ideenpool eines Urlaubskatalogs entnommen: La colo - c’est rigolo! Regardez: c’est Saint-Tropez! Lille - quelle ville! 61 66 Frankreich wird als schön, bunt und harmonisch präsentiert. Die einzelnen Regionen erscheinen wert, besichtigt zu werden und glänzen in wundervollem Panorama bei blauem Himmel und schönstem Sonnenschein. 3.2 Historisches Frankreich Neben der Darstellung zeitgenössischer französischer Alltagskultur werden einzelne historische Themen angesprochen, anhand derer ein Rückblick auf besondere Ereignisse geworfen wird, die die französische Geschichte und Kultur beeinflusst haben. Hierunter zähle ich historische Ereignisse z.B. in Zusammenhang mit Jeanne d’Arc, 62 Marie-Antoinette 63 oder die Kriegsereignisse im Juni 1944 in der Normandie 64 ebenso wie den Fokus auf französische Literatur - Jules Verne, 65 George Sand, 66 Victor Hugo 67 oder Alexandre Dumas 68 - und das französische Kino. 69 Darüber hinaus kommen auch frankophone Themen wie die Sklaverei auf der Insel Saint-Domingue zur Sprache. 70 Insgesamt dominiert in diesen Darstellungen der französischen Geschichte, Literatur und des Kinos ein Kulturbegriff, der die Leistungen Frankreichs in positivem Licht zeigt. Ein solcher positivistischer Kulturbegriff einer kognitiv-wissensorientierten Landeskunde 71 fokussiert primär bekannte Namen und Personen aus der Geschichte und reproduziert diskursiv die Logik einer auf Daten und Personen fokussierten Geschichtsschreibung, in der unbekannte Personen, die sich nicht in historischen Überblicksdarstellungen oder in einer französischen Literaturgeschichte finden, außen vor bleiben. Alltags- und sozialgeschichtliche Aspekte werden allenfalls nebenbei vermittelt. Ein emanzipatorischer, kritischer Blick auf die Geschichte und die Geschichtsschreibung als solche werden so eher weniger gefördert. Diese Einschätzung lässt sich an einigen Beispielen gut verdeutlichen. Gegen Ende des zweiten Lernjahrs wird beispielsweise folgender Text angeboten: Valentin va chercher son livre d’histoire… Charlemagne traverse les Pyrénées. Ses hommes et les chevaux montent jusqu’à Roncevaux. Ils sont très fatigués. Devant, il y a Charlemagne et, loin derrière, il y a Roland, son neveu. C’est le moment que choisissent les Sarrasins pour les attaquer. Heureusement pour eux mais malheureusement pour les Francs, les Sarrasins réussissent à tuer Roland et tous ses hommes. C’était le 15 août 778.72 Diese sprachlich und inhaltlich vereinfachte Darstellung eines historischen Ereignisses benennt Namen von Herrschern und ihren Feinden sowie das genaue Datum und den Ort der Schlacht. Eine Einbettung in historische, gesellschaftliche und politische Kontexte der Zeit wird nicht vorgenommen, ebenso fehlt eine individualisierte Sicht auf die Geschichte, beispielsweise die Perspektive eines der Teilnehmer der Schlacht oder auch andere sozialgeschichtliche Anknüpfungspunkte. Einen individuelleren Zugang zu Geschichte und Literatur bietet ein didaktisierter Text über Jules Verne, der die Lebensgeschichte des Autors narrativ präsentiert. 67 C’est un garçon! Nantes, 8 février 1828. Monsieur Pierre Verne, magistrat de la ville de Nantes, est très content. Il a un fils: Jules, son premier enfant. […] Jules et ses parents habitent sur l’île Feydeau. Jules aime l’eau, le fleuve, la mer, les bateaux. Il rêve déjà de voyages… Mais, Jules n’est pas toujours dans la lune. Il regarde le monde, observe, note, travaille. […] A son frère Paul, il parle de son amour pour sa cousine Caroline… Oui, Jules a dix ans, mais il est déjà amoureux.73 Diese Geschichtsdarstellung ist zwar weiterhin auf die Vermittlung bekannter Namen und Ereignisse angelegt, doch wird sie als individuelle Lebensgeschichte präsentiert, die auch alltägliche Details mit aufnimmt. In Ansätzen finden sich in aktuellen Lehrwerken bereits kritische Umgangsweisen mit historischen Themen. Dies lässt sich gut beispielhaft an der Präsentation der Landung der Alliierten in der Normandie im Juli 1944 verdeutlichen. Protagonisten des didaktisierten Textes sind der amerikanische Soldat John, der deutsche Soldat Hans sowie der französische Jugendliche Jean. Die bewusst gewählte Parallele in den Vornamen weist bereits auf eine Intention der Darstellung hin, Gemeinsamkeiten der Individuen auf allen drei Seiten zu unterstreichen. John und Hans nehmen an der Schlacht teil. Nach der Schlacht zeigt sich ein Bild der Zerstörung. Mais le soir, Jean et son père y sont retournés. Sur la plage, John était tombé et ne pouvait plus se relever. Et c’est là que Jean et son père l’ont trouvé. Le jeune Français ne va jamais oublier ce qu’il a vu.74 John bedankt sich später bei seinen französischen Rettern: Une semaine après, John va mieux et peut sortir de l’hôpital. […], il va voir Jean et sa famille. Il ne sait pas parler français, mais il veut leur dire merci. […], ce soir-là, Jean lui [à sa sœur] parle de la visite de John: ‘C’est bizarre. Il est venu à 19 heures. Hans, lui aussi, arrivait toujours à cette heure-là. […] Je me demande ce qu’il fait aujourd’hui. Est-ce qu’il vit encore? ’75 Hier wird ein eher nachdenklicher Blick auf die Geschichte geworfen und die Ereignisse des D-Day kommen aus Sicht der Betroffenen zur Sprache. Damit werden deutliche Unterschiede zu den eingangs genannten Geschichtsdarstellungen in Französischlehrwerken sichtbar. 3.3 Gastronomisches Frankreich Ein weiterer Schwerpunkt aktueller Französischlehrwerke liegt in der Bezugnahme auf französische Gerichte. Hierzu gehören die Integration von Alltagssituationen in der Küche, am Esstisch oder beim Einkaufen von Obst und Gemüse, die Präsentation besonderer Gerichte zu bestimmen Festen, die Zuordnung verschiedener Spezialitäten zu bestimmten Regionen Frankreichs sowie die Vorstellung einzelner Rezepte. Das Essen im Alltag der Franzosen wird dabei als vermeintlich „typisches“ Essen in Frankreich präsentiert 76 . Implizit verbinden sich damit die Eßgewohnheiten einer bürgerlichen französischen Mittelschicht, andere soziale und ethnische Gruppen bleiben ungenannt. 68 … le petit-déjeuner en France… … Un bol de chocolat pour Eléna, la petite sœur de Romain, un café au lait pour Romain. Et des tartines de beurre avec de la confiture ou du miel. […] … le déjeuner… Samedi à midi, il y a un plat de crudités et de la charcuterie. Ensuite, de la viande avec des pommes de terre et comme dessert, il y a du fromage, des yaourts et des fruits. […] … le dîner… Il y a un potage, un gratin de pâtes et une salade verte. On se met à table vers 20 heures, […]77 Die dazugehörigen Illustrationen zeigen darüber hinaus eine Flasche Rotwein, eine Karaffe Wasser und ein Baguette auf dem Tisch. Indem diese Eßgewohnheiten als beispielhaft präsentiert sind, bleiben andere Eßgewohnheiten innerhalb Frankreichs ausgeschlossen. Regionale, soziale und ethnische Unterschiede sind ungenannt. Diese verallgemeinernde Perspektive auf vermeintlich einheitliche Esskulturen wird durch den Vergleich zwischen deutschem und französischem Frühstück noch verstärkt. 78 Ein ähnlicher Ansatz findet sich in der Zuordnung bestimmter Gerichte zu bestimmten Festen (z.B. la bûche de Noël) 79 oder zu einzelnen Regionen. 80 La fête des Rois Noël et la Saint-Sylvestre sont déjà passés. Heureusement, le six janvier n’est pas loin. Tu peux préparer les couronnes et inviter tes copains préférés à manger la galette des Rois. Pour faire la pâte de la galette des Rois, il faut que tu achètes […]81 Die religiöse oder kulturgeschichtliche Grundlage dieses kirchlichen Festes wird nicht thematisiert, lediglich der Kuchen als französische Tradition vorgestellt. Die Bezugnahme auf französische Esskultur dient in den Lehrwerken als landeskundliche Vorbereitung und Hilfestellung für die Jugendlichen, somit zur Orientierung während eines eigenen Frankreichaufenthaltes. Gleichzeitig wird damit ein normierendes Moment vermittelt, wenn vermutlich auch ungewollt. Manger au restaurant en France Manger est une fête pour les Français. Ils aiment aller au restaurant, surtout le dimanche et les jours fériés. Ils choisissent souvent un menu. Manger à la carte est très cher. Sur la table, il y a toujours de la baguette. Vous pouvez aussi commander une carafe d’eau. Elle ne coûte rien! Ne mangez pas trop de canapés à l’apéritif car il y a dans chaque menu une entrée, un plat principal, du fromage et/ ou un dessert. Bon appétit! 82 Diese Darstellung impliziert etliche Verallgemeinerungen, zu denen sich immer auch Gegenbeispiele finden lassen. Andere Eßgewohnheiten, wie z.B. fast food, croque Monsieur und Ähnliches oder auch die Einflüsse anderer Küchen wie die Italiens, des Maghreb oder Südostasiens bleiben damit ungenannt. Insgesamt wird Frankreich als Land mit zahlreichen gastronomischen Leckereien präsentiert, die in Form von konkreten Rezepten - Recette de la galette au 69 sarrasin, 83 Crème de mangue, 84 Génoise, 85 Gaufres 86 - nachzukochen und somit selbst zu kosten sind. 3.4 Multiethnisches Frankreich Ein weiteres Charakteristikum im Frankreichbild aktueller Lehrwerke ist die Integration von Minderheitenangehörigen, die mehrheitlich aus dem Maghreb oder aus anderen ehemaligen Kolonien Frankreichs, z.B. aus zentralafrikanischen Ländern, stammen. Seit der umfangreichen Einarbeitung von M. Saïd 87 in den 1990er Jahren in das Lehrwerk Découvertes 88 wird ethnisch-kulturelle Vielfalt in Gestalt verschiedener Lehrwerkfiguren als Selbstverständlichkeit präsentiert. Dieser Trend setzt sich in neueren Lehrwerken fort und erfährt dabei einige Nuancierungen. Minderheitenangehörige erfahren eine deutliche Integration in die Lehrwerkgesellschaft, insofern als sie im Sinne eines assimilatorischen Diskurses gleiche Lebensbedingungen und Gewohnheiten wie andere Figuren im Lehrwerk haben. So diskutieren Aziz, Aïcha und Karim mit ihrem Vater ihre Wünsche zur Gestaltung der Sommerferien in einer colonie de vacances in Honfleur oder bei der Großmutter eines Freundes in der Camargue, 89 Diskurse, die die aus dem Maghreb stammenden Minderheitenangehörigen auf einen Heimaturlaub mit Besuch der Verwandtschaft festlegen, kommen hier nicht vor. Die Jugendlichen sind völlig in die französische Gesellschaft integriert, gehen mit ihren Freunden in die Fnac auf der Suche nach Comics oder CDs und identifizieren sich mit Zidane. 90 Lediglich durch den Namen oder durch etwas dunklere Haut- und Haarfarbe ist ihre Herkunft aus dem Maghreb erkennbar. Allerdings stößt die Assimilation auch an Grenzen, z.B. an Weihnachten: Karim: Chez nous, Noël, c’est ennuyeux. Aziz: Dans notre famille, nous ne fêtons pas Noël. C’est un jour comme les autres. Karim: En plus, tous nos copains vont avoir des cadeaux et pas nous! Mme Kermarrec: Regardez, j’ai quelque chose pour vous. Karim et Aziz: Oh, génial, une bûche! 91 Diese Unterscheidung wird auch an einer Übersicht über Feste und Traditionen in Frankreich deutlich. In einem Jahresüberblick finden sich christliche Feste wie Ostern und Pfingsten oder staatliche Feste wie der Nationalfeiertag oder der Tag der Arbeit. Feste mit anderem religiös-kulturellen Hintergrund wie z.B. der Ramadan sind nicht benannt. 92 Daneben finden sich andere Diskurse, die eher einen differenzbezogenen Ansatz verfolgen. So ist das Leben Rachids von seiner Arbeit im Gemüseladen und engen Kontakten innerhalb seiner arabischen Großfamilie geprägt. Anders als in Lehrwerken der 1990er Jahre erscheinen in neueren Lehrwerken vermehrt Minderheitenangehörige aus Zentralafrika, meist aus den dortigen ehemaligen französischen Kolonien. Voilà „ma“ famille Barkouche. Jenna et ses quatre frères sont nés en France. Leurs parents viennent du Sénégal. M. Barkouche ne gagne pas beaucoup d’argent, mais il a 70 un boulot! Pour les immigrés, trouver un travail, c’est souvent moins facile que pour les Français. L’oncle de ma corres qui ne parle pas bien français est au chômage et reste souvent à la maison. Toute la famille est très sympathique, mais le père ne permet pas à Jenna de sortir.93 Hier reproduzieren sich Diskurse, die Minderheitenangehörige auf soziale und finanzielle Probleme sowie auf Schwierigkeiten mit der Integration in die französische Gesellschaft festlegen. Auch durch den Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur kommt Zentralafrika ins Lehrwerk, so z.B. durch den Roman Rêve de foot von Paul Bakolo Ngoi. 94 Darüber hinaus bilden Minderheitenangehörige z.B. auf Fotos von multiethnisch zusammengesetzten Schulklassen in den Lehrwerken eine Selbstverständlichkeit. 95 Dabei wird das Leben jugendlicher Minderheitenangehöriger, deren Familie aus Algerien und aus dem Senegal stammt, explizit zum Gegenstand gemacht. So wird die Identität von Nouria problematisiert: Rebelle: Mais, te sens-tu complètement française? Nouria: Complètement, à moitié ou un quart ou un dixième? Moi, je m’en fous! A la maison, on parle moins souvent l’arabe que le français. Et en plus, moi je parle vraiment mal l’arabe. Alors, tu vois, je me suis habituée à 100% à la France.96 Auch das Leben des aus dem Senegal stammenden Babaka wird als problembehaftet geschildert, insofern als er bei einer Fahrkartenkontrolle als Einziger im Bus kontrolliert und von dem Kontrolleur diskriminiert wird. 97 Insgesamt finden sich in aktuellen Lehrwerken also mehrere Tendenzen: eine assimilierende Darstellung von Minderheitenangehörigen, eine Differenz betonende Darstellung sowie eine auf Diskriminierung bezogene Darstellung. 3.5 Französische Jugendkultur Ein letzter Schwerpunkt, der in aktuellen Lehrwerken erkennbar wird, ist der Fokus auf die französische Jugendkultur, auf Alltag, Lebensweisen und Einstellungen Jugendlicher in Frankreich heute. Hier werden Elemente aus dem Schulleben Jugendlicher thematisiert, Freizeitverhalten und Hobbies zum Gegenstand gemacht sowie die Verquickung Jugendlicher mit modernen Medien - Internet, Handy, Computer - aufgezeigt. Symptomatisch ist eine Lektion mit dem Titel „Etre ado à Nice“. 98 Das Leben der präsentierten Jugendlichen ist von ihrer peer group, von Musik (in der eigenen Band) und Internet geprägt. Die Kontakte untereinander erfolgen oft über Handy oder per email. 99 Unter anderem werden auch Elemente der Jugendsprache benannt: „R’garde: elle a des fringues ultra branchées! “ 100 Vermutlich in Entsprechung zu curricularen Vorgaben bildet der schulische Alltag einen Schwerpunkt der Darstellung. Jugendliche gehen zur Schule, das französische Schulsystem wird vorgestellt und einzelne Erfahrungen mit Lehrkräften, Schulfächern und anderen Jugendlichen werden benannt. Dabei kommt auch immer wieder der Schüleraustausch zwischen Deutschland und Frankreich vor. 71 Das Leben der Jugendlichen ist dabei von der Familie - Eltern, Geschwistern und Haustieren - geprägt, von den eigenen Hobbies, den Ferien und weiteren Freizeitaktivitäten. 101 Insgesamt wird hier eine wohl behütete und geordnete Welt als Normalität präsentiert. Die Jugendlichen sind gut in ihre Familien und Freundeskreise integriert, existenzielle Probleme gibt es nicht. Der Lebensstandard zeugt von gutsituierten Kreisen, in denen finanzielle Grenzen keine Rolle zu spielen scheinen. Trotz dieser normativen Ausrichtung scheint eine Abkehr von der Kleinfamilie bestehend aus Eltern, Tochter und Sohn erkennbar. So werden gleichzeitig verschiedene alternative Lebensmodelle benannt: der allein lebende Student, das unverheiratete Paar, die junge Familie mit Kleinkind, die binationale Familie mit deutschem Vater und französischer Mutter, die maghrebinische Familie mit drei Kindern oder auch die alleinstehende ältere Dame. 102 Die hierin aufscheinende postmoderne Vielfalt ist als zunächst wertfreie Diversität präsentiert, in der alle Lebensmodelle offenbar die gleiche Berechtigung haben und ein Miteinander ohne Diskriminierungen möglich scheint. Auch Julie, ein Mädchen im Rollstuhl, wird problemlos in die Gruppe der Jugendlichen im Lehrwerk integriert, ohne dass ihre Behinderung jemals Gegenstand der Diskussion bildete. Sophie: Salut Julie: Salut. Je suis une copine de Daniel. Mais voilà un paquet pour Sophie Berger. C’est toi, Sophie? Sophie: Oui, c’est moi. Merci pour le paquet. Et toi, tu t’appelles comment? Julie: Moi, je m’appelle Julie. Sophie: Nous sommes voisines? Julie: Oui. Sophie: C’est super, non? Julie: Oui, c’est super.103 In den folgenden Lektionen erscheint Julie in der Schule, bei einer Umfrage, in der Familie und an verschiedenen anderen Stellen, ohne dass jemals eine Andeutung einer Diskriminierung erfolgte. Als weiteres Charakteristikum bildet die massive Präsenz moderner Medien und Telekommunikation einen selbstverständlichen Bestandteil der Jugendkultur. Die Jugendlichen gehen permanent mit Internet, 104 E-mails, 105 Handy 106 oder SMS 107 um. Lektionstitel bzw. Texttitel wie „Un cyberprojet“ 108 und „Hambourg- Marseille.com“ 109 sind symptomatisch für diese Dominanz. Dabei werden Internet oder Handy keiner kritischen Analyse unterzogen, sondern primär als selbstverständlicher Bestandteil des Lebens Jugendlicher präsentiert und für aktuelle landeskundliche Informationen bzw. Zugang zu Frankreich genutzt. 4. Zusammenfassung und Ausblick Lehrwerke der neueren Generation eröffnen ein Frankreichbild, das von Bezügen zur französischen Jugendkultur, von Verweisen auf gastronomische Spezialitäten der französischen Küche oder auf einzelne Ereignisse der französischen Ge- 72 schichte, von Hinweisen auf touristische Schönheiten des Landes und auf den multiethnischen Charakter der französischen Gesellschaft heute geprägt ist. Dabei werden zahlreiche Facetten benannt, andere frankophone Länder ebenfalls einbezogen und vielfältige Lebensweisen der Protagonisten der Lehrwerke aufgezeigt, was von einer Abkehr von eindeutig normierenden Orientierungen für die Lernenden zeugt. Gleichzeitig sind in diesem Frankreichbild immer noch bestimmte Orientierungen festzustellen: Frankreich wird nach wie vor als schönes und buntes Land gezeigt, die Lehrwerke strahlen Optimismus und Lebensfreude aus und wollen die Lernenden dadurch zum Französischlernen motivieren. Hässliche Seiten Frankreichs, seien es nun unattraktive Hochhaussiedlungen der Vorstädte, aktuelle politische Probleme oder auch kritikwürdige Seiten der französischen Geschichte, werden eher marginalisiert oder ausgegrenzt. Französischlehrwerke beinhalten ähnlich wie Reiseführer eine Einladung, das Land zu besuchen, seine Bewohner kennenzulernen und die Sprache zu lernen. Die Auswahl der präsentierten Inhalte ist dabei zielgruppenorientiert und altersgemäß aufbereitet. Die analysierten Lehrwerke haben den Anspruch, ein aktuelles Frankreichbild zu vermitteln und sind damit grundsätzlich immer der Gefahr ausgesetzt, nach ein paar Jahren zu veralten. Sie bilden ein Spiegelbild ihrer Zeit und lassen durch die Analyse der gezeigten und der nicht gezeigten Inhalte Rückschlüsse nicht nur auf Frankreich, sondern auch auf die deutsche Gesellschaft zu. Insgesamt vermitteln sie einen authentischen und aktuellen Blick auf einen Ausschnitt Frankreichs heute. 1 Z.B. Siekmann, Manfred: Zur Dominanz des Lehrbuches im Fremdsprachenunterricht. In: Englisch-Amerikanische Studien, 5/ 4, 1983, 475-485; Leitzgen, Günter: Weg vom Lehrbuch! In: französisch heute, 27/ 3, 1996, 190-198; Bleyhl, Werner: Grundsätzliches zu einem konstruktiven Fremdsprachenlernen und Anmerkungen zur Frage: Englisch-Anfangsunterricht ohne Lehrbuch? In: Fery, Renate/ Raddatz, Volker (eds.): Lehrwerke und ihre Alternativen. Kolloquium Fremdsprachenunterricht, Bd. 3. Frankfurt/ M. u.a., Lang, 2000, 20-34. 2 Freudenstein, Reinhold: Fremdsprachenlernen ohne Lehrbuch. Zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft fremdsprachlicher Unterrichtsmaterialien. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts, 48, 2001, 8-19. 3 Erdle-Hähner, R./ Klein, H.-W. (eds.): Etudes Françaises. Ausgabe B, Teil 2. Stuttgart, Klett, 1968. 4 Ebd., 57. 5 Ebd., 62ff. 6 Ebd., 72ff. 7 Ebd., 27f. 8 Ebd., 31. 9 Meyer-Herbst, Irene: Moderne Zeiten? Zur Darstellung von Frauen- und Männerrollen in neueren Englischlehrwerken. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts, 36/ 3, 1989, 227-237; Schüle, Klaus: Zur Inhaltsproblematik in fremdsprachlichen Lehrwerken. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts, 20/ 4, 1973, 409-417. 73 10 Erdle-Hähner, R./ Klein, H.-W. (eds.): Etudes Françaises. Ausgabe B, Teil 1. 3. Auflage. Stuttgart, Klett, 1971, 21ff. 11 Ebd., 76ff. 12 Ebd., 36ff. 13 Ebd., 12ff. 14 Ebd., 46ff. 15 Ebd., 51. 16 Ebd., 70. 17 Ebd., 54ff. 18 Ebd., 73ff. 19 Ebd., 59. 20 Vgl. Schüle, Klaus: Politische Landeskunde und kritische Fremdsprachendidaktik. Plädoyer für den fremdsprachendidaktischen Inhalt. Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh, 1983. 21 Grunwald, Bernd et al. (eds.): Etudes Françaises. Echanges. Edition longue. Bd. 2. Stuttgart, Klett, 1983. 22 Ebd., 8ff. 23 Vgl. auch Poenicke, Anke: Die Darstellung Afrikas in europäischen Schulbüchern für Französisch am Beispiel Englands, Frankreichs und Deutschlands. Frankfurt/ M. u.a., Lang, 1995. 24 Grunwald, Bernd et al. (eds.): Etudes Françaises. Echanges. Edition longue. Bd. 2. Stuttgart, Klett, 1983, 24. 25 Ebd., 29. 26 Ebd., 77ff. 27 Ebd., 98ff. 28 Ebd., 8ff. 29 Ebd., 18ff. 30 Ebd., 55ff. 31 Ebd., 85. 32 Grunwald, Bernd et al. (eds.): Etudes Françaises. Echanges. Edition longue. Bd. 3. Stuttgart, Klett, 1984, 82ff. 33 Ebd., 63, 78. 34 Grunwald, Bernd et al. (eds.): Etudes Françaises. Echanges. Edition longue. Bd. 2. Stuttgart, Klett, 1983, 58f. 35 Grunwald, Bernd et al. (eds.): Etudes Françaises. Echanges. Edition longue. Bd. 3. Stuttgart, Klett, 1984, 76f. 36 Ebd., 92ff. 37 Pelz, Manfred (ed.): Passages. Bd. 1. Frankfurt/ M., Diesterweg, 1998a. 38 Fäcke, Christiane: Interkulturelles Lernen mit Passages? In: Neusprachliche Mitteilungen aus Wissenschaft und Praxis, 54/ 1, 2001, 11-17. 39 Pelz, Manfred (ed.): Passages. Bd. 2. Frankfurt/ M., Diesterweg, 1998b, 16f. 40 Ebd., 20ff. 41 Ebd., 54ff. 42 Ebd., 30f., 56f., 80f. 43 Pelz, Manfred (ed.): Passages. Bd. 1. Frankfurt/ M., Diesterweg, 1998a, 9. 44 Bergér, Nicole et al.: Passages. Bd. 4. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2001. 45 Ebd., 6-23. 46 Ebd., 52-59. 47 Ebd., 60-73. 74 48 Küster, Lutz: Kulturverständnisse in Kulturwissenschaft und Fremdsprachendidaktik. In: Schumann, Adelheid (ed.): Kulturwissenschaften und Fremdsprachendidaktiken im Dialog. Perspektiven eines interkulturellen Französischunterrichts. Frankfurt/ M. u.a., Lang, 2005, 59-70. 49 Lyotard, Jean-François: La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Paris: Editions de Minuit, 1994. 50 Bruckmayer, Birgit et al..: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 1. Stuttgart, Klett, 2004. 51 Belaval-Nink, Sandrine et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 1. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2004. 52 Bächle, Hans et al.: A plus! Bd. 1. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2004. 53 Schüle, Klaus: Zur Inhaltsproblematik in fremdsprachlichen Lehrwerken. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts, 20/ 4, 1973, 409-417; Meyer-Herbst, Irene: Moderne Zeiten? Zur Darstellung von Frauen- und Männerrollen in neueren Englischlehrwerken. In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts, 36/ 3, 1989, 227-237. 54 Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 106f. 55 Bruckmayer, Birgit et al.: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 1. Stuttgart, Klett, 2004, 53; Bartel, Nicole et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 3. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 86f., 155; Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 10ff. 56 Bächle, Hans et al.: A plus! Bd. 1. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2004, 8f. 57 Bächle, Hans et al.: A plus! Bd. 2. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2005, 122. 58 Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 106. 59 Bartel, Nicole u.a.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 3. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 86. 60 Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 108. 61 Diedrigkeit, Isa et al: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 2. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 3f. 62 Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 115. 63 Bartel, Nicole et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 4. Frankfurt/ M.: Diesterweg, 2006, 99f. 64 Bartel, Nicole et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 3. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 93ff., 129ff. 65 Bächle, Hans et al.: A plus! Bd. 2. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2005, 43, 60ff. 66 Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 112f. 67 Diedrigkeit, Isa et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 2. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 49. Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 122ff. 68 Bartel, Nicole et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 3. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 53. 75 69 Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 65f. 70 Bächle, Hans et al.: A plus! Bd. 2. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2005, 129ff. 71 Schumann, Adelheid: Le Maghreb. Inhalte und Verfahren einer Interkulturellen Landeskunde. In: Der Fremdsprachliche Unterricht Französisch, 41/ 86, 2007, 2-9. hier: 4. 72 Alamargot, Gérard et al.: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 2. Stuttgart u.a., Klett, 2005, 121. 73 Bächle, Hans et al.: A plus! Bd. 2. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2005, 43. 74 Bartel, Nicole et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 3. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 129. 75 Ebd., 129. 76 Z.B. Belaval-Nink, Sandrine et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 1. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2004, 33. 77 Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 44f. 78 Vgl. Bächle, Hans et al.: A plus! Bd. 2. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2005, 59. 79 Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 61; Bartel, Nicole et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 3. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 54ff. 80 Alamargot, Gérard et al.: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 3. Stuttgart u.a.: Klett, 2006, 20. 81 Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 661. 82 Bartel, Nicole et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 3. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 67. 83 Alamargot, Gérard et al.: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 3. Stuttgart: Klett, 2006, 29. 84 Bächle, Hans et al.: A plus! Bd. 2. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2005, 48. 85 Alamargot, Gérard et al.: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 2. Stuttgart, Klett, 2005, 69. 86 Diedrigkeit, Isa et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 2. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 61. 87 Vgl. Fäcke, Christiane: „Wir sind hier, weil ihr dort wart.“ Anregungen zu konstruktivem Umgang mit M. Saïd. In: Fremdsprachenunterricht 4, 1999b, 267-270. 88 Beutter, Monika et al.: Etudes Françaises. Découvertes. Série verte. Bd. 1. Stuttgart, Klett, 1994, 67ff. 89 Belaval-Nink, Sandrine et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 1. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2004, 144f. 90 Ebd., 110f. 91 Bartel, Nicole et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 3. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 55. 92 Ebd., 65. 93 Bartel, Nicole et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 3. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 73. 76 94 Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 68, 77. 95 Vgl. Alamargot, Gérard et al.: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 3. Stuttgart: Klett, 2006, 30; Bartel, Nicole et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 3. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 34; Bächle, Hans et al.: A plus! Bd. 1. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2004, 9, 25, 38; Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 78. 96 Alamargot, Gérard et al.: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 3. Stuttgart: Klett, 2006, 32. 97 Ebd., 33. 98 Ebd., 44ff. 99 Ebd., 46f. 100 Ebd., 51. 101 Vgl. z.B. Bächle, Hans et al.: A plus! Bd. 2. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2005, 15. 102 Belaval-Nink, Sandrine et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 1. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2004, 140f. 103 Belaval-Nink, Sandrine et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 1. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2004, 16. 104 Alamargot, Gérard et al.: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 2. Stuttgart u.a., Klett, 2005, 103, 110; Diedrigkeit, Isa et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 2. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 64, 116. Alamargot, Gérard et al.: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 3. Stuttgart: Klett, 2006, 21; Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 49, 75. 105 Alamargot, Gérard et al.: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 2. Stuttgart u.a., Klett, 2005, 15, 124; Gregor, Gertraud et al.: A plus! Bd. 3. Französisch für Gymnasien. Berlin, Cornelsen, 2006, 80. 106 Alamargot, Gérard et al.: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 2. Stuttgart u.a., Klett, 2005, 80; Alamargot, Gérard et al.: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 3. Stuttgart: Klett, 2006, 47. 107 Diedrigkeit, Isa et al.: Tout va bien. Lehrwerk für den Französischunterricht. Bd. 2. Frankfurt/ M., Diesterweg, 2005, 125. 108 Alamargot, Gérard et al.: Découvertes. Für den schulischen Französischunterricht. Bd. 3. Stuttgart: Klett, 2006, 76. 109 Ebd., 77. Résumé: Christiane Fäcke, L’image de la France dans les manuels de français actuels pour débutants. L’enseignement du français joue un rôle important pour l’image de la France en Allemagne. Les attitudes et les connaissances prédominantes sur les Français et la France sont influencées, entre autres, par les méthodes et les manuels de français dans les lycées allemands. On trouvera l’image de „la douce France“ dans les méthodes d’autrefois, comme dans „Etudes Françaises“, ou une France stéréotypée comme dans „Etudes Françaises. Echanges“. Les méthodes actuelles présentent également certains aspects stéréotypes de la France touristique, historique et gastronomique, mais ils abordent aussi la France sous un aspect pluriethnique et apportent des éléments de la culture des jeunes. 77 Lieselotte Steinbrügge L’Etranger von Albert Camus Über die Haltbarkeit eines Schulklassikers 1. Einleitung Es gehört zu den Paradoxien des Französischunterrichts in Deutschland, dass allen Veränderungen im Bereich der Ziele, Gegenstände und Methoden zum Trotz seit nunmehr über 40 Jahren ein Klassiker der französischen Literatur zum festen Bestand des Lektürekanons der Sekundarstufe II zählt: L’Etranger von Albert Camus. Auch wenn Erhebungen über die Lektüren der Oberstufe nur sporadisch und unsystematisch durchgeführt werden, 1 so deuten alle vorliegenden Daten darauf hin, dass Franz-Rudolf Weller mit seiner Behauptung Recht hat, dass es sich bei diesem Roman um den „Schulklassiker Nummer eins par excellence“ 2 handelt. Wellers erste deutsche Schuledition erschien 1964 im Diesterweg Verlag, und die mehr als 250.000 Exemplare, die seither verkauft wurden, sprechen für sich. 3 Warum das so ist, darüber lässt sich trefflich spekulieren. Natürlich kann man auf dem Standpunkt stehen, dass es keiner Begründung bedarf für die Lektüre eines so wichtigen Stücks Weltliteratur; aber der Klassikerstatus allein dürfte nicht ausreichen, um die Beliebtheit von L’Etranger als fremdsprachige Schullektüre zu erklären. Sonst müssten auch Proust, Flaubert oder Racine auf der Ranking-Liste stehen. Wie wird L’Etranger gelesen in unseren Schulen? Wir wissen nur wenig darüber, denn ein anderes Paradoxon besteht darin, dass es bis vor kurzem nur vereinzelte, auf Zeitschriftenartikel verstreute Unterrichtsvorschläge gab, die speziell für den Französischunterricht konzipiert waren. 4 Zwar sind zahlreiche Interpretationshilfen für den muttersprachlichen Unterricht zugänglich, sowohl für den hiesigen Deutschunterricht 5 als auch für die classes de français jenseits des Rheins, 6 aber angesichts des massenhaften Einsatzes dieses Romans im Fremdsprachenunterricht ist es verwunderlich, dass nicht mehr Unterrichtsmaterialien von den Verlagen angeboten wurden. Das hat sich seit Kurzem geändert, wohl deshalb, weil L’Etranger in Baden-Württemberg Gegenstand des Zentralabiturs im Fach Französisch ist. Sowohl das dortige Landesinstitut für Schulentwicklung als auch zwei Schulbuchverlage haben in den letzten Jahren drei detailliert ausgearbeitete Unterrichtsreihen entwickelt, die den Lehrenden Stundenentwürfe, Arbeitsblätter, Informationen und Zusatzmaterialien für die Unterrichtsgestaltung an die Hand geben. 7 Ergänzend dazu liegt seit 2005 eine literaturdidaktische Studie von Franz-Rudolf Weller vor. 8 Sie enthält einen soliden Forschungsbericht in didaktischer Perspektive und umfangreiche Analysen, die didaktische Potenziale und Schwierigkeiten 78 des Textes aufzeigen, ohne dass diese allerdings in konkrete Unterrichtsvorschläge transformiert würden. Ich möchte mich im Folgenden auf diese vier aktuellen Publikationen konzentrieren und sie unter den Aspekten der Begründungen für die Auswahl des Romans, der Lernziele, Themen und Methoden analysieren. 2. Warum L’Etranger ? Alle Autoren führen als entscheidendes Kriterium für die Auswahl des Romans seine große Verbreitung und literarische Qualität ins Feld. Daneben wird die Zeitlosigkeit des Romans hervorgehoben, sein „überzeitliche(r), universale(r) Aussagegehalt“. 9 Das geht bis zu befremdlichen Formulierungen bei Gabriele Rüger-Groth, die von der „bleibende(n) Genialität und Faszination einer mediterranen Literatur durchglüht von algerischer Küstenlandschaft und Lebensfreude eines jungen Schriftstellers“ 10 schwärmt. Die meiner Meinung nach nahe liegende Begründung, dass es sich um einen der seltenen narrativen Höhenkammtexte handelt, der sowohl aufgrund seines Umfangs als auch seiner sprachlichen Schwierigkeit als Ganzschrift von Sprachlernenden bewältigt werden kann, spielt hingegen in der Argumentation für die Wahl dieses Textes eine nebensächliche Rolle. Dabei dürfte bei einer Länge von 85 Seiten, einem weitgehend der Alltagssprache zugehörigen Wortschatz von nur 2535 Wörtern, 11 einem Erzähltempus, das das lästige passé simple vermeidet, und einer leserfreundlichen Syntax der „Literaturschock“ 12 wesentlich geringer ausfallen, als etwa bei Klassikern des Realismus. Lediglich Weller reflektiert die Kürze und sprachliche Einfachheit des Romans ausführlich. Er relativiert dieses Argument einerseits mit dem Hinweis auf die unterschiedlichen Sprachebenen zwischen dem ersten und zweiten Teil des Romans. Vor allem aber sieht er hierin eher eine Falle als eine Chance. 13 Im Anschluss an die Ausführungen von Philippe Forest, dass sich hinter der einfachen und klaren Sprache „une œuvre à la pensée exigeante, au fonctionnement subtil“ 14 verbirgt, warnt Weller davor, sich vom relativ niedrigen sprachpragmatischen Schwierigkeitsgrad blenden zu lassen und er resümiert: „Albert Camus hat den Roman nicht für Jugendliche geschrieben“. 15 Er scheint auch zu bezweifeln, dass L’Etranger in besonderem Maße dem Lebensgefühl jugendlicher Leser entspricht. Das sehen die übrigen Autoren anders. Es herrscht Einigkeit darüber, dass die Aktualität des Romans darin liegt, dass Meursault den heranwachsenden Jugendlichen eine gute Projektions- oder gar Identifikationsfläche biete für ihre eigenen Probleme in der Phase des Erwachsenwerdens; allerdings liegt die einzige diesbezügliche Umfrage 25 Jahre zurück. 16 Das Autorenkollektiv des Stuttgarter Landesinstituts um Claudine Sachse verweist ausdrücklich auf die große Faszination, die der Roman bei Jugendlichen in der ganzen Welt auslöse und auf die Anschlussfähigkeit des Textes an die politischen und philosophischen Interessen seiner heutigen Leserschaft; 17 auch Catherine Mann-Grabowski, die Autorin der im Raabe- 79 Verlag erschienenen Unterrichtsreihe, bezieht sich explizit auf die jugendliche Leserschaft und sieht in L’Etranger einen Roman, der „Heranwachsenden auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens viel Stoff zum Nachdenken bietet“. 18 Ein ähnliches Motiv für die Auswahl wird deutlich in den Ausgangsfragen, von denen sich Gabriele Rüger-Groth (und ihre Mitwirkenden aus einem Heilbronner Studienseminar) bei der Publikation im Klett-Verlag leiten ließ: „Was soll sie (die Schüler/ innen, L.S.) als junge Erwachsene herausfordern auf ihrer eigenen Suche nach Orientierung und Lebenssinn? Inwiefern kann sie die Begegnung mit dem coolen Büroangestellten Meursault aus dem Algier der fernen Kolonialzeit in ihrer eigenen Lebenswirklichkeit betreffen? “ 19 3. Themen und Methoden Welche Konsequenzen hat nun die explizite Orientierung an den Interessen und der Lebenswirklichkeit der Schüler/ innen für die Themen der drei Unterrichtsreihen? Ein Leitmotiv der Arbeitsaufgaben besteht darin, den Schüler/ innen die Personen und Orte der Handlung zu veranschaulichen, sie mit ihnen vertraut zu machen. Dies geschieht dadurch, dass sie sich im wörtlichen Sinn ein Bild machen. So werden sie aufgefordert zu Bildbeschreibungen von Algier und einem algerischen Dorf, 20 der Wüste und eines schießenden Mannes, 21 oder zum detaillierten „Dekor“ für eine Szene. 22 Auch die Personen der Handlung werden zum Leben erweckt. Ein Vorschlag besteht darin, für eine Verfilmung des Romans geeignete Schauspieler/ innen zu finden, entsprechende Fotos auszuwählen und ein Casting für die Besetzung zu inszenieren, 23 oder mehrere Szenen, besonders jene vor Gericht, nachzuspielen. 24 Immer wieder gibt es Gelegenheit zur Einfühlung 25 in einzelne Figuren, indem die Schüler angeregt werden innere Monologe zu schreiben, 26 ihren eigenen Alltag im Stile Meursaults zu beschreiben oder eine Szene aus der Perspektive eines anderen Protagonisten umzuschreiben. 27 Rüger-Groth nimmt den Roman zum Anlass, eine Diskussion zum aktuellen Thema „Todesstrafe“ zu initiieren. 28 Angesichts dieser Betonung der Referentialität des Textes und der ausdrücklichen Orientierung an der Lebenswirklichkeit heutiger Schüler/ innen ist es verwunderlich, dass trotz aller Beteuerungen, dass ein über 60 Jahre alter Roman heute anders gelesen wird als bei seinem Erscheinen, der entscheidende und folgenreiche Unterschied zwischen den heutigen und den früheren Lektüren überhaupt nicht reflektiert wird. Nur schwerlich gelingt es uns heute nämlich, davon zu abstrahieren, dass der Mord, den Meursault begeht, der Mord eines Angehörigen einer Kolonialmacht an einem Kolonisierten ist. Und ebenso wenig können heutige Leser/ innen die Anonymisierung des Opfers als l’arabe verstehen, ohne damit Rassismus zu assoziieren. Diese Lesarten, die u.a. von Isabelle Ancel, Brigitte Sändig, Edward Saïd und Christiane Chaulet-Achour formuliert worden sind, 29 werden in den vorliegenden Unterrichtsmaterialien zwar angedeutet, aber letztlich verdrängt. 80 So gibt es zum Beispiel in der Schulausgabe vom Klett-Verlag im Anhang einen zweiseitigen informativen Text über „L’Algérie au moment de la parution de l’étranger“, an den sich in den Lehrerhandreichungen die mir vollkommen unverständliche Frage anschließt: „Comment expliquez-vous l’évolution démographique en Algérie? Discutez de cette évolution dans le contexte social.“ 30 In dem Unterrichtsentwurf der RAAbits-Reihe wird nach der Lektüre der ersten beiden Kapitel die Frage gestellt „Où et quand se passe l’action? “ Die in den didaktischen Erläuterungen formulierte erwartete Antwort lautet: „L’action se passe en Algérie dans les années 40, c’est-à-dire avant la guerre d’indépendance (1954-1962). A cette époque, l’Algérie était une colonie française. Meursault et sa mère sont des Français d’Algérie.“ 31 Woher aber sollen die Schüler das wissen? Aus ihrer Lektüre können sie höchstens Informationen über den Schauplatz des Geschehens entnehmen. Obendrein ist die Behauptung der Autorin schlicht falsch, dass der (von 1938 bis 1940 geschriebene) Roman „in den 40er Jahren“ spielt. Auch die Verweise auf Camus’ Biographie, auf die „fascination du pays“, 32 die Fotos von Algier und dem ländlichen Algerien samt daran anschließender Fragen 33 oder die Aufforderungen an die Schüler, ihren Assoziationen zu Algerien vor dem Hintergrund der Ortsbeschreibungen im Text freien Lauf zu lassen, 34 zielen nicht auf den kolonialen Kontext des Romans. Trotz der Bekenntnisse zu „Entstaubung“ und „Aktualisierung“ 35 folgen die Unterrichtsvorschläge hier der traditionellen Lesart, die den Roman enthistorisiert und die erzählte Geschichte lediglich als Medium einer universellen, von Zeit und Ort unabhängigen Botschaft begreift. 36 Ausgerechnet in einem Unterricht, dessen leitendes Lernziel die interkulturelle Kompetenz ist, wird eine neue Lesart des Romans als eines Konflikts zwischen den colons und colonisés in keinem der vorliegenden Entwürfe berücksichtigt. Es ist bezeichnend, dass unter den Arbeitsaufträgen, die zu einem Perspektivwechsel einladen, z.B. durch das Verfassen innerer Monologe, sich nie die Perspektive des Opfers findet. Sie wird offenbar außerhalb des Erwartungshorizontes der Leser/ innen angesiedelt. Die didaktische Begründung dafür - wenn sie denn überhaupt gegeben wird -, liegt in dem Verweis auf die Intention des Autors. Mann-Grabowski möchte die „Debatte zum Thema Rassismus“ vermeiden, „da das Ziel (…) eine Einführung in das Werk von Camus bleibt“. 37 Ernsthaft setzt sich lediglich Weller mit dem Rassismus-Vorwurf auseinander. 38 Seine Haltung dazu ist klar: er hält diese Lesart für anachronistisch und unzulässig, weil Camus keine „allgemeine Kolonialismusdiskussion oder eine franko-nordafrikanische Rassismusdebatte intendiert hat“. 39 Dennoch gibt er, trotz seiner offensichtlichen Distanz zum interkulturellen Paradigma, hilfreiche praktische Hinweise dafür, wie diese verborgene Kolonialgeschichte hinter dem großen Plot sichtbar gemacht werden kann. Er stellt die einschlägigen Textstellen zusammen 40 und seine abschließende Frage, ob es sich hier um „untergründige rassistische Elemente“ handele, kann vor dem Hintergrund seiner Textanalyse zum Ausgangspunkt eines Gesprächs mit Schülern genommen werden. 81 Nun haben Weller und Mann-Grabowski vollkommen Recht mit ihrer Behauptung, dass Camus nicht den kolonialen Konflikt zum Thema seines Romans gemacht hat. Dass darüber hinaus auch „keine logische Beziehung zwischen Fiktion und Kolonialgeschichte“ 41 existiert, wie Weller behauptet, ist allerdings nicht richtig. Schließlich ist die Konstruktion, besonders der zweite Teil, der sich allein um den Täter dreht, nur plausibel, wenn das Opfer gesichtslos ist. Das erfordert die Handlungslogik der Fiktion - ein Aspekt auf den ich noch zurückkommen werde. Dass die Wahl des Autors dabei auf l’arabe fiel, dürfte sehr wohl etwas mit dem Unterbewusstsein des Kolonisten zu tun haben. Das Problem lässt sich indessen noch verallgemeinern. Spätestens seit der rezeptionsästhetischen Wende, die maßgeblich den didaktischen Paradigmenwechsel von lehrerzentrierten zur schülerorientierten Methoden des Literaturunterrichts in Gang gesetzt hat, ist die Intention des Autors nicht mehr der einzige Maßstab für Interpretationen im Klassenraum (und anderswo). Der Grund dafür liegt in der Erkenntnis, dass Texte ganz unabhängig von ihren Autoren Bedeutungen erlangen können, die ihnen ihre Leser/ innen verleihen. Es ist dieser elementare hermeneutische Grundsatz, der den didaktischen Prämissen subjektiver Lektüren zugrunde liegt. Die Autorinnen der vorliegenden Unterrichtsreihen bekennen sich in ihren Vorworten explizit dazu. Dass aber ihre Schüler/ innen, die in ihrer Lebens- und Medienwirklichkeit zwangsläufig, möglicherweise sogar im eigenen Klassenraum, mit ethnischen Konflikten konfrontiert werden, der Aussage Raymonds über l’arabe („Alors, je vais l’insulter et quand il répondra je le descendrai“) eine ganz andere Bedeutung als ihre Vorgänger/ innen vor 40 Jahren verleihen dürften, wird von ihnen nicht bedacht. Dass diese dezentrierte Lektüre durchaus im Horizont heutiger Jugendlicher liegt, beweist der (nicht besonders gelungene) Song Killing an Arab der Rock- Punkband The Cure, den Mann-Grabowski, ganz gegen ihre oben referierte Position, in ihre Unterrichtsreihe aufnimmt. Es handelt sich dabei um ein musikalisches Résumé der Mordszene des 6. Kapitels, das dieselbe Erzählperspektive beibehält; nur durch fast unsichtbzw. unhörbare Textelemente wird signalisiert, dass die Aussage des Romans sich verschiebt, hin zu einer Markierung des „Ich“ als rassistischen Mörder. Bewirkt wird dies erstens, indem die Sonne kein Akteur ist, sondern lediglich „angestarrt“ wird („staring at the sun“) von einem Erzähler, der das Abfeuern der Pistole als bewussten Akt beschreibt („I can fire the gun“). Außerdem kommentiert ganz am Ende des Lieds eine Stimme von außen das Geschehen mit „Oh Meursault“. 42 Aber wie sehr die Bedeutung eines Textes von seinem Rezeptionskontext abhängt, beweist gerade dieser Song, denn er wurde auch von rassistischen Diskothekenbesitzern eingesetzt, um unliebsame Gäste fernzuhalten. Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache nicht unproblematisch, dass die letzte Zeile („Oh Meursault“) im Arbeitsbogen für die Schüler/ innen nicht mit abgedruckt ist und die Arbeitsaufträge überhaupt nicht den Blick auf die (zugegebenermaßen sehr diskreten) Bedeutungsverschiebungen lenken. Von schon fast fahrlässiger rezeptionsästhetischer Naivität ist allerdings der didaktische Kommentar: „Dennoch (trotz 82 des zeitweiligen Verbots des Lieds, L.S.) besitzt es keinerlei ausländerfeindlichen Bezug, sondern (sic! L.S.) entstand nach der Lektüre des „Etranger“ von Camus.“ 43 Diese verunglückte Rezeption ist nur ein Symptom für ein Missverständnis, auf dem möglicherweise sogar die nun bereits Jahrzehnte andauernde Karriere von L’Etranger als Schullektüre beruht. Dieser Roman kann als realistischer Roman gelesen werden, weil die Orte und Protagonisten auf Referenten außerhalb des literarischen Textes verweisen. Schließlich gibt es die Stadt Algier und dort sind auch Büroangestellte zu finden. Die Geschichte, die hier erzählt wird, lässt eine Wirklichkeitsillusion zu. Zwar sind die Brüche allgegenwärtig, denn es ist höchst unwahrscheinlich, dass ein Mensch „à cause du soleil“ einen anderen tötet und dass er dieses Motiv auch noch angesichts der drohenden Todesstrafe zu seiner Verteidigung vor Gericht vorbringt. Aber die zahlreichen realistischen und detailgenauen Beschreibungen von Dingen, Landschaften und Personen führen dazu, dass auch ein/ e irritierte/ r Leser/ in immer wieder bereit ist, mit Meursault als Erzähler einen Pakt zu schließen und in die realistische Falle zu laufen. Anders als bei den viel autoreferentielleren Texten des Nouveau Roman, bietet L’Etranger die Möglichkeit, der Handlung Plausibilität und Kohärenz zuzubilligen. Die vorliegenden Unterrichtsreihen, und wohl auch die herrschende Unterrichtspraxis, unterstützen diese traditionelle Lektürehaltung. Viele Aktivitäten gehen vom referentiellen Charakter des Textes aus und verstärken die Wirklichkeitsillusion. Dies wird insbesondere in der Beschäftigung mit Meursault deutlich. Auch wenn er überhaupt nicht wie ein Held in einem realistischen Roman gestaltet ist, wird er dennoch didaktisch als solcher behandelt, indem die Motive für sein Handeln befragt und beurteilt werden. Das geht hin bis zu Arbeitsaufträgen, in denen - fast makaber - die Schuld Meursaults zur Diskussion gestellt 44 wird, gerade so als ob jemand, der einen anderen Menschen „à cause du soleil“ tötet, keine Schuld auf sich laden würde. Aber genau hier liegt das Problem. L’Etranger ist kein realistischer Roman. Eine Schülerin hat dies im Chat auf einer Internetseite richtig erkannt: „Meursault - un être qui manque de vraisemblance, même pour un personnage fictif“. 45 Eine Lektürehaltung, die sich dieser Erkenntnis verschließt, muss am Text scheitern. Spätestens im 6. Kapitel gerät der/ die Leser/ in in große Erklärungsnot bei dem Versuch, die Beweggründe, Motive, Gefühle, das Unterbewusstsein, 46 kurz, die Psyche eines Zufallsmörders zu verstehen. Diese Not wird in den Unterrichtsentwürfen auch zu einer didaktischen und methodischen Notlage. Einerseits versucht man ihr zu begegnen durch einen etwas hilflosen Verweis auf die „Ambivalenz“ Meursaults. 47 Vor allem aber wird versucht, die Widersprüche und Ungereimtheiten der Handlung durch Camus’ Philosophie des Absurden aufzulösen. Schaut man sich die Unterrichtseinheiten an, so ist vor allen Dingen in den Entwürfen von Rüger-Groth und Mann-Grabowski die Deutung Meursaults als Inkarnation des absurden Menschen der Fluchtpunkt der Interpretationen. Die Fragen sind so anspruchsvoll, dass mit ihnen ganze Philosophiestun- 83 den gestaltet werden könnten: „Retracez ses (de Meursault, L.S.) idées philosophiques sur l’existence“; 48 „Comparez ‘l’homme absurde’ à la conception de l’homme qui est la vôtre et discutez en classe“; 49 „Expliquez pourquoi Meursault peut être qualifié de ‘héros de l’absurde’ 50 (als Lernerfolgskontrolle); „Contre quoi Meursault se révolte-t-il et comment sa révolte s’exprime-t-elle? “ 51 oder gar „Lisez le Mythe de Sisyphe et marquez les passages qui vous semblent importants pour expliquer l’homme absurde“. 52 Diese Fragen verweisen darauf, dass der Roman als philosophischer Roman gelesen werden soll. Einmal ganz abgesehen davon, dass ihre Beantwortung höchste Anforderungen an das fremdsprachliche Können stellt, werden die Schüler/ innen darauf auch inhaltlich nicht vorbereitet. Soll der in den Arbeitsaufträgen benutzte Begriff l’absurde nicht nur auf einer diffusen alltagssprachlichen Bedeutungsebene verbleiben, bedürfte es einer eingehenden Beschäftigung mit der Philosophie Camus’. Die kurzen Auszüge aus Le Mythe de Sisyphe sind nicht dazu angetan, die Philosophie des Absurden zu erläutern und die - seltsam einsilbigen - Ausführungen zu diesem Thema in den Unterrichtsmaterialien sprechen eine verwirrende Sprache, 53 so dass die Schüler/ innen diese Aufgabe nur unter Rückgriff auf - für sie leere - Worthülsen bewältigen dürften. Nur am Rande wird der historische Kontext thematisiert, in dem Camus’ Sinnverweigerung steht. An keiner Stelle wird den Schüler/ innen das Wissen vermittelt, gegen welche Weltbilder sich der Roman richtet. Dabei wäre gerade dies wichtig für das Verständnis und die Voraussetzung, um einen kritischen Zugang zu L’Etranger zu finden. Bei der Behandlung der philosophischen Implikationen des Romans zeigt sich nicht zufällig auch eine Strukturschwäche aller vorliegenden Unterrichtsreihen. Zwar wird nirgendwo als Lernziel die Beschäftigung mit der Philosophie Camus’ formuliert, aber sie wird für die Bewältigung bestimmter Arbeitsaufgaben vorausgesetzt. Die methodische Konsequenz dieses Lernziels wird nicht bedacht. Alle Autor/ inn/ en bekennen sich zwar uneingeschränkt zur „Selbständigkeit und Individualität des Lernprozesses“, 54 zu „handlungs- und produktionsorientierten Methoden“, 55 zur „activité du lecteur“, 56 aber die Kenntnis der Philosophie des Absurden dürfte nur durch einen lehrerzentrierten Unterricht, der weitgehend auf Deutsch verlaufen müsste, erreicht werden, indem philosophisches Wissen vermittelt wird. Weller sieht hier klarsichtig das Problem und kommentiert ironisch: „Dass der ‘klassische’ etwas aus der Mode gekommene Lehrervortrag das Verständnis der Schülerinnen und Schüler (...) fördern könnte, sei hier nur am Rande erwähnt.“ 57 Das eigentliche Problem besteht jedoch darin, dass die Reflexion der eigenen Sinnsuche und „der persönlichen Schuldfähigkeit des einzelnen“ 58 oder der „Ausgrenzung von Menschen durch Menschen“ 59 nicht zu dem für die Schüler unbefriedigenden Romanplot hinführen. Einerseits sind diese Lernziele so allgemein und abstrakt, dass sie fast beliebig sind. Zum anderen wird durch die Aufforderung zur „Einfühlung“ in den Protagonisten, die sich z.B. in Fragen nach Motiven und Gründen Meursaults für den Mord 60 oder nach seiner Schuld 61 artikulieren, die Erwartungshaltung geschürt, dass der Roman auf diese Fragen eine Antwort geben könnte. Diese Erwartungshaltung muss in frustrierende Enttäuschung mün- 84 den, denn der Mord ist nur der spektakulärste Ausdruck in diesem Text für die Überzeugung Camus’ von der Zufälligkeit, Kontingenz, Unvorhersehbarkeit und Unsteuerbarkeit menschlichen Lebens und Tuns. Bezeichnend ist hier beispielsweise der Irrtum Mann-Grabowskis, dass es sich bei L’Etranger um „das Werk eines über die Absurdität der conditio humana sinnenden jungen Mannes (handelt), das Heranwachsenden auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens viel Stoff zum Nachdenken bietet.“ 62 Camus’ Held „sinnt“ nicht. Das erzählende Ich beschreibt lediglich. Es reiht in parataktischen Sätzen Geschehnisse aneinander, ohne ihnen in reflektierenden Passagen einen Sinn zuzuschreiben. Sartre hat es in seiner Rezension auf die Formel gebracht: „L’étranger n’est pas un livre qui explique; l’homme absurde n’explique pas, il décrit; ce n’est pas non plus un livre qui prouve. M. Camus propose seulement et ne s’inquiète pas de justifier ce qui est, par principe, injustifiable.” 63 Darüber hinaus verbleibt das Verständnis von Fremdheit in einer diffusen, aktuell-alltagssprachlichen Bedeutung, die dem Text nicht gerecht wird. Die Fremdheit Meursaults liegt ja nicht in seiner Erscheinung, wie es z.B. der Arbeitsbogen mit Fotos von exotisch aussehenden Personen zum Thema „étranger“ 64 suggeriert, oder darin, was er tut. Im Gegenteil - Camus hat im ersten Teil seines Romans alles getan, um seinen korrekt angezogenen, höflichen und unaufdringlichen jungen Helden „comme tout le monde“, als einen ganz durchschnittlichen Angestellten zu gestalten und keineswegs als einen Außenseiter der Gesellschaft. Er wäscht sich vorm Essen die Hände, grüßt den Etagennachbarn und kommt pünktlich zur Arbeit. Wenn Michael Wendt in seiner didaktischen Studie ausgerechnet die „Automatenfrau“, jene mise en abyme für die Subjektlosigkeit des modernen Menschen, als „unverstellt handelnde“ bezeichnet, 65 dann übersieht er vollkommen die Besonderheit des Textes, die in der Gestaltung Meursaults als eines angepassten Mannes ohne besondere Eigenschaften liegt. Aber dieses bei Wendt explizit formulierte Missverständnis scheint auch implizit in zahlreichen Arbeitsaufgaben durch, in denen Psychogramme der Personen, 66 insbesondere Meursaults, erstellt werden sollen und den Schülern die Gelegenheit gegeben wird, ihre Meinungen zu seinem Charakter zu artikulieren, 67 - bis hin zu Spekulationen über „mögliche Erkrankungssymptome bei Meursault“. 68 Was Meursault von den Anderen unterscheidet ist nicht, wie er lebt, sondern wie er über sein Leben spricht und denkt. Er weigert sich, für sein stinknormales, überhaupt nicht außenseiterisches Leben die Sinnstiftungen zu akzeptieren, die ihm die Gesellschaft anbietet und damit weigert er sich, sein Tun und Handeln nach höheren Zielen auszurichten. Er will nicht der gute oder schlechte Sohn, der leidenschaftliche oder laue Liebhaber, der aufstrebende oder sich verweigernde Angestellte, der ehrliche oder unzuverlässige Freund etc. sein - er will einfach nur Sohn, Liebhaber, Angestellter, copain sein. Darum müssen sich die Leser/ innen auch nicht mit so vielen Adjektiven wie bei Balzac herumschlagen. Das wird dem Protagonisten im zweiten Teil des Romans zum Verhängnis, wenn seine Richter die Deutung und Interpretation seiner Existenz und seiner Handlungen vornehmen. 85 Mit dieser Figur demonstriert Camus, dass es ein gelungenes Leben gibt, ohne dass dieses Leben Ziele und Ideale benötigt, für die zu leben (oder zu sterben) es lohnt. Das ist gemeint mit „ne pas jouer le jeu“. Nimmt man die philosophischen Implikationen des Romans ernst, enthält er nicht viel Stoff für die Sinnsuche heutiger Schüler/ innen. Dies umso weniger, als Camus die Apotheose des Romans, wie Weller treffend bemerkt, „mit philosophisch-theologischen Theorien seiner universitären Lehrmeister Pascal, Nietzsche, Kierkegaard und (...) seiner literarischen Wegbereiter, allen voran Kafka“ 69 überfrachtet. Camus’ Nihilismus und sein bedingungsloser Atheismus erklären sich vor allen Dingen aus dem Kontext der Kriegs- und Nachkriegszeit, die unter dem Schock der verheerenden Wirkung von Ideologien und der Verstrickung der Kirche in die Verbrechen des Faschismus stand. Deshalb ließ sich die Rezeption in den 1950er und 60er Jahren von den philosophischen Bezügen durch den gesamten Text leiten. In aktuellen ethischen Diskussionen spielt aber Le Mythe de Sisyphe, der Essay, in dem die philosophischen Grundgedanken von L’Etranger explizit ausformuliert sind, keine Rolle mehr und ist kein Klassiker, der zum Lektürekanon des Ethik- oder Philosophieunterrichts gehören würde. 4. Von der histoire zum discours Dass L’Etranger hingegen immer noch ein Klassiker der Weltliteratur ist, liegt nicht an seinem philosophischen Thema, sondern an seiner sprachlichen Besonderheit. Nicht die histoire, sondern der discours hat ihn zum Klassiker gemacht. Und ganz offensichtlich liegt hier auch ein Grund für die nicht nachlassende Lust am Text. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat spätestens Ende der 1970er Jahre den Paradigmenwechsel zur narratologisch orientierten Interpretation des L’Etranger vollzogen. 70 Camus hat mit Meursault einen ganz neuen Typ von Romanheld, oder besser: Antiheld konstruiert. Er hat eine literarische Figur geschaffen, die nur noch jämmerliche Reste von den großen Heldinnen und Helden psychologischer Milieuromane besitzt. Meursault ist ohne Vergangenheit, besitzt keine markanten Charaktereigenschaften, führt kein abenteuerliches Leben. Er hat nicht einmal einen Vornamen. Und um diese Figur darzustellen, hat der Autor eine neue Art des Erzählens und eine neue Sprache gefunden, die den französischen Roman im 20. Jahrhundert revolutioniert haben und ohne die viele Texte der französischen Literatur nicht entstanden wären. Will man diese Besonderheit der Erzählweise vermitteln, muss sich allerdings der Blick von der Ebene der histoire weg auf die Ebene des discours begeben. Schüler/ innen müssen dafür sensibilisiert werden, dass hier eine literarische Figur mit ganz anderen Stilmitteln geschaffen wurde, als das in den Romanen des 19. Jahrhunderts der Fall ist. Die didaktische Herausforderung, die daraus erwächst, liegt, trotz der sprachlichen Einfachheit des L’Etranger, in der Sprache. Es sind die sprachlichen Zeichen, mit denen die Menschen ihrem Tun und Handeln einen Sinn geben. Meursault ver- 86 weigert diese Sinngebung, und deshalb ist er höchst wortkarg (daher der kurze Text! ), misstrauisch gegenüber dieser Sprache (daher ihre Nüchternheit und Einfachheit) und erst Recht hält er nichts von Erklärungen und Rechtfertigungen (keine kausalen Nebensätze). Hierauf verweist Weller immer wieder, und er richtet sowohl seine Lernziele 71 als auch seine didaktischen Analysen 72 am konsequentesten von allen hier verhandelten Materialien auf diese Herausforderung aus. Als Einziger macht er z.B. auf die wichtige Funktion der „Gemeinplätze, Sprachklischees, stereotypen Routineformeln“ aufmerksam. 73 Diese Herausforderung des sprachlichen Stils und der narratologischen Struktur hat unterschiedliche Spuren in den Unterrichtsentwürfen hinterlassen. Alle Entwürfe enthalten Aufgaben zu Stilanalysen. Besonders ausgeprägt ist dies im Entwurf des Stuttgarter Landesinstituts, der hier seinen Schwerpunkt hat. In detailliert ausgearbeiteten Tabellen, die den Lehrer/ innen nicht nur Entwürfe für Tafelbilder sondern auch präzise fremdsprachliche Kommentare vorgeben, werden die sprachlichen Merkmale und thematischen Motive analysiert und klassifiziert. Um den Schülern aber die Lust an (eher ungeliebten) Stilanalysen zu vermitteln und ihnen nicht das Gefühl zu geben, es handele sich hier um formalistische Fingerübungen, die ins Leere laufen, wäre es erforderlich, ihnen zu zeigen, dass der Roman erst durch den discours jene Plausibilität erhält, die ihm auf der Ebene der histoire fehlt. Das entscheidende Motiv für den Mord liegt nämlich nicht in Meursaults Erfahrung von Hitze und Licht, sondern darin, dass der Autor ein Handlungselement konstruieren musste, das den Erzähler vor eine Instanz bringt, die die Deutungshoheit von menschlichem Reden und Tun besitzt. Camus hat dafür ein Strafgericht gewählt. Was eignet sich besser als ein Mord, um vor dessen Schranken zu geraten? In dem Prozess geht es nicht um „das Recht und die Ohnmacht des Einzelnen vor Gericht“, 74 sondern um die Absurdität menschlicher Sinngebung und Sinnstiftung allgemein. Um die plausibel zu machen, durfte das Mordopfer keinen Anlass für ein Handlungsmotiv bieten. Dafür musste es stumm und gesichtslos bleiben. Dass das erzählerisch mit l’arabe ausgestaltet wird, kann man nur plausibel finden, wenn man bereit ist, über unterschwelligen Rassismus nicht zu stolpern. Diese mangelnde Aufmerksamkeit für die Bedeutung generierende Funktion des Stils schlägt sich auch methodisch nieder. Es ist auffällig, dass sich der methodische Zugriff bei den Stilanalysen ändert. Der Stuttgarter Entwurf sieht hier sehr wenig handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben vor, die Arbeitsaufgaben sind in der Regel eng gelenkt. Immer dort, wo die Analyse formaler Textmerkmale verschränkt wird mit Aufgaben, die den Schülern eigene Textproduktionen erlauben, sind die Vorschläge besonders gelungen. Eine gute Idee ist es z.B. die Schüler/ innen aufzufordern, einen Tag ihres eigenen Lebens nach dem Vorbild des Erzählers zu schildern, um ihnen ein Gefühl für die écarts von der Sprache traditionellen Erzählens zu vermitteln. 75 Aber die Schwierigkeiten und auch die Möglichkeiten dieses Unternehmens werden generell unterschätzt. Das zeigt z.B. die formulierte Erwartung, dass sich „die Merkmale von Camus’ Stil (…) durch die 87 Schreibaufgabe wie von selbst einprägen“, oder die recht grobe „fiche d’évaluation“. 76 Wesentliche Stilmerkmale fehlen hier, z.B. die Besonderheit, detailgenaue Beschreibungen oder Berichte vollkommen nebensächlicher Dinge oder Ereignisse zu liefern. Damit diese écarts wirklich erkannt werden, müssten kontrastive Textstellen, etwa aus Balzac-Romanen, herangezogen werden. Vor allen Dingen aber müssten die Schreibübungen und kreativen Aufgaben mehr auf die Besonderheiten des Textes hinführen oder sie zum Ausgangspunkt nehmen. Die Aufforderungen, innere Monologe, 77 Tagebucheintragungen und Briefe aus Figurenperspektive verfassen zu lassen, haben etwas Beliebiges und verhelfen nicht zu einem besseren Verständnis der Sinn generierenden Sprache. Dabei böte gerade die binäre Struktur des Romans vielfältige Möglichkeiten für kreative Arbeits- und Schreibaufgaben, die dem Text nicht äußerlich bleiben. Zwar erkennen sowohl Weller 78 als auch Mann-Grabowski 79 deutlich die „Spiegelstruktur“ des Romans, indem im zweiten Teil die Repräsentanten der Ordnung dem im ersten Teil lediglich wertungsfrei Beschriebenen eine Bedeutung verleihen, es in eine Ordnung bringen, und dem ziellosen Leben des Protagonisten Absichten unterstellen. Aber diese Erkenntnis wird nicht wirklich didaktisch transformiert. Bei Mann-Grabowski bleibt sie folgenlos, Weller leitet daraus lediglich seine, wie ein Leitmotiv immer wiederkehrende Grundregel ab: „Das A und O ist die Bereitschaft zur relecture“. Einen Schritt weiter geht Rüger-Groth, die vor der Lektüre des zweiten Teils als Schreibaufgabe ein Rollenspiel vorschlägt, in dem mit einigen „phrases-clé“ die Anklage und Verteidigung des Mörders vorweg genommen wird. 80 Die Erkenntnis, dass der discours die histoire generiert, hat bereits vor 20 Jahren Eckhard Volker in einem leider wenig beachteten Aufsatz 81 in einen praxisnahen Unterrichtsvorschlag für die Behandlung des 6. Kapitels transformiert, der obendrein sehr genau das Spannungsverhältnis zwischen Textanalyse und Rezeptionsgespräch reflektiert. Volker demonstriert die Generierung des Sinns durch die Sprache an der entscheidenden Mordszene. Er betont ausdrücklich, dass zunächst die „Zumutung“ der histoire, dass die Sonne als Motiv für einen Mord fungiert, ausführlich besprochen werden muss, um die Betroffenheit der Schüler nicht „kognitiv (zu)zudecken“. 82 Aber er sieht genau, dass sich auf der Ebene des Plots keine befriedigende Erklärung finden lässt und deshalb überführt er die Frage nach Meursaults Motiv in die eigentlich entscheidenden Fragen: 1. wie der Mord dargestellt wird und 2. welche Funktion die Darstellung hat. Er belässt es nicht bei der gängigen Analyse der Sonnenmetaphorik, sondern mit Arbeitsschritten, die in vorbildhaften Strukturbildern münden, lenkt er die Aufmerksamkeit auch auf jene Stilmittel, die den „Handelnden hinter seinem Werkzeug verschwinden“ lassen („La gâchette a cédé...“) und die zeigen, dass Camus den Mord sprachlich als unkontrollierten Reflex inszeniert und das Fehlen jeglicher Intention suggeriert. In einem zweiten Schritt lenkt er den Blick der Schüler/ innen auf ein wichtiges Konstruktionsmerkmal des Romans, indem er ihnen die Funktion der Sprache für ihre eigene Leserrolle bewusst macht. Die suggestive Beschreibung der Mordszene hat 88 den „Effekt, dass der Leser die von Meursault im Prozess vorgebrachte Erklärung bereits hier als Wahrheit akzeptiert hat“. 83 4. Bilanz Wird L’Etranger heute anders gelesen als vor vierzig Jahren? Die hier analysierten Unterrichtsvorschläge beanspruchen dies ausdrücklich, indem sie den Schüler/ innen die Möglichkeit zu individuellen Interpretationen einräumen. Allerdings wird die Schülerorientierung ausschließlich den Methoden anvertraut. Übersehen wird dabei, dass einerseits die Methoden allein keine neuen Interpretationen hervorbringen und andererseits die Methodenwahl bestimmte Unterrichtsinhalte ausschließt. Indem auf Lehrer/ innenvorträge verzichtet wird, kann das Wissen über Camus’ philosophische Positionen kaum vermittelt werden. Aber auch die Aufgabenstellungen erfolgen nicht unabhängig von den Textdeutungen der Lehrer/ innen. Ob die Frage nach der Beziehung der beiden unterschiedlichen Romanteile eine zentrale, untergeordnete oder gar keine Bedeutung hat, verrät viel über das Textverständnis, das für die Bearbeitung Weichen stellend ist. Das gilt auch für die kreativen Schreibaufgaben oder szenischen Darstellungen, die den Schüler/ innen Spielraum für eigene Textkonkretisierungen eröffnen. Der Vorschlag, sich in Personen einzufühlen, setzt voraus, dass von einer realistischen Figurendarstellung ausgegangen wird und die Psychologisierung der Figuren zum Textverständnis beiträgt. Die Analyse der vorliegenden Unterrichtsentwürfe verdeutlicht ein grundsätzliches Problem des aktuellen fremdsprachlichen Literaturunterrichts. Wenn Schüler/ innen durch das Lesen fremdsprachlicher Literatur zu eigenen Sprachproduktionen motiviert werden sollen - ein Ziel von Fremdsprachenunterricht, das keiner weiteren Begründung mehr bedarf -, dann muss sich der Zugang zu literarischen Texten unterscheiden von wissenschaftlichen Formen des Umgangs mit Literatur, die sich formanalytischer und metasprachlicher Verfahren bedienen. Die produktions- und handlungsorientierten Methoden stellen dafür mittlerweile ein breites Spektrum an Möglichkeiten bereit. Aber diese Methoden mutieren in der Praxis nicht selten zu Extremen einer Polarisierung, die sich etwa folgendermaßen gestaltet: • Schülerorientierung versus Textanalyse, • Inhalt versus Formalästhetik, • Persönlichkeitsbildung gegen ästhetische Bildung, • Eigenständiges und eigenverantwortliches Arbeiten der Schüler versus Planungshoheit des Lehrers. Diese Polarisierung entsteht meines Erachtens durch einen Kurzschluss. Sie verkennt die Tatsache, dass der Einsatz von Methoden, die einen affektiven, nichtanalytischen Zugang zu literarischen Texten ebnen sollen, dennoch diese analytische Durchdringung des Unterrichtsgegenstandes durch die Lehrenden vorgängig 89 voraussetzt. Die handlungs- und produktionsorientierten Aufgabenstellungen funktionieren nur, wenn sie den Eigenheiten, Strukturen und Kontexten des Textes Rechnung tragen. Auch wenn es nicht mehr das Ziel von fremdsprachlichem Literaturunterricht ist, die Konstruktionsmerkmale eines literarischen Textes ausschließlich analytisch, und das bedeutet auch notgedrungen metasprachlich zu erfassen, so ist seine wissenschaftliche Analyse dennoch weiterhin die Voraussetzung für die Organisation des subjektiv und affektiv-orientierten Leseprozesses. Nur wenn die Spezifika des jeweiligen Textes berücksichtigt werden, bleiben die modernen Methoden den Texten nicht äußerlich. Die Fragen, die heutige Schüler/ innen an einen Text stellen können, sind sehr viel offener und subjektiver, als es der traditionelle Literaturunterricht zuließ. Aber ein Dialog mit dem Text kommt nur dann zustande, wenn der Bedeutungshorizont des Textes respektiert wird. Sonst fungiert er lediglich als prétexte und die Schüler/ innen fragen sich zu Recht, warum sie die Mühen einer komplizierten Dekodierung auf sich nehmen sollen, wenn es schließlich doch nicht um das Verstehen des Textes, sondern „nur“ um sie geht. Deshalb ist es eine Illusion anzunehmen, dass für die offenen Impulse moderner Unterrichtsverfahren im Literaturunterricht lediglich der Erwartungshorizont der Lesenden ausschlaggebend wäre und nicht mehr die konkreten Lesarten der „Moderatoren des Lernprozesses“, als die die Lehrenden neuerdings gern bezeichnet werden. Das Gegenteil ist der Fall. Jede Aufgabenstellung, auch jene, die sich kreativer Verfahren bedient, erfordert Vorannahmen, nicht nur über die Schüler/ innen, sondern auch über den Text. Denn nur wenn diese Interpretationen explizit reflektiert werden, wird die Funktion der Aufgabenstellungen transparent und intersubjektiv nachvollziehbar. Auch wenn die hier analysierten Entwürfe zu L’Etranger über die interpretatorischen Vorannahmen ihrer Autor/ innen mit unterschiedlicher Deutlichkeit Rechenschaft ablegen, so lassen sie insgesamt auf eine Lesart dieses Romans schließen, die weiterhin die klassische Interpretation als eine universell-überzeitliche Auseinandersetzung mit der menschlichen Existenz in den Mittelpunkt stellt und L’Etranger als realistische Erzählung begreift. Neuere Lesarten, die die Zeitgebundenheit und den politischen Kontext der Entstehung des Romans und seiner Rezeption hervorheben oder die entschiedene Abkehr vom realistischen Erzählen, werden hingegen weitgehend vernachlässigt. Ich danke Virginie Lecroq für bibliografische Recherchen zu diesem Aufsatz. 1 Die letzte, sehr informative Bestandsaufnahme hat Franz-Rudolf Weller an den Abiturjahrgängen 1995-1999 in NRW vorgenommen: „Literatur im Französischunterricht heute. Bericht über eine größere Erhebung zum Lektüre-„Kanon“, in französisch heute, 2/ 2000, 138-159. Dieser Aufsatz enthält auch Ergebnisse früherer Umfragen aus den 1960er und 70er Jahren. 90 2 Franz-Rudolf Weller: L’Etranger. Guide pédagogique, Braunschweig, Diesterweg, 2005, 8. (im Folgenden zitiert als „Weller“) 3 1999 hat der Herausgeber eine um Zusatzmaterialien erweiterte Schulausgabe im selben Verlag (Diesterweg) ediert. Neben dieser liegt noch als Schulausgabe für den Französischunterricht vor: Ed. Nicole et Norbert Maritzen, Stuttgart, Klett, 2005. 4 Unterrichtspraktische Vorschläge finden sich lediglich in Dieter Sauerhoff, Angela Weirath: „Ganzschrift im Französischunterricht - ganz oder gar nicht? Die Behandlung von Albert Camus’ L’Etranger in einem Grundkurs der Jahrgangstufe 13/ 1“, in: Praxis des neusprachlichen Unterrichts, 34/ 1987/ 1, 70-76; Eckhard Volker: „Vorschläge für eine schülerorientierte Lektüre des Etranger“, in: Die Neueren Sprachen, 86/ 1987/ 3-4, 268 - 287; Josef Bessen: „Französischunterricht und Filmanalyse. Vorschläge zu einführenden Übungen in die Filmanalyse am Beispiel von Camus’ Etranger und seiner Verfilmung durch Visconti“, in: Beiträge zur Fremdsprachenvermittlung, 2001/ 38, 21-32. - Weitere Aufsätze, in denen der Roman in didaktischer Perspektive behandelt wird: Peter C. Spycher: „Albert Camus’ L’Etranger. Eine Studie über „den einzigen Christus, den wir verdienen“, in: Die Neueren Sprachen, 14/ 1965/ 4, 159-180; Brigitta Coenen-Mennemeier: „Erzähler und Welt in L’Etranger von Albert Camus.“ In: Praxis des neusprachlichen Unterrichts, 10/ 1963/ , 143-149; Henning Krauss: „Zur Struktur des Etranger.“, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, 80/ 1970, 210-229; Peter Kramer: „Sonderbare Helden im modernen französischen Roman. Eine Textsequenz im Anschluß an Camus’ L’Etranger.“, in: Praxis des neusprachlichen Unterrichts, 37/ 1990/ 2, 169-174; Vincent Grégoire: „Pour une réinterprétation du titre ‘L’étranger’“, in: französisch heute, 28/ 1997/ 2, 153-156; Michael Wendt: „L’Etranger und andere Fremde im Französischunterricht.“, in: Lothar Bredella, Herbert Christ (eds.): Begegnungen mit dem Fremden. Gießen, Ferber, 1996, 127-155; Wolf Albes: „Landeskundlicher Glanz und literarisches Elend? Anmerkungen zum neuen „Lesebuch zur Einführung in die Oberstufenarbeit“ Nouveaux Horizons 1. In: Neusprachliche Mitteilungen aus Wissenschaft und Praxis, 51/ 1998/ 1, 33-41. 5 U.a. Wolfhard Keiser: L’Etranger - Der Fremde, Freising, Stark 2007; Reiner Poppe: Erläuterungen zu Albert Camus Der Fremde (=Königs Erläuterungen und Materialien, Bd. 61) Hollfeld, Bange Verlag, 2003. 6 U.a. Pierre Sauvage: Albert Camus. L’Etranger, (=Balises), Paris, Nathan 1990 und Stuttgart u.a., Klett (=Lektürehilfen) 1997 (3. Aufl.); Id: bearbeitet von Nicole und Norbert Maritzen, Stuttgart u.a., Klett, 2006; Philippe Forest: Etude de l’Etranger. Albert Camus. Résumé - Analyse - Commentaires (=Textes expliqués). Alleur, Marabout, 1995; Françoise Bagot: Albert Camus. L’Etranger, (=Etudes Littéraires), Paris, PUF, 1993; Bernard Pingaud: Albert Camus. L’Etranger, Paris, Gallimard (=Foliothèque), 1992. - Eine gute Kommentierung und weitere Titel finden sich bei Weller 2005, l. c., 33sq. 7 Claudine Sachse, Michette Eyser, Andrea Flour, Madeleine Hütten, Sabine Pevny, Silvia Philipp, Gabrielle Rüger-Roth: L’Etranger de Camus. Exploitation en cours de français. Classes terminals (sic). Stuttgart, Landesinstitut für Schulentwicklung 2005, im Folgenden zitiert als „Sachse et.al.“; Gabriele Rüger-Groth unter Mitwirkung von Julia Dewald, Kathy Ermert, Sven Heinzmann, Kristofer Jung, Jörg Ludwig, Beate Rieger, Gabriela von Schönburg, Kerstin Wittler (Seminar Heilbronn): Albert Camus. L’étranger, Stuttgart, Leipzig, Klett, 2005, im Folgenden zitiert als „Rüger-Groth“; Catherine Mann-Grabowski: L’Etranger d’Albert Camus, tel qu’il nous parle aujourd’hui. Eine Unterrichtsreihe für die Oberstufe (12.-13. Klasse) RAAbits Französisch Nr. 51, Raabe, September 2006; im Folgenden zitiert als „Mann-Grabowski“. 91 8 Weller, op. cit., (Anm. 2). 9 Ib., 41. 10 Rüger-Groth, l. c., 3. 11 Weller, l. c., 42. 12 Der Begriff stammt von Harald Weinrich und bezeichnet den Schock, den Schüler/ innen erfahren, wenn sie aus dem lexikalischen und morpho-syntaktischen Schonraum des (vornehmlich an der Alltagskommunikation orientierten) Lehrbuchs heraustreten und mit dem Reichtum literarischer Sprache konfrontiert werden. „Literatur im Fremdsprachenunterricht - ja, aber mit Phantasie“. In: Die neueren Sprachen 82 (1983), 200-216. 13 Weller 2005, l. c., 43; s.a. Mann-Grabowski, l. c., 4. 14 Forest, l. c., 175sq. 15 Weller, l. c., 40. 16 Siehe hierzu die Umfrage von Klaus Heitmann: „Camus’ Fremder ein Identifikationsangebot für junge Leser? Ein empirisches Rezeptionsprotokoll“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 3/ 4, 1983, 487-506. 17 Sachse et.al., l. c., 2sq. 18 Mann-Grabowski, l. c., 1. 19 Rüger-Groth, l. c., 3. 20 Ib., l. c., 7. 21 Sachse et al., l. c., 23. 22 Ib., 12. 23 Rüger-Groth, 8. 24 Sachse 27 und 54; 25 „Indem die Schüler angeregt werden, sich in die Figuren des Romans einzufühlen bzw. ihren eigenen Alltag mit den Augen Meursaults zu betrachten, finden sie einen persönlichen und damit auch einen leichteren Zugang zu einem Werk, das sich durchaus nicht von selbst erschließt.“ Mann-Grabowski, l. c., 3. 26 Z.B. Sachse et. al., l. c., 12, 38; Rüger-Groth, l. c., 10. 27 Z.B. Mann-Grabowski, l. c., 25. 28 Rüger-Groth, l. c., 34-36. 29 Isabelle Ancel: „L’Etranger“ de Camus, Paris: Lectoguide, 1981; Brigitte Sändig: Albert Camus. Eine Einführung in Leben und Werk, Leipzig, Reclam, 1988; Edward Saïd: Kultur und Imperialismus: Einbildungskraft und Politik im Zeitalter der Macht. Frankfurt, Fischer, 1994 ; Christiane Chaulet-Achour: Albert Camus, Alger. L’Etranger et autres récits, Biarritz, Atlantica, 1999. 30 Rüger-Groth, l. c., 7. 31 Mann-Grabowski, l. c., Material 9. 32 Sachse et al., l. c., 3. 33 Rüger-Groth, l. c., 7. 34 Sachse et.al., l. c., 7. 35 Mann-Grabowski, l. c., 1. 36 Siehe dazu auch Christiane Chaulet-Achour, l. c., bes. 37sq. 37 Mann-Grabowski, l. c., Material, 6. 38 Weller, l. c., 116-120. 39 Ib., 117. 40 Ib., 118sq. 41 Ib., 117. 92 42 Siehe hierzu auch Jorge Calderón: „Killing an Arab: L’Etranger d’Albert Camus relu par The Cure“, in: Jacqueline Lévi-Valensin, Raymond Gay-Crosier: ‘L’Etranger’: cinquante ans après. Actes du colloque d’Amiens, 11-12 décembre 1992, Paris, Lettres modernes, 1995, 105-118. Die unterschiedliche Funktion der Sonne im Roman und im Song wird von Mann-Grabowski nicht erkannt. S. Material, 40, Arbeitsauftrag 3: „Les instruments (…) rappellent le malaise du héros à cause de la chaleur et de son éblouissement par le soleil“. 43 Mann-Grabowski, l. c., Material, 41. 44 Sachse et al., l. c., 22; Rüger-Groth, l. c., 11. Auch Weller irrt, wenn er einen Mord „aus Notwehr“ annimmt. Weller, l. c., 94. 45 Zitiert bei Rüger-Groth, 21. 46 Siehe z.B. Mann-Grabowski, Material, 10: „(…) seine (Meursaults, L.S.) Naturbeobachtung verrät uns, dass seine Psyche sich unentwegt mit dem Verlust der Mutter beschäftigt.“ 47 Mann-Grabowski, l. c., 6 und Material, 9. 48 Rüger-Groth, l. c., 17. 49 Ib., 18. 50 Mann-Grabowski, l. c., LEK, 1. 51 Sachse et al., l. c., 42. 52 Rüger-Groth, l. c., 18. 53 Z.B. Mann-Grabowski, l. c., Erwartungshorizont der Lernerfolgskontrolle, 3: „La conscience qu’il a acquise de lui-même lui permet à la veille de sa mort de quitter son attitude passive pour transformer l’absurdité subie en revendication qui donne sens à sa vie“; oder Rüger-Groth, l. c., 31.: „Il a une conception fataliste du monde, mais est à la hauteur de sa souffrance et maîtrise la mort“. 54 Rüger-Groth, l. c., 3. 55 Mann-Grabowski, l. c., 3. 56 Sachse et al., 3. 57 Weller 2005, l. c., 104. 58 Rüger-Groth, l. c., 3. 59 Ib. 60 Sachse et al., l. c., 24. 61 Rüger-Groth, l. c., 11; Sachse et. al., l. c., 22. 62 Ib., 1. Siehe auch Id: „La radicalité du refus de Meursault de se prêter au jeu que la société attend de lui invite le jeune lecteur à s’interroger sur la place qu’il souhaite occuper dans le monde et sur les valeurs qui sont les siennes.“, ib., 3. 63 Zit. In Nicole et Norbert Maritzen (eds.): Albert Camus: L’Etranger. (=Texte et documents), Stuttgart, Klett, 2005, 97. 64 Mann-Grabowski, Material, 5. 65 Wendt, l. c., 136. 66 Mann-Grabowski, l. c., Material, 24. 67 Sachse et al., 6; Mann-Grabowski, l. c., 9. 68 Rüger-Groth, l. c., 3. 69 Weller, 103. 70 Pingaud, l. c., 208. 71 Weller 2005, l. c., 41. 72 Ib., bes. 74 sq. 73 Ib., 69sq. 93 74 Weller, l. c., 94. 75 Mann-Grabowski, Material, l. c., 12 sq. 76 Ib., 11. 77 Rüger-Groth, 10: „Mettez-vous dans la peau de Raymond (...), puis rédigez un petit monologue intérieur“; s.a. Sachse et.al., l. c., 12: „Ecrivez un monologue intérieur qui révèle les pensées de Marie à ce moment.“ 78 Weller, l. c., 42sq. 79 Mann-Grabowski, l. c., 2 („Une structure en miroir“). 80 Rüger-Groth, l. c., 12. 81 Eckhard Volker: „Vorschläge für eine schülerorientierte Lektüre des „Etranger“, in: Die neueren Sprachen, 3/ 4, 1987, 268-287. 82 Ib., 277. 83 Ib., 279. Résumé: Lieselotte Steinbrügge, L’Etranger d’Albert Camus. A propos de la durabilité d’un classique: Le texte essaie d’expliquer pourquoi L’Etranger est depuis 40 ans au programme de l’enseignement du français. En analysant les propositions de cours et les analyses didactiques récentes, on constate que les lectures proposées, malgré les innovations méthodiques, ne mettent pas en question les interprétations traditionnelles. L’hypothèse avancée est que le grand succès du roman comme lecture scolaire repose sur un malentendu, puisque le roman est lu comme récit réaliste, dont le protagoniste est considéré comme figure d’identification pour les élèves. 94 Isabella v. Treskow Die Banlieue-Proteste 2005 in überregionalen deutschen Printmedien 1. Schock aus der Mitte Europas Im November 2005 kam es in den Vorstädten von Paris und anderer Städte zu heftigen Protesten im Immigrantenmilieu, die das Bild Frankreichs in Deutschland merklich veränderten. Vor allem die Schwierigkeiten multiethnischer Koexistenz traten schlagartig ins Bewusstsein. Was war geschehen? Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr Anfang November von einem Ausmaß an Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit in den Banlieues, auf das die französische Politik keine rechte Antwort hatte. Jugendliche setzten Busse in Brand, demolierten Gebäude, attackierten Polizisten und Sanitäter. In der gewaltgeladenen Atmosphäre kamen mindestens zwei Zivilisten zu Tode, mehrere Menschen wurden schwer verletzt. Die Gewalt war jedoch prioritär gegen die Staatsmacht, ihre Repräsentanten bzw. sie repräsentierende Institutionen und Symbole gerichtet. Zugleich enthielt sie einen Aspekt der Verachtung der engsten Umwelt der Jugendlichen und damit der Selbstzerstörung - in den Attacken auf Autos, Kindergärten, Turnhallen und Jugendzentren -, der auf ihre immense Wut schließen ließ. Während der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy seine Politik der harten Worte und administrativen Strenge fortsetzte, das Problem durch Polizeieinsätze in den Griff zu bekommen versuchte und Premierminister Dominique de Villepin abwechselnd zu Mäßigung und schärferem Vorgehen aufrief, schwieg der Präsident Jacques Chirac mehr als zwei Wochen, bis er sich an die Nation im Allgemeinen und die Protestierenden im Besonderen wandte. In einer Fernsehansprache versuchte er sie zu beruhigen, mahnte sie zur Ordnung und nannte sie bezeichnend „filles et fils de la République“. 1 Damit sprach er einen Kernpunkt der Problematik an, denn was es zu bedeuten hatte, Franzose oder Französin zu sein, gehörte zu den ungeklärten Identitätsmerkmalen derjenigen, die man gemeinhin nicht als Kinder der Republik sondern als Kinder von Immigranten erfasste. Ausgelöst wurden die Ereignisse durch den Tod solcher „Kinder“, des fünfzehnjährigen Bouna Traoré und des siebzehnjährigen Zyed Benna, in Clichy-sous-Bois. Am 27. Oktober 2005 waren sie aus Angst vor einer Polizeikontrolle in ein Transformatorenhaus geflohen und an einem Stromschlag gestorben. 2 Ein weiterer Jugendlicher wurde schwer verletzt. Am selben Abend fanden Trauermärsche statt, in deren Anschluss sich lang angestaute Frustrationen entluden. Das mediale Echo war groß und nahm in dem Umfang zu, in dem die Unruhen sich verbreiteten. Radio und Fernsehen lieferten Live-Berichterstattung, Sonder- 95 nummern der großen Zeitungen erschienen, Intellektuelle meldeten sich in Podiumsdiskussionen zu Wort. Zumindest eines der Ziele hatten die Protestierenden schnell erreicht: ein hohes Maß an Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die Blicke Europas auf jene „Zonen“ zu lenken, die mit ihren Problemen bis dahin im Schatten der öffentlichen Wahrnehmung standen. In Deutschland verharrte man perplex vor den Nachrichten, die aus einer Gegend kamen, die eher als Urlaubs- und Kulturland denn als innenpolitischer Unruheherd gegenwärtig war - aber im Fernsehen wirkten, als handele es sich um „Bagdad, Lagos, Port-au-Prince“. (Spiegel, 14.11.) Einige reißerische Überschriften zeugen von der Intention, den Schock- und Schreckenscharakter zu betonen bzw. zu verstärken. Dass die Ereignisse mitten in Europa stattfanden, traf auf Bestürzung in einem Land, das seinen Nachbarn plötzlich neu entdeckte und dabei feststellen musste, dass das hier Unbekannte dort im Grunde bekannt, dass brennende Autos etwa in Clichy-sous-Bois und Mantes-la- Jolie bei Paris oder Vaulx-en-Velin bei Lyon an der Tagesordnung waren, dass gewalttätige Proteste Jugendlicher seit langem regelmäßig in den Vorstädten aufwallten und zerstörerische Akte zur Normalität in Wohngebieten gehörten, deren lyrische Namen in starkem Kontrast zu den Ereignissen stehen. Die folgende Analyse der Berichterstattung der deutschen überregionalen Presse konzentriert sich auf gemeinsame Bezugspunkte in der Interpretation der Ausschreitungen unter dem Aspekt herkömmlicher Züge des Frankreichbilds. Als diese sind (1.) die Protesttradition und (2.) die besondere Rolle der nationalen Prinzipien von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ auszumachen. Zusätzlich werden (3.) Perspektivwechsel durch die Übernahme von Banlieue-Blickpunkten auf die Ereignisse und speziell die Figur des Ministers Sarkozy dokumentiert. 3 2. Das Land des Luxus und das Land des Protests Die Berichterstattung der untersuchten Presse ist im Allgemeinen um Objektivität bemüht. Lediglich auf der Bild-Ebene, gelegentlich auch im parallelen Abdruck subjektiver Zeugnisse und in plakativen Überschriften werden Dramatisierungsversuche deutlich. 4 Statistiken und Landkarten werden den Berichten beigegeben, ausführliche Reportagen z.B. über die Lebensverhältnisse der Vorortbewohner oder über den Zusammenhang zwischen der Aufruhr und urbaner Entwicklungspolitik, Architektur und Städtebau (dies besonders in der Süddeutschen Zeitung) geliefert, und es werden Überlegungen zur französischen Integrationspolitik und zu Fragen des Rassismus im globalen Kontext angestellt. Begleitet sind die Angaben über die Zerstörungen und die Reaktionen der Politiker von Versuchen, die Gewaltausbrüche soziologisch zu erklären. Neben gegenwartsdiagnostischen Ansätzen wird das Bedürfnis sichtbar, die Ereignisse in einen größeren historischen und mentalitätsgeschichtlichen Rahmen einzubetten. Die tradierten Vorstellungen der Douce France als Inbegriff für Savoir 96 vivre zum Einen und Land des sublimen Luxus zum Anderen konnten für die Bewertung der Geschehnisse begreiflicherweise nur als Kontrasthintergrund dienen. So ist etwa in einer Überschrift der Frankfurter Rundschau vom „hässlichen Gesicht Frankreichs“ die Rede, einem Gesicht, das dem üblicherweise mit Frankreich verbundenen Schönheitsideal nicht entspricht. Im Artikel selbst liegt die „brutale Wirklichkeit in Clichy-sous-Bois in Seine-Saint-Denis“ keine „25 Kilometer von den glitzernden Schaufenstern der Champs-Elysée“ entfernt, „Lichtjahre“ weg vom „Frankreich des Luxus und des Wohlstandes“. (5.11.) Focus berichtet von den „Betonwüsten“, „nur wenige Kilometer vom Zentrum der Glamour-Hauptstadt Paris“ entfernt. (7.11.) Das Aufrufen der Douce- und Belle-France-Klischees enthält über die z.T. räumlich festgemachten Entfernungen zwischen Zentrum / Macht und Peripherie / Ohnmacht hinaus kritische Spitzen gegen soziale Unterschiede und Ungerechtigkeiten. Sie werden pointiert festgemacht an der Differenz zwischen dem bourgeoisen Pariser Wohlleben, das auch die politische Elite umfasst, und den verarmten Vorstädten derselben Metropole. Die Frankfurter Rundschau verweist nicht nur auf die räumlich-metaphorische Distanz zwischen den „Trabantensiedlungen“ und den „Champs-Elysées“, sondern auch dem „Palast des Staatspräsidenten“. (5.11.) Im Spiegel erscheint im Sinne latenter Kritik am politischen Elitismus das aktuelle politische System als fortgesetztes Ancien régime. Erklärt wird, dass „Politik in Frankreich von jeher vor allem als elegantes Ränkespiel verstanden“ werde, als „Gerangel von Gruppen und Grüppchen, die sich wie einst bei Hofe in Intrigen verlieren und um die Gunst eines Königs buhlen, der heutzutage Präsident heißt.“ (14.11.) Der Widerspruch zwischen Aktualisierungsnotwendigkeit und dem Bedürfnis, Bekanntes aufzugreifen, ist in der Berichterstattung der Frankfurter Rundschau Mitte November besonders sichtbar. So wird am 11.11. im Politikteil der Zeitung über die Verhängung des Ausnahmezustands und einzelner Ausgangssperren sowie die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Gewalttätern vor allem in der Provinz berichtet: Bordeaux, Arras, Dôle und Nizza werden angeführt, wo Omnibusse zerstört, Möbelhäuser angezündet und der Redaktionssitz von Nice-Matin schwer beschädigt wurden. Im Wirtschaftsteil sind die Folgen für das „Land von Rohmilchkäse, Baguette und Austern“ Thema, der Schaden, den Frankreichs Bild im Ausland nahm und der sich auf den Tourismus niederzuschlagen drohte. Wie um diesem Unheil entgegenzuwirken, liegt der Wochenendausgabe vom 12.11., die erneut das „verheerende Auslandsecho auf die Ausschreitungen“ benennt, ein Reiseteil bei, in dem unter dem spielerisch-harmlosen Motto „Urlaub bei Asterix“ die Bretagne als attraktives Reiseziel gepriesen wird, begleitet vom Bild der mythischen Comicfigur in verschmitzt-fröhlicher Pose. Da im Kontrastverfahren die Vorgänge nicht ausreichend plausibel zu machen waren, suchte man die Verbindung zum typisierten Frankreichbild zusätzlich in einem anderen Bereich, dem der Sozialgeschichte: Die Ausschreitungen rückte man, auch in Übernahme entsprechender französischer Auslegungen, in die Nähe einer französischen Ungehorsams-Typik. In Kommentaren und in Fragen an Inter- 97 viewpartner wie in deren Stellungnahmen wird das Bedürfnis offensichtlich, die Ausschreitungen als Teil der französischen Protesttradition zu verstehen. Einzelne historische Ereignisse bzw. Daten erhalten in dieser Perspektive Vorbildfunktion - voran natürlich 1789, das Jahr der Französischen Revolution. Der Sturm auf die Bastille wurde im Geschichtsbild nicht nur extrem aufgewertet, die Ziele des Aufstands gehören zum Legitimationsfundus der aktuellen Republik. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitiert im Sinne der Beziehung der Ausschreitungen zur Französischen Revolution Emmanuel Todd mit den Worten: „Auseinandersetzungen zwischen der Jugend und der Polizei gehören zur französischen Tradition. [...] Es ist sehr französisch, wenn eine marginalisierte soziale Schicht mit ihren Anliegen auf die Straße geht. Frankreich ist das Land der Revolten. Seit 1789.“ Weiter heißt es: „Mit ihrer Revolte integrieren sich die aufständischen Jugendlichen in die französische Tradition“ und die „Revolte“ stehe „nicht für das Scheitern des französischen Modells, sie bestätigt vielmehr sein Funktionieren“. Der Zweck der Unruhen ruht dabei offenbar in sich: Man könne die Revolte „nicht aus der Perspektive der Marginalität und der Verelendung begreifen“, es gehe „um einen Aufstand der Jugend, der sie ins Zentrum der französischen Politik“ katapultiere. (12.11.) 5 Auf diese Weise wird mit der Vorstellung erfolgreicher Integration die Spezifik der Ausschreitungen schöngeredet und glattgebügelt. Rudolph Chimelli argumentiert ähnlich. Für ihn übernehmen die muslimischen und arabischen „Randalierer“ sowohl anti-westliche Denkmuster wie den französischen Streik- und Protesthabitus. Spöttisch gleitet dabei der Blick über die französische Erbverwaltung der Rebellion, von der die Revoltierenden nur eine unterbewusste Ahnung zu haben scheinen. Sie ist stärker als ihr Anliegen, sich gegen die französische Kultur abzusetzen: „Frankreich hat ein langes Gewöhnungstraining an Gesetzlosigkeit hinter sich. Seit Jahrzehnten kippen zornige Bauern Lebensmittelimporte auf den Asphalt, ohne dass dafür jemand zur Rechenschaft gezogen wird. Streikende Arbeiter setzen ihre Chefs fest, und keiner klagt wegen Freiheitsberaubung. Fischer blockieren die Häfen und erhalten höhere Fangquoten. ‘Sensenmänner’ (faucheurs) verteidigen durch Kahlschlag auf genmanipulierten Versuchsfeldern die Nationalkultur. Und über allen kleinen Ausbrüchen handfester Interessen leuchtet der späte Abglanz großer Revolutionen gegen etablierte Ordnungen. An Lastwagensperrungen sind schon Regierungen gescheitert. Noch in der Résistance und im Beinahe-Bürgerkrieg um die Algérie française festigte sich die Idee, dass es eine höhere Legitimität geben kann als die der bestehenden Verhältnisse. - Die Randalierer in den brennenden Vorstädten wissen davon nichts. Aber ein Substrat solcher kollektiver Erfahrungen ist doch in ihr Bewusstsein eingedrungen.“ (SZ, 7.11.) Für manche wirkt die Französische Revolution nicht nur ins Protest-, sondern bis ins Alltagsverhalten hinein. So erfahren wir über die Verhängung des Ausnahmezustands in der tageszeitung, dies sei „ein starkes Signal in einem Land, dessen 98 Staatsbürger noch das Anrecht des Überquerens eines Zebrastreifens bei roter Ampel aus der Tradition des Sturms auf die Bastille ableiten.“ (9.11.) Anders Michel Wieviorka, der in La violence (2004) eine Analyse der neuen Gewaltformen vorgelegt hat. Er bestreitet in der Frankfurter Rundschau, dass die Ursache der Gewaltanwendung als Protestmittel Resultat des republikanischen Geschichtsunterrichtes sei. Auf die Feststellung seiner deutschen Interviewpartnerin Michaela Meister, „in Frankreich sei man Gewalt gewöhnt“, wenn „Bauern Barrikaden anzünden, dann (sei) das Teil der politischen Ikonographie, die bis auf die Revolution“ zurückgehe, reagiert er nicht. Die Frage, ob „die Jugendlichen womöglich das als einzige der republikanischen Lektionen gelernt“ hätten, „dass man mit Gewalt etwas“ erreiche, verneint er. (12.11.) Nebenbei gesagt, widerspricht sich beides nicht, basieren doch die Erfolge protestierender Bauern gerade auf der Spektakularität ihrer Aktionen. Stationen nach 1789 werden im 20. Jahrhundert angesiedelt. Die „nationalen Vorbilder“ reichen für Alain Bauer, Kriminologe und Politikberater, gemeinsam mit Xavier Raufer Autor von Violences et insécurité urbaines (Paris 1998), von den „militanten Streiks der Gewerkschaften bis zu den Kampfdemonstrationen der radikalen Linken“ (paraphrasiert in Die Zeit, 10.11.). 6 Der Vergleich mit 1968 tritt vereinzelt auf, 7 im Spiegel werden dabei die spezifischen Unterschiede in der Motivation der Rebellierenden betont: „Die Brandsätze, die Steinewerfer, der Fanatismus - all das erinnert auch an das Unruhejahr 1968. Nur ist diesmal keine Avantgarde auf dem langen Marsch. Kein Sartre, kein Cohn-Bendit hakt sich in der ersten Reihe unter.“ (7.11.) 8 Der Mangel an konkreten politischen Forderungen der banlieusards machte alles in allem für Berichterstatter und Kommentatoren die Verbindung zu herkömmlichen Protesten schwer. Mehrfach wird daher ihre Sprachlosigkeit erwähnt bzw. der Umstand, dass Gewalt möglicherweise die einzige „Sprache“ sei, mit der sie ihre diffusen Anliegen kommunizierten. Die Einordnung der Vorfälle in die Nationalgeschichte liefert dann ein nur oberflächliches Verständnis des Geschehens, wenn der Gedanke, dass Franzosen - über deren „französischen“ Status man sich abgesehen vom juristischen Aspekt nicht einig ist - sich „französisch“ verhalten, mehr der eigenen Beruhigung denn vertiefter Erkenntnis des Neuen dient. Regelrecht erleichtert wird behauptet, z.B. von Emmanuel Todd, die Jugendlichen aus Immigrantenfamilien hätten sich eingepasst, seien also „integriert“, gar auf subtilere Weise als vermutet. Die Zeit streicht hingegen die Problematik der Bildungsintegration ohne soziale Integration heraus: „Solange Frankreich die Anpassung an die eigene Nationalkultur so unermüdlich fordert, aber noch keine Antwort darauf hat, wie es die Kluft zwischen dem sozialen Status und dem republikanischen Anspruchsdenken der von ihm erzogenen Immigrantenjugend überwinden kann, bergen die Krawalle ganz neue Gefahren.“ (10.11.) Insgesamt ist es nicht falsch, aber nur bedingt erhellend, die Unruhen in eine historische Linie französischer Proteste einzureihen. Interessant ist die dadurch implizite Abgrenzung zu ähnlichen Ereignissen in anderen Nationen. Logisch 99 schwer zu begründen ist die Verbindung zur palästinensischen Intifada, 9 ein Vergleich, der z.B. in Die Zeit vehement abgelehnt wurde. Intensive Seitenblicke gehen zu den Riots in Lozells bei Birmingham im Oktober 2005, in denen verschiedene Einwanderergruppen regelrechte Schlachten gegeneinander austrugen (vgl. z.B. Spiegel, 7.11.; taz, 12./ 13.11.), welche dann in Konfrontationen mit der Polizei mündeten, ähnlich wie in Alcorcón im Januar 2007 und immer wieder im Anschluss an Fußballspiele in Italien. Verbindungen zu einer Nationalgeschichte des Protests bieten sich für Großbritannien und Spanien jedoch nicht an. Die Erinnerung an die Französische Revolution dient folglich dazu, die Ausdrucksform der Protestierenden von bereits existierenden Verhaltensmustern nationaler Tragweite abzuleiten. Je näher die zeitgeschichtlichen Bezugsereignisse rücken, desto mehr stellt sich die Frage der Legitimität des Einsatzes von Gewalt. Während dem Sturm auf die Bastille eine eigene historische Würde zugeschrieben wird, muss Gewalt im Rahmen der 1968er-Demonstrationen noch einmal gerechtfertigt und von der Gewalt während der Banlieue-Ausschreitungen unterschieden werden. In der Protest-Genealogie taucht spezifisch ex- oder postkoloniales Protestverhalten anfangs nur am Rande auf. Dies ist der Fall etwa bei Dorothea Hahn, die den Hang zum „zivilen Ungehorsam“ als Teil der „gemeinsamen Sprache“ von Immigranten und autochtonen Franzosen sieht, darüber hinaus aber davon spricht, dass es seit „Ende der 70er Jahre [...] immer wieder Bürgerbewegungen aus den Banlieues heraus gegeben“ habe. (taz, 7.11.) In der Süddeutschen Zeitung wird jenes Ereignis erwähnt, das die 1980er Jahre prägte, die marche des beurs von 1983. (10.11.) 10 Einen neuen Akzent erhält die Frage der historischen Einordnung mit der Verhängung des Ausnahmezustands am 8. November. Die Ereignisse erscheinen nunmehr im Licht postkolonialer Befreiungskriege. Das Notstandsgesetz, in dessen Rahmen der Ausnahmezustand verkündet wurde, geht auf den algerischen Unabhängigkeitskrieg zurück und wurde dort 1955 erstmals verhängt, danach nur 1984 in Nouvelle Calédonie anlässlich der gewalttätigen Unruhen zwischen Befürwortern und Gegnern der Unabhängigkeit angewandt. Im Mai 1968 hatte Charles de Gaulle die Anwendung des Gesetzes abgelehnt. Die Verhängung des Ausnahmezustands 2005 wurde angesichts der französischen Kolonialgeschichte vielfach als ungeschickt, wenn nicht als Provokation verstanden. Sie verlangte daher, wie Hans-Helmut Kohl kommentierte, besondere Sensibilität von der Regierung, da es sich bei der „aufrührerischen Jugend“ um „Nachkommen der Menschen aus den Kolonialstaaten handele, die sich im ‘Mutterland’ der Demokratie [...] nicht akzeptiert fühlen - und dies, obwohl sie französische Staatsbürger“ seien. (FR, 10.11.) Michel Wieviorka sieht die Vorgänge im Zusammenhang mit der nicht aufgearbeiteten kolonialen Vergangenheit Frankreichs und hält „Probleme der Entkolonialisierung“ für „zweifellos präsent in dieser Krise, zumal ja ein Teil der Immigration genau mit der Entkolonialisierung“ zusammenhänge. Er fährt fort: „Für meinen Geschmack ist es deshalb alles anderer als guter Stil, in einer solchen Situation ein Kriegsgesetz vorzuholen, das einen postkolonialen Beigeschmack hat.“ (FR, 100 12.11.) 11 In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wurden teils sachlich die Positionen der Franzosen ehemaliger Kolonien referiert, „die die Gewalt in den Banlieues gewissermaßen als antikolonialistischen Befreiungskampf gerechtfertigt“ hätten. Die Vorstädte wurden als „Ghettos“ bezeichnet, „in denen die Nachfahren der Kolonialisierten Opfer der alten sozialen und völkischen Apartheid“ seien. (8.12.) Teils wurde auch spöttisch von einer „postkolonialen Revolte“ gesprochen. (16.11.) Die Aussage des Rappers La Hamé der Gruppe La Rumeur bestätigt die Einschätzung, die Betroffenen sähen die Demonstrationen und Gewaltakte sowohl im Zusammenhang mit einer eigenen Protesttradition, als auch speziell mit den Kämpfen für die Autonomie Algeriens. Er bezieht sich auf die Demonstration für die algerische Unabhängigkeit am 17. Oktober 1961, bei der Maurice Papon die Polizei dazu ermutigt hatte, gewaltsam vorzugehen. Eine hohe Zahl von Demonstranten kam zu Tode, davon nicht wenige in der Seine, andere auf Polizeiwachen. 12 Im Rahmen der Interpretation der Ausschreitungen als typisch französischem Ungehorsams-Syndrom erscheint das Aufbegehren meist als Erbe einer allgemeineren, sprich erwachsenen, bisweilen aber auch als Teil einer genuin „jugendlichen Protestkultur“, 13 die Deutschland so nicht kennt. Zutreffend ist, vor allem aus deutscher Sicht, dass in Frankreich schneller, mit geringerer Scheu vor Sachbeschädigung und breiterer Resonanz als hier Demonstrationen und Streiks durchgeführt werden. Beide können in starke Gewaltaktionen, seltener in Gewalt gegen Repräsentanten des Staates, Polizei und CRS, oder gegen Zivilpersonen münden. 14 Dass der Geist der Revolte als unveränderliches Kennzeichen Frankreichs vor allem im Vergleich zu Deutschland gilt, streicht die taz besonders heraus. Sebastian Lütgert beginnt seinen Artikel „Besuch in der Kampfzone“ mit den Worten: „In Deutschland, so Lenin, kauft sich der Revolutionär eine Bahnsteigkarte. In Frankreich dagegen sind selbst die Revolutionstouristen ohne Metro-Ticket unterwegs.“ Mit Bedauern konstatiert der Autor allerdings im selben Artikel, dass „Kapitalismus, Stadtplanung und Polizei“ das Land mittlerweile „unrevolutionierbar“ gemacht hätten. (9.11.) Wie indes Marc Hatzfeld schreibt, hilft der grobe Vergleich mit der „figure superbe d’une révolution“, wenig und sei diese selbst für die Beteiligten gefährlich, solange sie nicht durch politischen Erfolg legitimiert werde. (Le Monde, 10.11.) Die Konsequenzen kollektiver Gewaltausbrüche sind ungewiss, zumal auf lange Sicht. Was die Banlieue-Problematik betrifft, ist die Umsetzung der politischen Versprechen nach wie vor umstritten und eine dauerhafte Befriedung noch nicht in Sicht. Welche Einstellung die Protestierenden selbst zu dem von ihnen angetretenen Erbe haben, wurde 2005 kaum eruiert. Über einige Leitfiguren der Banlieue-Kultur, z.B. den Schriftsteller und Minister Azouz Begag, den Priester Christian Delorme - Intellektuelle in gewissermaßen „organischer Funktion“ - und die Rapper - die Gruppe Suprême NTM bezeichnet sich selbst als „haut-parleurs“ - lässt sich erfahren, dass 1968 tatsächlich einen Bezugspunkt bildet. So handelt der Rap Rêv’S’olution von Fofo Adom’Megaa alias Rost aus dem Solo-Album Voix du Peuple (2004) von der kommenden Revolte der „lascars“, der Vorstadt-Jugend 101 „sans-voix“: „Pire qu’en 68, la France va sauter.“ Der Refrain lautet: „Révolution. Mes lascars dans les cités./ Révolution. On sera tous dans la rue./ Révolution. Pire qu’en mai 68./ Révolution. La prochaine sera hardcore.“ Im Interview Rosts mit Daniel Geiselhart in der Süddeutschen Zeitung wird auf den Rap verwiesen (7.11.), die Selbstlegitimation allerdings nicht angesprochen. Der von Joseph Hanimann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung interviewte Schriftsteller und Intellektuelle Mehdi Belhaj Kacem verneint einen Vergleich zwischen den Gewaltakten und herkömmlichen Arbeitskonflikten, da der Sozialkonflikt von einem in Zukunft noch stärker vertretenen Typus des „perspektivenlos herumlungernden, meist jugendlichen Tagediebs“ ausgehe. (10.11.) Mai 1968 setzt er hingegen in La psychose française, ähnlich wie Rost, implizit als vergleichbares Ereignis ein, vergleichbar in der Erschütterung der staatspolitischen Führung, vergleichbar auch in der Dimension. Er nennt die Unruhen „les événements sociopolitiques les plus graves depuis mai 68,“ 15 ohne deren besonderen Charakter bzw. die Motivationen und Ziele der Protestierenden durch ihre Interpretation als unbewusste Erfüllung republikanischer Werte einzuebnen. 3. Mythische Egalité und Beschwörung von Respekt Der republikanische Wertekanon - gefasst in der Schlagwortkombination Liberté, égalité, fraternité - bzw. das Selbstbild Frankreichs als „Wiege der Menschenrechte“ und Verkörperung des idealen Gesellschaftsvertrags im Gewand der Republik stellen neben der Protesttradition wichtige Anknüpfungspunkte für Erläuterungen zu den politisch-moralischen Hintergründen der Ereignisse dar. Dabei besitzen die Postulate der Französischen Revolution ein Eigenleben, an dem gerne die Glaubwürdigkeit des Staates, seiner Verfassung und seiner Wirksamkeit festgemacht wird. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ sind daher keine reinen Worthülsen. Mythische Dimension und Realisierung reiben sich aneinander, wo die Ideale zu politischen Prinzipien werden und an ihrer Umsetzung das Handeln des Staates bzw. der Regierung und das Verhalten der protestierenden Bürger gemessen wird. Ihr Ursprung und ihre Leitfunktion machen sie zu Faktoren, die nicht nur als besonders französisch empfunden werden - Gerechtigkeit oder Chancengleichheit sind in jeder westlichen Demokratie einklagbare Prinzipien -, sondern die auch die Entscheidungen der Politik lenken, 16 z.B. in der Gestaltung des Laizismus oder der Frage der discrimination positive. Das Gleichheits-Postulat verleitet die Verantwortlichen zur Verschleierung differenzierter Wahrnehmung insofern, als zunächst einmal das Einwanderungsphänomen als solches einem Prinzip der Ungleichheit folgt 17 und als ferner im Alltag deutlich wird, dass nicht alle Staatsbürger Frankreichs „gleich“ sind, dass Aussehen, Name und Herkunft (plakativ gesprochen: Département 93 vs. 16e arrondissement) über ihre Zukunft entscheiden können, die Raumordnung Ungleichheiten verstärkt, Gerechtigkeit und Ausgleich nicht per Dekret zu verordnen sind und xenophobe Tendenzen schwer zu bekämpfen. Um 102 die Realität und die Vorstellungen der Bewohner der Vorstädte zu verstehen und zu verändern, ist das Raster „Gleichheit“ mit Sicherheit zu grob. Beurteilungen, die sich differenziert mit den konzeptuellen Fundamenten der Republik beschäftigen, gibt es in den unmittelbaren Reaktionen auf die Ereignisse in den Banlieues kaum. 18 Anspielungen auf das „republikanische Ideal“ bzw. die République finden sich allerdings auf Schritt und Tritt, im Rekurs auch auf die französischen Positionierungen. Dabei werden gegensätzliche Antworten auf die Frage gegeben, wie die Protestierenden zu den Werten stünden: Ob sie die Menschenrechte gerade einklagten bzw. sich über diese legitimierten und sie damit, ähnlich wie die Protestkultur, in besonderer Weise verinnerlicht hätten, oder ob ihre Revolte gegen diese Werte gerichtet sei. Während für die eine, politisch dem eher konservativen Spektrum zuzuordende Seite „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ nicht nur als Inbegriffe, sondern auch reelle Basis der République gelten, werden auf der Gegenseite, politisch eher „progressiv“ zu nennen, „République“ - Synonym für das „herrschende“ Frankreich 19 - und universelle Ideale argumentativ voneinander getrennt. Der Staat sei für eine gesellschaftliche Entwicklung verantwortlich, heißt es da, in der die „oft beschworenen ‘republikanischen Werte’ von ‘Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’ unter die Räder“ gekommen seien. (FR, 5.11.) Emmanuel Todd sieht in seiner Interpretation ganz von der kulturellen Zugehörigkeit der Revoltierenden ab. Er äußert: „Man sollte die Ereignisse nicht bezüglich der Herkunft und der Religion der Randalierer interpretieren, sondern im Rahmen der französischen politischen Kultur. Was hier zum Ausdruck kam, ist die Forderung nach Gleichheit - nach der Egalité.“ (FAZ, 12.11.) 20 Die Flammen schlagen, so Ulrich Beck, aus der „erfolgreichen Assimilation“, „genau“ aus der „verinnerlichten Egalité“. (SZ, 15.11.) Gerade auf die Werte der Freiheit und Gleichheit beriefen sich die Jugendlichen, konstatiert Die Zeit. Sie seien enttäuscht von der mangelnden Einlösung der damit verbundenen Verheißungen, erklärt Michael Mönninger: Was Frankreich derzeit erlebt, ist nicht nur ein Aufstand der Rechtlosen und Unterdrückten, sondern auch eine Revolte gegen die Republik im Namen ihrer eigenen Ideale. Denn die Halbwüchsigen haben in der Schule gelernt, dass zu ihrem Status als Staatsbürger untrennbar die republikanischen Versprechen von Gleichheit und Brüderlichkeit gehören. Das nimmt die Vorstadtjugend ernster, als es vielen Franzosen recht ist. Fast könnte man von einem Drama der gelungenen Integration sprechen, die deswegen an ihre Grenzen stößt, weil die Nachgeborenen sich eben nicht damit begnügen wollen, in Parallelgesellschaften abzutauchen. (10.11.) Folgerichtig werden die Prinzipien nicht mehr als Grundlage des Zusammenlebens betrachtet, sondern als „Versprechen“. 21 Selbst Jacques Chirac spricht in seiner Déclaration vom 14.11. nicht von ihrer Existenz, sondern von der Pflicht des Staates, für Chancengleichheit zu sorgen, bzw. davon, dass die Französinnen und Franzosen, und besonders die jüngeren, jenseits aller Zweifel und Schwierigkeiten stolz darauf sein sollten „d’appartenir à une communauté qui a la volonté de faire vivre les principes d’égalité et de solidarité, et qui fait pour cela des efforts considérables“. 22 Die Erklärung wurde in der tageszeitung mit den Worten kommentiert, 103 die „Erinnerung an die Gleichheit und den Respekt in der Republik“ sei „ein schöner Satz für die Geschichtsbücher“. (16.11.) Es wird folglich unterschiedlich wahrgenommen, wer sich wie auf „Gleichheit“ bezieht. Die Gegenseite sieht jene Werte nicht als Hoffnungsstrahl am Horizont, sondern mit den Füßen getreten. Alain Finkielkraut vertritt die Ansicht, die Vorstadtjugend veranstalte einen „ethnischen Krieg“ und das Verhalten der Bürger, d.h. der muslimischen Bewohner in den „Brennpunktvierteln“, sei ein „richtiggehendes Pogrom gegen die Werte der République.“ (Focus 46, 14.11.) Ein Sturm der Entrüstung folgte seinen Worten nach dem Interview, das er am 19.11. der israelischen Zeitschrift Ha’aretz gab, in welchem er diese Position bekräftigte und erklärte, Frankreich habe seinen Kolonien vor allem Gutes getan. 23 In eine ähnliche Richtung, wenn auch gezielter auf die konkreten Vorfälle bezogen, gingen die Worte Nicolas Sarkozys, der den angeklagten Gewalttätern vorwarf, sie hätten „,ihren Vertrag mit der französischen Republik gebrochen, die ihnen den dauerhaften Aufenthalt gestattet habe“ (FR, 11.11.), eine merkwürdige Vorhaltung angesichts der Tatsache, dass die meisten Protestierenden französische Staatsbürger und Staatsbürgerinnen sind. Die „Ambition Gleichheit“ (FAZ, 3.11.) ist für manche Leitartikler zur Falle geworden. Die Süddeutsche Zeitung erklärt zur Ursache des „kollektiven Erlebnisses der Zukunftslosigkeit“ eine so genannte „republikanische Selbstlähmung“: In Frankreich ist es aus Rücksicht auf den Staatsgrundsatz der ‘Egalité’ ein politisches Tabu, ethnische oder religiöse Bindungen offiziell überhaupt wahrzunehmen. Diese selbstverordnete Blindheit geht so weit, dass es sogar ausdrücklich verboten ist, einschlägige Statistiken aufzustellen. Darum lassen sich über die im Lande lebenden Minderheiten keinerlei gesicherte Aussagen treffen - niemand kann genau feststellen, welche Defizite die Integration dieser Minderheiten aufweist und wie diese durch gezielte Fördermaßnahmen zu beheben seien. (9.11.) In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ist vom „republikanischen Mythos“ die Rede (12.11.). Ein ausführlicher Artikel, betitelt „Formale Gleichheit“, schließt: „Doch als Bewahrer des republikanischen Modells lehnt er [Dominique de Villepin] es ab, Einwanderer nach nationalen oder anderen Kriterien auszuwählen. ‘Seit zwei Jahrhunderten hat die Republik jedem einen Platz zugedacht, indem sie die Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ganz nach oben stellte’, sagt Villepin.“ (FAZ, 10.11.) Die Zuspitzung auf die per Revolution erstrittenen Prinzipien hin hebt die Verbindung zwischen der französischen Geschichte und der Gegenwartspolitik besonders hervor. Es gibt zwar vereinzelt auch einen ironischen Umgang mit den Revolutionsmaximen, 24 im Wesentlichen aber beziehen sich die Vorstadtbewohner bzw. die „Sprecher“ der ethnischen und sozialen Problemen ausgesetzten Minderheiten vor allem auf den Egalitäts-Gedanken, interpretierten auch in diesem Rahmen Ausschließung und Arbeitslosigkeit. 25 Ein herausragender Indikator dafür, wie ernst die republikanischen Werte genommen und wie intensiv vor allem égalité und mit ihr mixité eingeklagt werden, sind die Texte französischer Rap-Gruppen, in denen 104 die Kritik an der Umsetzung republikanischer Werte und der Willen zu ihrer Realisierung Ausdruck verliehen wird. 26 Gewiss bestehen auch z.B. US-amerikanische oder deutsche Rapper in ihren Texten auf Einlösung von Gerechtigkeit und Chancengleichheit. Der Bezug auf die Werte der Gleichheit, Solidarität bzw. Brüderlichkeit und der Freiheit ist jedoch gerade in Frankreich einfacher und stärker, weil sie eben als „Kern“ französischer Nationalität gelten. Da in den untersuchten Presseartikeln die Akteure kaum zu Wort kommen, tritt die Vielschichtigkeit dieser Auseinandersetzung in der „Philosophie der Banlieue“ nur selten in der Vordergrund der Frankreichwahrnehmung. Über den Anspruch, Gleichheit leben, fordern und erzeugen zu können, erfährt man nur pauschal etwas, vermittelt im Schlagwort blackblanc-beur, das für eine modernisierte, multikulturelle Republik steht: Als Vertreter der französisch-exkolonialen Minderheiten in der Regierung, Vermittler zwischen Banlieue und politischer Führung, im Herbst 2005 Ministre délégué pour la promotion à l’égalité des chances, wird z.B. Azouz Begag zitiert, der auf Sarkozys verächtliche Behandlung der Immigranten hin fragte: „Wo ist ‘la France black-blancbeur, das sie uns versprochen haben? ’.“ (SZ, 4.11.) Der Wunsch nach der Realisierung von Gleichheit ist verbal vielfach verbunden mit der Forderung nach Respekt. „Respekt“, eine Formel, die dem Wortschatz vorangegangener Generationen zu entstammen scheint, vielleicht typisch für das in Frankreich virulente Autoritätsdenken, meint für den Staatspräsidenten vornehmlich „respect de la loi“. Für die Vorstadtbewohner meint „Respekt“ Beachtung, Kommunikation zum Einen, Maßnahmen gegen Ausschließung und Abschottung zum Anderen. Respekt funktioniert in Gegenseitigkeit. Respekt ist etwas, das vom Staat eingefordert, aber auch in den Cités selbst unter den Betroffenen eingeklagt wird: Junge Männer beschimpften laut Le Figaro nach dem Tod eines 60-jährigen Banlieue-Bewohners die Jugendlichen ihres Quartiers, „nichts zu respektieren“ (9.11.). Der Rapper Rost konstatiert, die Kinder könnten ihre Eltern nicht mehr respektieren, da mit der Arbeit deren Autorität abhanden gekommen sei. Im Übrigen führt er ihre „Respektlosigkeit“ auf (staatliches) Desinteresse und soziale Veränderungen im Kontext der Moderne zurück: „Der Respekt der Kinder ist verloren. Sie merken, dass sich keiner für sie interessiert und dass in der modernen Welt kein Platz für sie ist.“ (SZ, 7.11.) Damit bestätigt er die Ausführungen Becks zur Globalisierung als internationaler Ursache für die Unruhen. 27 In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung wird festgehalten, dass „Mehr Respekt! “ als Forderung nicht ernst genommen werde (9.11.), „Geld ist nichts, Respekt ist alles! “ zitiert Die Zeit (10.11.) in einer Überschrift die Banlieue-Parole „L’argent, c’est rien mais le respect c’est tout. Mieux vaut mourir que de vivre à genoux“, bekannt geworden durch den Rapper Alpha 25. „Eine Frage des Respekts“ wird ein Artikel in der tageszeitung überschrieben, in dem es um den „Demütigungskreislauf“ geht (12./ 13.11.). Zuvor allerdings wurden in derselben Zeitung recht konservative Töne angeschlagen, nämlich an das Pflichtgefühl der nach Frankreich Immigrierten appelliert und zum Vorbild die Anpassungsleistung von Einwanderern nach Deutschland genommen, v.a. ihr 105 Anknüpfen „an Kardinaltugenden wie Fleiß und Disziplin [...], um Respekt zu erlangen“ hochgehalten (5./ 6.11.). Insgesamt gilt: Man kann die Forderung zitieren, man kann sie vage verstehen - etwa als Hinweis darauf, dass die „Bewohner der Banlieues [...] verbindliche Signale“ brauchen, „dass sie gehört und verstanden werden“ (NZZ, 14.11.) -, eine analytische Kategorie bildet sie nicht. Sie aufgegriffen zu haben, bedeutet aber, in das „Banlieue-Denken“ eingestiegen zu sein, in ein Wertesystem, in dem materielle und ökonomische Verbesserungen in den Termini von Beachtung, Respekt und Ehre gedacht werden. 4. Analogien auf Gangster-Niveau Wie vereinzelt angedeutet, berichtete die Presse nicht nur neutral über den Ereignisverlauf und die Schäden und wurden nicht nur deutsche, französische und amerikanische Wissenschaftler, Soziologen und Politologen befragt und die Reaktion der politisch Verantwortlichen aus der Nähe betrachtet, mithin nur einer Sicht „von oben“ Raum gegeben, sondern fanden zeitweilig auch diagnostische Standpunktwechsel statt. Milieu und Alltag der Immigrantenfamilien wurden geschildert und die Interpretation der Ereignisse durch die Cité-Bewohner und Protestierenden selbst vermittelt, von Menschen also, deren Haltung und Meinungen in der überregionalen Presse üblicherweise weniger nachgespürt bzw. die sonst selten übernommen werden. Die Banlieue-Kultur des Rap und des Films fand gezielte Beachtung, besonders der Film La Haine (1995) wird bisweilen paradigmatisch zitiert. 28 In Porträts und Interviews kommen die Cité-Bewohner selbst zu Wort, darunter auch ihr Verhältnis zum Staat und Ihre Einschätzung der Lage. Interessant sind nun explizite und implizite Spiegelungen ihrer Sicht auf die Politik, mit der sie herkömmliche Denkstrukturen verändern. Eine „lascar“-Rhetorik geriet in den Blick, die der offiziellen Rhetorik mit besonderen Vergleichs- und Verkehrungsverfahren begegnet. Die eigentümliche Banlieue-Wirklichkeitsdeutung machte und macht sich wesentlich an Nicolas Sarkozy fest. Er gilt als derjenige, der mit seinen harschen Sprüchen und disqualifizierenden Vokabeln die destruktiven Massenaktionen Ende Oktober auslöste. Besonders übel genommen wurde ihm, dass er Teile der Vorstadtjugend erst als „voyous“ und „racaille“ bezeichnet hatte, im Juni in La Courneuve 2005 die Reinigung der Cité des 4000 mit dem Kärcher ankündigte, 29 schließlich im Oktober die beiden im Trafohaus verendeten Jugendlichen fälschlich bezichtigte, einen Baucontainer aufgebrochen zu haben und deswegen vor der Polizei geflohen zu sein. 30 Für die Vorstadtjugend war Sarkozy mit seinen Verbalinjurien, der Abschaffung der Nachbarschaftspolizei, der Senkung der Sozialausgaben und der Ankündigung „tolérance zéro“ Feind Nummer eins. Er war zugleich der Politiker, der am häufigsten die Ballungsgebiete besuchte und sich vehement für neue politische Maßnahmen der Integration wie z.B. die positive Diskriminierung, besondere schulische Hilfen etc. einsetzte. Das Gemisch erzeugte ein spannungsreiches 106 Verhältnis zwischen ihm und den Angesprochenen, das der Spiegel nach Ausbruch der Unruhen als „Hassliebe“ bezeichnete. „Es ist“, heißt es dort in allerdings etwas befremdlicher Formulierung, „als fühlten sich die Mustafas und Samirs und Bazoubas von einem der Ihren beleidigt und verraten.“ (14.11.) Schnell wurden die Unruhen zu einem Machtkampf unter gleich Unerbittlichen. Focus sah die Vorstadtgewalt als grausame Replik der Jugendlichen auf Sarkozys Verbalattacken, mündend in einen Kampf zwischen nahezu Gleichstarken: „Seine Sondereinheiten konnten dennoch nicht verhindern, dass allein in dieser Nacht 400 Autos, fünf Warenlager und 27 Busse abgefackelt wurden. Das machte ausnahmsweise auch Hardliner Sarkozy sprachlos [...].“ (Focus 45, 7.11.) Die Zeit ließ Amar Henni zu Wort kommen, Sozialarbeiter und gemeinsam mit Gilles Marinet Autor eines Buches mit dem sprechenden Titel Cités hors-la-loi - un autre monde, une jeunesse qui impose ses codes (Paris 2002): „Sie fühlen sich jetzt mit Sarkozy in einem Kräftemessen, das nur einer gewinnen kann.“ (10.11.) Das ambivalente Verhalten des Innenministers, selbst Kind von Einwanderern, wenn auch nicht aus ehemaligen Kolonien, hatte in der Tat zur Folge, dass die Jugend ihn teilweise auf Augenhöhe wahrnahm, anders als Dominique de Villepin, Jean-Louis Borloo oder Jacques Chirac, dies allerdings in nicht weniger ambivalenter Weise. Aspekte seines Handelns bzw. seine Charakterisierung mussten dafür Charakteristika der Banlieue-Welt bzw. des Banlieue-Imaginariums angepasst werden. Sein spontanes, auch ungehobeltes, als sowohl schlau wie brutal verstandenes Agieren auf der politischen Bühne erleichterte diesen Vorgang. Er wurde einerseits in der Rolle eines rücksichtslosen Ganoven gesehen, andererseits nicht nur als „enfant terrible“ (FR, 7.11.) der französischen Politik, sondern auch als „enfant“ tout court bzw. als Adoleszenter, so in der tageszeitung. Die Hypothese einer Entsprechung zwischen seiner Geisteshaltung und der der typischen Vorstadtjugend, der „enfants des quartiers difficiles“, 31 wird direkt am Kärcher-Ausspruch festgemacht und recht detailliert ausgemalt: Nach dem Kärchern ist vor dem Kärchern. Nach dem Autowaschen ist vor der Autowäsche; nach dem Duschen ist vor dem Duschen: ein im Alltag geronnenes Spannungsverhältnis, das es auszuhalten gilt. Und gesellschaftlich gilt es, das ‘Andere’ auszuhalten, man muss sich mit ihm arrangieren - und es längerfristig integrieren. - Die Fantasie, zum Kärcher zu greifen, entspricht genau jener ohnmächtigen, präpubertären Wut der Jugendlichen in den Pariser Vorstädten, sich der unbequemen, benachteiligenden Verhältnisse von einem Tag auf den anderen zu entledigen. Ein Rohr in der Hand halten, aus dem ein alles vernichtender, kompressionsgestählter Hochdruckstrahl schießt - eine männliche Allmachtsfantasie, äquivalent zu den juvenilen Potenzallüren, mit der Dreizehnjährige sich ihrer selbst zu vergewissern suchen: Ich kann was! , Ich will was! , Ich lass mir nichts mehr bieten! (9.11.) Die Titulierung von Politikern als Kriminelle zum Zweck der wenigstens verbalen Verkehrung der Machtverhältnisse ist bekannt und in der sogenannten Subkultur der Banlieue gang und gäbe. Wir finden darin die Prinzipien der Umkehrung und der Familiarisierung, die im größeren Umfang für den Karneval eine konstituie- 107 rende, generell gesellschaftlich eine entlastende Funktion haben. Dass die Politiker selbst tief in Mauscheleien und Korruption verstrickt sind, ihre Kriminalität also lediglich auf anderem Niveau ausüben, gehört zu den rhetorischen Antidots gegen Subordinationsgefühle. 32 Der bereits zitierte Rap Rêv’S’olution beginnt etwa mit den Worten: „La jeunesse erre dans les rues sans but./ Les politicards au gouvernement s’en battent,/ trop pris par leurs propres magouilles.“ Wo die Extreme einander nahegerückt werden, stehen sich die beiden Sozialgruppen - die der politischen Elite und die der stets der Delinquenz verdächtigen Vorstadtbewohner - nur formal noch nach. Die in der Frankfurter Rundschau aus Libération übernommene Rede vom „Bandenkrieg in der Regierung“ (3.11.) anlässlich der Divergenzen zwischen Sarkozy und de Villepin spiegelt diese Optik. Die französische Kulturzeitschrift Technikart ging allerdings einen entscheidenden Schritt weiter: Mehdi Belhaj Kacem gesteht in La psychose française, sich zunächst darüber aufregt zu haben, dass Sarkozy in Technikart mit dem unangefochtenen Helden der Banlieue-Kultur verglichen wurde, der Figur des rücksichtslos kriminellen Aufsteigers Tony Montana aus dem Film Scarface (1983), gespielt von Al Pacino. Dann aber öffnete ihm die inszenierte Bewunderung der „racailles“ für den als Tony Montana verkleideten Sarkozy die Augen für dessen Kindlichkeit. 33 Die Gewaltakte der Banlieue hätten schließlich dazu gedient, Sarkozy, der die Vorstadtjugend als Banditen bezeichnet hätte, ihrerseits zum homo sacer „im Bann“ zu erklären. 34 In dieser Logik erscheinen die Gewalttaten der Cité-Jugend als Konsequenzen ihrer Verfolgungs- und Ausgrenzungstaktik, die auch beabsichtigte, der Polizei, deren oberster Dienstherr Sarkozy war, die Macht über die Cités zu nehmen. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung interviewt, deutete Belhaj Kacem die Ausschreitungen in diesem Sinne als Kampf von sehr verschiedenen Menschen, dem Politiker und dem „lascar“, die derselben „imagerie du bandit, du gangster“ 35 anhängen, beide vom Bild des hartgesottenen Kriminellen fasziniert sind, dessen Weg in die Legalität über die Illegalität führt: Man hat den Eindruck, Sarokzy habe den Artikel [in Technikart, Anm. d. Verf.] gelesen und noch eins draufsetzen wollen: Sarkozy als Held im Gangsterspiel der Vorstädte. Die Antwort der Jugendlichen hat nicht auf sich warten lassen. Sie nahmen das Angebot des Ministers, der sich verbal auf ihr Niveau herabbegeben hat, an und ließen sich aufs Gangsterspiel ein. (FAZ, 10.11.) Dieser Standpunkt offenbart mehr, als dass dem Pathos z.B. der Präsidenten- Rede das Anti-Pathos des Banlieue-Verlan oder der Impertinenz mancher Äußerungen von Nikolas Sarkozy die verbalen und tätlichen Aggressionen der Protestierenden entsprechen. Die Diffamierung Sarkozys als Kriminellem zielt auf die Aufhebung der Gleichungen Paris = Zentrum = Vernunft, Banlieue = Außen = Barbarei. Seine „Herabstufung“ zum Kind spiegelt den entsprechenden Diskurs der Politik. Die in ihrer Ehre zu Recht oder Unrecht gekränkten Vorstadtbewohner reagieren mit Respektsverweigerung. Folglich offenbart der Transfer des Banlieue- Blickpunkts in die „seriöse“ Berichterstattung sowohl Äquivalenzen wie Schief- 108 stände der Kommunikation und gegenseitigen Wahrnehmung: Was erzielt Jacques Chirac, wenn er die Akteure wörtlich als Kinder der Republik anspricht - was vermittelt eine Überschrift wie jene in der Zeit: „Frankreichs Ghetto-Kinder proben den Aufstand? “ (10.11.) Während der letzte Punkt bezeugt, wie sich in der Presse das Frankreichbild dadurch erweiterte, dass zuweilen ein Fenster zum Banlieue-Denken geöffnet wurde, zeigt die Parallellektüre der Berichterstattung in Bezug auf die zwei kardinalen Ausgangspunkte der historisch kontextualisierenden Interpretationen - den der Wertorientierung (égalité, respect) und den des Handlungsmusters (aktiver Protest) -, zu wie unterschiedlichen Feindeutungen sie führen können. Sichtbar wird auch, wie z.B. die übergeordneten Prinzipien Gleichheit und Respekt diskursiv voneinander abweichend eingesetzt und je nach politischem und sozialem Standort different verstanden werden. Teilweise sind dabei im Bemühen, an bekannte Interpretamente anzuknüpfen, auch innerhalb eines Presseorgans Kommentierungsvarianten zu bemerken, die nicht nur auf die Meinungsskala innerhalb einer Zeitung oder Zeitschrift, sondern letztlich auch auf den unabgeschlossenen Erkenntnisprozess in Bezug auf Ursachen und Umstände der Banlieue-Unruhen zurückgehen. In Ermangelung einfacher Erklärungen liefern die untersuchten Presseorgane eine Vielzahl von Erläuterungen zur sozialen, politischen, konfliktsoziologischen, ethnischen und kulturellen Lage Frankreichs, die sehr unterschiedlich ausfallen können. Einig ist man sich bis auf Ausnahmen zum Einen darin, dass die Vorstädte nicht durchweg Hort des Verbrechens sind, wie an anderer Stelle verkündet, zum Anderen, dass „französische Zustände“ Deutschland nicht bevorstehen. 5. Ausblick Frankreich ist damit auch in Bezug auf das Thema Integration weiter vertraut-fremder Nachbar, ein Land, für das, wie zu erfahren, die Cités selbst erst verständlich werden sollen: Interessiert blickte 2007 die Presse auf den „Paradigmenwechsel“ 36 in Frankreich, der sich u.a. in Gestalt der Staatssekretärin für Stadtentwicklung Fadela Amara, „Kind der banlieue“ und ehemalige Vorsitzende von Ni putes ni soumises geltend machen soll, welche erklärte, „[de] rendre plus lisibles les politiques de la ville“, da sie zu undurchsichtig seien. 37 Die Unruhen sind beendet, die Aufruhr ist es nicht: 26 Komitees sind im November 2007 aus der Association Ni putes ni soumises ausgetreten, neue Polemiken greifen um sich - in der Regierung nach Amaras unbotmäßigen Äußerungen zu Gen-Tests und ausgelöst durch Banlieue-Bewohner, die sich von ihr verraten fühlen. 38 Der Banlieue-Protest der neu gegründeten Insoumises ist jetzt weiblich und beruft sich auf: égalité, laïcité, mixité und respect ... 109 1 Jacques Chirac: Déclaration aux Français. Palais de l’Elysée, 14.11. 2 Auf das Tor hatte der örtliche Bürgermeister im Comic-Stil eine Warnung malen lassen. Sie lautete: „L’électricité, c’est plus fort que toi.“ (vgl. Focus 45, 7.11.). 3 Herangezogen wurden alle Ausgaben vom Beginn der Berichterstattung bis etwa Mitte November in folgenden Medien: Die Zeit, Focus, Spiegel, Frankfurter Rundschau (FR), Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Süddeutsche Zeitung (SZ), tageszeitung (taz), teilweise Die Welt, Neue Zürcher Zeitung (NZZ), ergänzend Spiegel-Online sowie Le Figaro, Libération, Le Monde. Quantitativ wurden mehrere hundert Artikel ausgewertet, da zeitweilig in den Zeitungsausgaben mindestens drei, z.T. aber erheblich mehr Artikel erschienen. Soweit nicht anders angegeben beziehen sich die Daten auf das Jahr 2005. 4 Zu erwähnen ist besonders ein fingierter Brief einer Französin an die Deutschen in der tageszeitung, dessen Rechtschreibfehler („Chèrs amis“, „Beatrice“) auf den fiktiven Charakter schließen lassen. 5 Vgl. auch die Äußerungen E. Todds in Le Monde: „Je suis convaincu [...] que le phénomène est typique de la société française. Les jeunes ethniquement mélangés de Seine- Saint-Denis s’inscrivent dans une tradition de soulèvement social qui jalonne l’histoire de France.“ (Le Monde, 13.11. [http: / / www.lemonde.fr/ web/ imprimer_element/ 0,40-0@2- 3224,5; 24.10.2007]) 6 Philippe Bernard in Le Monde über die Akteure: „Qu’ils le veuillent ou non, ils font de la politique. Comme les agriculteurs, comme les marins de la SNCM, comme les étudiants en colère.“ (18.11.). 7 Vgl. z.B. die Interviews mit M. Wieviorka (Die Welt, 11.11.) und E. Todd (FAZ, 12.11.). 8 D. Cohn-Bendit selbst geht auf Fragen nach einer Verbindung zwischen Mai 1968 und November 2005 in den Interviews mit Knut Pries und Philipp Wittrock nicht ein (vgl. FR, 8.11.; Spiegel-Online, 5.11.). 9 Der Vergleich zwischen den Banlieue-Unruhen und der Intifada wird gezogen in: Die Welt (5.11.; Überschrift: „Eine Intifada in Europa“), Spiegel (45, 7.11.), Focus (45, 7.11.; Titel: „Die schwarze Vorstadt-Intifada“), Süddeutsche Zeitung (7.11.; Titel: „Die Vorstadt-Intifada“), mit Fragezeichen in der tageszeitung (12./ 13.11.: „Intifada in Eurabia oder klassische Sozialrevolte? “). 10 Der durch schwere Kämpfe zwischen Polizei und Banlieue-Bewohnern veranlasste friedliche Marsch durch Frankreich wurde am 15. Oktober 1983 von fünfzehn Jugendlichen aus Marseille angetreten. Ihm schlossen sich weitere Protestierende an. Geschätzte 100 000 Personen zogen im Dezember 1983 durch Paris, eine Delegation wurde schließlich von François Mitterand empfangen. 11 Vgl. in diesem Sinne auch die Bemerkung von Philippe Bernard: „Cynisme ou retour du refoulé, le recours par le premier ministre à ‘la loi de 1955’ sur l’état d’urgence, apparaît, au-delà du débat sur son efficacité pour ramener l’ordre, comme une provocation dont les effets psychologiques et politiques sur les millions de Français issus d’Afrique noire, du Maghreb, et singulièrement d’Algérie, n’ont pas fini de se faire sentir.“ (Le Monde, 19.11.) 12 Vgl. Le Monde (10.11.): „on nous fait vivre ce que nos parents ont subi en octobre 1961 avec Papon comme préfet de police. Ça ne ramènera pas le calme, mais ne fera que renforcer la détermination ou la fuite en avant. [...] On a ethnicisé la question ou on l’a enfermée dans une dimension religieuse. L’aspect historique a été occulté, il n’y pas d’articulation avec le passé colonial.“ 13 Vgl. Titus Simon: „Wir haben hier keine jugendliche Protestkultur wie in Frankreich“ (taz, 5./ 6.11.). 14 Die Banlieue-Unruhen verliefen äußerlich ebenfalls nach diesem Muster, der massiven Gewalt gingen zunächst Schweigemärsche für die getöteten Jugendlichen voraus (vgl. FR, 1.11.). 110 15 Mehdi Belhaj Kacem: La psychose française. Les banlieues: le ban de la République. Paris, Gallimard, 2006, 14. Vgl. auch l. c., 63: „Qu’est-ce qu’un événement (mai 68 par exemple)? Le moment où la loi est suspendue pour tous. (Herv. im Orig.) La psychose française wurde im Dezember 2005 und Januar 2006 als essayistischer Kommentar zu den städtischen Unruhen verfasst (vgl. l. c., 9sqq., 66). 16 Vgl. hierzu die Paraphrasierung der Position von Villepin in der FAZ, 10.11. 17 Abdelmalek Sayad spricht von „dissymétrie ou inégalité dans les rapports de force qui sont à l’origine et sont constitutives du phénomène migratoire“ („Introduction“ (1991), in: L’immigration ou les paradoxes de l’altérité. 1. L’illusion du provisoire. Paris, Raisons d’Agir Editions, 2006, 9-30, 19). 18 Ausnahmen bilden z.B. ein Artikel von Michael Kläsgen, „Abkehr von der Gleichheit“ über eine Quotenregelung für Studierende aus den „Zones d’éducation prioritaires“ der Ecoles Science Po Paris und Lille und der vielbeachtete Kommentar von Ulrich Beck in der Süddeutschen Zeitung vom 15.11., erschienen unter dem Titel „Revolte der Überflüssigen“, in dem Beck nicht nur die französische Innen- und Gesellschaftspolitik analysiert, sondern die Unruhen vor allem auch aus Verschiebungen der globalen Ökonomie ableitet. 19 Cf. FAZ, 5.11. („Integrationsmodell in Flammen“): „Welche Zukunft, welche Schicksalsgemeinschaft will die Republik der in Vorstadtghettos versammelten Einwandererjugend anbieten? “; cf. Spiegel-Online, 4.11.2005, Überschrift: „Rebellion gegen die Grande Nation“. 20 Cf. die französische Version des Interviews: „[...] je ne vois rien dans les événements eux-mêmes qui sépare radicalement les enfants d’immigrés du reste de la société française. J’y vois exactement le contraire. J’interprète les événements comme un refus de marginalisation. Tout ça n’aurait pas pu se produire si ces enfants d’immigrés n’avaient pas intériorisé quelques unes des valeurs fondamentales de la société française, dont, par exemple, le couple liberté-égalité. [...] Je lis leur révolte comme une aspiration à l’égalité.“ (Le Monde, 13.11.) 21 Cf. Die Zeit, 10.11., Art. Raus aus dem Ghetto: „Diese Umstände [Drogenhandel als Wirtschaftszweig, Quelle von Gewalt und allgegenwärtiger Kriminalität, Anm. d. Verf.] sind der Bewahrung traditioneller Werte so wenig förderlich wie der Übernahme neuer - zumal das Versprechen von ‘Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’ angesichts einer dauerhaften sozialen Abseitsstellung wenig glaubwürdig wirkt.“ - Cf. das Interview von Michel Pialoux in der tageszeitung; Frage von Dorothea Hahn: „Ist das eine Armutsrevolte? Oder eher eine Revolte von Jungen, die so von den Werten der Republik überzeugt sind, dass sie jetzt die Integration für sich selbst gewaltsam einklagen? “, Antwort M.P.: „Beides. Es gibt einen Graben zwischen dem, was man den Einwanderern versprochen hat, und dem Elend, in dem viele leben.“ (taz, 12./ 13.11.). 22 Jacques Chirac, Déclaration aux Français. Palais de l’Elysée, 14.11.: „Le devoir de la République, c’est d’offrir partout et à chacun les mêmes chances.“ 23 Cf. die Zusammenfassung des Textes aus Ha’aretz inklusive einiger Zitate auf der homepage der Union juive française de la paix (UJFP) (http: / / www.ujfp.org/ modules/ news/ article.php? storyid=16; 12.11.2007). (23.11.2005); cf. hierzu auch FAZ, 3.12. 24 „‘Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’. Ich habe das Recht herumzuspazieren, wo ich will“, wird die eigene Begründung Xavier M.s „seiner Anwesenheit bei den nächtlichen Krawallen vor Gericht“ von der Frankfurter Allgemeine Zeitung zitiert, eines achtzehnjährigen arbeitslosen Schulabgängers ohne Abschluss, wohnhaft bei seiner allein erziehenden Mutter, selbst Vater eines Kindes, zweimal zuvor wegen Diebstahl und Gewalt gegen Polizeibeamte straffällig geworden, wegen Gewalttätigkeit während der Unruhen zu sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, davon fünf auf Bewährung (FAZ, 7.11.). 25 Cf. z.B. Libération, 3.11. 111 26 Cf. Dietmar Hüser: Eine RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur. Köln, Weimar, Wien, Böhlau, 2004. Cf. den Rap der Gruppe Daïland Crew (http: / / www.grizzmine.com/ video-Da%EFland-Libert%E9+egalit%E9+Fraternit%E9-1688.html; 12.11.2007 oder http: / / profile.myspace.com/ index.cfm? fuseaction=user.viewprofile&friendID=129535515 27 Zur Forderung nach Respekt im Sinne von gezielter Wahrnehmung und Aufwertung der Positionen von Banlieue-Bewohnern cf. auch Le Monde,10.11. („Les cris du ghetto“). 28 Cf. z.B. FR, 17.11; Le Figaro, 8.11. („Contre la haine, la République“). 29 Sarkozy sprach am 29. Juni aus Anlass des Todes eines elfjährigen Jungen, der im Zusammenhang mit einer Schießerei zwischen Dealern zehn Tage zuvor ums Leben kam, in La Courneuve vor und mit den Einwohnern über Arbeitsperspektiven, Schule und Sicherheit in der defavorisierten Vorstadt. 30 Cf. dazu FR 1.11., 3.11. 31 Jacques Chirac, Déclaration aux Français. Palais de l’Elysée, 14.11. 32 Vgl. auch die Bezeichnung Sarkozys als „racaille“: „Sarkozy, la racaille de l’Elysée“ (http: / / vegantekno.free.fr/ edito.html#1105 (11.11.2005) [16.11.2007]) 33 Mehdi Belhaj Kacem: La psychose française, op. cit., 27: „Les auteurs de l’article allaient demander à des jeunes-de-banlieue ce qu’ils pensaient, et ils disaient, à peu près: ‘ouais, Sarko, on l’aime bien, il est ‘comme nous’, c’est un dur, il a des c..., etc. C’est un vrai gangster, un vrai Tony Montana.’ Le montage m’avait vraiment agacé sur le coup; je me suis dit, bon, là, il serait bon qu’ils arrêtent les enfantillages, nos amis de Technikart. Mais l’enfantillage n’est pas une maladie isolée de ce magazine. - Le prix à payer est désormais voyant. Prenez Nicolas Sarkozy: un grand enfant de cinquante ans, dont la montée en graine a quelque chose de transfini, avec des attitudes de gosse sans cesse pris en faute, regard biaisé, et une vision d’adolescent abreuvé de télévision et de jeux - exactement ce qu’on reproche à ceux des banlieues.“ 34 Vgl. loc. cit., 29. Belhaj Kacem bezieht sich hier auf Giorgio Agambens Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita. Torino, Einaudi, 1995. 35 Mehdi Belhaj Kacem: La psychose française, op. cit., 25. 36 Cf. Sabine Riedel: „Einwanderung: das Ende der Politik der Chancenungleichheit“, in: Aus Politik und Zeitgeschehen 38, (Beilage zu Das Parlament), 17.9.2007. 37 http: / / www.saphirnews.com, 8.11.2007 [22.11.2007]. 38 Cf. das Manifest der Insoumis-es: http: / / www.insoumises.org/ (13.11.2007) [22.11.2007]. Résumé: Isabella v. Treskow, La révolte des banlieues en 2005 dans la presse de langue allemande. A la très grande surprise des Allemands, des événements de violence urbaine graves ont déclenché en France, „au cœur de l’Europe“, au début du mois de novembre 2005 dans les banlieues de Paris, de Lyon, de Bordeaux et d’autres villes françaises, aussi de taille moyenne, ainsi qu’à Bruxelles. L’article étudie les réactions des plus importants magazines et journaux allemands du début du mois jusqu’à l’arrêt des incidents vers le 17 novembre. Les journaux et revues analysés sont: Spiegel, Focus, Die Zeit, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, tageszeitung, et en partie aussi Die Welt, Neue Zürcher Zeitung, Spiegel-Online, Le Figaro, Le Monde, Libération. L’analyse se fait dans le cadre de trois points de repère: 1) le reportage par rapport aux stéréotypes de la France comme pays du calme et du luxe (Douce France, savoir vivre), 2) le mythe de l’égalité et la nouvelle formule du „respect“, 3) la mise en parallèle des héros du cinéma, des criminels ou nommés criminels de la banlieue et des „gangsters“ de la politique nationale, avant tout Nicolas Sarkozy, à l’époque ministre de l’intérieur, dans la perspective „banlieusarde“. 112 Adelheid Schumann/ Diana Poggel Zum Frankreichbild deutscher Jugendlicher Eine Umfrage bei 12bis 16-jährigen Schülerinnen und Schülern 1. Das Frankreichbild im Spiegel von Umfragen An Umfragen zum Frankreichbild der Deutschen gibt es wahrlich keinen Mangel. Seit der deutsch-französischen Aussöhnung im Jahre 1963 werden die Bürger Deutschlands in regelmäßigen Abständen gefragt, was Sie von den Franzosen halten und wie Ihnen Frankreich gefällt. 1 Ähnliche Umfragen mit vergleichbarer Frequenz werden in Frankreich zum Deutschlandbild der Franzosen durchgeführt. Bei diesen Umfragen zeigt sich immer wieder, dass stereotype Vorstellungen vom Nachbarland auf beiden Seiten des Rheins nahezu unverändert von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden. Sie sind meist bipolar und reziprok strukturiert, d.h. in beiden Ländern gibt es sowohl positive als auch negative Fremdbilder, die sich komplementär ergänzen. Einem negativen Fremdbild steht dabei antagonistisch ein positives Eigenbild gegenüber, während das positive Fremdbild mit einem negativen Eigenbild korreliert. So gibt es im deutschen Frankreichbild eine Konstante, die sich seit dem 19. Jahrhundert über alle Krisenzeiten hinweg hat halten können: Die Franzosen gelten als Lebenskünstler, die es verstehen, das Leben zu genießen. Sie beherrschen das savoir-vivre, eine aus Sinnenfreude, Geselligkeit, Leichtigkeit und Esprit sich speisende Kunst, dem Leben die heiteren Seiten abzugewinnen. 2 Es handelt sich bei dieser Vorstellung um den positiven Teil des deutsch-französischen Fremdwahrnehmungsmusters, dem das deutsche Eigenbild von Schwerfälligkeit, Ernst und Humorlosigkeit gegenübersteht, während der negative Teil des deutschen Frankreichbildes sich in der Vorstellung von französischer Arroganz, Chauvinismus und Rückwärtsgewandtheit ausdrückt und der positiven Eigenwahrnehmung von deutscher Weltoffenheit, Toleranz und Zukunftsorientierung gegenübersteht. Das französische Deutschlandbild bietet das genaue Gegenbild zum Frankreich-Image in Deutschland: Deutsche gelten in Frankreich einerseits als idealistisch, verträumt und naturverbunden, andererseits als tüchtig, rücksichtslos und effizient, d.h. als Vertreter eines zielstrebigen savoir-faire, während das französische Eigenbild dem deutschen Nachbarn das Autostereotyp von Realismus und Pragmatismus sowie Friedfertigkeit und Aufgeklärtheit entgegenzusetzen hat. Vergleicht man die gegenseitigen Vorstellungen in Deutschland und Frankreich, so wie sie sich in den Umfragen darstellen, so stellt man fest, dass im deutschen 113 Frankreichbild, zumindest dem einer deutlichen Mehrheit der Bürger, 3 die positiven Vorstellungen überwiegen: die Deutschen denken bei Frankreich zuerst an gutes Essen, Rotwein und Käse, und an Ferien am Meer und schätzen die französische Lebensart, während eine Mehrzahl von Franzosen mit Deutschland immer noch spontan Hitler, Nationalsozialismus und occupation in Verbindung bringt und die negativen Assoziationen insgesamt überwiegen. Das Problem solcher Umfragen zu nationalen Bildern und gegenseitigen Fremdwahrnehmungen liegt allerdings darin, dass sie durch die Art ihrer Fragestellungen dazu tendieren, Stereotypen zu generieren und zu verfestigen. Indem sie Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen in Form von Gegensatzpaaren, als Vergleich von Selbst- und Fremdkonzepten oder als offene Abfrage typischer Eigenschaften erheben, geben sie die Bilder, die sie herauszufinden wünschen, in gewisser Weise selbst vor und erhalten auf diese Weise relativ vorhersagbare Ergebnisse, die den Eindruck einer unveränderbaren Perpetuierung gegenseitiger Einschätzungen erwecken. Um der Komplexität von nationalen und kulturellen Perzeptionsmustern gerecht zu werden und auch Entwicklungen und Wahrnehmungsänderungen erfassen zu können, bedarf es differenzierter Erhebungsverfahren, die neben den in der Regel sozial vermittelten und in der primären Sozialisationsphase erworbenen Einstellungen, auch eigene Erfahrungen und in der Auseinandersetzung mit Sprache und Kultur erworbenes kulturelles Wissen berücksichtigen. 4 Es muss also darum gehen, alle kognitiven und affektiven Faktoren, die zur Entwicklung von nationalen Bildern beitragen, d.h. direkte Erfahrungen im Kontakt mit Land und Leuten, Kenntnisse landeskundlicher und kultureller Sachverhalte, sowie Einstellungen und Gefühle gegenüber der fremden Kultur zu erfassen. 5 Trotz einer scheinbaren Konstanz der gegenseitigen Wahrnehmungsmuster zwischen Deutschland und Frankreich lassen jüngere Umfragen, die Erfahrungswissen einbeziehen, auch deutliche Veränderungen im Bild des Nachbarn erkennen. In den letzten Jahren wurde Frankreich in Deutschland einerseits zunehmend als ein Land der Hochtechnologie und der technischen Effizienz wahrgenommen, andererseits büßte es im Zuge der Banlieue-Unruhen seinen Ruf als erfolgreiches Integrationsland ein. Umgekehrt gibt es in Frankreich immer mehr Verständnis für deutsches Umweltbewusstsein, während der Glauben an die Tüchtigkeit der Deutschen schwindet. 6 Diese Veränderungen des gegenseitigen Bildes scheinen, wenn man die Ergebnisse der Allensbach-Umfrage von 2000 unter generationsspezifischen Gesichtspunkten betrachtet, vorwiegend von den Jugendlichen beider Länder auszugehen. Doch müsste die Frage nach dem Anteil der Jugendlichen an den Wahrnehmungsveränderungen gezielter und eingehender untersucht werden, als das in einer allgemeinen Meinungsumfrage möglich ist. Seit den umfangreichen Schülerbefragungen der 80er Jahre 7 sind abgesehen von begrenzten Erhebungen im Rahmen von Schulpartnerschaften, Jugendliche nur noch im Zusammenhang mit dem Rückgang der Schülerzahlen im Fach Französisch bzw. im Fach Deutsch in Frankreich gesondert zu ihrer Einstellung gegenüber dem Nachbarland befragt worden, und dabei standen Fragen der Motivation und der Erfahrung mit dem Er- 114 lernen der Fremdsprache im Vordergrund. Aus diesen Umfragen geht - zumindest was die deutsche Seite angeht - deutlich hervor, dass der Rückgang der Schülerzahlen kaum etwas mit dem Frankreichbild der Jugendlichen zu tun hat und nicht so sehr auf einem Desinteresse an Frankreich und den Franzosen beruht, sondern eher der Methodik des Französischunterrichts und den Frustrationserlebnissen beim Erlernen der französischen Sprache geschuldet ist. Die Einstellungen der Jugendlichen gegenüber Frankreich lassen sich jedenfalls aus diesen Umfragen nicht oder nur sehr begrenzt ablesen. 8 2. Faktoren der aktuellen Entwicklung des Frankreichbildes Drei Faktoren scheinen bei der Entwicklung des aktuellen Frankreichbildes und seiner Veränderung gegenüber den traditionellen stereotypen Vorstellungen eine zentrale Rolle zu spielen: • der Anstieg der Begegnungssituationen und konkreten Kontakterfahrungen zwischen Deutschen und Franzosen, • die Aktualisierung und landeskundliche Ausrichtung der Inhalte des schulischen Französischunterrichts, • die Verstärkung der Präsenz des Nachbarlandes in den Medien, insbesondere im Fernsehen. Dank der Aktivitäten des Deutsch-Französischen Jugendwerkes, der zahlreichen Schüleraustauschprogramme zwischen Deutschland und Frankreich sowie der Begegnungsangebote im Rahmen von Städtepartnerschaften, sind die Möglichkeiten deutscher Jugendlicher, eigene Erfahrungen im Umgang mit Franzosen zu machen und Frankreich nicht nur als Ferienland kennen zu lernen, sondern auch den Alltag, das Schulleben und die Freizeit mit französischen Jugendlichen zu teilen in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen. Zwischen Deutschland und Frankreich gibt es mehr funktionierende Jugendbegegnungsprogramme als zwischen allen anderen Ländern der Europäischen Union. Die Erfahrungen in der direkten Begegnungssituation tragen erheblich zur Entwicklung eines wirklichkeitsnahen und entmythologisierten Bildes vom Nachbarn bei und beeinflussen auch die Grundeinstellung gegenüber Französinnen und Franzosen. Hinzu kommt, dass das Frankreichbild, das im Französischunterricht der Schulen vermittelt wird, seit den 80er und 90er Jahren im Zuge der Diskussion um eine sozialwissenschaftlich ausgerichtete Landeskunde und der Förderung interkultureller Kompetenzen 9 eine deutliche Wandlung erfahren hat. Politische, gesellschaftliche und sozio-ökonomische Themen wie z. B. die Rolle Frankreichs in der Europäischen Union oder die Entwicklung einzelner französischer Industrieregionen, stehen seitdem im Mittelpunkt des Interesses. Ebenso finden sozio-kulturelle Aspekte des Alltagslebens, insbesondere des Alltagslebens französischer Jugendlicher, oder Probleme des multikulturellen Zusammenlebens im Zuge von Migration und postkolonialer Zuwanderungsprozesse zunehmend größere Beachtung. 115 Schließlich ist die Rolle der Medien für die Interessenentwicklung und den Kenntnisstand über politische und soziale Entwicklungen im Nachbarland nicht zu unterschätzen. Frankreich steht in der Auslandsberichterstattung in Deutschland an zweiter Stelle hinter den USA. 10 Im Zusammenhang mit der Entwicklung der europäischen Union gilt dem Nachbarland als einem privilegierten Partner Deutschlands das besondere Interesse der Medien, was sich in einer erhöhten Präsenz insbesondere im Fernsehen niederschlägt. Dem Fernsehen kommt als Quelle für Informationen über Frankreich deshalb eine besondere Bedeutung zu, und es fragt sich, wie intensiv diese Quelle von den Jugendlichen genutzt wird. 3. Umfrage zum Frankreichbild deutscher Jugendlicher Die Umfrage, die wir im Sommer 2007 durchgeführt haben, hatte zum Ziel, die verschiedenen Aspekte des Frankreichbildes deutscher Jugendlicher exemplarisch zu ergründen und dabei die zentralen kognitiven und affektiven Faktoren der Fremdwahrnehmung, die direkte Erfahrung mit Land und Leuten, die Kenntnisse landeskundlicher und kultureller Sachverhalte sowie die Einstellung und Gefühle gegenüber Frankreich und den Franzosen zu berücksichtigen. Es ging uns darum, zu erfragen, welche konkreten Erfahrungen die Jugendlichen beim Kontakt mit Franzosen und Französinnen gemacht haben, was sie über Frankreich wissen bzw. welche Persönlichkeiten, nationalen Symbole oder Ereignisse ihnen spontan zu Frankreich einfallen, was sie als die Hauptquelle Ihres Wissens über Frankreich ansehen und welche Einstellung sie gegenüber Franzosen und Französinnen haben. Darüber hinaus wurde nach den Erfahrungen mit der französischen Sprache und dem Französischlernen gefragt. Die Umfrage wurde mit Hilfe von Fragebögen an Gymnasien und Gesamtschulen des Landes Nordrhein-Westfalen durchgeführt. Zielgruppe waren Schüler und Schülerinnen des Französischunterrichts in der Sekundarstufe I, d.h. den Jahrgangsstufen 7 bis 10. Dabei wurde einerseits darauf geachtet, dass die Probanden bereits über Erfahrungen mit der französischen Sprache und dem schulischen Französischlernen besaßen, also mindestens ein Jahr lang Französisch gelernt hatten. Andererseits sollten sie nicht zu den Spezialisten und Hochmotivierten zählen, die Französisch als Grund- oder Leistungskurs in der Oberstufe gewählt haben. Um zu gewährleisten, dass es sich bei den Probanden um durchschnittlich an Frankreich interessierte Jugendliche handelt, wurden deshalb nur Schüler und Schülerinnen der Klassen 7 bis 10 befragt. 11 Französisch gehört für die meisten von Ihnen als zweite Fremdsprache zum schulischen Pflichtprogramm. 12 Befragt wurden insgesamt 1064 Jugendliche im Alter von 12-16 Jahren, davon waren 640 Mädchen (60,5%) und 424 Jungen (39,6%). 13 Der Fragebogen umfasste 14 Fragekomplexe, die in Form von Auswahlantworten, vorzugsweise zu den eigenen Erfahrungen, offenen Antworten vor allem zu den Wissensfragen und einem semantischen Differential zu den Einschätzungen und Sympathiewerten die verschiedenen Facetten des Frankreichbildes der Schü- 116 lerinnen und Schüler zu erkunden versuchten. An letzter Stelle stand eine kreative Aufgabe: „Stell Dir vor, Du sollst eine Collage von Frankreich machen. Welche sechs Motive sollten unbedingt vorkommen? “ Diese Aufgabe diente der Verbildlichung, der „Imaginierung“ der Vorstellungen von Frankreich. Die Schülerinnen und Schüler sollten ihr Bild von Frankreich in einer Collage konkretisieren und dabei ihre Präferenzen und Schwerpunkte offenbaren. Dass wir bei einem so begrenzten Umfang von Fragen kein differenziertes Ergebnis erwarten konnten, sondern lediglich Tendenzen des Frankreichbildes von deutschen Jugendlichen im Alter von 12- 16 Jahren erkunden konnten, war uns bewusst. 4. Auswertung der Umfrage 4.1 Erfahrungen im Umgang mit Franzosen und mit der französischen Sprache Der Fragekomplex zu den Kontakterfahrungen der Schülerinnen und Schüler umfasste Fragen zum Aufenthalt in Frankreich, zu Kontakten mit Franzosen und Französinnen und zur Einstellung gegenüber der französischen Sprache. Nur eine knappe Mehrheit von 58,3% der Schüler und Schülerinnen war schon einmal in Frankreich, doch gibt eine große Mehrheit von 85,5% an, gern einmal nach Frankreich reisen zu wollen. Dabei steht Paris an oberster Stelle der Wunschliste (621 Nennungen), während Feriengebiete wie die Côte d’Azur (102), die Bretagne (30) und die Provence (20) in relativ weitem Abstand folgen. Doch auch Großstädte wie Lyon (29) und Marseille (27) werden von einer größeren Zahl von Jugendlichen als Reiseziele genannt. Diese Verteilung lässt die Vermutung zu, dass das Interesse der jugendlichen Deutschen an Frankreich deutlich weniger von touristischen Vorstellungen bestimmt wird als noch von den Älteren, Paris aber weiterhin als Synonym für ganz Frankreich fungiert. Immerhin 156 Schülerinnen und Schüler (14,7%) bekunden allerdings keinerlei Interesse an einer Reise nach Frankreich. Relativ hoch ist auch die Zahl derjenigen, die Kontakte zu Franzosen und Französinnen haben (46,7%). Die Kontakte sind jedoch sehr unterschiedlich ausgeprägt. Nur 13,5% der Befragten stehen in regelmäßigem Kontakt mit Franzosen, 32,6% geben seltene Kontakte an und eine Mehrheit von 52,5% verneint die Frage nach den Kontakten vollständig. Wenn man diese Zahlen mit den Angaben zu Frankreichaufenthalten vergleicht - 620 Frankreichaufenthalte, 148 regelmäßige Kontakte und 351 seltene Kontakte -, so lässt sich schlussfolgern, dass etwa ein Viertel der Aufenthalte zu regelmäßigen Kontakten führt, was man durchaus als eine beachtliche Menge bezeichnen könnte. Die Erfahrungen mit der französischen Sprache werden weniger positiv bewertet: Nur 53,3% der Schüler geben an, Französisch gern zu lernen, 41,0% lernen nicht gern Französisch und 6,7% können sich nicht entscheiden und enthalten sich. Dabei lernen 36,7% der Schülerinnen und Schüler Französisch nur, weil eine zweite Fremdsprache Pflicht ist. Entsprechend eindeutig fallen die Fragen nach der Motivation aus. Für 37,7% ist die Motivation extrinsischer Art, d.h. es geht um 117 Berufsaussichten (30,3%) oder um die Erfüllung eines Elternwunsches (7,5%). Nur 41,5% der Schülerinnen und Schüler führen intrinsische Motive an: den Wunsch, Frankreich zu besuchen und Kontakt mit Franzosen und Französinnen zu pflegen. Ein erstaunlich hohe Übereinstimmung ist jedoch in der Bewertung der französischen Sprache festzustellen: 57,4% der Befragten (611 Schülerinnen und Schüler) sind sich darin einig, dass Französisch eine „schöne Sprache“ sei. Dieser Befund muss angesichts der 41,0% von Schülern und Schülerinnen, die nicht gern Französisch lernen, verwundern, zeigt er doch, dass ein Teil derer, die sich mit dem Französischen schwer tun (16,4%), die französische Sprache dennoch wertschätzen. Die Charakterisierung des Französischen als einer schönen Sprache hat eine lange Tradition und taucht in den verschiedenen Befragungen der letzten Jahrzehnte immer wieder als ein Motivationsgrund für das Erlernen der Sprache auf. 14 Dabei geht es vorwiegend um die als ästhetisch wahrgenommene Klangqualität der Sprache: „Französisch klingt schön“, „Französisch ist eine elegante Sprache“. Es handelt sich bei dieser Einschätzung zweifellos um eines jener Wahrnehmungsmuster der Franzosen, die dem stereotypen Bereich des savoir-vivre zuzurechnen sind: Eleganz, Leichtigkeit und Raffinesse, und die nicht unerheblich zu dem insgesamt positiven Image Frankreichs beitragen. Man kann zusammenfassend konstatieren, dass Französisch als Schulfremdsprache über ein affektives Potential verfügt, das höher einzuschätzen ist, als die Abneigung der Schüler und Schülerinnen gegen Französisch als vermeintlich schwer zu erlernender Sprache 15 und dass bei einer Mehrheit der Befragten ein eindeutiges Interesse an Frankreich und den Franzosen zu erkennen ist, was sich in dem Wunsch, Frankreich kennen zu lernen und dem Bemühen, Kontaktmöglichkeiten zu nutzen, niederschlägt. 4.2 Kenntnisse landeskundlicher und sozio-kultureller Sachverhalte Die Fragen zum landeskundlichen Wissen bezogen sich auf verschiedene Bereiche des öffentlichen Lebens in Frankreich, wobei die Interessenschwerpunkte der Jugendlichen berücksichtigt wurden. Gefragt wurde nach französischen Nationalsymbolen (Symbolträger, Symbolfiguren, Nationalhelden), Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens (Politiker, Künstler, Sportler), französischen Filmen und Büchern, Merkmalen des französischen Schulsystems im Vergleich zum deutschen sowie nach der Zusammensetzung der Migrationsbevölkerung in Frankreich. Die Antworten zu den Nationalsymbolen bewegen sich einerseits im Bereich des jugendlichen Erfahrungswissens: die Trikolore steht mit 739 Nennungen ganz oben auf der Liste und die Marseillaise mit 280 Nennungen an dritter Stelle. Beide Symbole sind den Jugendlichen aus den Fernsehübertragungen internationaler Sportereignisse oder anderer internationaler Großveranstaltungen bestens bekannt. Andererseits lassen sich auch stereotype Selektionsmuster erkennen. Mit 328 Nennungen steht Napoleon an zweiter Stelle und ist damit für viele deutsche Jugendliche mit Abstand die bekannteste Persönlichkeit der französischen Geschichte. Andere historische Personen wie Jeanne d’Arc (87 Nennungen) 118 Louis XIV (61 Nennungen), Vercingetorix (30 Nennungen), Charles De Gaulle (28 Nennungen) Robespierre (19 Nennungen) und Marie Antoinette (1 Nennung) folgen in weitem Abstand. Der herausragende Bekanntheitsgrad Napoleons entspricht den Ergebnissen landesweiter Umfragen. Offenbar gehört Napoleon zum festen Wissensbestand der Deutschen. Das Ergebnis entspricht aber in keiner Weise seiner marginalen Rolle im heutigen Französischunterricht. Während er zusammen mit Louis XIV und Jeanne d’Arc bis in die 70er Jahre hinein in den Lehrwerken für den Französischunterricht noch einen herausragenden Platz einnahm, sind Unterrichtseinheiten zur französischen Geschichte im aktuellen Französischunterricht auf ein Minimum reduziert. Im Geschichtsunterricht ist Napoleon allerdings nach wie vor sehr präsent und wird ähnlich umfassend behandelt wie die Französische Revolution. Von der Revolution sind in den Antworten der Schüler aber seltsamerweise nur vereinzelte Spuren zu finden (Robespierre, Marie Antoinette), während Napoleon einen herausragenden Platz einnimmt. Auch die Symbolfigur der Marianne als Verkörperung der Französischen Republik und Emblem der Liberté wird erstaunlich wenig genannt (18 Nennungen), während der Gallische Hahn immerhin unter den ersten 10 Nennungen auftaucht. Als französische Symbolfiguren werden neben Napoleon nur noch Zinedine Zidane (134) und Asterix und Obelix (115) mit größeren Nennungen bedacht. Zidane steht darüber hinaus an der Spitze der bekanntesten Sportler (461), was seine hohe Popularität unter deutschen Jugendlichen unterstreicht. Auch Asterix und Obelix tauchen mehrfach auf in der Umfrage, als Symbolfiguren und als literarische Figuren, wobei sie bei den Büchern mit 64 Nennungen sogar an der Spitze stehen, und schließlich in der Collage als Repräsentanten der französischen Lebensart. Dass der Eiffelturm (233 Nennungen) für viele deutsche Jugendliche Frankreich symbolisiert, verwundert nicht, wenn man bedenkt, dass er von der Tourismusindustrie fast wie ein Logo für Frankreich behandelt wird und seit jeher zu einem der stabilsten Stereotypen über Frankreich zählt. Zwar werden auch andere Monumente und Gebäude erwähnt und als Nationalsymbole bezeichnet (Louvre 24, Notre Dame 22, Arc de Triomphe 16, Versailles 5, Invalidendom 2), doch bleibt ihre Quote deutlich hinter der des Eiffelturmes zurück. In den Bereich des stereotypen Frankreichbildes gehört zweifellos auch die Tatsache, dass Croissant und Baguette von 40 Schülerinnen und Schülern zu den Nationalsymbolen Frankreichs gezählt werden. Übersicht über die 10 häufigsten Nennungen 1. Trikolore 739 2. Napoleon 328 3. Marseillaise 280 4. Eiffelturm 233 5. Zinedine Zidane 134 6. Asterix und Obelix 115 119 7. Jeanne d’Arc 87 8. Louis XIV 61 9. Gallischer Hahn 57 10. Croissant/ Baguette 40 Die Frage nach Personen des öffentlichen Lebens in Frankreich spiegelt weitgehend die aktuellen Ereignisse des Sommers 2007 wieder und belegt, dass deutsche Jugendliche das politische Lebens Frankreichs mehrheitlich mit Aufmerksamkeit verfolgen, während sie das kulturelle Leben eher selektiv aus der Jugendperspektive wahrnehmen. Als bekannteste Politiker werden Chirac an erster Stelle (672), Sarkozy an zweiter Stelle (494) und Ségolène Royale (293) an dritter Stelle genannt. Die Umfrage fand in der Zeit des französischen Präsidentschaftswahlkampfes statt. Alle anderen Politiker verfügen über einen deutlich geringeren Bekanntheitsgrad: De Gaulle 45, Le Pen 21, Napoleon 16, Pompidou 8, Mitterrand 5. Interessant erscheint mir an diesem Ergebnis, dass Mitterrand unter Jugendlichen bereits fast vergessen ist, während De Gaulle noch über einen gewissen Bekanntheitsgrad verfügt, Le Pen immerhin von einigen wahrgenommen wird, Pompidou vermutlich als Namensgeber des Centre Pompidou bekannt ist und Napoleon es dank seiner herausragenden Bedeutung im Frankreichbild deutscher Jugendlicher selbst in die Listen aktueller Politiker geschafft hat. Bei der Frage nach Sängern, Schauspielern und Sportlern zeigt sich, dass es vor allem französische Sportler sind, die deutschen Jugendlichen ein Begriff sind (707 Nennungen), wobei mit Ausnahme der Tennisspielerin Amélie Mauresmo ausschließlich Fußballspieler benannt werden, allen voran Zidane (461) und Henry (200). Dann folgen Sänger mit 533 Nennungen und mit einer erstaunlichen Vielfalt von Namen. Neben Chansonsängern und -sängerinnen (Gilles de Floret 95, Patrick Bruel 77, Céline Dion 58, Patrizia Kaas 42, Edith Piaf 13) kommen auch Pop- und Rap-Sänger und -Sängerinnen (Alizée 59, MC Solar 14) vor. Die meisten von ihnen kennen die Jugendlichen vermutlich aus den Französischlehrwerken, in denen insbesondere in der Sekundarstufe I Chansons traditionell eine wichtige Rolle spielen und nicht nur zu Motivationszwecken, sondern auch zur Einführung in französische Kulturtraditionen genutzt werden. Doch das erklärt nicht die Vielfalt an Namen und die hohe Präsenz von Pop- und Rockgruppen. Es lässt vielmehr den Schluss zu, dass die französische Jugendmusikszene in Deutschland doch nicht so unbekannt ist, wie man gemeinhin meint. Schauspieler werden in dieser Gruppe am wenigsten genannt (405 Nennungen). Insgesamt sind es nur 11 Namen, wobei Gérard Depardieu (260) mit Abstand an der Spitze steht, gefolgt von Jean Reno (67) und Audrey Tatou (38). Die Liste der beliebtesten Filme findet in dieser Auswahl nur teilweise ihre Entsprechung. Bei den Filmen steht Die fabelhafte Welt der Amélie (99) an der Spitze, was die Bekanntheit von Audrey Tatou erklärt. Dann folgen La Boum mit 74 Nennungen und Die Kinder des Monsieur Matthieu mit 52 Nennungen. Bei diesen drei meistgenannten Filmen handelt es sich jeweils um Jugendfilme, die in Deutschland gro- 120 ßen Erfolg hatten. Der Film L’Auberge Espagnole, ebenfalls ein französischer Film, der in Deutschland ein großer Kinoerfolg war, kommt erstaunlicherweise nur auf 7 Nennungen. Alle diese Filme sind für den Französischunterricht didaktisiert worden, d.h. man kann davon ausgehen, dass viele der Schülerinnen und Schüler sie aus der Schule kennen. Filme mit Gérard Depardieu, dem weitaus am häufigsten genannten französischen Schauspieler, sucht man in den Antworten der Schülerinnen und Schüler jedoch vergebens. Depardieu ist den Jugendlichen offensichtlich vor allem als Darsteller des Obelix oder besser gesagt als Inkarnation des Obelix ein Begriff, was keiner besonderen Erwähnung bedarf, weil Asterix und Obelix ohnehin omnipresent sind in ihrem Frankreichbild. Während das französische Kino bei deutschen Jugendlichen bekannt und in gewissem Maße auch beliebt zu sein scheint - wenn auch längst nicht so wie der französische Fußball - offenbaren die Antworten zu französischen Büchern eine erschreckende Unkenntnis bzw. ein großes Desinteresse. Es werden insgesamt nur 11 Werke (97 Nennungen) genannt, davon fallen 64 Nennungen auf Asterix et Obelix, die bereits bei den Nationalsymbolen eine Spitzenstellung einnahmen, und 21 auf Le Petit Prince von Saint-Exupéry, einer der nach wie vor am meisten gelesenen Schullektüren. 16 Alle anderen Titel, durchgehend Schullektüren, bewegen sich im einstelligen Bereich. Man kann aus diesen Ergebnissen den Schluss ziehen, dass bei den 12bis 16-jährigen Schülerinnen und Schülern die französische Literatur im Gegensatz zu Film und Chanson weitgehend unbekannt ist, bzw. als nicht erwähnenswert erachtet wird und keinen Einfluss auf ihr Frankreichbild hat, was zweifellos auch mit dem Alter der Befragten zusammenhängt. Bei der Frage nach der multikulturellen Zusammensetzung der französischen Bevölkerung bzw. nach den wichtigsten Herkunftsländern der in Frankreich lebenden Migranten, zeigt sich hingegen, dass die deutschen Jugendlichen bei aktuellen sozio-kulturellen Themen sehr viel besser informiert sind. Afrika steht mit 264 Nennungen an der Spitze, es folgen Marokko (147) und Algerien (112). Zusätzlich wird der Maghreb genannt (40) und einzelne schwarzafrikanische Länder wie Senegal (34) und die Elfenbeinküste (52). Da in den Antworten leider nicht klar zwischen Nordafrika und Schwarzafrika unterschieden wird (insgesamt 649 Nennungen für Afrika und afrikanische Länder), ist eine eindeutige Zuordnung schwierig, aber die Zahlen zeigen dennoch, dass die Mehrzahl der Befragten (61,0%) vertraut ist mit den Herkunftsregionen der französischen Migrationsbevölkerung. Auch die DOM- TOM-Länder werden erwähnt (41 Nennungen), während Migranten aus den frankophonen Ländern Asiens kaum vorkommen (nur 2 Nennungen). Eine weitere Wissensfrage galt dem französischen Schulsystem und seinen Unterschieden zum deutschen System. Die Ergebnisse der Umfrage zeigen, dass deutsche Schüler und Schülerinnen sich mit diesem Vergleich gut auskennen. Als zentrale Unterschiede werden der Nachmittagsunterricht (569), die 12-jährige Schuldauer mit Selektion erst nach dem Collège (144), die insgesamt strengeren Regelungen (109) und das differente Notensystem (89) benannt. Es handelt sich bei den beiden meistgenannten Merkmalen (Ganztagsschule, 12 Schuljahre) um 121 Strukturen, die zur Zeit auch in Deutschland intensiv diskutiert werden. Das Ergebnis kann insgesamt nicht verwundern, da der Vergleich des Alltags französischer Jugendlicher mit dem deutscher Jugendlicher zum Standardrepertoire eines jeden Französischlehrwerkes der Sekundarstufe I gehört. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die landeskundlichen und soziokulturellen Kenntnisse der befragten deutschen Jugendlichen zwei deutliche Schwerpunkte aufweisen: Die Jugendlichen kennen sich einerseits relativ gut aus mit Fragen des Alltags von französischen Jugendlichen und der französischen Jugendkultur, andererseits sind sie mit Themen der politischen und sozio-kulturellen Aktualität vertraut. Diese Schwerpunktsetzung spiegelt recht genau die inhaltliche Orientierung der Lehrwerke für den Französischunterricht der Sekundarstufe I 17 wieder und lässt darauf schließen, dass der Französischunterricht eine der zentralen Wissensquellen für die Erkenntnisse der Jugendlichen über Frankreich darstellt. Doch deuten die Ergebnisse auch auf die zentrale Rolle des Erfahrungswissens hin, dass die deutschen Schülerinnen und Schüler bei Frankreichbesuchen und im Kontakt mit Franzosen und Französinnen erwerben konnten. 4.3 Einstellungen gegenüber den Franzosen und Französinnen Die Sympathiewerte deutscher Jugendlicher gegenüber Franzosen und Französinnen wurden mit Hilfe eines semantischen Differentials erhoben. Die Schüler und Schülerinnen konnten ihre Einschätzungen typisch französischer Verhaltensmuster und Charaktereigenschaften in einer Skala von 1-6 verschiedenen Gegensatzpaaren zuordnen. Dabei ergaben sich folgende Bewertungen. Sympathiewerte für Franzosen und Französinnen 1 2 3 4 5 6 freundlich 182 17,1% 379 35,6% 304 28,6% 100 9,4% 32 3,0% 31 2,9% unfreundlich attraktiv 66 6,7% 184 17,2% 321 30,2% 213 20,2% 138 13,0% 82 7,7% unattraktiv tolerant 38 3,6% 181 17,0% 367 34,5% 250 23,5% 101 9,55 54 5,1% intolerant organisiert 60 5,7% 189 17,8% 337 31,7% 240 22,6% 116 10,5% 54 5,1% unorganisiert herzlich und gesellig 220 20,7% 226 21,2% 260 24,4% 123 11,6% 46 4,3% 32 3,0% kühl und reserviert nationalistisch 197 18,5% 246 23,1% 278 26,1% 168 15,7% 61 5,7% 39 3,7% nicht nationalistisch offen und aufgeschlossen 148 13,5% 276 25,5% 336 31,6% 158 14,6% 66 6,2% 29 2,7% verschlossen 122 Eine fast uneingeschränkt positive Einschätzung der Jugendlichen zeigt sich bei den Eigenschaften „freundlich“ sowie „herzlich und gesellig“. In beiden Skalen erhalten die Plätze 1 und 2 zusammen die höchste Quote: „freundlich“ 52,7%, „herzlich und gesellig“ 41,9%. Bei allen anderen Gegensatzpaaren liegen die höchsten Quoten im mittleren Bereich (Plätze 3 und 4), d.h. in der Mitte zwischen „attraktiv“ und „unattraktiv“ (50,4%), in der Mitte zwischen „tolerant“ und „intolerant“ (58,0%), in der Mitte zwischen „organisiert“ und „unorganisiert“ (54,3%) und in der Mitte zwischen „offen und aufgeschlossen“ und „verschlossen“ (46,2%). Negative Einschätzungen (Plätze 5 und 6) sind in allen Fällen in der Minderheit, wobei die höchsten Negativwerte bei „unattraktiv“ (20,7%) und „unorganisiert“ (15,6%) anzutreffen sind. Das Gegensatzpaar „nationalistisch/ nicht nationalistisch“ bedarf einer besonderen Analyse. Auch hier liegt der Schwerpunkt im mittleren Bereich (41,8%), jedoch ist eine ziemlich deutliche Tendenz zu einer stärkeren Bewertung von „nationalistisch“ zu erkennen. 31,6% der Befragten kreuzen die Plätze 1 und 2 an, d.h. sie halten sie Franzosen für sehr bzw. ziemlich nationalistisch, während nur 9,4% der Befragten die Franzosen als nicht bzw. kaum nationalistisch (Plätze 5 und 6) bezeichnen. Insgesamt zeigt sich aber eine mehrheitlich positive Einschätzung der Franzosen und Französinnen bei den befragten Schülern und Schülerinnen, wobei die höchsten Sympathiewerte durchgehend auf den Plätzen 2, 3 und 4 zu finden sind, seltener auf Platz 1. Die deutschen Jugendlichen schätzen insbesondere die sozialen Verhaltenweisen der Franzosen: Freundlichkeit, Herzlichkeit, Geselligkeit und Offenheit als positiv ein, während sie der Toleranzfähigkeit der Franzosen etwas weniger vertrauen und auch nationalistische Tendenzen nicht ganz ausschließen. Deutlich ist auch eine gewisse Skepsis gegenüber dem französischen Organisationstalent zu erkennen. Die recht ausgewogene mittelwertige Einschätzung der Attraktivität der Franzosen und Französinnen ist ebenfalls auffällig und entspricht nicht den üblichen Klischees. Sie lässt sich möglicherweise als Ausdruck einer realistischen, weder überschwänglich positiven noch negativen Wahrnehmung des Anderen interpretieren, als ein Zeichen von Normalität in den Beziehungen und gegenseitigen Einstellungen. Vergleicht man diese Bewertungen mit den traditionellen stereotypen deutschfranzösischen Wahrnehmungsmustern, wie sie zu Beginn als bipolar und reziprok beschrieben wurden, so lassen sich einige Ähnlichkeiten und einige Abweichungen feststellen. Die weniger positiven Einschätzungen entsprechen eher den traditionellen Wahrnehmungsmustern und korrelieren als tendenziell negative Heterostereotype mit positiven Autostereotypen, d.h. die Jugendlichen sehen sich selbst vermutlich als organisierter, toleranter und weniger nationalistisch an als die Franzosen und Französinnen. Die uneingeschränkt positiv markierten Bewertungen zum französischen Sozialverhalten deuten hingegen auf eigene positive Kontakterfahrungen hin. 123 Auf die Frage, was und wer ihr Frankreichbild am meisten geprägt hat, erhalten Erfahrungen im Kontakt mit Franzosen und Französinnen (417 Nennungen) und bei Reisen nach Frankreich (412 Nennungen) dann auch die höchste Wertung: zusammen 829 Nennungen. An zweiter Stelle steht das Fernsehen als Informationsquelle (557 Nennungen) und erst an dritter Stelle wird der Schulunterricht genannt (388 Nennungen), d.h. in der Wertungsskala der Jugendlichen wird den eigenen Erfahrungen die höchste Bedeutung bei der Entwicklung des Frankreichbildes beigemessen. Diese Einschätzung steht allerdings in einem gewissen Gegensatz zu einigen Ergebnissen der Befragung. Zumindest was den Erwerb von Kenntnissen über landeskundliche und sozio-kulturelle Sachverhalte angeht, lässt sich der Französischunterricht in vielen Punkten als zentrale Wissensquelle ausmachen, während vor allem bei den Sympathiewerten die eigenen Erfahrungen ausschlaggebend zu sein scheinen. Als weitere Einflussfaktoren werden außerdem verschiedene Sekundärquellen angeführt: Freunde (272 Nennungen) und Eltern (225 Nennungen) und als Letztes Bücher (205 Nennungen). Allerdings wird der Einfluss dieser Quellen eindeutig für geringer erachtet als die eigene Anschauung oder die Frankreich-Berichterstattung des Fernsehens. 4.4 Entwurf eines repräsentativen Frankreichbildes Die Aufgabe, sich zum Schluss ein eigenes Frankreichbild zu erstellen, zielte auf die mentale Visualisierung und Fokussierung der Einstellungen der Jugendlichen. Dabei musste mit symbolischen Bedeutungsträgern gearbeitet werden, und persönliche Begegnungserfahrungen konnten nur indirekt verarbeitet werden. Bei den Antworten der Schülerinnen und Schüler tauschen deshalb erwartungsgemäß eine Reihe von stereotypen Bildern auf, die in der Befragung bisher keinen Platz gefunden hatten: der typisierte Franzose mit Baskenmütze und Baguette unterm Arm, der Wein und der Käse sowie die französische Mode, und es zeigt sich, dass die „Imaginierung“ Frankreichs sich vorzugsweise eines tradierten Bildrepertoires bedient. Am häufigsten werden Gebäude und Monumente genannt, insgesamt 2011 Nennungen, d.h. durchschnittlich gibt jeder Befragte zwei Architekturdenkmäler an, die als lieux de mémoire Frankreichs kulturelles Erbe repräsentieren. Der Eiffelturm steht dabei mit 932 Nennungen an der Spitze. Für 87,6% der Jugendlichen symbolisiert er wie kein anderes Monument Frankreich. Alle der genannten Gebäude (Louvre, Notre Dame, Arc de Triomphe, Versailles, Centre Pompidou, Grande Arche, Musée d’Orsay, Stade de France, Elysée-Palast) bzw. Straßen, Plätze und Quartiers (Champs-Elysées, Place de la Concorde, Montmartre) gehören ausnahmslos zu Paris, bzw. wenn man Disneyland mit 28 Nennungen dazurechnet, zum Großraum Paris, ein deutliches Zeichen für die ungebrochene Repräsentationsdominanz der Stadt Paris. Paris repräsentiert, auch für deutsche Jugendliche, ganz Frankreich. 124 An zweiter Stelle steht mit 1075 Nennungen das französische Essen. Es symbolisiert offensichtlich die Besonderheit der französischen Lebensart nach wie vor auf herausragende Weise und transportiert darüber hinaus die Alteritätserfahrungen der Jugendlichen. Neben Baguette (558), Wein (206), Käse (132) und Croissant (115) werden auch Crêpes (28), Schnecken (15) und Frösche (12) genannt. Als Repräsentationsfiguren der französischen Nation rangieren an dritter Stelle die Nationalsymbole mit insgesamt 544 Nennungen: Trikolore (460), Hahn (25) und Marianne (6), sowie die französische Mode (27) und die Tour de France (24). Und erst an vierter Stelle (224 Nennungen) findet man die stereotypen Vorstellungen des Franzosen vom Lande, der an der Baskenmütze und dem Baguette unterm Arm zu erkennen ist. Zu dieser Kategorie zählen auch Asterix und Obelix als französische Sozialtypen, die für französischen Esprit und französische Lebensfreude stehen. 18 Historische Gestalten wie Napoleon oder Louis XIV oder andere Nationalhelden wie Zidane spielen in diesem mentalen Frankreichbild eine untergeordnete Rolle (129 Nennungen), d.h. ihr repräsentativer Wert wird offensichtlich nicht so hoch eingeschätzt. Bemerkenswert ist aber, dass aktuelle Ereignisse wie z.B. die Unruhen in der banlieue an dieser Stelle ihren, wenn auch bescheidenen, Platz finden (14 Nennungen). Eine gezielte Frage nach aktuellen Ereignissen hätte zu diesem Themenbereich sicher ein anderes Ergebnis erbracht, zumal die Angaben zur Bedeutsamkeit des Fernsehens als Quelle des Frankreichbildes von Jugendlichen zeigen, dass die aktuelle Fernsehberichterstattung für die Schüler und Schülerinnen eine wichtige Rolle spielt. Die folgende Graphik gibt die Gewichtung der Bildmotive der Frankreichcollage wieder: Bildmotive der Frankreichcollage 0 500 1000 1500 2000 2500 Architektur und Monumente in Paris Essen und Trinken Nationalsymbole Frankreichs Stereotype Franzosen Nationalhelden Aktuelle Ereignisse 125 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Bitte um Visualisierung und Fokussierung der Einstellungen gegenüber Frankreich bei den Schülern und Schülerinnen dazu geführt hat, dass sie bei ihrer Wahl von repräsentativen Frankreichmotiven viel häufiger auf das stereotype Bildrepertoire der deutsch-französischen Wahrnehmung zurückgegriffen haben, als sie das bei den Antworten auf die Fragen nach ihren Erfahrungen mit Frankreich und den Franzosen getan haben. In den Collagen dominiert Paris in Gestalt des Eiffelturms, gepaart mit Baguette, Wein und Käse sowie der Trikolore, das stereotype Frankreichbild schlechthin, während die Ergebnisse der Befragung ein sehr viel differenzierteres Frankreichbild offenbaren, bei dem das Erfahrungswissen und die im Französisch- und Geschichtsunterricht erworbenen Kenntnisse eine entscheidende Rolle spielen und die Fernsehberichterstattung über Frankreich ihren Beitrag zur Entwicklung eines aktuellen Frankreichbildes leistet. 5. Zusammenfassung Im Frankreichbild der 12bis 16-jährigen Schülerinnen und Schüler konnten sowohl tradierte stereotype Wahrnehmungsmuster als auch sehr individuelle Perspektiven auf Frankreich festgestellt werden, doch zeigte sich auch, dass die Art der Fragestellung bei der Präsentation der eigenen Vorstellungen eine wichtige Rolle spielt. Sobald die Jugendlichen Gelegenheit erhielten, ihr Erfahrungswissen einzubringen, konnten sie differenzierte Einschätzungen abgeben, und es wurde ein sehr junges auf die Lebensumstände und Interessen von Jugendlichen fokussiertes Frankreichbild sichtbar, während allgemeine Fragen recht globale Antworten mit einem hohen Anteil an Stereotypen hervorriefen. Insgesamt erwies sich das Frankreichbild der deutschen Jugendlichen in der Umfrage als positiv, dabei durchaus realistisch und kenntnisreich. Ein zunehmendes Desinteresse an Frankreich und an den Franzosen von Seiten deutscher Jugendlicher konnte durch die Erhebung in keiner Weise bestätigt werden. Die vielfältigen Kontaktmöglichkeiten zwischen jungen Deutschen und Franzosen scheinen vielmehr für ein gegenseitiges Interesse und einen unverkrampften Blick auf das Nachbarland zu sorgen. 1 Die letzten größeren Umfragen wurden im Jahre 2000 von EMNID für Die Zeit und im Jahre 2003 von Allensbach für die Frankfurter Allgemeine Zeitung durchgeführt, sowie im Jahre 2002 gemeinsam von SOFRES und EMNID für das Deutsch-Französische Jugendwerk. Vgl. Renate Overbeck und Gabriele Padberg: „Regards croisés. Was Deutsche und Franzosen voneinander denken und wissen“, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 2, 2006, 49-53. 2 Zur Geschichte des deutschen Frankreichbildes vgl. Hans-Manfred Bock: „Wechselseitige Wahrnehmung als Problem deutsch-französischer Beziehungen“, in: Frankreich- Jahrbuch, Opladen, Deutscher Verlagsverbund, 35-56; Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation, Stuttgart, Metzler, 2005; Adelheid Schumann: „Stereotype im 126 Französischunterricht. Kulturwissenschaftliche und fachdidaktische Grundlagen“, in: Adelheid Schumann und Lieselotte Steinbrügge (eds.): Didaktische Transformation und Konstruktion, Frankfurt, Peter Lang, 113-130; Isabella von Treskow: „Deutsche und französische Grenzüberschreitungen“, in: Französisch heute 32, 2001, 327-339; Karl Ferdinand Werner: „Vom Frankreichbild der Deutschen“, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 4, 35, 1979, 305-310. 3 Laut Umfrage in Die Zeit von 2000 finden 83% der Deutschen die Franzosen sympathisch bis sehr sympathisch; vgl. Klaus Peter Schmid: „Modern, einflussreich, genießerisch. Was die Deutschen von Frankreich und den Franzosen halten“, in: Die Zeit, 2000, www.zeit.de. 4 Zum Problem der Erhebung von Stereotypen vgl. Hans Jürgen Lüsebrink op. cit., 109 sq. Lüsebrink bestätigt, dass sich in den vergangenen 40 Jahren kaum Veränderungen in der Liste der gegenseitigen Zuschreibungen ergeben haben. 5 Zu den Komponenten von Images vgl. Hans Jürgen Lüsebrink, op. cit., 87. 6 Vgl. Klaus Peter Schmid, op. cit., 2. 7 Dieter Tiemann: „Französische und deutsche Schüler über ihre Nachbarn am Rhein“, in: Marieluise Christadler (ed.): Deutschland - Frankreich. Alte Klischees - Neue Bilder. Duisburg, Sozialwissenschaftliche Kooperative, 1981, 170-185; Dieter Tiemann: Frankreich- und Deutschlandbilder im Widerstreit. Urteile französischer und deutscher Schüler über die Nachbarn am Rhein, Bonn, Europa Union Verlag, 1982. 8 Christoph Bittner: „Der Teilnehmerschwund im Französischunterricht - eine unabwendbare Entwicklung? Eine empirische Studie am Beispiel der gymnasialen Oberstufe“, in: Französisch heute 34, 2003, 338-353; Lutz Küster: „Schülermotivation und Unterrichtsalltag im Fach Französisch“, in: Französisch heute 38, 2007, 210-226; Franz-Joseph Meißner: „Gymnasialer Fremdsprachenunterricht in Nordrhein- Westfalen im Lichte der Statistik (1965-1990)“, in: Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 8, 1997, 1-26; Marcus Reinfried und Annette Kosch: „Sprachvermittlung in der Krise? Die Entwicklung des Französischunterrichts in Deutschland seit dem Elysée - Vertrag“, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog 58, 2003, 17-27. 9 Zur Auswirkung der Landeskundediskussion auf Französischlehrwerke vgl. den Beitrag von Adelheid Schumann „Der Wandel des Frankreichbildes in den Lehrwerken für die Oberstufe“ in diesem Dossier. 10 Ursula E.Koch, Detlef Schröter und Pierre Albert (eds.): Deutsch-französische Medienbilder/ Images Médiatiques franco-allemandes, München Verlag Reinhard Fisch, 1993. 11 Da die Fragebogenaktion im Sommer durchgeführt wurde, hatten auch die Schüler und Schülerinnen der Klasse 7, sofern sie Französisch nicht schon in der 6 begonnen hatten, fast ein Jahr Französischunterricht hinter sich. 12 In Nordrhein-Westfalen kann Französisch im Gymnasium ab Klasse 6, 8, 9 und 11 gewählt werden, in einzelnen Schulen auch schon ab Klasse 5 und in Gesamtschulen ab Klasse 7, 9 und 11. 13 An der Umfrage waren 15 Gymnasien und Gesamtschulen aus Nordrhein-Westfalen beteiligt. Allen Kolleginnen und Kollegen, die die Umfrage unterstützt haben, unseren herzlichen Dank. 14 Christoph Bittner, op. cit.; Gisela Hermann-Brennecke und Michael Candelier: „Wahl und Abwahl von Fremdsprachen. Deutsche und französische Schüler und Schülerinnen im Vergleich“, in: Die Neueren Sprachen, 91, 1992, 416-433; Heike Burk et.al.: „Was Studierende über ihre Schulsprachen denken. Ein Beispiel qualitativer Lehrerforschung“, in: 127 Dagmar Abenroth-Timmer und Gerhard Bach (eds.): Mehrsprachiges Europa. Festschrift für Michael Wendt, Tübingen, Gunter Narr Verlag, 2001, 111-130. 15 Werner Bleyhl: „J’accuse“, in: Französisch heute, 3, 1999, 252-263; Franz-Josef Meißner: „Zielsprache Französisch - zum Unterricht einer „schweren“ Schulsprache“, in: Französisch heute, 3, 1998, 241-257. 16 Franz Rudolf Weller: „Literatur im Französischunterricht heute. Bericht über eine größere Erhebung zum Lektüre-Kanon“, in: Französisch heute, 31, 2000, 138-159. 17 Vgl. den Beitrag von Christiane Fäcke „Das Frankreichbild in neueren Französischlehrwerken der Sekundarstufe I“ in diesem Dossier. 18 Zur Stereotypik der Asterix- und Obelix-Gestalten vgl. André Stoll: Asterix, das Trivialepos Frankreichs. Die Bild- und Sprachartistik eines Beststeller-Comics. Köln, DuMont Schauberg, 1975. Résumé: Adelheid Schumann/ Diana Poggel, L’image de la France des jeunes Allemands. Une enquête auprès des élèves entre 12 et 16 ans. L’article présente les résultats d’une enquête auprès des élèves allemands âgé(e)s entre 12 et 16. L’enquête révèle d’une manière évidente que l’image de la France des jeunes Allemands est surtout fondée sur des expériences de contact et de communication personnelles et directes avec des Français et en deuxième lieu sur les informations diffusées par la télévision et la presse, ainsi que sur les connaissances socio-culturelles acquises aux cours de français. Les stéréotypes et les idées reçues sur la France sont toujours actuels, mais jouent un rôle beaucoup moins important que supposé. 3: 54 128 Walther Fekl Der Mai der anderen Der französische Mai 68 im Spiegel der deutschen Pressezeichnung Das Gespenst der Revolte ging 1968 fast weltweit um. Trotzdem kommt dem „französischen Mai“ eine besondere Bedeutung zu. Hier schien es möglich, dass aus der Revolte im Handumdrehen eine Revolution werden könnte - immerhin kam es in diesen Wochen zu den größten Streikbewegungen der französischen Geschichte. Angesichts dieser herausgehobenen Bedeutung des Mai 68 im Rahmen der französischen Geschichte, aber auch im Vergleich zu ähnlichen Vorgängen in Europa wird hier die Frage gestellt, in welchem Umfang, mit welchen Mitteln und in welchen Kategorien die deutsche Pressezeichnung dieses Ereignis inszenierte. 1. Zum Medium Pressezeichnung 1 und zur Untersuchungsmethode Die Bevorzugung von Pressezeichnungen gegenüber sonstigen (Presse-) Texten beruht auf der Überzeugung, dass die Karikatur einen relativ unverstellten Zugang zu Phänomenen der Fremdwahrnehmung bietet. Die Gründe für diese Einschätzung können hier nur kurz angesprochen werden. Sie lassen sich - etwas schematisch - mit den Begriffen massenhafte Verbreitung, Zuspitzung und Tabufreiheit umreißen. Um rasch verstanden zu werden, rekurriert der Pressezeichner auf massenhaft verbreitete Vorstellungen und Kürzel. Die Untersuchung seiner Arbeit erlaubt also einen ziemlich direkten Zugriff auf populäre Wissensbestände sowie Wahrnehmungs- und Beurteilungskategorien, auf Mentalitätspartikel und Ideologeme, vom simplen Vorurteil bis zu Elementen der Allgemeinbildung. Karikatur arbeitet mit Weglassungen, sie übertreibt und spitzt zu. Sie verdeutlicht also, konturiert schärfer als andere Text- und Bildsorten. Aufgrund der gattungsspezifischen Komik wird dem Karikaturisten eine gewisse Narrenfreiheit zugebilligt. Von daher ist zu erwarten, dass uns seine Arbeit einen Einblick in Denkweisen erlaubt, die partiell vom Diktat der political correctness befreit sind. Im satirischen Bild wird oft „ausgesprochen“, was ansonsten allenfalls gedacht wird. Zu den Vorteilen der Arbeit mit Karikaturen zählt auch die rein praktische Annehmlichkeit der relativen Überschaubarkeit: 100 Karikaturen lassen sich eher überblicken als 100 mehr oder weniger lange Artikel. Die nachstehende Untersuchung hat nicht die Absicht, Unterschiede zwischen den einzelnen Presseorganen herauszuarbeiten und beispielsweise das dahinter stehende Frankreichbild der Frankfurter Allgemeinen dem der Frankfurter Rundschau gegenüberzustellen. Das Korpus 2 wird vielmehr als eine Einheit verstanden und deren (reduziertes) Figurenrepertoire als eine Population, deren Angehörige in 129 unterschiedlichen Konstellationen und Rollen auftreten und die unterschiedliche Handlungen vollziehen. Dies alles wird von den Zeichnern mithilfe vielfältiger Inszenierungsstrategien ins Bild gesetzt. Die Betrachtung dieser Elemente wird es in der Summe gestatten - dies ist jedenfalls die Annahme, die diesen Darlegungen zugrunde liegt -, wesentliche Aspekte der seinerzeit veröffentlichten Meinung zum Thema „Mai 68 in Frankreich“ zu erfassen. Der Löwenanteil der Darstellung wird der bundesdeutschen Karikatur gelten. Dies entspricht sicherlich der Bedeutung, die der Bundesrepublik und Frankreich fünf Jahre nach dem Elysée-Vertrag in der wechselseitigen Wahrnehmung zukam. Die DDR wird darüber aber nicht vergessen werden. 2. Der französische Mai 68 in der Pressezeichnung der Bundesrepublik 2.1. Die globale Wichtigkeit des französischen Mai 68 in der bundesdeutschen Pressezeichnung Die erste Frage gilt, unabhängig von und vor jeglicher inhaltlichen Betrachtung, dem Stellenwert, der dem untersuchten Phänomen „Mai 68 in Frankreich“ beigemessen wurde. Die Auswertung von Tages- und Wochenzeitungen sowie des monatlichen Satireblatts Pardon aus dem Zeitraum von Anfang Mai bis Mitte Juli, bis zur Ersetzung von Premierminister Pompidou durch Couve de Murville, erbrachte eine Zahl von 120 Pressezeichnungen, die teils auf den Titel- oder den Meinungsseiten des vorderen Teils, des ersten „Hefts“, der diversen Organe erschienen, teils auf den Wochenrückblicken und vereinzelt sogar auf den Humorseiten. Letztere mag man für weniger wichtig, da eher unpolitisch, halten. Ich betrachte aber gerade die Tatsache, dass ein Phänomen ausländischer Politik auf diese Seiten gelangt, als ein Indiz für ein breites Eindringen der besagten Vorgänge in das Bewusstsein des (bundes)deutschen Publikums. Zu einer richtigen Einschätzung der Frankreich beigemessenen Bedeutung gehört auch die Erinnerung daran, dass der von mir untersuchte Zeitraum eine Phase besonders zahlreicher innenwie außenpolitischer Ereignisse war. In der Innenpolitik ist die deutsche Studentenbewegung zu erwähnen, mit Uni-Besetzungen, Hochschulreformdiskussionen, den Folgen des Dutschke-Attentats usw., daneben und damit verbunden die Debatte um die Notstandsgesetze und obendrein der Beginn einer neuen Berlinkrise. Außenpolitisch war der Prager Frühling ein ganz großes Thema mit all seinen Begleiterscheinungen, wie etwa der Frage der Beziehungen zur UdSSR. Auch die USA beanspruchten viel Aufmerksamkeit angesichts der Nachwehen der Ermordung von Martin Luther King. Anfang Juni verwandelte dann der Mord an Robert Kennedy das Gros der Pressezeichner vorübergehend in Spezialisten für weinende, wankende oder auch schießende Freiheitsstatuen. Unter Berücksichtigung dieses Umfelds erscheint mir die Zahl von 120 einschlägigen Zeichnungen als ausgesprochen hoch. 130 2.2. Die französische Gesellschaft als Urhorde Die Zusammenfassung aller gezeichneten Personen zu einer Population entspricht dem Vorgehen Roland Barthes’ in Sur Racine, was angesichts der Fallhöhe zwischen Tragödie und Karikatur, einem genre mineur, als vermessene Referenz aufgefasst werden mag (ganz zu schweigen von der Fallhöhe zwischen den beiden Autoren, die sich mit diesen so unterschiedlichen Themen befassen). Gleichwohl erscheint mir diese Bezugnahme reizvoll, zumal eine deutliche Analogie festzustellen ist. Wie die Population der Racine’schen Tragödien, so bildet auch die hier untersuchte Karikaturen-Population ganz offensichtlich eine Urhorde: ein dominantes Männchen beherrscht eine (zunächst) unstrukturierte Gemeinschaft - hier von Baskenmützenträgern -, deren einziges gemeinsames Merkmal (zunächst) die Unterwerfung unter den EINEN darstellt. 3 Ein erster Unterschied zwischen Tragödien- und Karikaturen-Korpus besteht darin, dass in letzterem alles Begehren und alle Eifersucht sich auf ein Feld konzentrieren, das der Politik. Angesichts der offenkundigen Verbindung von Macht und Erotik ist dies nicht mehr als eine leicht nachvollziehbare Substitution. Der große Unterschied besteht aber darin, dass der Vatermord hier nur versucht wird, aber nicht gelingt. Dies liegt daran, dass sich innerhalb der Population doch eine gewisse Differenzierung herausbildet. Der Gruppe der Arbeiter und Studenten (die mitunter auch noch in ihre zwei Komponenten zerfällt) tritt die der Wähler gegenüber. Letztere verbündet sich mit der Vater-Figur und verhindert so den Vatermord. Mit diesem Verweis soll die Racine-Parallelisierung vorerst ihr Bewenden haben. Es wäre unangemessen und müsste zu krampfhaften terminologischen Anstrengungen führen, wenn auch die weitere Darstellung konsequent den Barthes’schen Kategorien folgen wollte. 2.3. ER oder: Die Rollen des Charles de Gaulle Auch wenn die herausragende politische Stellung de Gaulles in den 60er Jahren wahrlich ein Gemeinplatz ist, und auch wenn es nicht minder klar ist, dass die politische Karikatur gattungsmäßig zur Personalisierung politischer Verhältnisse tendiert, mag es festhaltenswert sein, wie sehr der regierende General die Szenerie beherrscht. Er tritt in den 120 Zeichnungen 101mal auf, und davon 43mal als einzige dargestellte Person. Keine einzige dieser Zeichnungen ist der Subgattung Porträtkarikatur zuzurechnen, sie sind vielmehr alle aktualitäts- und situationsbezogen. Von daher kann diese Häufung von isolierten Darstellungen als bemerkenswert gelten. Die Tatsache, dass kein weiterer französischer Politiker auch nur ein einziges Mal alleine in Szene gesetzt wird, unterstreicht diese Sonderstellung. Lediglich dem englischen Premier Wilson ist es in diesem Korpus vergönnt, mehrmals einzeln aufzutreten. Und auch Wilson verdankt seine Sonderstellung de Gaulle. Dieser wird nämlich sozusagen in bildlicher Abwesenheit dafür verantwortlich gemacht, dass Wilson „draußen bleiben“ muss, keinen Einlass nach Europa bekommt. 131 2.3.1. Der Uniformierte De Gaulle wird bei seinen Auftritten 34mal in zeitgenössischer Generalsuniform oder mindestens mit dem képi eines solchen gezeigt, fünfmal werden ihm andere Uniformen angezogen, die eines napoleonischen Generals (WAZ, 15.06., Beil. 03/ 28), eines Verkehrspolizisten (WAZ, 13.05., 2), eines Feuerwehrmanns (BM, 02.06., 2), eines Chauffeurs der Staatskarosse (WAZ, 11.07., 2), eines Eisenbahnbeamten, der den Staatszug auf die richtigen Geleise lenkt (BM, 21.05., 2) und die eines Gasablesers (WAZ, 01.07., 2). Das Tragen einer Uniform, das natürlich bei de Gaulle faktisch korrekt ist, muss gleichwohl nicht nur referenziell verstanden werden. Die Uniform dient vor allem der Konnotation von Autorität, Hierarchie, Befehl und Gehorsam, a-zivilem Denken und Verhalten. Sechsmal wird de Gaulle in Ritterrüstung gezeigt (SZ, 25./ 26.06., 3 und 01.-03.06., 3 sowie WAZ, 01.06., Beil. 03/ 38; ZEIT, 31.05., 3). Diese Darstellungsweise kann einerseits als Uniform-Variante gedeutet werden, sie rückt ihn andererseits semantisch in die Nähe der unten näher zu betrachtenden Herrscher-Bilder, zumal sie teilweise mit Herrschaftsinsignien wie dem Lothringerkreuz als Emblem auf dem Schild verbunden ist (SZ, 01.-03.06, 3 und Hbl., 04.06., 3). Die Rüstung verweist nicht zuletzt auf einen Mangel an Flexibilität, eine gewisse komische Starrheit, die aber auch positiv gewendet und mit Standfestigkeit und Widerstandskraft als Zusatzbedeutungen in Verbindung gebracht werden kann. Am prägnantesten scheint mir diese Ambivalenz im Dürer-Pastiche „Ritter, Student und Gewerkschaft“ gestaltet zu sein (IK, 28.05., 1). Die selbst schon zum Mythos gewordene Vorlage stimmt auf Tragik ein, das Pastiche tendiert von sich aus zum Komischen. Durch die zeichnerische Darstellung noch verstärkt, liegen Komik und Tragik hier sehr eng beieinander und zugleich wird eine politische Situation präzise erfasst. 2.3.2. Der Herrscher Betrachten wir nun die eben angesprochenen Herrscherdarstellungen. Geradezu klassisch ist die Darstellung als absoluter Herrscher mit Perücke und Hermelinmantel, die im vorliegenden Korpus in reiner Form allerdings nur zweimal vorkommt (FAZ, 05.06., 3, Welt, 22.06., 2). Zu ihr kommt eine Inszenierung als antiker Herrscher im Lorbeerkranz (Welt, 02.07., 2) und ein Bild, in dem de Gaulle, wenn auch in Uniform, einem thronähnlich erhobenen Sessel zustrebt (FAZ, 21.05., 3). Die Konnotationen, die durch diese Bilder werden, bewegen sich einerseits im Kontext des Antiquierten, Überholten und andererseits des Vornehmen, Noblen, Aristokratischen, Außergewöhnlichen, das sich über normale Sterbliche erhebt. Gesten und Körperhaltungen unterstreichen diese Eigenschaften und verleihen ihnen wiederholt eine Nuancierung in Richtung huldvolle Herablassung. Aus der herausgehobenen Position wird Überheblichkeit, das rollenmäßig zugeschriebene Sondermaß wird zur selbsterteilten Anmaßung. Dies gilt auch für zwei Illustrationen, die de Gaulle als General und als Zivilisten einen sicher eher imperial als poetenhaft zu verstehenden Lorbeerkranz als Attribut zuordnen (SZ, 19.05., 3; Tsp., 06.07., 3). Zeichenhaft wird so seine Art der Ausübung von Herrschaft als vordemokratisch charakterisiert. 132 2.3.3. Das Denkmal Wenn die Darstellung weiterhin semantischen Affinitäten folgen soll, dann ist nun vom Motiv des Denkmals zu reden. Dreimal wird de Gaulle in dieser Weise dargestellt. Dieses Motiv ist den bereits vorgestellten insofern verwandt, als die damit verbundenen semantischen Inhalte sich im Umkreis des Vornehmen, des Verehrungswürdigen, des historisch Annoblierten, des Würdevollen, der durch Leistung erworbenen Bedeutsamkeit bewegen. Diese Verwandtschaft zeigt sich aber auch in partiell gegenläufigen Bedeutungsgehalten wie der bereits erwähnten Starre und Inflexibilität, des Versteinerten, Überlebten, Unzeitgemäßen. Beide Aspekte scheinen, in wechselnden Mischungsverhältnissen, in den meisten Zeichnungen, die mit diesem Motiv arbeiten, eine Rolle zu spielen. Ein Denkmal ist nicht zuletzt dazu da, dem Dargestellten eine überzeitliche Präsenz zu garantieren. Als stark ironieaffine Gattung lässt es sich die Karikatur nicht nehmen, gerade anhand dieses Motivs den ephemeren Charakter des vermeintlich Dauerhaften zu unterstreichen. Von der vorsätzlichen Zerstörung (FR, 31.05., 1 und SZ, 25./ 26.06., 3, s. Abb. 1) bis zum „Abservieren“ (BM, 30.06., 2) werden mehrere denkbare Varianten durchbuchstabiert. 2.3.4. Der Retter Ein besonders ambigues Rollenschema ist das des Retters, zumal es in keinem der fünf vorliegenden Fälle ungebrochen-positiv ausgestaltet wird. Immer bleibt fragwürdig, ob die Rettungsabsicht auch real oder nicht bloß Pose ist, Resultat einer selbstgefälligen Selbst- und Überinszenierung (z.B. Welt, 25.05., 2). In anderen Fällen wird deutlich, dass die tatsächlich unternommenen Rettungsversuche wohl eher fehlschlagen werden. Nicht weil es an der guten Absicht fehlte, sondern weil die zur Verfügung stehenden oder jedenfalls zum Einsatz gebrachten Rettungsgeräte - etwa ein Rettungsring namens V. Republik (Welt, 31.05., 2) - brüchig geworden und daher nicht mehr funktionstüchtig sind. Der Retter des Vaterlandes, dieses Rollenbild wird in der deutschen Karikatur eher mit einer Einstellung betrachtet, die von vorsichtiger Skepsis bis zur beißenden Ironie reicht. Besonders grotesk - und subversiv - ist in diesem Zusammenhang die Verbindung de Gaulles mit einer historischen Retterfigur, die einen Geschlechtswechsel erforderlich macht: Wir meinen seine Einkleidung als sehr altjüngferliche Jeanne d’Arc mit Heiligenschein, die durch de Gaulles Ablehnung einer EWG-Mitgliedschaft Großbritanniens eine zusätzliche historisch-politische Beglaubigung erhält (Hbl., 04.06., 3). 2.3.5. Sonstige Rollen Die übrig bleibenden Einkleidungen sind speziellen Rollen zu verdanken, etwa der eines Radfahrers in schwierigen Gelände (BM, S. 26.05., 2), eines Zauberers (WAZ, 06./ 07., Beil. 03/ 28) bzw. Zauberlehrlings (WAZ, 20.05., 2; s. Abb. 2) oder Straßenkehrers (Tsp.; 26.05., 12) etc. In einer Vielzahl dieser Rollen scheint de Gaulle den von der Rolle gestellten Aufgaben nicht gewachsen zu sein. Besonders deutlich ist das im Fall des Zauberlehrlings. Hier liefert die volkstümliche Ballade, auf die durch das Bild wie in der Legende angespielt wird, das Skript, mit dessen Hilfe für den Leser aus der dargestellten Szene gleich eine ganze Geschichte wird. 133 Abb. 1 Abb. 2 134 Ausgesprochen selten kommen Animalisierungen in unserem Korpus vor. In allen vier Fällen handelt es sich um Darstellungen als (mehr oder weniger gallischer) Hahn. Im ersten Fall wird de Gaulle als republikanischer („mariannisierter“? ) gallischer Hahn dargestellt, mit phrygischer Mütze statt Kamm und mit brennenden Federn (FR, 18.05., 1), dann als arg gerupfter Hahn (CW, 31.05., 2) und schließlich als (Streit-)Hahn, der sich mit seinem Volk in Gestalt eines baskenmützigen Hahns anlegt (Hbl., 10.06., 3). Einen Grenzfall von Animalisierung bildet die Darstellung als vom Wind gebeutelter Wetterhahn (Welt, 29.05., 2). Alle vier Zeichnungen arbeiten nicht mit der Zuschreibung von Eigenschaften, versuchen gar keine Interpretation des Geschehens, sondern bleiben auf der Ebene der bloßen Situationsbeschreibung. 2.4. ER und die anderen 2.4.1. De Gaulle und ausländische Politiker De Gaulle tritt, wie gesagt, häufig als großer Einzelner auf, die Regel ist gleichwohl das gemeinsame Auftreten mit anderen Figuren. Fünfmal sind das namentlich benennbare ausländische Politiker. Dazu kommen vier Zeichnungen mit anonymen oder allegorischen Repräsentanten anderer Nationen. Das sind z.B. Teilnehmer der Anfang Mai in Paris beginnenden Vietnam-Friedenskonferenz, die sich unversehens in einem chaotischen und wenig friedlichen Paris wieder finden (u.a. WAZ, 13.05., 2, BM, 14.05., 2). Das ist auch ein John Bull, der darauf wartet, dass sich die Unruhen wieder gelegt haben, um seine Sache (den EWG-Beitritt) voranzutreiben (Tsp., 26.05., 12). Solche Bilder bleiben, was ein Frankreich-Bild angeht, sehr allgemein, sie zeichnen lediglich das Bild eines im Chaos versinkenden Landes. Auf anderen Bildern wird jedoch gezeigt, dass „französische Verhältnisse“ zumindest teilweise auch in anderen Ländern herrschen, etwa wenn Studenten in einem Audimax den Zuhörern de Gaulle, Gomulka, Wilson, Johnson, Kiesinger Vorträge halten und sie zugleich mit einer Schleuder beschießen (Tsp., 27.06., 3). 2.4.2. De Gaulle und französische Politiker Die 20 gemeinsamen Auftritte de Gaulles mit französischen Politikern tun der Autorität seines Auftretens keinen Abbruch. Eher im Gegenteil, denn die diesen zugemessenen Rollen sind vielfach mehr als bescheiden. Ohne sie vollständig aufzählen zu wollen, verweisen wir auf Beispiele wie Alain Peyrefitte, der als Ballast aus dem de-Gaulle-Fesselballon abgeworfen wird (WAZ, 29.05., 2), auf den untertänigen majordome Pompidou (WAZ, 14.05., 2 und SZ, 18./ 19.05., 3), auf den gleichen Pompidou, der nach überstandener Mai-Juni-Krise umstandslos fallen gelassen oder kalt gestellt wird (z.B. Hbl., 12./ 13.07., 3 und Welt, 12.07., 3), auf Pompidou und Couve de Murville, die als austauschbare Plüschtiere die Staatskarosse zieren (WAZ, 11.07., 2), oder auf die nämlichen als von de Gaulle programmierte Roboter (Welt, 11.07., 2) - und dergleichen mehr. Auf Pompidou, der sich in der 135 Mai-Krise zu sehr profiliert hatte, trifft sicherlich am besten Roland Barthes’ Satz über die Söhne zu, deren potenzielle Rivalität mit dem Vater zu ihrer Tötung, Kastration oder Verjagung führt (vgl. Anm. 3, letzter Satz). 2.4.3. De Gaulle und die (symbolischen) Repräsentanten des Volkes Wichtiger als die Politiker sind die Repräsentanten des französischen Volkes als Interaktionspartner de Gaulles. 16mal sind das nicht weiter definierbare Volksvertreter, die als Gruppe dargestellt werden, meist in stereotypisierter Verkürzung als Baskenmützenträger. In zwölf weiteren Fällen lassen sich die Vertreter des Volkes soziologisch identifizieren als Studenten und/ oder Arbeiter. Dazu kommen nationalemblematische Darstellungen in Gestalt von Marianne, die zehnmal mit de Gaulle in einer Zweierkombination und zwei weitere Male in einer Mehrpersonenkonstellation auftritt. Die Interaktion de Gaulle-Marianne erlaubt mehr Nuancierungen als dies im Falle der französischen Politiker der Fall war. Auch Marianne tritt wiederholt als Objekt bzw. sogar als Opfer de Gaulle’scher Handlungen auf. Das reicht von den erwähnten Rettungsversuchen über das Abkassieren (von Wählerstimmen, WAZ, 01.07., 2) bis hin zur Adressatin eines Tritts in das Hinterteil (Welt, 14.05., 2). Gegenüber dem antiken Herrscher de Gaulle tritt sie in einer Dienerinnenrolle auf (Welt, 02.07., 2) und für den Monarchen, der sich als Republikaner zur Wahl stellt, arbeitet sie als Wahlhelferin (Welt, 22.06., 2). In einigen Fällen aber wird sie zu einer annähernd gleichberechtigten Partnerin oder auch ausgesprochenen Widersacherin des Generals, die sich schon mal aufmüpfig mit der Wahl-Säge an einem Baum zu schaffen macht, an dem de Gaulles Hängematte befestigt ist (WAZ, 24.06., 2). Oder etwa, wenn sie dem General seine weltpolitischen Interessen vorhält, die ihn daran hindern, sich um sein eigenes Volk zu kümmern. Paul Flora ist das einschlägige Bild zu verdanken, in dem Madame Marianne dem mit der Weltkugel Billard spielenden General (ein bewusster Anklang an Chaplins Großen Diktator? ) demonstrativ-fordernd eines der gemeinsamen Kinder entgegenhält, die er allesamt über seinem Spiel zu vergessen haben scheint (ZEIT, 31.05., 2). Da die soziologisch unspezifizierten Vertreter des Volkes ebenso wie die Gruppe der Studenten/ Arbeiter in der Ökonomie der jeweiligen Bilder eine ähnliche Funktion wie Marianne einnehmen, können Ähnlichkeiten in den Verhaltensweisen nicht überraschen. Studenten und Arbeiter treten aber als signifikant aktivere, als mehr fordernde und als provokativere Akteure auf. Bemerkenswert erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass aus dieser Gruppe niemand heraustritt, individualisiert wird. Der Hang der Pressezeichnung zur Personalisierung politischer und gesellschaftlicher Verhältnisse hätte es ja nahe legen können, beispielsweise Daniel Cohn-Bendit als Pendant zu de Gaulle stärker herauszustellen. Tatsächlich finden wir aber in unserem Corpus lediglich zwei Nachweise für Cohn-Bendit. Auf einer dieser Zeichnungen bedankt de Gaulle sich nach seinem Wahlsieg in böser Ironie bei französischen Politikern (Mitterrand, Mollet, Waldeck-Rochet und ein Vertreter der algerischen Ultras) für deren Beitrag 136 zu seinem Wahlsieg. In einer Reihe mit ihnen finden wir auch den roten Dany (Tsp., 06.07., 3). Die zweite Zeichnung, eine Foto-Montage zeigt den Kopf des entsprechend der Johannes-der-Täufer-Salome-Ikonografie enthaupteten und auf einer Platte präsentierten Cohn-Bendit in einem rein deutschen, ja Berliner Kontext. Die Legende apostrophiert nämlich den damaligen Innensenator Neubauer: „Ist es Ihnen so recht, Herr Senator Neubauer? “ (Pardon 12/ 68, 8). Dies ist übrigens der einzige Beitrag des führenden deutschen Satire-Organs zum französischen Mai 68 - im ganzen Jahr. 2.5. Der Mai ohne IHN De Gaulle war während der Mai-Ereignisse ja demonstrativ, als ob weiter nichts geschehen wäre, nach Rumänien gereist und verweigerte eine vorzeitige Rückkehr. Obwohl in dieser Phase Premierminister Pompidou das Krisenmanagement betrieb, blieb de Gaulle stets im Bild - jedenfalls was die deutsche Pressezeichnung angeht. Zumindest seinen langen Arm sah man bildlich von Bukarest bis nach Paris reichen (Welt, 17.05., 2). Wenn die Zeichner auf ihn verzichten, dann bedeutet das in aller Regel, dass man sich ein wenig von der histoire événementielle entfernt und sozioökonomische Gegebenheiten ins Auge fasst. Das kann beispielsweise bedeuten, dass ein Deutscher Michel ungläubig das Streikverhalten der französischen Arbeiter betrachtet (WAZ, 22.05., 2) oder dass die Beziehungen zwischen Studenten und Arbeitern thematisiert werden. In etlichen Fällen treten etwa Personifizierungen des Franc (in Verbindung mit anderen, ihrerseits personifizierten Währungen) als Protagonisten auf (z.B. CW, 07.06., 2 und Hbl., 31.05./ 01.06., 3). Neben einer gewissen Schadenfreude oder zumindest einem deutschen Überlegenheitsgefühl ist bei den mehr ökonomisch als politisch akzentuierten Zeichnungen auch die Sorge um die deutschen ökonomischen Interessen spürbar. Dazu kommen Befürchtungen hinsichtlich der Zusammenarbeit in Europa. Sobald eine deutsche Angstfolie den Hintergrund für die Frankreich-Wahrnehmung abgibt, verliert de Gaulle, der bewunderte oder kritisierte große Einzelne, ein wenig an Bedeutung. 2.6. Die Hyperbel Eine bildsatirische Darstellung verwendet immer und überall eine Vielzahl von Darstellungsmitteln. Emblematische und allegorische Darstellungen finden sich in großer Anzahl in unserem Korpus, Metapher und Metonymie sind allgegenwärtig. Detaillierte bildrhetorische Analysen wurden hier gleichwohl unterlassen, da diese eine Beschränkung auf einige wenige Bildbeispiele verlangt hätten. Das bildrhetorische Verfahren der Hyperbolisierung, mit dem immerhin 28 der hier untersuchten Zeichnungen operieren, soll jedoch kurz angesprochen werden. Das Material legt es nahe, bei diesem Teil der Untersuchung erstmals auch die Zeitdimension näher ins Auge zu fassen. 137 Die Karikatur kann mit Vorgaben der Realität äußerst frei umgehen. Auch da, wo sie sich an diese Vorgaben hält bzw. sie übertrieben wiedergibt, tut sie das nicht des Realismus willen, sondern in Bedeutung schaffender Absicht. Sie ist, wenn das der Aussageintention entspricht, durchaus in der Lage, auch einen physischen Riesen als Zwerg darzustellen. Physische Größe suggeriert in der Karikatur immer auch persönliche oder zumindest politische Größe - wobei zunächst noch offen bleibt, ob diese real, von anderen zugeschrieben oder gar nur angemaßt, eingebildet ist. Diese allgemeinen Aussagen lassen sich anhand unseres Korpus unschwer verifizieren. Zu Beginn des untersuchten Zeitraums wird de Gaulle zumeist in realistischer Wiedergabe der Größenverhältnisse dargestellt. In der besonders heißen Phase der Auseinandersetzung wird aber zunehmend häufig mit der Größe gespielt. Da kann er wie einst Napoleon III. zu „de Gaulle le petit“ werden (etwa in der Zeichnung Hbl., 27.05., 3, vgl. nächster Abschnitt). Das Spiel mit der Größe muss aber nicht bedeuten, dass de Gaulle nun zwangsläufig zum Zwerg mutiert. Sogar das Gegenteil kann der Fall sein, etwa wenn eine kleine schmächtige Marianne mit einem überlebensgroßen de-Gaulle-Denkmal herumhantiert (BM, 30.06., 2). Hier sorgt die Ironie der Zeichnung dafür, dass die Hyperbel in ungewöhnlicher Weise als Mittel der Herabsetzung (als Vorstufe einer erwarteten Absetzung bzw. Abwahl) und nicht etwa der Heroisierung fungieren kann. Eine weitere Variante des Umgangs mit Größenverhältnissen liefert eine Zeichnung, in der die beiden normal großen Personen de Gaulle und Pompidou sich einer übergroßen Figur mit Latzhose und Schutzhelm konfrontiert sehen, die kaum durch den Türrahmen passt. Die Legende macht deutlich, dass diese nicht nur metonymisch für die Arbeiterschaft steht, nein: General Streik tritt hier General de Gaulle gegenüber - und in dieser Konfrontation ist der bisherige politische Goliath plötzlich zum relativen David geworden. Weitaus häufiger sind aber Bilder, in denen ein großer einem kleinen de Gaulle gegenüber gestellt wird. In einigen Fällen sind das Zeichnungen, die den „alten“, den gewohnten de Gaulle mit dem des Monats Mai vergleichen, in dem er auf Normalmaß und weniger zurückgestutzt wurde. Besonders häufig sind das aber Bilder, die den de Gaulle vor den Parlamentswahlen mit dem nach den überlegen gewonnenen Wahlen konfrontieren. Da kriecht ein kleiner infantilisierter de Gaulle auf allen Vieren in die Wahlkabine und kommt als Riesensieger wieder heraus (FR, 25.06., 1), oder da steht de Gaulle auf irgendeinem Siegerpodest wie es im Sport üblich ist. Auf dem zweiten Bild dieser Zwei-Phasen-Zeichnung sieht man nur noch die Uniformhose bis zur Unterkante seines Sakkos, so sehr ist er in kaum mehr wahrnehmbare Höhen geschossen (BM, 02.07., 2, s. Abb. 3). Der Vorher- Nachher-Kontrast ist das Grundprinzip dieser mit Hyperbolisierung operierenden Zeichnungen. Triumph, Heroisierung, die Darstellung schierer Größe, das sind die Übereinstimmungen in Inhalt und die Aussage dieser Zeichnungen. Neben der Konfrontation de Gaulles mit sich selbst gibt es etliche hyperbolisierende Darstellungen seiner Person in Verbindung mit anderen politisch-gesell- 138 schaftlichen Akteuren. Mehrere von ihnen variieren das Thema des sich bedankenden de Gaulle. So bedankt er sich, wie in anderem Zusammenhang bereits erwähnt, bei miniaturisierten französischen Politikern (Tsp., 06.07., 3) oder aber bei Studenten auf den Ruinen ihrer Barrikaden (FAZ, 03.07., 3). Dieses Spiel mit der Hyperbel ist charakteristisch für die Zeichnungen der Wahlzeit von Ende Juni/ Anfang Juli 1968. Auf diese folgt aber noch ein kleines Nachspiel, das allerdings die eben getroffenen Aussagen bestätigt und bekräftigt. Die letzte Serie von Zeichnungen bezieht sich auf den von de Gaulle veranlassten Rücktritt Pompidous und die Einsetzung von Couve de Murville als Regierungschef. Hier tritt beispielsweise ein als Marianne eingekleideter de Gaulle als übergroße Partnerin eines kleinwüchsigen Bräutigams oder Liebhabers de Murville auf. Diese Zeichnung stellt bei aller grafischen Harmlosigkeit fast ein Resümee dar: der Staatschef hat nicht nur seine alte Größe wieder gefunden, sondern der hyperbolisierte de Gaulle verkörpert als Marianne die Republik und die Nation (BM, 11.07., 2). 2.7. Die V-Geste Die erhobenen Arme, mit denen de Gaulle so gerne grüßte und die Massen beschwor (etwa bei seinem berühmten „Je vous ai compris“ am 4. Juni 1958 in Algier), sind geradezu zu einem seiner Markenzeichen geworden. Wie sehr Geste und Person tendenziell zu einer semiotischen Einheit verschmolzen sind, zeigt bereits eine quantitative Betrachtung: unser Korpus enthält immerhin 13 einschlägige Zeichnungen. Dabei wird das Zeichen in etwa der Hälfte der Fälle (sechsmal) so verwendet wie in der Realität, insbesondere als Geste des Triumphes nach den gewonnenen Wahlen (z.B. SZ, 25.06., 3 und 27.06., 4, s. Abb. 1 und 4, und Hbl., 02.07., 3). Etwas häufiger sind dagegen Darstellungen, in denen die Intention der Geste semantisch umgebogen wird. Sie wird zumindest ambiguiert und mitunter geradezu höchst ironisch ins Gegenteil verkehrt. So wird sie zur vergeblichen Beschwörung im Fall des erwähnten Zauberlehrlings (WAZ, 20.05., 2, Abb. 2) oder eines hilflosen Feuerwehrmanns (BM, 02.06., 2). Eine böse Ironisierung findet statt, wenn der Held stolz zwei Geldsäcke V-förmig hochhält und dabei nicht zu bemerken scheint, dass diese durchlöchert sind und sich daher stetig leeren - und dies auch noch mit der Legende „Vive le Franc! “ versehen wird (ZEIT, 07.06., 18, s. Abb. 5). Und wenn ein kleiner de Gaulle im unteren Teil eines Stundenglases im Sand der Fünften Republik zu versinken droht, wird die eher triumphale Geste geradezu zu einem nonverbalen Hilferuf verkehrt (Hbl., 27.05., 3). Dieser de Gaulle ist gerade qua üblicher Geste nur noch das Gegenteil seiner selbst bzw. dessen, was er darstellen möchte. Mit derartigen Umwertungen und Umfunktionierungen eines gestischen Zeichens ist die deutsche Karikatur nicht allzu weit entfernt von den herrschaftssubversiven Strategien, die wir aus französischen Plakaten und Zeichnungen dieser Zeit kennen. 139 Abb. 4 Abb. 3 Abb. 5 140 2.8. Konklusion zur bundesdeutschen Karikatur zum französischen Mai 68 Die deutsche Karikatur zum französischen Mai 68 hat als Außensicht in keiner Phase die Kampfeslust, die Aggressivität und damit auch nicht den beißend-scharfen Witz der französischen Pressezeichnung. Ihr Anliegen ist nicht die Dekonstruktion der Macht, die Desakralisierung des Herrschers als Vorstufe zu dessen erwünschtem Sturz. Sie zeichnet in ihrer Gesamtheit vielmehr eine Art Historienbzw. Herrscherdrama nach, das sich mehrfach tragischen Zonen nähert - als das Volk seinen Herrscher aufzugeben scheint - und das sich dann doch für diesen zum Guten wendet. Was das für das Volk bedeutet, wird nicht so deutlich, denn es erscheint nach dem Wahltriumph nicht mehr als dem Herrscher entgegengesetztes Element, wird kaum noch ins Bild gesetzt. So richtig als Demokratie scheinen die deutschen Zeichner Frankreich auch nach dieser Wahl nicht zu sehen. Die Urhorden-Vorstellung, um diese doch noch einmal aufzugreifen, überdauert offensichtlich diesen demokratischen Akt. Zugleich sind die meisten Karikaturisten sichtlich erleichtert, dass die archaische, autokratische Herrschaftsform des Generals einen souveränen Sieg davon getragen hat und damit für die Wahrung deutscher Interessen und für europäische Stabilität sorgt. Diese Wiederherstellung der Ordnung scheinen sie für dauerhaft zu halten. Frankreich selbst erscheint in dieser Bilder-Geschichte eher als aufmüpfiges denn als revolutionsbereites Volk. Die aufbegehrenden Elemente werden nur äußerst sporadisch als eine ernst zu nehmende politische Alternative dargestellt, sie sind eher Spaßrevoluzzer denn politische Revolutionäre. Ein anderes Lektüre-Modell für eine Gesamtbetrachtung unseres Korpus kann die Passionsgeschichte abgeben. Der Verhöhnung und der bereits begonnenen mise à mort - so sehen wir einmal de Gaulle schon auf der Guillotine liegen (WAZ, 27.05., 2) und ein andermal auf einem brennenden Scheiterhaufen (SZ, 04.06., 4) - folgt die politische Auferstehung (z.B. Hbl., 25.06., 3) mit einem in vielfachen Varianten triumphierenden de Gaulle am Ende. Ein anderes Narrativ, das in dem Korpus enthalten ist, lässt die politischen Prozesse in eher fragwürdiger Weise als Abfolge von Naturereignissen, insbesondere Katastrophen, erscheinen. Da toben erst einmal die entfesselten Gewalten, gegen die der Protagonist hilflos ist (WAZ, 20.05., 2 und BM, 02.06., 2; ähnlich auch BM, 14.05., 2), am Ende aber steht er als strahlende Sonne am Himmel, während sich die aufgepeitschten Wogen in Richtung England verziehen (Welt, 28.06., 2). So unpolitisch ist aber nur ein relativ kleiner Teil der Zeichnungen. Die Mehrzahl huldigt durchaus einer subversiven Kritik an autoritär ausgeübter Herrschaft, verbindet das aber mit der Erleichterung darüber, dass diese fortbesteht und dass nicht ein führerloses Frankreich Deutschland und Europa mit sich ins Chaos reißt. 141 3. Der französische Mai in der DDR-Karikatur Wir wollen es nicht ganz wie üblich machen, sprich: wir wollen den deutschen Blick auf Frankreich hier nicht auf den bundesdeutschen reduzieren. Die DDR war ihrerseits durchaus in hohem Maße an Frankreich interessiert. Wenigstens ihre beiden einschlägigen Leitmedien, die Satirezeitschrift Eulenspiegel (ES) und das Neue Deutschland (ND), sollen deshalb in unsere Betrachtungen einbezogen werden. Da das „andere Deutschland“ 4 sich nicht durch eine pluralistische Presselandschaft auszeichnete, können wir hoffen, hiermit Wesentliches vom offiziellen deutschdemokratischen Blick auf Frankreich zu erfassen. Beide Presseorgane kommentieren den französischen Mai in jeweils drei Zeichnungen. Dabei ist die Person de Gaulles zweimal vertreten, ebenso wie Marianne, einmal taucht der deutsche Michel auf, ansonsten sind anonyme, nicht individualisierte Personen dargestellt. Auf den ersten Blick wird man hier von einer erstaunlich geringen Frequenz der de Gaulle-Abbildungen sprechen wollen. Dies ist sicherlich zutreffend, wenn wir mit der bundesrepublikanischen oder auch der französischen Karikatur vergleichen. Ordnen wir diese Zeichnungen in den Gesamtzusammenhang der Bildsatire in der DDR ein, so ergibt sich allerdings ein anderes Bild. Diese war, soweit sie sich mit dem Ausland beschäftigte, in den 50er Jahren geprägt von grafisch oft beeindruckenden bitterbösen, ja aggressiven Darstellungen westlicher Politiker wie Adenauer oder John Foster Dulles. Der etymologische Zusammenhang von caricatura und charge wurde hier sehr sinnfällig. In den 60er Jahren war die Personendarstellung zwar nicht ganz unmöglich, aber doch weitgehend verpönt, da für politisch inopportun erklärt worden. In diesem Lichte betrachtet, nimmt sich der Anteil von zwei de Gaulles in unserem Sechser-Subkorpus gleich anders aus und man darf durchaus erstaunt sein, dass sich obendrein im ND Herbert Wehner und Kurt Georg Kiesinger leibhaftig gegen die aus Frankreich heranschwappende Streikwelle stemmen (ND, 22.05., 2). Der zum untersuchten Zeitpunkt üblichen Typenkarikatur, die mit dem Kapitalisten (der nicht weiter individualisiert zu werden braucht), dem Arbeiter, dem Studenten, dem Bürokraten usw. arbeitet, entsprechen in diesem Subkorpus lediglich zwei Eulenspiegel-Blätter (ES 24 und 26/ 68). Für diese Zeit durchaus unüblich ist es dagegen auch, dass wir einem Deutschen Michel begegnen. Dieser war zwar Dauergast in der frühen DDR-Bildsatire, als es noch galt, die deutsche Einheit zu betonen und mithilfe der Nationalallegorie die spalterischen, da westorientierten Politiker der Bundesrepublik zu kritisieren; spätestens seit dem Mauerfall war diese Sichtweise aber obsolet geworden, auch wenn die DDR-Verfassung den Bezug auf die Einheit noch bis Ende des Jahrzehnts beibehielt. Der Michel konnte gehen, er hatte seine Schuldigkeit getan. Wenn er vereinzelt noch auftrat, dann nur noch als Personifizierung der Bundesrepublik. So auch hier: Marianne reicht Michel das Sprachlehrwerk „Parlez français! “ und gibt ihm einen guten Ratschlag: „Mit deiner Regierung musst du französich sprechen, wenn du die Notstandsgesetze verhindern willst! “ (ND, 20.05., 2). 142 Hier wird deutlich, was für das Frankreichbild der DDR durchwegs gilt und was jedenfalls für die Frankreichdarstellung in der DDR-Bildsatire gut belegt ist: 5 Frankreich ist der etwas andere kapitalistische Staat, ein Staat, den man nicht rundheraus ablehnen muss (wohl wegen der lange recht starken Position der KP) - ein echtes Gegenbild zur schlimmen Bundesrepublik. Wenn man mit dieser mal wohlwollend umgeht, dann verweist man sie auf Frankreich als potenzielles Vorbild, an dem sie sich endlich orientieren sollte. Diese Vorbildfunktion Frankreichs findet sich implizit auch in der Eulenspiegel-Zeichnung wieder, die die linksrheinischen Streiks mit Fabrikbesetzung den rechtsrheinischen Kapitalisten als Menetekel vorhält, das auch ihnen blühen dürfte (ES 26/ 68). Dass Marianne selbst in diesem schmalen Subkorpus ein zweites Mal auftaucht, muss nicht verwundern, zumal sie das Vorbild für die Freiheitsallegorie geliefert hat, die seit dem 19. Jahrhundert die sozialistischen Plakate zum 1. Mai ziert. In Bezug auf diese Figur ist somit von einer großen ikonografischen Nähe zwischen Frankreich und der DDR auszugehen. Marianne verkörpert für beide Länder mehr die Republik als die französische Nation. Die Marianne-Zeichnung des Eulenspiegel macht deutlich, dass man es Frankreich zutraute, eine sozialistische Utopie zu realisieren. De Gaulle zieht es vor, die Augen vor dieser Zukunft zu verschließen. In der Sprache des Bildes verschließt er sie freilich vor einer attraktiven Marianne, die gerade dabei ist, sich in rotes Tuch zu hüllen, will heißen: die sich anschickt, rot zu wählen und auch am 14. Juli in rot (und nicht in blau-weiß-rot) zu defilieren. Wir wissen, dass sich diese Utopie nicht realisiert hat, doch haben das weder die Zeichner des Eulenspiegel noch die des ND thematisiert. Die DDR-Bildsatire hat es ihrerseits vorgezogen, die Augen vor diesen (und anderen) Realitäten zu verschließen - ihr Beitrag zu einer viel weiter gehenden und letztlich fatalen Realitätsverkennung. Insofern haben die deutschdemokratischen und die bundesdeutschen Zeichnungen unseres Korpus eines gemeinsam: Während sie das Nachbarland zeichnen, entwerfen sie zugleich ein Bild des eigenen Landes. 1 Die Begriffe „Pressezeichnung“ und „(politische) Karikatur“ werden in diesem Beitrag als Synonyme verwendet. 2 Das Korpus umfasst alle einschlägigen Karikaturen, die im Zeitraum Anfang Mai bis Mitte Juli 1968 (Austausch des Regierungschefs: Couve de Murville anstelle von Georges Pompidou) in folgenden von mir als repräsentativ betrachteten Presseorganen erschienen sind: - Berliner Morgenpost (BM; Tageszeitung); Zeichner: Oskar; - Christ und Welt (CW; Wochenzeitung), Zeichner: Hanel; - Eulenspiegel (ES; Wochenzeitung), Zeichner: Dittrich, Haas, Kretzschmar; - Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ, Tageszeitung), Zeichner: Behrendt; - Frankfurter Rundschau (FR, Tageszeitung), Zeichner: Mussil; - Handelsblatt (Hbl.; Tageszeitung), Zeichner: Bensch, Bruns; 143 - Industriekurier (IK; dreimal pro Woche), Zeichner: Pielert; - Neues Deutschland (ND, Tageszeitung), Zeichner: Arndt, Beier-Red, Haas; - Pardon; - Süddeutsche Zeitung (SZ, Tageszeitung), Zeichner: Ironimus, Lang, Marcks, Murschetz; - Tagesspiegel, Berlin (Tsp., Tageszeitung), Zeichner: Behrendt, Kossatz; - Die Welt (Welt, Tageszeitung), Zeichner: Hartung, hicks; - Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ, Tageszeitung), Zeichner: Hüsch, Pielert; - DIE ZEIT (ZEIT, Wochenzeitung), Zeichner: Flora. Zehn Zeichnungen dieses Korpus’ sind Ende April/ Anfang Mai d.J. in nachkolorierter Form (mit Ausnahme der von Hause aus farbigen Eulenspiegel-Zeichnungen) in der Zeitschrift Courrier international erschienen (Nr. 912-914). Verzeichnis der Abbildungen: Abb. 1: Ernst Maria Lang, „Ein Denkmal in Paris“, in: SZ, 25./ 26.06., 3; Abb.2: Klaus Pielert „In die Ecke, Besen, Besen ...! “, in: WAZ, 20.05., 2; Abb.3: Oskar, „Vor und nach der Wahl“, in: BM, 02.07., 2; Abb.4: Marie Marcks, „C’est moi! “, in: SZ, 27.06, 4); Abb. 5: Autor nicht identifiziert, „Vive le franc! “, in: ZEIT, 07.06., 18. 3 Barthes beschreibt die Horde in Anschluss an Darwin, Atkinson und Freud wie folgt: „[…] chaque horde était asservie au mâle le plus vigoureux, qui possédait indistinctement femmes, enfants et biens. Les fils étaient dépossédés de tout, la force du père les empêchait d’obtenir les femmes, sœurs ou mères qu’ils convoitaient. Si par malheur ils provoquaient la jalousie du père, ils étaient impitoyablement tués, châtrés ou chassés.“ In: Roland Barthes, „L’homme racinien“. In: Sur Racine, Paris, Seuil, 1965, 20 (Club Français du Livre, 1960). 4 Zum Blick der DDR auf Frankreich s. Dorothee Röseberg (ed.), Frankreich und „Das andere Deutschland“.Analysen und Zeitzeugnisse, Tübingen, Stauffenburg, 1999. 5 Vgl. hierzu Jean-Claude Gardes, „Rôle et fonction des représentations de la France dans la presse satirique est-allemande des années cinquante“. In: Ernst Dautel, Gunter Volz (eds.), Horizons inattendus - Mélanges offerts à Jean-Paul Barbe, Tübingen, Stauffenburg, 1994, sowie Walther Fekl, „’Vive la République! ’ Marianne als deutsch-demokratischer Mythos im Satiremagazin Eulenspiegel“. In: D. Röseberg (ed.), op. cit., 71-94; elektronische Version, mit zusätzlichen visuellen Dokumenten, unter: www.deuframat.de (2005). Résumé: Walther Fekl, Le Mai des autres: En Allemagne aussi, les temps sont loin d’être tranquilles tout au long de ce printemps 1968. Malgré cela, le dessin de presse allemand s’intéresse de très près aux événements français, les interprétant en grand nombre et dans une grande variété de mises en scène. La caricature est-allemande, pour sa part, voit le moment venu pour des changements profonds dans ce pays capitaliste pas comme les autres qu’est à ses yeux la France. Les événements prenant une autre tournure, elle ne déchante pas, elle se tait. Comme toujours, l’image de l’autre renvoie en même temps une certaine image de soi-même. 144 Peter Ronge Französische Karikaturen des Präsidenten Charles de Gaulle aus der Zeit um das Krisenjahr 1968 1. Einleitung Charles de Gaulle war nicht nur der weltweit mit Abstand bekannteste, bedeutendste und meistgezeichnete französische Politiker des 20. Jahrhunderts. Auch im eigenen Land erreichte er nach der Agonie der IV. Republik mit ihren noch vielen Zeitungstiteln und deren hohen Auflagen sowie dem Sonderstatut des seit seiner Gründung unabhängigen und werbefreien Canard enchaîné in der satirischen Presse bald den - seit Aufkommen der personalen Pressekarikatur und weit vor Napoléon I - ersten Rang aller je karikierten Franzosen. 1 Hier soll die außerordentliche Rolle beleuchtet werden, die dem verunsicherten ersten Staatspräsidenten der noch jungen V. Republik in den Mai-Unruhen als Katalysator der systemkritischen bzw. -feindlichen Bildsatire Frankreichs zufiel. Auch soll zumindest angedeutet werden, aus welchen Gründen, mit welchen journalistischen und zeichnerischen Mitteln, vor dem Hintergrund welcher Ziele und mit welchen Folgen von den antibürgerlichen Presse-„Kombattanten“ Charles de Gaulle diese bildsatirische Starfunktion zugewiesen wurde. De Gaulle bot den Bildsatirikern jeder Couleur seit seinem Erscheinen in der militärischen und politischen Öffentlichkeit geradezu optimale physische, psychische und mentale Voraussetzungen: seine Körpergröße und Schlankheit, die im letzten Lebensjahrzehnt vom Niederschlag vieler Staatsbankette in Bauchhöhe sichtbar unterbrochen war, sein langer Hals und seine große Nase sowie ausladende, oft symbolisch befrachtete Gesten, v.a. das sog. Victoire-Zeichen; seine Tendenz zu feierlichen Selbstinszenierungen meist, wenn auch nicht nur, in Uniform und mit dem grotesk-konsequenten Folgeritual, noch als Präsident und selbst von ausländischen Zivilisten «mon Général» tituliert werden zu wollen; und dies in symbolischen Räumen (Elysée-Palast) und stets auf alle Anwesenden überragenden Podien, unter Lüstern und vor Säulen oder Brokatvorhängen, oft auch umgeben von patriotisch-gaullistischen Symbolen und Zeichen (croix lorraine, tricolore, hexagone als geometrische oder geografische Miniatur); sein notorischer Hang zu persönlicher wie politischer Monomanie und einsam-autoritären Entscheidungen, der medial durch physische Distanz und/ oder Überhöhung/ Hyperbolisierung seiner Person zu allen Funktionsträgern seines Regimes inszeniert wurde; schließlich auch der von ihm erwirkte Zuschnitt der nach seiner „Machtergreifung“ in Auftrag gegebenen Verfassung auf seine Person bot - bis heute - eine Fülle von Ansatzpunkten für seine bildsatirische Be- und Verarbeitung. 2 145 2. De Gaulle in der Bildsatire vor und während der Maiereignisse 1968 Mit de Gaulles staatsstreichähnlicher Installation als Minister- und später gewählter Staatspräsident im Jahr 1958 setzte eine üppige (auch inter)nationale Produktion von Karikaturen vor allem für Tages- und Wochenzeitungen ein, die in Frankreich schon bald damit begann, das politische Handeln oder Versagen (vieler Angehöriger) des gaullistischen/ UNR-Establishments auf seine Leitfigur Charles de Gaulle zu fokussieren, weil dieser es politisch-real und in den bildsemantisch verfügbaren satirischen Vorgaben für Karikaturzeichnung gleichermaßen ideal zu repräsentieren vermochte. Mehrere Blätter und Zeichner bildeten so topologische oder narrative Muster aus, an die täglich oder wöchentlich zeichnerisch-narrativ und gleichzeitig leserbindend angeknüpft werden konnte: so etwa Jacques Faizants bei Jean Effel kopiertes 3 ungleiches Paar, ein großer de Gaulle, der ab 01/ 09/ 60 in Paris-Presse 4 und später bis zu de Gaulles Tod im Figaro einer albern kindlichen Marianne machistisch zeigt, wo es langgeht; ferner im Canard enchaîné der Zeichner Roland Moisan zusammen mit dem Chefredakteur des Blattes Roger Fressoz unter dem Pseudonym André Ribaud, die dort über Jahre eine „chronique de la cour“ mit Texten à la Saint-Simon und einer üppigen Illustration auf Basis der Analogie „Charles de Gaulle ~ Louis XIV“, aber auch aus dem französischen Hofleben anderer Epochen lieferten. Ähnlich verfuhren der rechtsradikale Pierre Pinatel in seiner Zeitschrift Le Trait und in Minute, der Linksanarchist Siné (d.i. Maurice Sinet) in L’Express, Siné-Massacre, Charlie-Hebdo u.a., der damalige Kommunist Louis Mitelberg lange in L’Humanité und ab 1958 als (postkommunistischer) Tim bis fast an sein Lebensende in L’Express. Die wichtigsten politischen Pressezeichner in Frankreich hatten so schon lange vor der Maikrise ihre de Gaulle-Typologien und -Schemata entwickelt und konnten bei Zuspitzung der politisch-sozialen Verhältnisse ab 1967 v.a. in der Studentenschaft und im Industrieproletariat ihren je eigenen Fundus nutzen, bzw. durch Rückgriff auf andere, z.T. ältere satirische Krisen- Techniken verschärfen. Und neue Zeichner wie Blätter kamen just in und wegen der Krise zum Bestand hinzu. Wichtigste, wenn auch nur relativ kurzlebige supports der Maikrise waren der von Siné und Georges Wolinski gegründete, unregelmäßig und von Mai bis November in nur 12 Nummern erschienene L’Enragé, in dem überwiegend aktuelle Pressezeichnungen, Plakate, Collagen, Slogans und autocollant-Entwürfe u.ä., daneben aber auch Bildzitate aus L’Assiette au Beurre, Texte von Pottier und Prévert, aktuelle Personenlisten, Presseauszüge und Leserbriefe erschienen. Ähnliches gilt für die von Studentenschaft und linken Bündnissen lancierte etwa von Mai 68 an ein Jahr lang unregelmäßig und in variabler Größe erschienene Action mit rund 50 publizierten Ausgaben. Die Zeichner beider waren übrigens großenteils dieselben, arbeiteten honorarfrei und erlaubten, wie die Textproduzenten beider Blätter, mit Ausnahme des Figaro 5 jedem die kostenlose agitatorische Wiederverwertung ihrer Produkte. Erklärtes Ziel dieser beiden Kampfblätter waren die 146 Schwächung und wenn möglich der Sturz des gaullistischen Regimes. So kann es kaum verwundern, daß die Fokussierung auf den Präsidenten bei Bild- und Textanteilen gleichermaßen dominierte und auf die Demontage von Person und Amt mit allen verfügbaren sprachlichen und grafischen Instrumenten unter Einschluß krassester Tabuverletzungen gerichtet war. Im Folgenden werde ich wegen der Fülle des Materials 6 selbst in dieser Agitationspresse ohne feste Periodizität zu dessen Sichtung von Themen der Ebene der grafischen Bildoberflächen (signifiants) ausgehen und erkennbare semantische Ziele und ihre Strategien zu erläutern suchen. 2.1 Methoden der aggressiven Demontage von Person und Amt des Präsidenten 2.1.1 Doppelte Tabuverletzung durch körperliche Nacktheit und sichtbares Schamhaar Anstößige Verletzungen erlaubt insbesondere eine das Nacktheitstabu betreffende, vermutlich um 1790 aus dem in Sachen Bildzensur liberalen England ins revolutionäre Frankreich übernommene, aggressive Technik, die ich schon 7 exemplarisch untersucht und als „sexuelle bzw. skatologische Metaphorisierung oder Inszenierung politisch, sozial, ideologisch oder anderweitig begründeter Angriffe“ in Karikatur und Bildpamphlet (154) bezeichnet habe. Dieser Technik bedienten sich - mit einem Höhepunkt um 1967/ 68 - fast alle Zeichner der link(sanarchisch)en Szene, allen voran schon ab 1960 Siné in L’Express und seinem Blatt Siné-Massacre, bald darauf - ebenfalls ab 1960 - Cabu, Gébé, Nicoulaud, Reiser, Willem und Wolinski als Kernmannschaft der Blätter Hara-Kiri [mensuel] und Hara-Kiri Hebdo, das, wegen seines Covers nach de Gaulles Tod im November 1970 verboten, als Charlie-Hebdo über Jahre erfolgreich noch bis Januar 1982 weiterlebte. Der Canard enchaîné indes respektiert bis auf den heutigen Tag die Moral seiner (klein)bürgerlichen Leserschaft und achtet - bei aller virtuosen Handhabung sprachlicher Zweideutigkeiten - auch vor deren Tabus, besonders durch Verzicht auf obszöne Bildmittel. 8 Hier sei für dieses Verfahren im Jahr 1968 und auf den Präsidenten angewandt der karikaturale Erstling (Abb. 1) des jungen Architekten Jean-Jacques Loup exemplarisch vorgestellt: 9 Charles de Gaulle als nackte abgetakelte Nutte (so Deligne 10 )! Loup knüpft, was Deligne nicht gesehen hat, an die Demontage absolutistischer Monarchen(porträts) durch Reduktion auf nackte, von Alter und Verfall entstellte Körperlichkeit an, 11 verweiblicht den „Herrscher“, wohl kaum zufällig als Gegenstück zur „Heiligen“ und Vaterlandsretterin Jeanne d’Arc, mit deren Vorbild er selbst und die gaullistische Propaganda den General ja ebenso gern assoziierte wie seine moderaten satirischen Kritiker Effel, Moisan im Canard und Tim im Express. 12 Unterhalb der Fettrollen und als Blickfang und Bildzentrum zwischen den massigen Schenkeln das provokante zweite Tabu: zur Schau gestelltes Schamhaar 13 und dies auch noch als V[ictoire]-Zeichen mit Lothringer-Kreuz darin zurechtrasiert, im Gegensatz zum struppigen Achselhaar und einer spielerisch bei 147 Ronald Searle entlehnten, von der Rechten der Dame berührten Frisur des schmalen Kopfes am lange n Hals. Auch das so stilisierte Schamhaar ist ein von Deligne übersehenes Zitat, denn der rechtsradikale Pierre Pinatel hatte sowohl den splitternackten Präsidenten (Abb. 2) wie die Marianne schon früh, im zweiten Jahr der V. Republik, damit kenntlich gemacht. 14 Den männlichen höchsten Repräsentanten von Volk und Staat als alte Hure zu verweiblichen und die Lothringer Variante des wichtigsten christlichen Symbols Kreuz als Zierde ihres fragwürdigen Erwerbsorgans ins Bild zu setzen, ist sicher eine schwer überbietbare Attacke auf die Person des Präsidenten wie auf die Wertcodices der bürgerlichen Gesellschaft als Trägerin seines Regimes. 2.1.2 De Gaulle als Frankreichs „Führer“ nebst „seinen“ CRS=SS Der erst 1968 nach seiner Starrolle in der Amsterdamer Provo-Bewegung nach Paris gekommene Willem (Bernhard Willem Holtrop) übersetzte den bei Studenten und Arbeitern beliebten Slogan CRS=SS - vgl. dazu Sinés Skizze im selben Heft, 5: C’est un pléonasme! - in ein Cover für die 4. Ausgabe des Enragé, 15 dessen „G“ im Kopf des Titels aller 12 Nummern übrigens aus dem sowjetischen Symbol Hammer und Sichel gebildet ist. Willem läßt auf rotem Grund und schwarzen SS- Runen einen weiß belassenen beinamputierten Präsidenten in Uniform, in ein klar in den Farben der Naziflagge angelegtes Bild humpeln. Siné zeigt im gleichen Heft de Gaulle, wie er sich vor dem Spiegel als Hitler herrichtet: - Ça me rajeunit! und die acht Seiten des 5. Heftes vom 24/ 06 mit Hitlerporträt und dem Slogan Ein Volk, ein Reich, ein Führer! als Cover und mit Reproduktionen von Nazi-Propagandaplakaten setzen diese Identifikation fort. Schließlich werden in Heft 10 16 aus Anlaß der „Säuberungen“ bei der ORTF in einer langen Namensliste drei Fotos zeichnerisch entsprechend manipuliert. Die Identifizierung des gaullistischen mit dem Nazi-„Führer“ als Personen wie die über ihre Symbole dürfte genetisch auf de Gaulles monoman-antiquierten Modellen für Verfassung und Regierung und auf der Bündelung aller Entscheidungen bei oder in seiner Person als Analogie zum Nazisystem beruhen, ferner auf Parallelen zwischen den blutigen Inlandseinsätzen der paramilitärischen Schlägertrupps CRS mit (meist algerischen) Toten und denen der in Frankreich nicht in Erscheinung getretenen und dort deshalb meist mit der SS verwechselten deutschen SA gegen deutsche Juden. Auch Lothringer und Hakenkreuz sind von Siné ganz wörtlich verbandelt (Abb. 3) und letzteres durch ihn mit einem CRS-Schläger aufgefüllt (Abb. 4) und so „gaullisiert“ worden. 17 2.1.3 De Gaulles antizipierter Tod Eine weitere provokante Inszenierung de Gaulles geschieht über die bildliche Vorwegnahme seines Todes, zuerst Roland Topors aus einem Gewässer mit gekräuselter Oberfläche ragender fliegenumschwärmter teilverwester Kopf, 18 auf dessen Scheitel und linkem Ohr sich neun Ratten tummeln. Die ausgezackte Nase zeigt einen langen Schenkelknochen, die weggefaulten Lippen haben die Zähne freigelegt und über der Wasserlinie ist am Hals ein freigelegtes Stück Wirbelsäule sicht- 148 bar. Diese Degradierung des lebenden Präsidenten zum für Parasiten attraktiven Kadaver ist die krasseste Variante. Cabu und Pestre zeichnen den Verstorbenen in den nächsten Ausgaben des gleichen Blattes eingesargt. Bei Cabu 19 bemühen sich 10 Leichenträger (Abb. 5), den riesigen mit vielen Griffen bestückten Sarg des mit zum V-Zeichen gespreizten Armen verstorbenen und im Sarg liegenden Generals mit dem Ausruf - Alors, il nous emmerdera jusqu’au bout, celui-là... durch die Säulen des Panthéon zu manövrieren, während in Pestres schlichterer Skizze 20 zwei Leichenträger, deren Rechter des Generals uniformierte Unterschenkel mit Schuhen daran wie Griffe einer Bahre trägt, alldieweil der Linke die zum V-Zeichen gespreizten Arme umfaßt und so die Kopfseite der Bahre transportiert. Arme und Beine ragen wegen Überlänge aus Löchern eines seitlich mit Lothringerkreuz und V-Zeichen bemalten Sarges in der Größe seiner Träger, auf dem das képi mit den zwei Sternen ruht. Vielleicht inspiriert durch Sinés aufgespießten Präsidentenkopf 21 in Heft 1 liefert Bosc ein schönes gezeichnetes Coverbild für Heft 6: 22 vor dem Straßenportal des Elysée-Palastes salutieren zwei ordenbedeckte Uniformierte, indes ein Revoluzzer mit rotem Hemd, de Gaulles offenbar guillotinierten Kopf auf einer Lanzenspitze trägt. Alle vier Personen tragen zumindest identisch große Nasen. Zwei Tage nach dieser vollzogenen Fin d’un ci-devant erscheint eine halbseitige Zeichnung Roland Moisans als 1. Seite des Canard enchaîné (Abb. 6) mit genau diesem Titel. 23 Es ist eine Zeichnung, in der de Gaulle als Verurteilter in einem Leiterwagen sitzt, dessen Pferd von einem Revolutionär mit phrygischer Mütze geführt, sowie von einem Justizangehörigen und zwei bewaffneten Wachleuten begleitet wird, die alle ebenso de Gaulles Züge tragen, wie der ci-devant und ein Plakat im Bildhintergrund mit seinem Kopfporträt. Die Funktion der Identität der fünf Personen erklärt der Slogan La Révolution avec de Gaulle 24 auf dem Plakat. Er und ein Transparent Vive la déesse Participation verweisen darauf, daß der ci-devant wohl eher - wie der Wahlsieg ja deutlich gemacht hat - seinem ciaprès denn seiner fin entgegenfährt. Die Karikaturen, die das physische Ableben ins Bild setzen, transponieren also semantisch das behauptete oder erhoffte politische Ende des betagten Präsidenten. Das dürfte auch für das Cover mit croix lorraine und der (Wunsch-)Parole crève général ( grève générale) gelten 25 . 2.1.4 Der gewalttätige Präsident Anders de Gaulles Abbildung als assassin, Vergewaltiger, Killer, Henker oder menschenfressendes Mischwesen zwischen Echse und Mensch: Topor schuf ein ganzseitiges, frontales, plakatähnliches Porträt des Präsidenten in Zivil, wo Stirn- und Nasenbereich in roter Schrift mit De Gaulle Assassin überschrieben sind und unterhalb dieser Verbalattacke etwa 50 große rote Blutstropfen auf das Gesicht zuzufliegen scheinen: 26 Siné liebt die zeichnerische Pervertierung von Zitaten aus de Gaulles Reden. So, wenn er den General (Abb. 7) unter einer Trikolore mit Speedlines und der Parole Honneur et Patrie die aus dem Mund blutende Marianne vergewaltigen, mit der Faust auf den Kopf schlagen und sagen läßt: - Je ne me retirerai pas! ... 27 Die hier obszöne Umdeutung geht auf die gleichlautende politische 149 Äußerung de Gaulles vom 30/ 05/ 1968 zurück, er werde sich nicht aus dem Amt zurückziehen. J’entreprendrai, avec les pouvoirs publics, d’ouvrir plus largement la route au sang nouveau de la France. De Gaulle: Discours du 24 Mai 1968 ist die Legende zu einer Siné-Zeichnung, auf der der Präsident mit einem Trecker ein Massengrab aushebt und befriedigt auf die zeitgleich von 5 CRS exekutierten 8 rot blutenden Gefesselten zurückschaut, die in die Grube stürzen: 28 Action 29 zeigt im Juni ein fast DIN-A-4formatiges Kopfporträt de Gaulles, das den massigen Leib eines Henkers (oder CuCluxClan-Täters? ) bildet: statt Hals zwei Beine, aus den Ohrmuscheln weisen Arme auf die riesige Nase, in der Bildmitte und über dem Haar ist der unter einer cagoule verborgene Kopf des Henkers zu sehen. Roland Topor ist übrigens mit seiner antigaullistischen Produktion für Action und L’Enragé insofern ein außerordentlicher Fall, weil seine in beiden Blättern zusammengenommen ca. 50 Zeichnungen die nahezu einzigen politischen Karikaturen im üppigen zeichnerischen Werk dieses sonst vordergründig eher unpolitischen, ungewöhnlich vielfältigen und kreativen Malers, Cartoonisten, Collagisten, Erzählers, Stückeschreibers, Filmemachers, Fotografen und Bühnenbildners geblieben sind. Was die nicht sehr entwickelten ästhetischen Ansprüche der beiden Kampfblätter in Bezug auf Bild-Ideen und -Ausführung angeht, gehören sie zum Besten, was dort zu finden ist und sind qualitativ mit den gleichzeitigen moderat-regimekritischen Blättern Moisans im Canard enchaîné oder Tims in L’Express vergleichbar, wie etwa das hintere Deckblatt zu L’Enragé, 30 dessen Würfel Schweizerkäse 10 Ratten bevölkern, die ebenso mit Kopf und (teils) Vorderbeinen aus den Löchern kriechen wie der zivil gekleidete Präsident mit zur Victoire-Geste erhobenen Armen. Von ihm stammt auch ein riesiger de Gaulle in Zivil, der eine vor Streikparolen an der Industriekulisse des Hintergrunds defilierende und Fahnen schwingende Menge winziger Menschen mit seinen bluttriefenden Schuhen niedertrampelt, in der Rechten eine Pistole und links einen Pfahl mit dem Schild Attention Ouvriers Méchants 31 sowie das Halbporträt (Abb. 8) im Linksprofil des Präsidenten, 32 dessen Nasenansatz in ein Krokodilmaul einmündet, aus dem von der soeben verschlungenen Marianne noch Kopf und Mütze nebst linkem Arm herausragen. Zu Topors surrealen Angst- und Gewaltfantasien gehört die politische Variante eines fatalen Kusses: 33 im Profil sind die Köpfe de Gaulles, links, und der Mariannes, rechts mit Mütze und entsetzt aufgerissenen Augen (Abb. 9), zu erkennen; Mariannes aus dem Gesicht gefetzte Lippen haften an den seinen. Hier handelt es sich um eine beunruhigende grafische Umsetzung des Partizips baisée zum populären baiser qn. im Sinne von hereinlegen/ betrügen. Auf die noch vielen weiteren Darstellungen de Gaulles als Gewalttäter mit Waffen und Blut als Attributen kann hier nicht eingegangen werden. Erwähnt seien nur noch zwei Hexagone-Skizzen, die ähnlich, aber nicht identisch und wohl vom selben Zeichner Michel Quarez (? ) in beiden Blättern 34 erschienen und den uniformierten General mit Nägeln im Mund und Hammer in der geschwungenen Linken zeigen, wie er auf einem geomorphen Bretterkasten hockt und ihn zunagelt, als 150 Sarg, Behältnis oder Gefängnis dessen oder derer, was oder die er - für den Bildbetrachter unsichtbar - enthält. Quantitativ bilden die Darstellungen des gewaltbereiten oder -tätigen Präsidenten die größte Gruppe der hier untersuchten Themen. Semantisch verkürzen die signifiants den gemeinten parteiischen Ursache-Wirkungs- oder Täter-Opfer-Zusammenhang meist durch Abbildung de Gaulles als persönlichen Gewalttäter, Vergewaltiger oder Menschenfresser, auch wenn oder vielleicht gerade weil die weibliche Allegorie Marianne als Opfer semantisch vage und vielfältig ist. Die Aggression dieser pamphletären Skizzen scheint im Vergleich zu den mehr auf Abnutzungserscheinungen des Regimes und dessen angebliche Parallelen zu Nazi-Praktiken eher direkt gegen die Person de Gaulles und seine moralische Integrität gerichtet. 2.2 De Gaulle als verbrauchte, ineffiziente, dem Amt nicht mehr gewachsene Spottfigur Eine größere Menge Zeichnungen inszeniert den Präsidenten als Vogelscheuche (1), von hölzernen Gestellen gehaltenes (2) oder aus Schutt, Trümmern, und Spinnweben gefügtes absurdes Müll-Denkmal ohne (3/ 4) oder mit einem Vogel Pompidou (5) auf dem Arm, als fette Matrone mit Lorbeerkranz, Hofstaat und müllberstendem Füllhorn (6), als spindeldürr auf einem muskulösen Fabeltier mit Pompidous Kopf sitzenden apokalyptischen Reiter mit Gasmaske in einer Wolke von Tränengas und von CRS-Schlägern gefolgt („Aux larmes citoyens! ...“: 7) oder Anführer anderer grotesker Umzüge („Ordre et Patrie“: 8) bzw. Schiffsladungen (9) voller alter Leute (Abb. 10), als barfüßigen Mönch (Abb. 11) mit Kutte und Schild Démocrate chretien, der das Lothringer-Kreuz mit angeflicktem Seitengewehr als Waffe trägt (10), als Verfremdung des Schalltrichters des alten Schallplattenlabels La Voix de son Maître (Abb. 12) zum Hinterteil des knienden Generals, dessen Lauten oder Düften des Hündchens Pompidou Nase zugewandt ist (11). Mit seinem Lothringer-Kreuz als Hirtenstab sieht man den Uniformierten, von dem Mailänder Bovarini gezeichnet, eine gewaltige Herde von Sparschweinen hüten (12), Flip zeigt ihn als Rollstuhlfahrer, dem sein militärischer „Betreuer“ mit einer langen Nadel in das Hinterteil sticht, während beide die participation deklinieren (13). Siné zeigt unter dem Titel Les Gaullistes ont repris du poil de la bête (14) den General mit képi als wuchtig-friedlich dasitzenden langnasigen Affen, an dessen linkem, teils schon haarlosen Arm sich 17 seiner dem Zeichner verhaßten Parteigänger, die, ein Büschel Haar in der Hand, einen Prozessionszug bilden, bedient und so die schwierige Situation bewältigt haben. Ein massiger anonym und sehr gut gezeichneter Elefant (Abb. 13) mit dem Kopf de Gaulles (15) ist semantisch schwer zu deuten (pachyderme~Dickhäuter? ). Nicht so Sabadels Schnecke mit croix-lorraine-Fühlern (16) oder Topors fettes Schwein (Abb. 14), ebenfalls mit seinem Kopf und gaullistischem Nasenring sowie einem als Wahlurne nutzbaren Schinken, wo ein Wähler seine Stimme einwirft, während es im Hintergrund vier Dunkelmänner schon mit langen Messern bedrohen (17). Sabadel schließlich 151 verpaßt dem fast rückseitig ins Bild gesetzten schwarz-roten Gockel mit Präsidentenkopf einen Fernseher als Ausscheidungsort seiner Exkremente (18). 35 Im hier untersuchten Corpus von Agitprop-Blättern der französischen Maikrisen-Zeit ist, wie Walther Fekl ja schon für den von ihm ausgewerteten Bestand aus deutschen Zeitungen ermittelte, die tierische Verkleidung des Präsidenten auch selten: nur Krokodil, Schnecke, Affe, Elefant, Schwein und Hahn als die sechs hier vorgestellten Fälle waren in den beiden Kampfblättern zu ermitteln. Dieser kleinen Auswahl aus einer Vielzahl ähnlich kategorisierbarer Zeichnungen in L’Enragé und Action ist gemeinsam, daß ihnen ein nur geringes Aggressionspotential anhaftet, daß ihre Sujets dem Präsidenten statt Gewaltakten meist eher Realitätsverlust, eitlen Rekurs auf vermeintliche wie reale frühere Taten, Tätigkeiten oder Verdienste thematisieren und ihm monomane, denkmalhafte Selbstinszenierungen zuordnen, seine Person mithin zwar als alt, antiquiert, eitel und in der Amtsführung ineffizient darstellen, ihn damit aber eher verspotten als angreifen. 3. Schlußfolgerungen Die hier besprochenen anarchisch-pamphletären Agitpropkarikaturen zweier Publikationen aus den Monaten Mai bis November 1968 gegen Person und Amt(sführung) des betagten und durch Streiks und studentische Krawalle zutiefst verunsicherten ersten Präsidenten der V. Republik fußen einmal auf politisch-sozialen Diagnosen „französischer Zustände“ durch die Zeichner: die das Regime stützende bürgerliche Klasse wird anläßlich der Wahlen oder des 14 juillet zwar klischeehaft, aber nach den machterhaltenden Funktionsträgern differenziert und realistisch dargestellt: um de Gaulle scharen sich das Militär, oft mit Heraushebung besonders militanter oder konservativer Teile wie der paras (mit ihrem von de Gaulle aufgesuchten Exponenten Massu) und CRS auf der einen und der anciens combattants auf der anderen Seite, ferner die Justiz, die Kirche und die Medien mit einigen ihrer Stars. 36 De Gaulle selbst wird in einer kleineren Zahl von Karikaturen als persönlicher Gewalttäter inszeniert, in anderen als mit Schuß- oder Schlagwaffen fuchtelnder Anführer oder Befehlshaber mit oder ohne gewalttätige Interventionsgruppen. 37 Auch die grafische wie textliche 38 Annäherung de Gaulles an Hitler will ihn als Gewalttäter brandmarken. Die große Mehrzahl seiner Darstellungen zeigt ihn jedoch, und hier scheint die Agitationspresse für die reale politisch-soziale Situation im Lande wie die psycho-mentale Befindlichkeit der Person des Präsidenten deutlich sensibler gewesen zu sein als die offiziellen Druckmedien, in Situationen, die sein politisches Ende - natürlich im Modus des Optativs - vorwegnehmen. Dazu gehören nicht nur seine Enthauptungen und vorzeitigen Beerdigungen, sondern auch seine Verweiblichung, Amputation, grotesken körperlichen Verformungen (v.a. durch Topor mehrfach in Action), Eiterform aus einer ausgequetschten Beule 39 152 oder inkontinentes Mischwesen zwischen de Gaulle und dem Triumphbogen am nach ihm benannten Platz, in dessen Ausscheidungen seine Anhänger ertrinken. 40 Insofern nehmen diese Karikaturen, da de Gaulles Abdankung ihrer aller politisches Ziel ist, bildlich den mit den Maiereignissen eingetretenen realen Verfall seiner Macht und Präsidentschaft vorweg. Denn trotz erfolgreicher Unterdrückung der Arbeiter-, Schüler- und Studentenkrawalle, gewonnener Wahlen, Ablösung des „illoyalen“ späteren Nachfolgers Pompidou durch Couve de Murville und ideologischer Beruhigungs- und Aufrüstungsprogramme (réformes, participation, régionalisation, référendum) und deren heftiger medialer Propagierung resignierte de Gaulle politisch kaum ein Jahr später und gab am 28. April 1969 sein Amt auf. Ob sein Tod am 09. November 1969, wieder nur ein halbes Jahr nach seiner Abdankung, nicht ein Indiz für eine auch existenzielle Sinnkrise als Folge seines Verzichts sein könnte, sei dahingestellt. Die Agitationskarikatur hat jedenfalls die tiefen Blessuren der französischen Gesellschaft wie ihres Präsidenten genau zu ermitteln und im medialen Getümmel gegen ihn zu nutzen verstanden. 153 Abb. 2 Abb. 1 154 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 155 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 156 Abb. 9 Abb. 10 157 Abb. 11 Abb. 12 Abb. 13 158 1 Bei Datumsangaben wird in den Anmerkungen das Jahr 1968 im Unterschied zu abweichenden Jahreszahlen nicht aufgeführt; Ziffern hinter Zitaten, Titeln oder Quellen verweisen auf Seiten der Fundstelle. Im bibliografischen Anhang wird anders verfahren. Verweise auf Titel des Anhangs geben nach dem Kürzel Biblio dessen fortlaufende Nummer und die zitierte Seitenzahl an. 2 Vgl. hierzu Tim, Biblio 22, 50: AFP-Foto und der berüchtigte Text aus der Pressekonferenz vom 27/ 11/ 67. Dort (51f.) auch Raymond Arons Text La Conférence de presse, der den bitteren Satz enthält: L’antisémitisme d’Etat, d’un coup, devenait de nouveau salonfähig, comme disent les Allemands. (52). 3 Vgl. Biblio 12, 31. 4 Vgl. Biblio 19, 119. 5 L’Enragé 1, 24/ 05, 2. 6 In den 12 Heften von L’Enragé finden sich etwa 290 ganz oder teils karikierend gestaltete grafische Beiträge, die gesamte Folge der Action dürfte auf eine vergleichbare Zahl kommen. 7 In Ridiculosa 7, 2000, 154-164: Zu erotisch-sexuellen und skatologischen Themen und Motiven in pamphletär-karikaturalen Medien Frankreichs seit dem Absolutismus mit 8 Abb. Ferner: La mise à nu. In: Ibd., 8, 183-185 mit 3 Bildbelegen. 8 Cabu arbeitete bereits Jahre mit hochobszönen Karikaturen für die Hara-Kiri-Gruppe, als er auch vom Canard verpflichtet wurde. In einem Gespräch zu diesem Problem sagte er mir 1998: Bien sûr que je pratique une sorte d’auto-censure au Canard, mais n’oublie pas que j’ai Charlie-Hebdo pour me défouler... 9 In: L’Enragé 11, 04/ 11, 4; vgl. Alain Delignes Kommentare in: Biblio 18, 146-149 und 19, 145. 10 Biblio 18, 148. Abb. 14 159 11 Vgl. den in Ridiculosa 7, 2000, 155s. mit Anm. 2 zitierten erhellenden Aufsatz Louis Marins. Dazu kommt die Popularität der in hohen Taschenbuchauflagen nachgedruckten Arbeiten Moisans mit Rigaud. 12 So etwa Tim in Biblio 20, s.p., datiert Janvier 1967. Die Zeichnung inszeniert de Gaulle in Gestalt und Rüstung der Jungfrau mit Jehanne-Standarte auf einer seiner Pressekonferenzen, wo einer der zahllosen Journalisten fragt: - Que pensez-vous, mon général, de l’entrée de la Grande-Bretagne dans le Marché commun? - Jean Effel und Roland Moisan variierten das Motiv mehrfach für den Canard enchaîné. Vgl. Deligne in Biblio 18, 147. 13 Vgl. Deligne in Biblio 18, 147 mit Anm. 4. 14 Die Zeichnungen waren im rechtsradikalen Charivari der 50er Jahre erschienen: vgl. de Gaulle in Biblio 15, 24 und Marianne in: Le Charivari 16bis, no. spécial, août 1959, 32. 15 L’Enragé 4, 17/ 06, 1. 16 L’Enragé 10, 21/ 10, 2. 17 Abb. 3: Siné in Action 12, 18/ 06, 2. Abb. 4: Das in der Quelle schwarz-weiß-rote Hakenkreuzemblem, in dessen weißes Kreuz ein CRS eingezeichnet ist (L’Enragé 1, 24/ 05, 8), wurde übrigens in Deutschland später Vorlage für eine durch Prozesse berühmt gewordene Franz-Joseph-Strauß-Version. 18 L’Enragé 1, 24/ 05, 2. 19 L’Enragé 2, 31/ 05, 8. 20 L’Enragé 3, 10/ 06, 7. 21 L’Enragé 1, 24/ 05, 3: Eine Menschenmenge trägt de Gaulles Kopf. Verfremdend entwikkelt aus dem Politikerzitat = Bildlegende: M. Rey «Le peuple devra trancher». 22 L’Enragé 6, 01/ 07, 1. 23 Le Canard enchaîné 2488, 03/ 07, 1. 24 Kerleroux ließ in einer unsignierten Zeichnung (Action 9, 13/ 06, 2) den Präsidenten jugendlich hüpfend ausrufen: Je suis un vieux révolutionnaire. 25 L’Enragé 2, 31/ 05, 1. 26 L’Enragé 4, 17/ 06, 8 (= Heftrückseite). Action 7 vom 11/ 06 hatte zuvor schon De Gaulle assassin... assassin... assassin getitelt. 27 L’Enragé 4, 17/ 06, 2. - Die pervertierte Originaläußerung des Präsidenten: Dans les circonstances actuelles, je ne me retirerai pas... kann im Kontext nachgelesen werden bei Pierre Viansson-Ponté, Histoire de la République gaullienne. II. Le Temps des orphelins [...]. Paris, Fayard, 1971, 540. 28 L’Enragé 2, 31/ 05, 6. 29 Action 12, 18/ 06, 4. 30 L’Enragé 6, 01/ 07, 8. 31 L’Enragé 4, 17/ 06, 5. 32 Action 20, 01/ 07, 2. 33 L’Enragé 7, 08/ 07, 5. - Die unpolitischen Varianten unterscheiden sich durch umgekehrte Geschlechterrollen: Die Frauen haben die Männer verstümmelt. Belege in Gina Kekayoff, Christoph Stölzl, Topor, Tod und Teufel. [Katalog] München, Stadtmuseum, 1985, 89 und: Roland Topor, Toxicologie. Dessins [...]. Zürich, Diogenes, 1970, 84 (= Klub der Bibliomanen, 22). 34 Action 13, 19/ 06, 3 und L’Enragé 8, 01/ 08, 11. Hier wird das Hexagone-Ikon als geografische Miniatur des Mutterlandes von Soulas als menschenleerer Stacheldrahtverhau (p.10), von Blachon mit fast 200 prügelnden Uniformierten (p. 11) und von Paris (ibd.) einer Unzahl Rindviecher (den Franzosen) gefüllter Pferch genutzt. Letzterem gleichbe- 160 deutend die isomorphe Carte de la pègre in L’Enragé 2, 31/ 05, 3, während in L’Enragé 3, 07/ 06, 4 der Minipräsident weiß auf rotem Hexagone als Hand den Weg Grundsätzliches zum Hexagone als französischem lieu de mémoire vgl. Eugen Weber, L’Hexagone. In: Pierre Nora (éd.), Les Lieux de mémoire. II: La Nation. Vol. 2, pp.96-116 und wegen der völligen Bildblindheit dieses wichtigen Beitrags: Peter Ronge, Zur Semiotik der Vorstellung von Frankreich als „Hexagone“. In: Semiotische Berichte [...] 11, 2, 1987, pp. 179- 207, p. 207 auch Bildbelege zu den in dieser Anm. besprochenen Karikaturen. 35 (1) Roland Topor in: L’Enragé 1, 24/ 05, 5; (2) Godot in: Ibd. 3, 07/ 06, 2; (3) Anonym in: Ibd. 4, 17/ 06, 2; (4) mit unleserlicher Signatur in: Ibd. 3, 10/ 06, 4; (5) unleserliche Signatur in: Ibd. 2, 31/ 05, 5; (6) Anonym in: Action 20, 01/ 07, 1; (7) Flip in: L’Enragé 2, 31/ 05, 3; (8) Flip in Ibd. 3, 10/ 06, 3; (9) Flip in: Ibd. 4, 17/ 06, 2; (10) Anonym (Cabu? ) in: Ibd. id., 7; (11) Cabu in: Ibd., id., 6; (12) Maurizio Bovarini in: Ibd.10, 21/ 10, 3; (13) Flip in: Ibd. 7, 08/ 07, 4; (14) Siné in: Ibd. 3, 10/ 06, 2-3; (15) Anonym in: Ibd. 8, 01/ 08, 15; (16) Sabadel in: Ibd., 4, 6; (17) Roland Topor (unsigniert) in: Action 15, 21/ 06, 2; (18) Sabadel in: L’Enragé 11, 04/ 11, 4. 36 Das Themenheft Les Gaullistes (L’Enragé 3, 10/ 06) bietet allein auf der Doppelseite 2-3 vier und mit Cardons On en a ras le bol! (7) sogar fünf derartige Blätter, weitere in Heften 2, 2 (Cardon), 4, 2 (Flip) und 8, 12-13 Cabu). 37 So Flip in L’Enragé 2, 31/ 05, 3; Lagneau (L’Enragé 3, 07/ 06, 5) mit de Gaulle als fetter Marianne mit Spiegel und Schlagstock im Hermelinumhang, von 4 CRS auf dem Schild getragen; Bovarini als Schlägerdenkmal und als Träger zweier Pistolen. 38 Etwa Wolinskis subtil-hinterhältiger Dialog zweier Wähler in: L’Enragé 3, 10/ 06, 4. 39 Topor in Action 4, 05/ 06, 4 mit der Legende Videz l’abcès! 40 Topor in Action 7, 11/ 06, 4. Bibliografischer Anhang Dieser Anhang möchte dem Interessenten am Thema de Gaulle in der französischen Pressezeichnung und Karikatur nicht nur Titel zum hier präsentierten engen Zeitfenster bieten und führt deshalb monografisch auf de Gaulle bezogene Alben und Anthologien mehrerer bekannter Zeichner der V. Republik, seine Karikatur thematisierende Zeitschriftenhefte und seine Person oder Präsidentschaft betreffende Kataloge sowie die wenigen Studien zum Thema in chronologischer Anordnung auf. 1. Jean Effel, L’Unique. 97 dessins de Jean Effel (1959-1960). Paris, L’Express, 1960, unpaginiert. 2. Roland Moisan, André Ribaud [=Roger Fressoz], La Cour. Chronique du Royaume. Paris, Julliard, 1962, 211 pp. 3. Roland Moisan, André Ribaud, Le Roi. Ibd., 1962, 220 pp. 4. Jean Harold, Le Général illustré. [Photo-]Montages. Paris, Denoël, 1965, 94 pp. 5. M. L. Michel, De Gaulle. 300 caricatures et photographies. 50 dessinateurs. Nukerke, Anthologie de la caricature/ Eds. Cérès, 1967, 144 pp. 6. Roland Moisan, André Ribaud, Le Règne. Chronique de la Cour. Paris, Julliard, 1967, 223 pp. 7. Edmond Jouve, Le Général de Gaulle et la construction de l’Europe (1940-1966). T. II (=Annexes. Troisième partie: Documents iconographiques. II. Dessins politiques 1951- 1957.) Paris, Pichon & Durand-Auzias/ Librairie Internationale de Droit et de Jurisprudence, 1967, 581-942 (=Bibliothèque constitutionnelle et de science politique, XXV) 161 8. Le Petit de Gaulle illustré. [=] Le Crapouillot. Magazine non conformiste. N.S. 1, hiver 1967-68, 90 pp. 9. Roland Moisan, Dix ans d’histoire en cent dessins. Paris, Albin Michel, 1968, unpag. (= La Main à griffe) 10. Bosc, Si de Gaulle était petit. Paris, Pauvert, 1968, 120 pp. (= Libertés nouvelles, 8) 11. Tim [= Louis Mitelberg], Une certaine idée de la France. Paris, Tchou, 1969, 103 pp. 12. Jean-Claude Simoën, La France à travers de Gaulle [de Gaulle] à travers la caricature internationale. Paris, Albin Michel,1969, 192 pp. 13. Jacques Faizant, ... La Nature des choses. Paris, Denoël, 1970, 351 pp. 14. Pierre Pinatel, La Grande Gaullusion. Paris, L’Auteur/ Le Trait, 1970, unpag. 15. Les Grands Dessins du Général. De Gaulle raconté par la caricature. [=] Le Crapouillot N.S. 14, déc.1970-janv. 1971, 90 pp. 16. Roland Moisan, Il a été une fois. Film d’Ortrud. Paroles de Fabrice. Paris, Denoël, 1971, 167 pp. 17. Anthologie du pamphlet de la Libération à nos jours. [=] Le Crapouillot N.S. 26, août-sept. 1971, 98 pp. 18. Siegfried Kessemeier, Peter Ronge (eds.), Von de Gaulle bis Mitterrand. Politische Karikatur in Frankreich 1958-1987. [Katalog] Münster, Westfälisches Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte Münster/ Landschaftsverband Westfalen-Lippe, 1988, 355 pp. 19. Alain Deligne, Laurent Gervereau, Peter Ronge (eds.), De de Gaulle à Mitterrand. 30 ans de dessins d’actualité en France. [Katalog] Paris, Musée d’Histoire Contemporaine/ BDIC, 1989, 280 pp. 20. Tim, De Gaulle de France.Paris, Orban, 1990, unpag. 21. Andreas Damwerth, Verena Fischer, Katharina Pfister, Andrea Heister, Bianca Heldt, Peter Ronge (eds.), De Gaulle in Pressezeichnung und Karikatur. Ausstellung anläßlich seines 20. Todestages (9.11.1970) und 100. Geburtstages (22.11.1890) im Romanischen Seminar der WWU Münster, [Katalog] November 1990, [IV+]107 pp. 22. Karl-Heinz Dammer, Pressezeichnung und Öffentlichkeit im Frankreich der Fünften Republik (1958-1990). Untersuchungen zur Theorie und gesellschaftlichen Funktion der Karikatur. [Diss.] Münster, Lit-Verlag, 1994, 549 pp. (= Text und Welt, 3) 23. Yasha David (ed.), Tim: Etre de son temps 1919-2002. Dessinateur. Sculpteur. Journaliste. [Katalog] Paris, Musée d’art et d’histoire du Judaïsme/ Herscher, 2003, 224 pp. 24. Peter Ronge, Charles de Gaulle in Tiergestalt. In: Ridiculosa 10, 2003, 169-186 [version française disponible chez l’auteur]. 3: 28 162 Stephan Leopold Problematische Hegemonie, libidinöse Investition Zur Frage kolonialer Allegoriebildung am Beispiel von Albert Camus (L’Etranger) und Kateb Yacine (Nedjma) Se taire ou dire l’indicible Kateb Yacine, Nedjma I In einem seinerzeit vieldiskutierten, hierzulande gleichwohl kaum zur Kenntnis genommenen Aufsatz 1 postuliert Frederic Jameson, daß die Literatur derjenigen Länder, die Objekte kolonialer Intervention gewesen sind, notwendigerweise allegorischer Natur sei. Während sich in der kapitalistischen Kultur des Westens eine Form des Romans entwickelt habe, in der sich die Ausdifferenzierung von Privatem und Öffentlichem in einer Trennung von Poetischem und Politischem bzw. von Erotischem und Ökonomischen niederschlage, 2 charakterisiere sich die Literatur der sog. ‘Dritten Welt’ dadurch, daß die libidinöse Dynamik immer auch - oder gerade - das Politische erfasse, denn „[there,] the story of the private individual destiny is always an allegory of the embattled situation of the public third-world culture and society.“ 3 Hauptgrund hierfür ist der Objektstatus der ehemaligen Kolonien, also eine Ent-Eignung, die der nationalen Konsolidierung und internationalen Expansion der westlichen Industrienationen, wie sie Carl Schmitt am Jus Publicum Europaeum nachgezeichnet hat, 4 diametral entgegensteht. Die libidinöse Investition in das Politische wäre demnach zunächst wohl als eine Art von Nationalismus zu beschreiben, der gerade davon herrührt, daß sich die nationale Gemeinschaft nicht - oder noch nicht - zu einer imagined community im Sinne Benedict Andersons verfestigt hat, sondern diese imagined community Gegenstand des kollektiven Begehrens ist. 5 Wie man sich dergleichen vorstellen muß, hat Doris Sommer in ihrer Studie zu den lateinamerikanischen Nation-Building-Romanen des 19. Jahrhunderts gezeigt. Hier fungiert Literatur - und vor allem die romaneske Liebeshandlung - als allegorische Zusammenführung optimaler Lebenskraft, die die durch die Liebenden personifizierten, heteronomen Bereiche von Land und Stadt schließlich in einer konjugalen Umarmung verbindet, deren Frucht die ersehnte Nation ist. 6 Aus rezeptionsästhetischer Sicht erweist sich die lateinamerikanische family romance damit als eine kollektive Projektion im Sinne des Lacanschen ‘Spiegelstadiums’, bei der die „assomption jubilatoire“ eines imaginären Doppels kompensatorisch für die keineswegs homogene Verfaßtheit des politischen Körpers aufkommen muß. 7 Nun erschöpft sich Jamesons Modell allerdings nicht in dieser Form illusionärer Ganz- 163 heitsprojektion. Am Beispiel der Erzählung „A Madman’s Diary“ (1918) des chinesischen Autors Lu Xun zeigt er unter Zuhilfenahme von Freuds Fallstudie zum Gerichtspräsidenten Schreber vielmehr auf, wie der radikale Entzug von (Objekt-)Libido einen Text generiert, der in einer ‘paranoiden’ Rekonstruktion der Wirklichkeit besteht. 8 Auf diese Weise zerbricht die Oberfläche illusionärer Ganzheit zugunsten einer „terrifying objective real world“, die im Fall von „A Madman’s Diary“ in dem schrecklichen Verdacht seitens des hypodiegetischen Erzählers/ Protagonisten besteht, daß seine Mitbürger allesamt Kannibalen seien. 9 Nun wird man einwenden, daß dergleichen für die Literatur der Moderne keineswegs untypisch ist, und Autoren wie Poe (z.B. The Fall of the House of Usher [1837]), Dostoevskij (Der Doppelgänger [1846]) oder Maupassant (Le Horla [1887]) diese Form von paranoider Wirklichkeitsrekonstruktion ebenfalls aufweisen. Der entscheidende Unterschied zwischen denjenigen Autoren, die man mit Tzvetan Todorov als Vertreter der ‘phantastischen Ambivalenz’ bezeichnen könnte, 10 und Lu Xun besteht nun aber Jameson zufolge in der Kolonialsituation, vor deren Hintergrund der chinesische Autor schreibt. 11 Eine in China spezifisch libidinös konnotierte Aktivität wie das Essen, die zudem einen ganz wesentlichen Teil der kulturellen Selbstwahrnehmung ausmacht, fällt so zusammen mit einer Entdifferenzierungsdynamik, bei der sich die autochthone Bevölkerung in ihrem Überlebenskampf gleichsam kannibalisch selbst aufzehrt. Aus diesem Blickwinkel ergeben sich nun zwei, wesentlich voneinander zu unterscheidende Typen kolonialer bzw. postkolonialer Allegorie, die sich mit Homi K. Bhabhas Begrifflichkeiten des ‘Pädagogischen’ und des ‘Performativen’ näherhin spezifizieren lassen. Die family romance lateinamerikanischer Prägart wäre demnach insofern pädagogisch, als sie eine historisch-dialektisch g e w o r d e n e postkoloniale Nation in ihrem teleologischen Kulminationspunkt festschreibt und damit ein gleichermaßen literarisch e r z e u g t e s wie spekulares Identifikationsmodell bereitstellt. Das Performative begreift Bhabha als dem Pädagogischen zumindest partiell widerständig, da es in einer je individuellen Realisierung des Pädagogischen besteht und mithin immer schon eine potentielle Dissemination in sich birgt. 12 Auf Lu Xuns Erzählung übertragen, könnte man daher sagen, daß die paranoide Performanz des hypodiegetischen Erzählers gerade darin besteht, das Pädagogische - wonach der koloniale Status quo durchaus in Ordnung sei, da man ja auch weiterhin offizielle Posten einnehmen könne - durch den ‘unheimlichen’ Zusammenschluß von kulinarischer Libido und Kannibalismus zu zersetzen. 13 Das Pädagogische, wie es bei Lu Xun aufscheint, erweist sich vor diesem Hintergrund als ein der subjektiven Wahrnehmung des Erzählers gegenläufiger Diskurs - als ein Diskurs also, der zur Dämpfung ‘paranoider’ und in letzter Instanz antikolonialer Affekte beitragen kann oder soll. Dies gilt umso mehr, als sich Kolonialsituationen seit der Frühen Neuzeit ihrerseits auf pädagogische Narrative - sei es auf die Evangelisierung, sei es auf die white man’s burden des zivilisatorischen Auftrags - stützen, die zusammen mit den daraus ableitbaren Ab- und Ausgrenzungsstrategien auf der Seite des Kolonisier- 164 ten jenen Inferioritätskomplex bewirken, den Frantz Fanon als ein wesentliches Machtmittel über die autochthone Bevölkerung beschrieben hat. 14 In einer Kolonialsituation erfüllt das Pädagogische also nicht nur die Funktion, die ökonomische Ausbeutung eines militärisch unterlegenen Volkes im Namen eines höheren Ziels zu legitimieren, sondern dient auch zur gleichermaßen diskursiven wie materiellen Schaffung einer durch kulturelle Asymmetrie und ethnischen Substantialismus begründeten Unterlegenheit, die es erlaubt, die Kolonialsituation auf unbestimmte Zeit aufrecht zu erhalten. 15 Das Pädagogische, wie es die Kolonialmacht zu ihrem Erhalt hervorbringt, ist demnach als ‘strategisch’ im Sinne Michel de Certeaus zu begreifen, da es über einen Ort - die koloniale Infrastruktur - verfügt, von dem aus der stratifikatorische Diskurs geäußert werden kann. 16 Dies heißt nun aber nicht, daß das strategische Moment des Hegemonialdiskurses immer auch als solches wahrgenommen wird. Folgt man Fanon, so zeigt sich ja gerade, daß für das dauerhafte Funktionieren einer Kolonialsituation die Internalisierung des Pädagogischen unabdingbar ist - und das sowohl auf Seiten der Kolonialherren als auch auf Seiten der Kolonisierten. Dieses bis zu einem gewissen Grad unbewußte Moment rückt das Pädagogische schließlich in beträchtliche Nähe zu Louis Althussers Konzept der Interpellation, besteht doch für Althusser das Wesen der Interpellation nicht so sehr in der ereignishaften Anrufung des Individuums durch ein machtvolles Anderes, als vielmehr in der freiwilligen und reibungslosen Annahme einer von der symbolischen Ordnung des Staatsapparats bereitgestellten Subjektposition. Das Althussersche assujettissement ist damit eine Übertragung des Lacanschen Spiegelstadiums auf die Ebene der Ideologie - und das insofern, als es eine Identifikation mit einem Ideal-Subjekt (in unserem Zusammenhang etwa dem idealen Kolonialbeamten oder dem von seiner Inferiorität überzeugten Unterworfenen) voraussetzt, mit der die Anerkennung durch das Kollektiv (hier die koloniale Administration) einhergeht. 17 Bedenkt man diesen spekularen Aspekt des Pädagogischen, so wird man freilich auch Bhabhas Setzung, wonach schlechterdings jede Performanz disseminatorisch sei, nochmals zu überdenken haben. Slavoj Žižek hat in ähnlichem Zusammenhang zurecht bemerkt, daß jeder Interpellation immer ein Maß an Exzeß, d.h. an Uneinholbarkeit innewohnt, ohne das die individuelle Realisation gar nicht zu leisten wäre und - in unserem Fall - eine tatsächliche Kolonialsituation auch nicht funktionieren könnte. 18 Das Performative, wie es sich an Lu Xuns Erzählung abgezeichnet hat, weist hier in eine andere Richtung, besteht doch die ‘paranoide Realisierung’ des Erzählers gerade in einer Zersplitterung des ideologischen „tout ira bien“ und folglich in einer Dissemination, wenn nicht Subvertierung des Pädagogischen. Eine wesentliche Rolle scheint hier die von Jameson konstatierte Abkehr der (Objekt-)Libido zu spielen, denn in dem Maße, wie das Subjekt sich nicht mehr mit der spekularen Imago identifiziert, in dem Maße also, wie eine „assomption jubilatoire“ des imaginären Doppels unmöglich wird, verliert auch die Interpellation ihre bindende Kraft, und das Subjekt fällt aus der symbolischen Ordnung. Anstelle des noch wesentlich unbewußten assujettissement tritt nun eine paranoide Be- 165 wußtheit, bei der die von dem spekularen Objekt der Ideologie abgekehrte Libido eine unheimliche Liaison mit dem (kolonisierten) Volkskörper eingeht und die koloniale Wirklichkeit als furchterregende Kannibalenszene rekonstruiert wird. Auf der Ebene des politisch engagierten Autors, der Lu Xun zeitlebens gewesen ist, müßte man diese Form der Nationalallegorie dann wohl auch als ‘taktisch’ im Certeauschen Sinne bezeichnen, denn anders als das hegemoniale Narrativ des Pädagogischen hat sie keinen eigenen Redeort und muß sich daher parasitär des strategischen Diskurses des Anderen bedienen. 19 Schematisch betrachtet ergeben sich so für das koloniale Dispositiv zwei einander gegenläufige Artikulationsbedingungen und -formen: Einmal ein Pädagogisches, bei dem sich das Performative innerhalb der exzessiven Interpellation ansiedelt und damit diskursstützend wirkt; einmal eine Performanz, die gleichsam konterdiskursiv das Pädagoische allegorisch unterwandert. 20 Für die erste Form ließe sich die Stereotypbildung in kolonialspezifischem Schrifttum und Kino stark machen, die, wie Bhabha zurecht bemerkt hat, in einer fetischistischen, also ihrerseits libidinös besetzten Arretierung des Anderen besteht und durch eben diese Arretierung (im Sinne substantialistischer Rassenmerkmale) den Anderen erst als unvollkommenes Gegenstück zu dem intakten, narzißtischen europäischen Subjekt hervorbringt. 21 Die zweite Form kann nun diese Arretierung nicht einfach durch eine - wiederum substantialistisch zu denkende - Kultur ersetzen, da diese ‘autochthone’ Kultur ja bereits Teil jenes orientalistischen Blicks geworden ist, wie ihn Edward W. Said beschrieben hat, 22 und damit immer schon ent-eignet ist. Insofern ist es nur folgerichtig, wenn Gaytari Chakravorty Spivac, die im Rückgriff auf Foucault von epistemic violence spricht, das kolonisierte Subjekt mit dem weiblichen Subjekt in der patriarchalen Ordnung kurzschließt, denn wie der Andere der Kolonialsituation, ist die Frau immer gespalten zwischen einem auf sie geworfenen, sie als Stereotyp arretierenden Blick und einer mit diesem Blick inkommensurablen Differenz. 23 Dies heißt nun aber nicht, daß zwischen diesen beiden Polen kein Austausch stattfände. So basiert auch das in der neueren Kolonialsmusforschung so häufig bemühte Konzept der Hybridität auf einer wechselseitigen Spiegelung der Blicke - also auf einem, wenn man so möchte looking back des Kolonisierten, das den Vertreter der Kolonialmacht nicht unberührt läßt und in seiner Subjektposition destabilisiert. 24 Daß dies, an der tatsächlichen Dauer der Kolonialzeit gemessen, immer auch eine der Nachträglichkeit geschuldete Wunscherfüllung ist, bedarf keiner näheren Erläuterung. Von Belang ist jedoch, inwiefern sich diese Hybridität in kolonialen Repräsentationsformen niederschlägt, inwiefern diesen Repräsentationen also eine Verunsicherung eingeschrieben ist, die das Pädagogische in eine Performativität kippen läßt, die nicht mehr bruchlos mit der kolonialen Interpellation zu verrechnen ist. In letzter Instanz führt diese Überlegung schließlich zu Jamesons Konzept der Nationalallegorie zurück, und zwar insofern, als so die kolonialen Repräsentationsformen aus dem totalisierenden Narrativ von Akkulturierung und Assi- 166 milation ausscheren und mithin ihrerseits Allegorien problematischer Hegemonie darstellen. Diesen häufig unterschätzen Aspekt möchte ich nun in einem ersten Analyseschritt an Albert Camus’ frühem Roman L’Etranger (1942) nachzeichnen, der sich vielleicht noch stärker als Lu Xuns Erzählung durch die Abkehr von (Objekt-)Libido seitens des Erzählers/ Protagonisten auszeichnet. Anders als in „A Madman’s Diary“ kommt es in L’Etranger aber zunächst nicht zu einer paranoiden Rekonstruktion der Wirklichkeit, sondern zu einer Erfahrung des Absurden. Letzteres hat sicher dazu beigetragen, daß man L’Etranger - zumindest außerhalb von Algerien - lange Zeit als einen philosophischen Roman gelesen hat, bei dem das Setting und der Mord an dem ‘Araber’ nur den akzidentellen Anlaß für eine allgemeingültige Reflektion auf die Absurdität des menschliche Daseins darstellt. 25 Daß die Abkehr der (Objekt-)Libido indes durchaus kolonialspezifische Implikate hat, wird spätestens im zweiten Romanteil deutlich, wenn der Untersuchungsrichter Meursault dazu bewegen will, sich (freiwillig) mit dem Kruzifix und den spezifisch christlichen Werten des Mutterlandes zu identifizieren, Meursault dies jedoch ablehnt. Letzteres hat keine unbeträchtliche Auswirkung auf das Absurde des Romans, daß dann ja weniger von einer an sich sinnlosen Welt herrührt als vielmehr von der Tatsache, daß Meursault, indem er den ‘Araber’ tötet, zwar der unbewußten Aggression der Kolonialherren gegen den Anderen Ausdruck verleiht, indes eine bewußte Annahme der Interpellation durch das Symbolische - und damit seine keineswegs unnmögliche Rettung - zurückweist. Welche Implikationen diese Aporie für eine kolonialspezifische Lektüre des Romans haben kann, wird daher eine der Fragen sein, die es zu beantworten gilt. Anders als in Europa hat man L’Etranger auf nordafrikanischer Seite von Anfang an als einen kolonialspezifischen Text gelesen - und dies nicht immer zum Vorteil des pied-noir Albert Camus. 26 Zugleich ist L’Etranger aber auch das Initium eines writing back, das in Kateb Yacines während des Algerienkriegs erschienenen Roman Nedjma (1956) seine wohl berühmteste Ausformung gefunden hat. 27 Ausgangspunkt von Nedjma ist dabei nicht zufällig das in L’Etranger dem ‘Araber’ zugeordnete Messer, das zwischen den männlichen Protagonisten zirkuliert und sich wie ein Weberschiffchen durch den Text zieht. 28 Während bei Camus der Andere jedoch ein als Stereotyp arretierter, kaum Konturen annehmender Arabe war, entfaltet Kateb ein wirres Netz genealogischer und ethnischer Verflechtungen, in dem sich Vielheit und Einheit in unausgesetzter Dialogizität überlagern und dessen evasives Zentrum die von allen begehrte Nedjma ist. Als Objekt kollektiver libidinöser Fixierung ist die änigmatische, multiethnische Nedjma zugleich - wie ihr arabischer Name besagt - ein Stern und damit eine Figur der Dezentrierung. Keiner der Protagonisten wird Nedjma je für sich gewinnen und doch ist es gerade der durch sie getragene (romaneske) Aufschub in Zeit, Raum und Sprache, der den Text erst konstituiert. Die (national-)allegorische Dimension des Textes wird umso deutlicher, wenn man hinzunimmt, daß dieses déplacement seinen traumatischen Kern im Massaker von Sétif des Jahres 1945 hat - einem Ereignis, bei dem sich die Kolo- 167 nialmacht insofern als souverän im Sinne Giorgio Agambens erweist, als der Ausnahmezustand die vom Gesetz ungeschützte nuda vita, das tötbare Leben des homo sacer, hervorbringt. 29 Die damit verbundene Anomie verlängert sich auf die Figurenebene, wenn zwei der Protagonisten in der direkten Konsequenz des Ereignisses ihres Studentenstatus verlustig gehen, sie also aus der symbolischen Ordnung herausfallen und sich in einer prekären in-betweenness zwischen metropolitaner Akkulturierung (dem Pädagogischen) und autochthoner Rückbesinnung (dem Performativen) befinden, die auch am Ende des zirkulären Romans nicht (dialektisch) aufgehoben wird. Nedjma - das wäre die hier vertretene These - erweist sich damit nicht nur als eine Antwort auf Camus, sondern auch als ein Text, der Jacques Derridas Konzept der différance von 1968 um gut zehn Jahre vorwegnimmt und es - dies im doppelten Sinne avant la lettre - als wesentliche Denkfigur (post-)kolonialer écriture inauguriert. 30 II Neben der sich wesentlich auf Camus’ essayistische Selbstaussagen stützenden Lektüre hinsichtlich des Absurden hat L’Etranger schon früh eine psychoanalytische Deutung erfahren, die sich grosso modo auf den sog. ‘Ödipuskomplex’ reduzieren läßt. 31 Meursaults Weigerung, um seine Mutter gebührend zu trauern, entspräche demnach keiner Hartherzigkeit, sondern vielmehr einer zu großen - also ödipalen - Liebe, deren Verdrängung jenen Abzug an (Objekt-)Libido bewirkt, die ihrerseits Meursaults Indifferenz seiner Umwelt gegenüber mit sich bringt. Meursault wäre damit ein Melancholiker im Sinne Freuds, der den Verlust des Liebesobjekts durch eine „Regression der Libido ins Ich“ kompensiert und sich eben deshalb von der Objektwelt zurückzieht. 32 Diese nicht selten auf den Autor Camus und dessen Verhältnis zu seiner alleinerziehenden Mutter orientierte Lesart läßt sich noch um die Homophonie von la mère und la mer erweitern, und so würde sich wohl auch Meursaults sekundäre Affektbindung an das Meer erklären, die ja erstmals am Tag nach der Beerdigung thematisch ist und Meursault in die Arme des Ersatzobjekts Marie führt. 33 Wenn ich mich dieser Deutung nicht anschließen möchte, so zum einen deshalb, weil ich glaube, daß sie jener von Jameson konstatierten Ausdifferenzierung von Psychischem und Politischem geschuldet ist und damit an der Affektdynamik der Kolonialsituation vorbeigeht, zum anderen weil ich denke, daß sie einem übergebührlichen Mimetismus verpflichtet ist und also den Verlust der Mutter auf der Figurenebene mit dem Symptom des Textes verwechselt. Ich möchte daher mit einer kurzen raumsemantischen Lektüre des ersten Romanteils beginnen. Einen Schritt in diese Richtung hat bereits vor längerem Wolf- Dietrich Albes getan, wenn er etwa den Strand, auf dem der Mord geschieht, als eine fremdbesiedelte, den pieds-noirs zugehörige Zone ausweist, die durch den ‘Araber’ verstellte Quelle hingegen einem autochthonen Hinterland zuschlägt, das 168 zugleich auf ein Algerien verweist, das dem Europäer - dem ‘Fremden’ - eben nicht zugänglich ist. 34 Damit wäre die Topologie des Romans antinomisch im Sinne Jurij M. Lotmans, und es ergäbe sich ein über die tatsächliche Raumordnung modellierter ‘künstlerischer Raum’, der sich semantisch in einen Raum der Landnahme und das (in weit stärkerem Maße autochthone) Hinterland unterteilt. 35 Die Süßwasserquelle spielt hier insofern eine zentrale Rolle, als sie dem salzigen Meer gegenübersteht, das in Anbetracht der Badeszenen und der oben angesprochenen Homophonie von la mère und la mer wiederum dem Raumteil der piedsnoirs zuzuschlagen sein dürfte. Letzteres wird umso deutlicher, wenn man sich in Erinnerung ruft, daß Meursaults berufliche Tätigkeit in der kaufmännischen Abwicklung des kolonialen Export/ Import-Handels besteht und räumlich im Hafen von Algier angesiedelt ist - an jenem Ort also, wo die Produkte der Kolonie nach dem Mutterland verschifft werden und an dem Meursault am Tag nach der Beerdigung erstmals mit Marie badet. Vor diesem Hintergrund wäre das Auftauchen der ‘Araber’ auf dem Strand ein Moment der Transgression, das die koloniale Raumordnung in Frage stellt. Meursaults Schritte auf die Quelle zu ließen sich hingegen als ein Übergriff auf eine gleichsam metaphysische Essenz lesen, die die koloniale Landnahme bei weitem übersteigt und in Richtung eines paradoxalen going native zielt. Dieses going native steht nun aber in engem Zusammenhang mit dem Meer und wird über die zunehmend dunklere Hauttönung von Meursault und Marie isotopisch vermittelt. Gleich nach der ersten Badeszene im Hafen von Algier ruft Marie aus: „Je suis plus brune que vous.“ (35) 36 Maries von der Sonne gebräunte Haut stellt für Meursault eine wesentliche erotische Attraktion dar. Im Zuge eines neuerlichen, eine Woche später unternommenen Badeausflugs an einen Strand in der Nähe von Algier konstatiert er daher: „J’ai eu très envie d’elle [...]. On devinait ses seins durs et le brun du soleil lui faisait un visage de fleur.“ (58) Aber schon am Abend ist Marie nicht mehr die Gebräuntere. Von der diskret beschriebenen Liebeshandlung heißt es: „J’avais laissé ma fenêtre ouverte et c’était bon de sentir la nuit d’été couler sur nos corps bruns“ (58). Wie sehr die dunkle Hauttönung nicht nur mit Sommer und Meer, sondern auch mit Algerien in Verbindung steht, wird spätestens dann deutlich, wenn Meursault gegenüber Marie auf Paris zu sprechen kommt: „C’est sale. Il y a des pigeons et des cours noires. Les gens ont la peau blanche.“ (70) Die algerische Sonne wird hingegen selbst noch am Vormittag des Mordes als durchweg positiv beschrieben. Am Strand hört Meursault seinem Gesprächspartner Masson nicht zu: „parce que j’étais occupé à éprouver que le soleil me faisait du bien.“ (82). Wenig später kommt es im Wasser zu einer wiederum diskret angespielten, abermaligen Vereinigung der gebräunten Körper von Meursault und Marie: „Nous avons fait quelques brasses et elle s’est collée contre moi. J’ai senti ses jambes autour des miennes et je l’ai désirée.“ (84) Folgt man dieser Isotopie, so ließe sich für Meursault und Marie eine zunehmende Abkehr von der ‘weißen’ Metropolis festhalten, die einhergeht mit einer Einbettung in die spezifisch algerische Natur. Dieser von freier Sexualität begleiteten 169 Rückkehr zu einem gleichsam paradiesischen Naturzustand stehen nun Meursaults Alltagswelt und insbesondere die Verhältnisse in dem von ihm bewohnten Mietshaus radikal entgegen. Während für Meursault nämlich die autochthone Bevölkerung gar nicht zu existieren scheint, ist sein Etagennachbar Raymond Sinthès in die Beziehung zu einer „Mauresque“ (54) verstrickt, in der sich unschwer eine kolonialspezifische Herr/ Kecht-Struktur erkennen läßt. Sinthès gilt allgemein als Zuhälter, und die Tatsache, daß er sich als „magasinier“ (47), also als Kontorist ausgibt, bringt sein Geschäft mit den einheimischen Frauen in beträchtliche Nähe zu jenem asymmetrischen Warenhandel, wie er die koloniale Ökonomie auszeichnet. Es geht hier allerdings nicht allein um die Ausbeutung des Anderen, sondern auch, wie Albes zurecht bemerkt hat, um die Schaffung einer irreversiblen Dependenzstruktur: „Als Zuhälter schlüpft [...] Raymond in die Rolle des Unternehmers und degradiert die prinzipiell noch relativ frei über ihre Arbeitskraft verfügende Prostituierte zur völlig abhängigen und ausgelieferten Lohnarbeiterin.“ 37 Dieses Verhältnis von Ausbeutung und Abhängigkeit hat seine außenpragmatische Entsprechung in der von Pierre Bourdieu beschriebenen Situation der algerischen Bauern, die im Zuge der Industrialisierung der Landwirtschaft ihrer traditionellen Existenzform beraubt sind und entweder zu sozial entwurzelten Billiglohnarbeitern der europäischen Agrarkonzerne oder zu Industriearbeitern in den Ballungszentren werden. 38 Die Tatsache, daß der Bruder der Mauresque „en bleu de chauffe“ (86) gekleidet ist und damit ganz offenbar dem Stadtproletariat angehört, unterstreicht diesen Aspekt. Verkörpert der magasinier Sinthès ein wesentliches Moment kolonialer Herrschaftspraxis, so kann man das Verhältnis von Salamano zu seinem Hund als Schwundstufe, aber auch als Kommentar zu dieser Struktur lesen. Meursaults zweiter Etagennachbar, in dessen Namen die sale main des Kolonialherren aufscheint, beschimpft seinen Spaniel auf den täglichen Spaziergängen bezeichnenderweise stets mit „Salaud! Charogne! “ (47). Diese bereits onomastische Abhängigkeit von Herr (sale main) und Hund (salaud) kommt in der von dem Hund auf den Herrn übergegangenen Hautkrankheit, der Räude, noch deutlicher zum Ausdruck, und als der Spaniel eines Tages verschwunden ist, bricht für Salamano eine Welt zusammen. Wie sicher er sich seiner (vermeintlichen) Herrschaft gefühlt hatte, wird offenkundig, wenn er Meursault gegenüber einräumt: „Mais je n’aurais jamais cru que cette charagone pourrait partir comme ça.“ (64) Daß Sinthès dieser Ungläubigkeitsbekundung ebenfalls beiwohnt, scheint mir dabei alles andere als zufällig. Ebensowenig, daß es bei der Begegnung von Sinthès und Salamano zu einer (ironischen) Adressatenvertauschung kommt: Quand Raymond lui [sc. Salamano] a demandé ce qu’il avait, il n’a pas répondu tout de suite. J’ai vaguement entendu qu’il murmurait: ‘Salaud, charogne’, et il continuait à s’agiter. (63) Die sich damit auftuende Parallele zwischen Hunde- und Hurenhalter wird umso offensichtlicher, wenn man bedenkt, daß Sinthès seinerseits mit einer Situation der 170 Abkehr konfrontiert ist - einer Abkehr, die er als „tromperie“ (50) auffaßt und die darin besteht, daß sich die Mauresque der in sie getätigten Investition unwert erweist und sich weigert zu arbeiten bzw. für Sinthès zu arbeiten: „Je lui ait dit que tout ce qu’elle voulait, c’était s’amuser avec sa chose.“ (51) Die damit verbundene Emanzipationsbewegung bezeichnet Sinthès in der Folge mit dem Verb manquer, das ja sowohl auf die Verfehlung zielen als auch einen Mangel beschreiben kann: „Tu m’as manqué, tu m’as manqué. Je vais t’apprendre à me manquer.“ (59) In der Verfehlung der Mauresque scheint also bereits jener Mangel auf, den Salamano zu erleiden hat. Dementsprechend hart und exemplarisch soll die Bestrafung der Abtrünnigen auch ausfallen: Après quand elle reviendrait, il coucherait avec elle et ‘juste au moment de finir’ il lui cracherait à la figure et il la mettrait dehors. (53) Nun kann man die Doppeldeutigkeit des Wortes manquer, wie dies Robert Silhol getan hat, in Anlehnung an Lacan ausdeuten und auf den L’Etranger rahmenden Mangel der Mutter beziehen. Die Bereitschaft Meursaults, seinem Etagennachbarn bei der Umsetzung des Racheplans behilflich zu sein, hätte ihre Ursache dann in einem verdrängten Haß auf die schweigsame, also immer schon ‘fehlende’ Mutter. 39 Der Mord an dem ‘Araber’ wäre schließlich das Resultat einer Identifikation mit dem phantasmatischem „père idéal et fort“, die es Meursault/ Camus erlaube, seine „mère mal-nourritrice et castratrice“ symbolisch zu töten. 40 Ein solche Lektüre ist ein Stück weit durchaus plausibel, zumal der im kolonialen Export/ Import- Handel beschäftigte Meursault seinerseits eine Art magasinier und damit in gewisser Weise auch ein Doppelgänger von Sinthès ist. Hinzu kommt, daß Meursault, wie Guido Rings zurecht bemerkt hat, einem „patron“ untersteht, der ausschließlich an seiner Arbeitskraft interessiert ist, 41 Sinthès indes durch die Ausbeutung seiner „maîtresse“ selbst ein patron wird und damit in symbolischer Hinsicht einen starken Vater darstellt. Gegen eine solche Identifikation spricht dennoch dreierlei: Meursaults Beziehung zu Marie, seine Weigerung, mit Sinthès die Demütigung der Mauresque im Bordell zu feiern, und schließlich seine Obsession für das Händewaschen, die sich nicht nur in Beziehung zu der Schmutz-Isotopie (sale main, salaud, sale Paris) setzen läßt, sondern auch deutlich genug auf Matthaeus 27.24 verweist: Quand Pilate vit qu’il n’arrivait à rien [...], il prit de l’eau, se lava les mains devant la foule et dit: / - Je ne suis pas responsable de la mort de cet homme! C’est votre affaire! 42 Meursault sagt über sich zu Beginn des III. Kapitels: Avant de quitter le bureau pour aller déjeuner, je me suis lavé les mains. A midi, j’aime bien ce moment. Le soir, j’y trouve moins de plaisir parce que la serviette roulante qu’on utilise est tout à fait humide: elle a servi toute la journée. J’en a fait la remarque un jour à mon patron. Il m’a répondu qu’il trouvait cela regrettable, mais c’était tout de même un détail sans importance. (43sq.) 171 Meursault reinigt sich die Hände also immer dann, wenn er das Büro verläßt, und der letzte Satz macht deutlich, daß die Unmöglichkeit, dies korrekt zu tun, für ihn keineswegs ein „détail sans importance“ darstellt. Ist man gewillt, die Handwaschung im Sinne von Matth. 27.24 als symbolische Reinigung eines Statthalters von seiner (Mit-)Schuld zu lesen, so ergäbe sich für die Badeszenen mit Marie wohl ein analoger Befund - und das umso mehr, als ja die Tage am Strand deutlich antinomisch zur Arbeitswelt und dem Alltag im Mietshaus stehen. Nichtsdestoweniger macht sich Meursault die Hände schmutzig, wenn er jenen Brief niederschreibt, mit dem Sinthès die Mauresque zu sich lockt, um sie zu bestrafen. Gleiches ließe sich für den Mord an dem „type de Raymond“ (92) sagen, der ja in gewisser Weise in einer Handlangerschaft besteht. Es ist daher auch symptomatisch, daß die zu Anfang antinomischen Bereiche Strand und Mietshaus durch die Verbindung zu Sinthès dekonstruiert werden und der gemeinsame Strandausflug zu den Massons nun seinerseits im Zeichen der kolonialen Herr/ Knecht-Struktur steht. Letzteres wird noch durch Maries Reaktion auf die erste Auseinandersetzung mit den ‘Arabern’ unterstrichen. Die Tiefgebräunte wird nämlich schlagartig blaß. Dieses „[e]lle était très pâle“ (88) ist eine unmögliche und damit bewußt zeichenhafte Reaktion, denn Marie verliert ihre Farbe genau in dem Moment, wo die tatsächliche Kolonialsituation in den Raum der Unschuld einbricht. Jetzt hat sie jene „peau blanche“ (70), die sie zweifelsfrei als Französin und Angehörige der Kolonialmacht ausweist. Nun könnte man hieraus folgern, daß Meuraults ‘Sündenfall’ in der Abfassung des Briefs bestehe und er eben deshalb seines littoralen Paradieses verlustig gehe. Das wäre aber nur die halbe Wahrheit, denn der Strand steht, wie Bourdieu bemerkt hat, immer schon im Zeichen der Kolonialsituation: Le ‘Pied-Noir’ se définit [par] [...] le culte du corps, c’est à dire de la jouissance, de la force et de la beauté physique, culte dont le temple est la plage.43 Die von Marie und Meursault am Meer erfahrene Annäherung an die algerische Natur erweist sich damit von vornherein als illusionär. Das erscheint mir umso wichtiger, als die Ausflüge ja zunächst in deutlicher Antinomie zur Alltagswelt stehen und die daraus entstehende körperliche jouissance Meursaults ansonsten bestehende Indifferenz aufzuheben in der Lage ist. Diese sich nicht zuletzt in freier Sexualität niederschlagende jouissance hat auf der Seite der Alltagswelt ihr Gegenstück im Weingenuß, für den Meursault von sich aus zwar nicht empfänglich ist, zu dem er jedoch in zwei Schlüsselmomenten des Romans durch Dritte verleitet wird. Hierzu gilt es sich zweierlei in Erinnerung zu rufen: Zum einen ist der Wein ein Hauptexportartikel des kolonialen Algerien und steht damit semantisch auf Seiten des pied-noir. 44 Zum anderen rät der Koran vom Weingenuß ab, und das vor allem wegen der dadurch hervorgetriebenen destruktiven Affekte. So heißt es etwa in Sure 5,91: „Der Satan will ja durch Wein und Glücksspiel Feindschaft und Haß zwischen euch erregen [...].“ 45 Dieser ursprünglich nur auf die Gläubigen - also die Muslime - bezogene Satz gewinnt für L’Etranger beträchtlich an Relevanz, 172 wenn man bedenkt, daß Meursault während der Abfassung des Briefes an die Mauresque und bei den Massons exzessiv trinkt. Der Brief, dessen Zweck ja die endgültige Demütigung der Mauresque ist, ist nicht nur das Produkt eines (kolonialspezifischen) Hasses, er fördert auch jene Feindschaft, die sich in der Strandszene am Ende des ersten Romanteils gewaltsam entlädt. So in Anschlag gebracht, ergäben sich zwei wiederum antinomische Isotopieketten: hier jouissance, freie Sexualität und Ganzheitserfahrung, dort Rausch, sexuelle Unterwerfung und ethnische Feindschaft; Sinthès wäre dann der Satan des Korans. Bei näherem Hinsehen erweisen sich die vermeintliche Antinomien aber als die zwei Seiten einer Medaille, und man könnte wohl mit einer gewissen Berechtigung sagen, daß die illusorische jouissance, wie sie Meursault mit Marie erfährt, nur um den Preis einer Verdrängung des Anderen - und damit der Kolonialsituation überhaupt - zu haben ist. Durch das Einwirken von Sinthès beginnt das Verdrängte langsam wiederzukehren, was zur Folge hat, daß sich Meursault, der ja den weißen Burgunder im Namen trägt, unweigerlich der Position des pied-noir annähert. Diese Bewegung gipfelt in der finalen Strandszene des ersten Teils, in der der trunkene Meursault dem „type de Raymond“ gegenüber steht. Jetzt ist der Strand nicht mehr wie zuvor ein locus amoenus, sondern ein locus horribilis: Die vitalisierende Sonne hat sich in eine apokalyptische Feuerglut, das zuvor so erfrischende Meer zu einem „océan de métal bouillant“ (93) verwandelt. Wie in „A Madman’s Diary“ zerbricht die Oberfläche illusionärer Ganzheit zugunsten einer „terrifying objective real world“, die sich unschwer als der ‘andere Schauplatz’ des Psychischen zu erkennen gibt. Dieser ‘andere Schauplatz’ kennt nur noch zwei Koordinaten: die „source fraîche derrière le rocher“ (92) und den Blick des Anderen: Je devinais son regard par instants, entre ses paupières mi-closes. Mais le plus souvent, son image dansait devant mes yeux, dans l’air enflammé. [...] A l’horizon un petit vapeur est passé et j’en ai deviné la tache noire au bord de mon regard, parce que je n’avais pas cessé de regarder l’Arabe. [...] J’ai fait quelques pas vers la source. L’Arabe n’a pas bougé. [...] Peut-être à cause des ombres sur son visage, il avait l’air de rire. (93) Sicherlich, man kann das alles sensu litterali lesen. Die übersteigerte Sinneswahrnehmung und der Wunsch, an die Quelle zu gelangen, wären dann dem übermäßigen Weingenuß und der Hitze zuzuschlagen, die darauf folgenden fünf Schüsse auf den ‘Araber’ dem Absurden. Wenn ich dennoch für eine allegorische Lektüre plädiere, so einerseits aufgrund der Funktion des Weins in der Ökonomie des Texts, anderseits aufgrund der Bedeutung des zurückgeworfenen Blicks in der kolonialen Kommunikationssituation. Steht der Wein auf der Seite des französischen Selbst und der asymmetrischen Abgrenzung vom Anderen, so setzt der zurückgeworfene Blick Bhabha zufolge einen Prozeß in Gang, by which the look of surveillance returns as the displacing gaze of the disciplined, where the observer becomes the observed and ‘partial’ representation rearticulates the whole notion of identity and alienates it from essence.46 173 Der Blick des colonisateur, der ansonsten den colonisé im Stereotyp arretiert und an seinen Platz bannt, wird hier durchkreuzt von einem Blick, der das eurozentrische Subjekt in seiner narzißtischen jouissance trifft und es seinem spekularen Selbst entfremdet. Der solchermaßen Angeblickte erfährt sich als déplacé - und das einmal hinsichtlich seines Ortes, einmal hinsichtlich einer essentialistisch gedachten Identität. Meursaults Schritt auf die Quelle zu läßt sich in dieser Hinsicht als ein Versuch der Rückgewinnung lesen: Je voyais du loin la petite masse sombre du rocher entourée d’un halo aveuglant par la lumière et la poussière de la mer. (92) Der Begriff des „halo“, der ja sowohl die Aureole als auch den Heiligenschein meinen kann, gibt der Quelle einen religiösen Beigeschmack, der sich noch deutlich verstärkt, sobald Meursault einen Schritt auf die Quelle zu tut und der ‘Araber’ sein Messer zieht. Zunächst noch ein gewöhnlicher „couteau“, verlängert sich das Messer alsbald in eine „longue lame étincelante“, bis es sich schließlich unter den Zymbelschlägen der Sonne zu einem riesigen „glaive éclatant“ auswächst (94). In welche Richtung diese paranoide Rekonstruktion der Wirklichkeit weist, mag ein Blick 1. Mose 3.23sq. belegen: Le Seigneur Dieu renvoya donc l’homme du jardin d’Eden [...]. Puis, après l’en avoir expulsé, le Seigneur plaça des chérubins en sentinelle devant le jardin d’Eden. Ceuxci, armés de l’épée flamboyante et tourbillonnante, devaient garder l’accès de l’arbre de la vie. Im „displacing gaze“ des Anderen kollabiert die Paradiessemantik der Badeszenen. Blick und Feuerschwert sind Medien einer Ausgrenzung, der Meursault nur noch die Vernichtung des Anderen entgegensetzen kann. Der Schuß ist dabei Äquivalent des Blicks: Er zerstört das (vermeintlich) intakte Selbst des Anderen. Zugleich ist der tödliche Schuß aber schwächer als der ‘entortende’ Blick, denn Meursault gewinnt den Zugang zum Paradies und damit zu einem unverbrüchlichen Selbst nicht mehr zurück: J’ai compris que j’avais détruit l’équilibre du jour, le silence exceptionnel d’une plage où j’avais été heureux. Alors j’ai tiré encore quatre fois sur un corps inerte où les balles s’enfonçaient sans qu’il y parût. Et c’était comme quatre coups brefs que je frappais sur la porte du malheur. (95) Es ist bezeichnend, daß die Kugeln hier gar nicht in den Körper einzudringen scheinen. Der Körper ist inert - und das nicht etwa, weil er bereits tot ist. In der Wahrnehmung Meursaults verkörpert er die undurchdringliche „porte du malheur“, die sich nun endgültig vor jener illusorischen „plage où j’étais heureux“ geschlossen hat. Die vier Schüsse sind daher auch alles andere als absurd: Sie sind vielmehr das Produkt einer Aggression, die deswegen überschüssig geworden ist, weil sie nicht zum Ziel führen kann. So bleibt der tote Körper intakt, während das Selbst des Mörders endgültig in die Brüche geht. Nur vor diesem Hintergrund, so scheint mir, läßt sich der zweite Romanteil hinreichend beleuchten. Meursaults völlige Indifferenz seiner (durchaus möglichen) 174 Rettung gegenüber ist das Resultat einer „Weltkatastrophe“ im Sinne Freuds - also des Zusammenbruchs der für Meursault konstitutiven Welt, in dessen Folge er „den Personen seiner Umgebung und der Außenwelt überhaupt die Libidobesetzungen“ entzieht. 47 Die Wiederkehr der verdrängten Kolonialsituation bewirkt also nicht nur eine Wiederholung der gewaltsamen Urszene, sondern zugleich die Abkehr von der nunmehr unheimlich gewordenen Heimat. 48 Hierin liegt meines Erachtens die spezifisch algerien-französische Dimension von L’Etranger, wird doch so aus dem anfänglich durch Meursault und Sinthès verkörperten, jedoch zusehends entropischen Entweder/ Oder ein radikales Weder/ Noch. Dies scheint mir um so pertinenter, als ja Meursault gerade in diesem Weder/ Noch zu einem neuen Selbst findet, das nun in klarem Antagonismus zu Frankreich und zur symbolischen Ordnung der Kolonie steht. Beispielhaft hierfür ist die Befragung durch den Untersuchungsrichter, die das nachgerade idealtypische Beispiel einer Interpellation im Sinne Althussers darstellt. Es geht daher auch nur vordergründig um die Reue Meursaults. Der Mord an dem ‘Araber’ spielt hier wie auch während des Gerichtsverfahrens eine untergeordnete Rolle. Was vielmehr zur Debatte steht, ist Meursaults freiwilliges assujettissement unter das christliche Sujet Absolu - eine Unterwerfung also, die sowohl in einer Anerkennung der christlichen Gemeinschaft seitens Meursaults bestünde als auch die Anerkennung Meursaults durch diese Gemeinschaft mit sich brächte. 49 Daß dabei noch etwas anderes auf dem Spiel steht als Meursaults individuelles Seelenheil, wird an der „façon déraisonnable“ deutlich, mit der der Untersuchungsrichters auf Meursaults dezidierten Atheismus reagiert: Il [sc. le juge d’instruction] m’a dit que c’était impossible, que tous les hommes croyaient en Dieu, même ceux qui se détournaient de son visage. C’était sa conviction et, s’il devait jamais en douter, sa vie n’aurait plus de sens. „Voulez-vous, s’est-il exclamé, que ma vie n’ait pas de sens? “ A mon avis, cela ne me regardait pas et je le lui ai dit. Mais à travers la table, il avançait déjà le Christ sous mes yeux et s’écriait d’une façon déraisonnable: „Moi, je suis chrétien. Je demande pardon de tes fautes à celui la. Comment peux-tu ne pas croire qu’il a souffert pour toi? “ [...] Comme toujours, quand j’ai envie de me débarrasser de quelqu’un que j’écoute à peine, j’ai eu l’air d’approuver. A ma surprise, il a triomphé: „Tu vois, tu vois, disait-il. N’est-ce pas que tu crois et que tu vas te confier à lui? “ Evidemment, j’ai dit non une fois de plus. Il est retombé sur son fauteuil. (108sq.) Daß ein Jurist und Vertreter kolonialer Gerichtsbarkeit mit solcher Vehemenz auf die Existenz Gottes pocht, ist weit weniger „déraisonnable“ als es den Anschein hat. Die Anrufung durch den Untersuchungsrichter legt vielmehr jenes Legat politischer Theologie bloß, auf dem das Pädagogische aufruht und ohne das die Kolonialsituation ihre Legitimität verlöre. Es entspricht somit durchaus der Wahrheit, wenn der Untersuchungsrichter ausruft, daß sein Leben - und d.h. auch sein Berufsleben - ohne die Existenz Gottes sinnlos würde; denn ohne Gott - und das damit verbundene Missionsnarrativ - entbehrt die von ihm verkörperte koloniale Gewalt der Rechtfertigung. 175 Unter der oberflächlichen Konversionsthematik und der damit verbundenen Entsühnung individueller Gewalt verbirgt sich mithin die Frage nach der Berechtigung einer auf Gewalt gegründeten Rechtsordnung. Welch grundlegende Problematik darin aufscheint, mag ein kurzer Seitenblick auf eine zentrale Stelle von Walter Benjamins 1921 entstandener Schrift „Kritik der Gewalt“ beleuchten: Die Funktion der Gewalt in der Rechtsetzung ist nämlich zwiefach in dem Sinne, daß die Rechtsetzung zwar dasjenige, was als Recht eingesetzt wird, als ihren Zweck mit der Gewalt als Mittel erstrebt, im Augenblick der Einsetzung des Bezweckten als Recht aber die Gewalt nicht abdankt, sondern nun erst im strengen Sinne und zwar unmittelbar zur rechtsetzenden macht, indem sie nicht einen von Gewalt freien und unabhängigen, sondern notwendig und innig an sie gebundenen Zweck als Recht unter dem Namen der Macht einsetzt. Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation von Gewalt. Gerechtigkeit ist das Prinzip aller göttlichen Zwecksetzung, Macht das Prinzip aller mythischen Rechtsetzung.50 Benjamin versteht Gewalt und Recht nicht als oppositionelle Begriffe, sondern als konkomitant: Gewalt, indem sie Recht setzt, ist konstituierende Gewalt; Recht indem es von der Gewalt gesetzt wird, konstituierte Gewalt. Da jede Rechtssetzung im Zeichen der Macht steht, ist sie „unmittelbare Manifestation“ von Gewalt. Jede Rechtsanwendung, da sie dem Erhalt der einmal gesetzten Macht dient, ist mithin eine mittelbare Manifestation von Gewalt. Diese Konkomitanz von Gewalt und Recht bezeichnet Benjamin als das Prinzip der „mythischen Rechtsetzung“. Ihr entgegen stellt er die „göttliche Zwecksetzung“, die im Zeichen der Gerechtigkeit und nicht mehr im Zeichen der Macht steht. Damit ergeben sich klare Binäroppositionen: Auf der einen Seite Macht, mythische Gewalt und mythisches Recht, auf der anderen Gerechtigkeit, göttliche Gewalt und göttlicher Zweck. Ich will hier nun nicht die These vertreten, daß sich Camus direkt auf die „Kritik der Gewalt“ bezieht. Betrachtet man jedoch Meursaults Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsrichter vor dem Hintergrund der Benjaminschen Begrifflichkeiten, so zeigt sich, daß es dabei wesentlich um die gleichen Binäroppositionen geht. Der Untersuchungsrichter möchte sie verwischen und (mythisches) Recht in (göttliche) Gerechtigkeit überführt wissen, während Meursault durch seine Leugnung des theologischen Bedingungsgrundes die Antinomie von „mythischer Rechtsetzung“ und „göttlicher Zwecksetzung“ hervortreibt. Meursaults Position ist also gerade deswegen so skandalös, weil sie die „innige“ Verbindung kolonialen Rechts mit der von diesem verschleierten rechtsetzenden (Gründungs-)Gewalt aufzeigt und somit das durch den Untersuchungsrichter verkörperte Recht und die von ihm selbst begangene Gewalt ununterscheidbar werden läßt. In welchem Maß dies einen Angriff auf das Selbstverständnis der kolonialen Gesellschaft bedeutet, wird spätestens an der bizarren Anklagestrategie des Staatsanwalts deutlich, der Meursault ja zuvörderst wegen dessen sozialer Verstöße angreift und die „insensibilité“ der toten Mutter gegenüber auf schlechterdings aberwitzige Weise mit dem Straftatbestand des Vatermordes kurzschließt. Daß mit diesem metaphorischen „meurtre du père“ weniger die ödipale Neigung Meursaults 176 als vielmehr ein Attentat auf die patrie gemeint sein dürfte, zeigt sich, sobald der Staatsanwalt feststellt, „[qu’]un homme qui tuait moralement sa mère se retranchait de la société des hommes“. Daran, wie sehr dieser Rückzug aus der (Kolonial-)Gesellschaft den Keim der Revolte in sich birgt, läßt die conclusio des Arguments keinen Zweifel; denn „le premier [sc. tuer moralement sa mère] préparait les actes du second [sc. le meurtre symbolique du père], il les annonçait en quelque sorte et il les légitimait“ (156). Gegen diese gleichsam performative Legitimität des politischen Vatermordes bietet das Gericht nun alle Macht des Symbolischen auf, und Meursault muß schließlich vom Gerichtspräsidenten erfahren, „que j’aurais la tête tranchée sur une place publique au nom du peuple français“ (164). Meursault, den der Untersuchungsrichter bereits als „monsieur l’Antéchrist“ (111) bezeichnet hatte, wird auf diese Weise zu einem Staatsfeind, in dessen Vernichtung die konstituierte Gewalt ihr konstituierendes Moment - die nackte Gewalt - öffentlich zur Schau stellt und ihre Souveränität damit zugleich performativ bestätigt. So betrachtet erweist sich der zweite Romanteil als direkt antithetisch zum ersten: Während Meursault in diesem dem onomastische Programm seines Namens nicht entkommt und als meurtre saoul die konstituierende Gewalt der Kolonialordnung wiederholt, wendet er sich in jenem gegen die Legitimität der konstituierten Ordnung und gewinnt durch diese Abkehr ein neues Selbst als homme révolté. Inwiefern er damit die „Weltkatastrophe“ des Selbstverlusts durch die Identifikation mit der Rolle des Antichrist und absoluten Staatsfeinds kompensiert, zeigt sich ganz am Schluß des Romans, wo er in einem Anflug manischer Euphorie bekennt: [E]nfin, j’ai senti que j’avais été heureux, et que je l’étais encore. Pour que tout soit consommé [...], il me restait à souhaiter qu’il ait beaucoup de spectateurs le jour de mon exécution et qu’ils m’accueillent avec des cris de haine. (186) Die Bekundung „j’avais été heureux, et [...] je l’étais encore“ schlägt noch einmal den Bogen zurück zur „plage où j’étais heureux“ (95) und verbindet dieses auf immer verlorene Glück mit dem Moment der öffentlichen Guillotinierung, in dem sich der Haß des „peuple français“ offenbart. Die Fügung „pour que tout soit consommé“ sollte man dabei nicht überlesen, verweist sie doch unmißverständlich auf Joh. 19.29, wo es nach der Vulgata heißt: „Cum ergo accepisset Iesus acetum dixit / consummatum est / et inclinato capitem / tradidit spiritum.“ 51 In der sich an ihm vollstreckenden Gewalt, verwandelt sich der Antichrist Meursault damit in das Sühneopfer einer heillosen Ordnung. Will man mit Freud argumentieren, so läge hierin zweifellos die paranoide Rekonstruktion des Selbst, die Meursault in umso größere Nähe zum Senatspräsidenten Schreber rückt, als er wie dieser die psychische „Weltkatastrophe“ mit einer narzißtischen Welterlösungsgewißheit bewältigt. 52 Verbindet man jedoch dieses psychische Moment mit dem politischen zu einer allegorischen Lektüre, so wird man die in der paranoiden Rekonstruktion aufscheinende typologische Struktur des Romans nicht außer Acht lassen dürfen. 53 Der erste Teil des Romans wäre dann insofern Vorankündigung des zweiten, als Meursault im consummatum est 177 seines imaginären Kreuzesopfers den von ihm wiederholten Sündenfall sühnt und als Figura Christi zugleich für die Erlösung von der kolonialen Gewalt bürgt. Daß dies um einiges weniger paranoid ist, als es vielleicht zunächst den Anschein haben mag, liegt vor allem in der ‘frohen Botschaft’ Meursaults begründet, die ja in der radikalen Abkehr von der kolonialen Ordnung besteht. Diese Abkehr ist die Antithese zur Indifferenz und würde, sofern sie kollektive Nachfolge fände, in der Tat bewirken, „que tout soit consommé“. Aus dieser Warte betrachtet, scheint mir nun auch die von Ahmed Taleb Ibrahimi vorgebrachte Kritik, Camus schreibe in L’Etranger nur die Ideologie des pied-noir aus, kaum haltbar. 54 Damit soll freilich das grundlegende Problem einer solchermaßen passiven Revolution nicht unterschlagen werden; zumal Camus ja in noch weit stärkerem Maß als Benjamin in seiner „Kritik der Gewalt“ die Antwort schuldig bleibt, wie aus der radikalen Verweigerung die neue, gewaltlose Ordnung hervorgehen soll. Bei Benjamin, der messianisch denkt, bewirkt der (proletarische) Generalstreik idealiter einen absoluten Ausnahmezustand, in dem schließlich die göttliche Gewalt die konstitutive und sich immer neu konstituierende mythische Gewalt ‘entsetzt’. 55 Für Camus, der trotz seines vordergründigen Atheismus einer christlichen Dialektik verpflichtet ist, bleibt nur die Hoffnung auf die konstitutive Kraft des Opfers. Einer genuin marxistischen Dialektik, wie sie während des Unabhängigkeitskriegs von Frantz Fanon vertreten wird und der zufolge das algerische Volk die historische Trägerinstanz seiner Befreiung ist, 56 weicht Camus aus. III „Indépendance de l’Algérie, écrit Lakhdar, au couteau, sur les pupitres, sur les portes.“ (217) 57 Nedjma steht im Zeichen dieses Messers. Es handelt sich dabei um ein Tauschobjekt, das zwischen den Figuren zirkuliert und stets wiederkehrt. Doch anders als man es vielleicht erwarten möchte, schließt es keinen revolutionären Bund, sondern stellt vielmehr das Medium einer nach innen gerichteten Gewalt dar, die dem Muster des Wiederholungszwangs zu gehorchen scheint. Das Messer erweist sich damit als ein doppeldeutiges Zeichen, bei dem Semantik (Zeichenbedeutung) und Pragmatik (Zeichengebrauch) auseinandergehen: Wo es also Unabhängigkeit bedeuten will, beschreibt es soziale Desintegration. Daß es sich bei dem solchermaßen ‘gespaltenen’ Signifikanten um eine durchaus bedeutsame Spaltung handelt, möchte ich nun in meiner Lektüre des Romans plausibilisieren. Ich beginne hierzu mit dem dahingehend programmatischen ersten Romanteil, in dem das zweischneidige Messer seinen ersten Kursus durchläuft. Der Konflikt ist zunächst in einer nicht näher benannten Ortschaft in der Nähe von Bône angesiedelt und kreist um zwei Pole: Auf der einen Seite stehen vier junge Algerier - Lakhdar, Mourad, Mustapha und Rachid -, auf der anderen Seite die Algerienfranzosen M. Ernest und M. Ricard, die bei der Bevölkerung beide gleichermaßen verhaßt sind. M. Ernest ist der zu Gewaltmaßnahmen neigende Polier 178 einer Baustelle, M. Ricard ein reicher Fuhrunternehmer, der Suzy, die Tochter von M. Ernest, heiraten möchte. Die vier Algerier sind Fremde in der Ortschaft und auf der Baustelle von M. Ernest beschäftigt. Der Roman setzt nun damit ein, daß Lakhdar, der aufgrund von Handgreiflichkeiten gegenüber M. Ernest inhaftiert worden war, aus seiner Zelle ausgebrochen ist und bei seinen Freunden untertaucht. Das Messer - es gehört hier Mourad - wird für Wein eingetauscht. Darauf folgen fragmentarische Sequenzen, die zwischen den beiden Polen hin und her springen und diese miteinander in Beziehung setzen. So scheint etwa zwischen Mourad und Suzy eine gewisse physische Attraktion zu bestehen, doch aufgrund der ethnischen Differenz zeigt sich Suzy Mourad gegenüber abweisend und herablassend. Eine ähnliche Asymmetrie herrscht im Hause Ricard, wo der trunksüchtige Witwer seine algerische bonne beständig des Diebstahls verdächtigt und Leibesvisitationen unterzieht, die er nach Gutdünken mit einem Würgegriff kombiniert. Damit sind die Fronten abgesteckt, und wie Mourad bemerkt, scheint die einzige Kommunikation zwischen den beiden Welten in „la bagarre et le viol“ (17) zu bestehen. In welchem Maß dies in der Tat zutrifft, zeigt sich emblematisch auf dem Höhepunkt der Hochzeitsfeierlichkeiten von Suzy und M. Ricard, als die Gäste damit beginnen, das Haus des volltrunken im Ehebett darniederliegenden Fuhrunternehmers zu plündern, und die bonne ihnen beherzt entgegentritt: Au commencement de l’orgie, la bonne était dans la cuisine inondée de soleil; elle en sortit au crépuscule pour s’opposer au pillage. Aussitôt empoignée, elle fut traînée dans la chambre nuptiale. La femme du receveur des Postes prit la bouteille de rhum à moitié vide et l’appliqua aux lèvres de la servante. „Quelle blague! jubilait l’huissier. On lui fera rater son paradis avant sa mort.“ La bonne était raidie. La femme du receveur lui cogna les gencives avec le goulot, et le tout coula en une fois. Huit hommes tenaient solidement la bonne, sans parler des enfants. Enfin la femme du receveur jeta la bouteille vide. La bonne tomba, puis se redressa les yeux exorbités. Ce fut sa première et sa dernière imprécation: „Vous êtes des mécréants.“ (24) Die ‘Vergewaltigung’ der bonne besteht darin, daß man sie dazu zwingt, eine mit ihrem Glauben unvereinbare Substanz in sich aufzunehmen. Man könnte deshalb insofern von einem kataklystischen Sujet im Sinne Lotmans sprechen, als hier ja ein (spezifisch muslimischer) Innenraum - der Körper der bonne - durch den (französischen) Außenraum - die die bonne umringenden pieds-noirs - profaniert und symbolisch zerstört werden soll: 58 Nicht umsonst heißt es: „On lui fera rater son paradis [...]“ Daß der Zusatz „avant sa mort“ dabei nicht unbedingt auf weite zeitliche Ferne verweisen muß, zeigt sich sobald die bonne ihren Peinigern vorwirft, sie seien Ungläubige. Dann erwacht nämlich M. Ricard aus seinem Rausch und greift zu seiner Peitsche, mit der er so lange erbarmungslos auf die wehrlose Frau eindrischt, bis sich der hinzugetretene Mourad auf ihn stürzt und ihn durch nicht näher spezifizierte „coups“ (25) zu Tode bringt. Wie man sieht, hat sich der Konflikt von L’Etranger bei Kateb beträchtlich verschärft. Daß es sich dabei in der Tat um ein writing back im intertextuellen Sinne handelt, zeigt sich bereits an der Alkohol-Isotopie, für die der nach dem beliebten 179 französischen Anislikör benannte M. Ricard onomastisch bürgt. Die in L’Etranger an Sinthès und der Mauresque durchgespielte Demütigungsthematik kehrt ebenfalls wieder - diesmal allerdings als kollektiver Akt mit dezidiert antimuslimischer Stoßrichtung. Das Gefangenschaftsmotiv nimmt Kateb gleich zu Anfang auf. Wie sehr er dabei Camus’ Roman im Blick hat, zeigt sich spätestens an der Erzählung des Amezine, die sich unschwer als Replik auf Meursaults Prozeß lesen läßt: Amezines Vater hat einen colon getötet, weil dieser seine Viehherde konfiszierte und ihn damit seiner Lebensgrundlage beraubte. Um den Vater zu retten, beschäftigt Amezine zwei angesehene Rechtsanwälte, die den erfolgreichen Ausgang des Prozesses garantieren und lange Verteidigungsreden halten: Trois heures entières, surtout quand maître Gauby a commencé, les juges ont baissé la tête. Ils se sont parlés tout bas. J’ai cru qu’ils avouaient l’innocence de papa. A chaque démonstration, je mettais un billet de cent francs sur le pupitre des défenseurs. Les gendarmes voulaient m’évacuer. L’interprète traduisait fidèlement les nobles paroles arrachées à mon père. L’assistance ne cachait pas son émotion. Après la plaidoirie, les juges ont quitté la salle, d’un pas lourd. Je les trouvais angéliques, avec leurs robes, et leurs bonnets fripons. Maître Gauby souriait à mon père de telle manière qu’il était sauvé. Puis les juges sont revenus. Condamné à mort. (42) Camus beschreibt die Schlußphase des Prozesses auf nahezu identische Weise: Mon avocat est venu me rejoindre: il était très volubile et m’a parlé avec plus de confiance et de cordialité qu’il ne l’avait jamais fait. Il pensait que tout irait bien et que je m’en tirerais avec quelques années de prison ou de bagne. [...] Je n’ai pas regardé du côté de Marie. Je n’en ai pas eu le temps parce que le président m’a dit dans une forme bizarre que j’aurais la tête tranchée sur une place publique au nom du peuple français. (162fsq.) Hier wie dort folgt auf die finale Versicherung seitens des Verteidigers das Todesurteil. Der signifikante Unterschied besteht freilich darin, daß es sich bei Camus um ein in der Lebenswelt höchst unwahrscheinliches, bei Kateb indes um ein nur zu wahrscheinliches Todesurteil handelt. Durch die Inversion der Situation zeigt Kateb zudem die grundlegende Schutzlosigkeit des Kolonisierten auf. Das gilt umso mehr, als ja das Todesurteil den ersten Übergriff - die Beschlagnahme der Herde durch den colon - legitimiert und damit Gewalt in Recht übersetzt. Wenn sich nun im Gegenzug die Unterworfenen zur Wehr setzen, dann heißt das noch lange nicht, daß die Algerier eine gemeinsame Front gegen die Kolonialmacht bildeten. Zwar halten die vier Freunde zusammen und auch wird Lakhdar in einer Spelunke zunächst für seinen Angriff auf M. Ernest beglückwünscht, doch nachdem Mourad M. Ricard getötet hat und inhaftiert worden ist, wendet sich das Blatt: Aus Angst vor den französischen Autoritäten, die die „expulsion“ der „étrangers“ fordern (27), versagt die muslimische Bevölkerung des Ortes den drei Verbliebenen jede Unterstützung und zwingt sie zu einer Flucht, die zugleich die Auflösung der Gruppe bedeutet: Jeder der jungen Männer wird einen anderen Weg in die Nacht nehmen, und am Ende bleiben nur noch Schatten, „[qui] se dissipent sur la route.“ (31). 180 Die solchermaßen anschaulich gewordene Figur der Desintegration eignet nun aber nicht allein den drei aus der Ortschaft Vertriebenen. Sie hat ihr Gegenstück in der Ortschaft selbst, deren muslimischer Gemeinschaft unter der Maske der Normalität deutliche Züge sozialen Zerfalls aufweist. So betrachtet, muß es auch nicht wunder nehmen, daß die Jugendlichen, die ja diese ‘Normalität’ empfindlich stören, geächtet werden, denn durch sie wird die tatsächliche Desintegration offenkundig. 59 Hierauf verweist der lokale Don Juan, Le Barbu, während einer „dernière soirée fraternelle“ (27) mit den Jugendlichen: Le village était calme, trop calme avant votre arrivée; et naturellement tout retombe sur les étrangers. Les gens sont excédés. [...] Moi aussi, je suis gonflé de pressentiments; mes amis ici présents peuvent témoigner: tant qu’ils étaient inconnus l’un de l’autre, mes rivaux, ne me causaient aucun souci. A présent, il se sont découverts et ligués ensemble. S’ils s’étaient seulement ligués! Leurs épouses, auxquelles ils ont généreusement pardonné, redoublent d’amour pour eux! Ils me cernent, me suivent à tour de rôle, la nuit. Que l’un d’eux recouvre son honneur, et je suis perdu! (27) Was sich auf den ersten Blick wie die individuellen Furchtphantasien eines notorisch gewordenen Ehebrechers liest, hat bei näherem Hinsehen weitreichende kolonialspezifische Implikationen: Vor der Ankunft der Jugendlichen dauerte nämlich ein Status quo an, der nicht nur in der institutionalisierten Asymmetrie von colon und colonisé gründete, sondern auch in einer die einheimische Eheordnung zersetzenden Polyandrie bestand, deren Nutznießer Le Barbu war. Die solchermaßen aufscheinende Engführung von kolonialer Asymmetrie und desintegrierter Sozialstruktur ist dabei kein Zufall; sie weist vielmehr auf eine libidinöse Dynamik auf der Ebene der Kolonisierten hin, bei der Affektbindungen und Gemeinschaftlichkeit einander gegenläufig sind und die politisch-vertikale Enteignung durch die Kolonialmacht mit einer erotisch-horizontalen Enteignung des muslimischen Glaubensbruders einhergeht. Das Beispiel von Le Barbu, das man bei einer ersten Lektüre vielleicht überliest, ist dabei alles andere als ein Einzelfall. Es steht, wie sich zeigen wird, synekdochisch für die dem Roman eingeschriebene Begehrensstruktur und belegt nicht zuletzt eine erotische Kompensation politischer Ohnmacht. 60 Diese ist schließlich insofern komplizenhaft mit der Kolonialstruktur, als sie sich entdifferenzierend auf die autochthone Sozialstruktur auswirkt und eine mimetische Rivalität hervorbringt, die auf die Vernichtung des (autochthonen) Kontrahenten zielt. 61 Erst vor diesem für Nedjma so zentralen Hintergrund wird der weitere, ansonsten einigermaßen kryptische Verlauf des ersten Romanteils verständlich. Deshalb sollte man auch nicht überlesen, daß es Le Barbu ist, der am Ende der „dernière soirée fraternelle“ das - nach dem Mord an M. Ricard wiedergekehrte - Messer an Rachid weitergibt. Auf die Trennung der Jugendlichen folgt nun ein jäher Zeitschnitt. Drei Jahre sind vergangen. Der Ort ist Constantine, wo Rachid mittlerweile eine Haschischkneipe betreibt. Eines Nachts kommt es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit einem algerienfranzösischen Autofahrer, in dessen Folge Rachid in einem Bordell von der Polizei aufgegriffen wird. Im Gefängnis, in das er 181 aufgrund seiner (lange zurückliegenden) Fahnenflucht verbracht wird, trifft er auf den zu zwanzig Jahren Haft verurteilten Mourad. Doch statt freudiger Begrüßung kommt es zwischen den beiden zu einer Messerstecherei, über deren Ursachen bei den Wärtern Unklarheit herrscht und die Mourad schwer verletzt zurückläßt. Dann bricht der erste Romanteil abrupt ab. Daß der Grund der gewaltsamen Auseinandersetzung in der signifikanten Nullstelle des ersten Romanteils, der titelgebenden Frauenfigur Nedjma, zu suchen ist, bleibt ausgespart. Der erste Romanteil ist Ouvertüre, Abbreviatur und Mise-en-abyme in einem. Er verbindet zentrale, motivisch ähnliche Handlungselemente zu einer Kette und übersetzt so paradigmatische Sequenzen in ein elliptisches Syntagma, das die gesamte Handlungszeit des Romans umfaßt. Der zweite Romanteil, mit der die amplificatio ihren Anfang nimmt, beginnt daher wiederum in der Ortschaft bei Bône. In den ersten drei Kapiteln wird die Vorgeschichte von Lakhdars Flucht durch den extradiegetischen Erzähler nachgetragen: Lakhdar wird von M. Ernest ungerechterweise geschlagen, schlägt zurück und landet mit Handschellen gefesselt im Gefängnis. Diese Handschellen schränken nun nicht nur Lakhdars Bewegungsfreiheit ein, sondern fungieren auch als ein dysphorisches Äquivalent zur Proustschen Madeleine, denn sie öffnen die Geschichte analeptisch auf eine ‘vergessene’ Vorvergangenheit: Il se laisse passer les menottes. „C’est pas la première fois“, se dit Lakdhar, comme s’il cherchait d’anciennes traces sur son poignet décharné. [...] „Ce n’est pas la première fois“, songe Lakhdar, en baissant les menottes vers son genou pour se gratter. „Ça fait un peu plus d’un an“ ... Lakhdar [...] est en prison avec une impression de déjà vécu; le dernier faisceau de lumière disparu au soleil couchant, fait sentir son absence sur la route devenue grise, étroite; Lakhdar y retrouve l’atmosphère perdue dans sa mémoire, de la première arrestation. „Le printemps était avancé, il y a un peu plus d’un an, mais c’était la même lumière; le jour même, le 8 mai, je suis parti à pied. [...] Mais je ne fus arrêté que le lendemain. Il y a un an. [...]“ (47sq.) Das hier gemeinte Ereignis ist das historischen Massaker im Département Constantine, das die französische Administration am 8. Mai 1945 in Sétif und Guelma unter der für ihre politische Unabhängigkeit demonstrierenden algerischen Zivilbevölkerung anrichten ließ. Auf die mit Maschinengewehren und Mörsergranaten durchgeführte Zerschlagung der Demonstrationen folgten Massenerschießungen und Folterungen, die, wie man heute weiß, etwa 30.000 Algerier das Leben kosteten. 62 Im Roman zählt Lakhdar zu den im Zuge der Repressalien Festgenommenen. Da er der nationalistischen Studentenschaft angehört, foltert man ihn, damit er die Namen der Rädelsführer preisgebe. Ob diese im Detail beschriebene Folter - Lakhdar wird gefesselt, ausgepeitscht und mit großen Mengen eiskalten Wassers vollgepumpt - zu ihrem Ziel führt, bleibt unklar. Liest man das bei Kateb dargestellte Massaker in Analogie zu L’Etranger, so stellt man wiederum eine Verschärfung kolonialer Gewalt fest, die nicht nur in einer Intensivierung (Maschinengewehre statt des Revolvers), sondern auch in einer Kollektivierung (Militäreinsatz statt Individualtat) besteht. Daß dies intratextuell 182 auch die ‘Vergewaltigung’ der bonne bezogen ist, wird daran deutlich, daß Lakhdar wie diese die „cravache“ (56) zu spüren bekommt und dazu gezwungen wird, eine ihm unzuträgliche Substanz (hier große Mengen kalten Wassers statt des Alkohols) in sich aufzunehmen. Letztere Parallele hat ihre raumsemantische Entsprechung in der kataklystischen Sujetfügung, bei der der Außenraum (das Militär) den Innenraum (die Demonstranten) nun in der Tat auslöscht. Rechtlich ist das Massaker ein Ausnahmezustand - also eine Situation hors la loi, die zugleich die souveräne Macht des Staatsapparats performativ unter Beweis stellt. Was dies näherhin bedeutet, hat Carl Schmitt in seiner berüchtigten Schrift Politische Theologie von 1922 ausgeführt: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ heißt es dort gleich zu Anfang, denn er [sc. der Souverän] entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll um ihn zu beseitigen. Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann.63 Anders als bei Schmitt, wo die souveräne Aufhebung der Rechtsnorm ihren Zweck idealiter darin hat, eine Situation zu schaffen, in der „Rechtssätze gelten können“ (19), bedeutet das Massaker für die betroffene Bevölkerungsgruppe jedoch einen Zustand absoluter Anomie. Eben diese Verknüpfung von Ausnahmezustand und Anomie hat Schmitt nicht sehen wollen. Giorgio Agamben hat indes gezeigt, daß das Massaker kein collateral damage der Souveränität, sondern deren Kehrseite ist. Agamben zufolge hat die Figur des Souveräns daher auch ihre spiegelbildliche Entsprechung in derjenigen des homo sacer - jenes tötbaren, gleichwohl nicht opferbaren Menschen, der seinerseits jenseits der Rechtsordnung steht und ihr doch zugehört, da er von ihr in Bann getan (abbandonato) ist. Der homo sacer - ein Begriff aus dem römischen Recht - ist heilig in malam partem: Er ist also verflucht, und das insofern, als seine Leben jeden rechtlichen Schutzes entkleidet und somit ‘nackt’ ist. 64 Vor diesem Hintergrund läßt sich für das Massaker von Sétif, so wie es im Roman dargestellt wird, nun zweierlei sagen: Einerseits produziert der Ausnahmezustand das nackte Leben, anderseits verweist dieses Produktion nackten Lebens zurück auf die grundlegenden Schutzlosigkeit, wie sie dem Kolonisierten immer schon eignet. Das Massaker stellt damit nicht mehr die Ausnahme von einer Norm dar, sondern der Normalfall der Kolonialsituation erweist sich seinerseits als ein auf Dauer gestellter Ausnahmezustand im Sinne Agambens. In dieser Umkehrung von Norm und Ausnahme, die sich in Ansätzen bereits in L’Etranger abgezeichnet hat, liegt meines Erachtens die politische Stoßrichtung von Nedjma. Das heißt nun aber nicht, daß der ‘Normalfall’ damit ohne weiteres zuhanden wäre. Dieser Normalfall - die Befreiung - bleibt im Gegenteil immer aufgeschoben, und die mythische Gewalt, in der sich setzende und gesetzte Gewalt stets überlagern, kann eben gerade nicht im Benjaminschen Sinne ‘entsetzt’ werden. Katebs Textstrategie ist daher auch nicht die einer messianischen Aufhebung, sondern die der Verschie- 183 bung, wie sie ja bereits durch die Zirkularität des Messers vorgezeichnet ist. Auf der Figurenebene zeigt sich diese Verschiebung zunächst an Lakhdar und Mustapha, die infolge der Ereignisse von Sétif ihres Studentenstatus - und damit jeder Zukunftsperspektive innerhalb der kolonialen Hierarchie - verlustig gehen. Auf die gesetzliche Entkleidung des Lebens folgt mithin eine soziale, und die solchermaßen ‘Gebannten’ (abbandonati) werden nach ihrer jeweiligen Haftentlassung beide nach Bône reisen, wo ihre Cousine Nedjma wohnt. Auf das kataklystische Sujet, das den Protagonisten den Außenraum des Politischen unzugänglich macht, folgt nun ein déplacement sowohl der Figuren als auch ihres Begehrens auf den Innenraum der Familie. Die Schilderung von Lakhdars Ankunft in Bône ist auf den 15. September 1945 datiert (65); sie erfolgt drei Monate nach derjenigen Mustaphas und ist zeitlich ziemlich genau zwischen dem Massaker von Sétif und den Ereignissen auf der Baustelle angesiedelt. Darüber, in welchem Geisteszustand sich der junge Mann befindet, läßt seine wiederholte Charakterisierung als „fou“ (65/ 66/ 69) kaum Zweifel. Diese psychische Desintegration spiegelt sich in seiner Bekleidung: Il portait une veste de smoking noir; sa chemise était dissimulée par un foulard de soie blanche. Il traînait un pantalon de coutil gris, en tuyau de poêle, un vrai sac. [...] Il pouvait ainsi cacher qu’il marchait sans chaussettes, et il louvoyait dans ses souliers, qu’il était obligé, pour ainsi dire, de remettre à chaque pas... (66) Die Beschreibung, die hier Mourad über seinen ihm zu diesem Zeitpunkt noch unbekannten Halbbruder abgibt, ist insofern aufschlußreich, als sie mit der „veste de smoking“ und dem „foulard“ zwei Kleidungsstücke aufruft, die einmal dem kolonialen, einmal dem autochthonen dress-code zugehörig sind. Daß man es dabei nicht etwa mit gelungener Hybridität, sondern vielmehr mit einer höchst prekären patch-work identity zu tun hat, zeigt sich schließlich an der Zick-Zack-Bewegung der nackten Füßen in den Schuhen sowie daran, daß Lakhdar gute drei Monate - „[jusqu’à] la fin de 1945“ (71) - in Bône herumvagabundieren wird, bevor er sich entschließen kann, seine Cousine in Beauséjour aufzusuchen. Der zweite Romanteil endet mit einer Anagnorisis zwischen Lakhdar und Mourad vor dem Hause Nedjmas. Doch sowohl die Verbrüderung als auch der Rückzug in die Familie sind trügerisch - was sich schon daran erkennen läßt, daß Lakhdar seinem Halbbruder mit aufgeklapptem Messer à cran ajusté (80) gegenübertritt. Die durch das Messer aufgrufene Zirkularität setzt sich daher auch fort: Was zeitlich direkt auf die Wiedererkennungsszene folgt, indes erst im sechsten und letzten Romanteil auserzählt wird, ist die ‘Rivalenzeit’, bei der alle vier Protagonisten um Nedjma kreisen - dies jedoch ohne ihrer je habhaft zu werden. Nedjma, das Zentrum allen Begehrens, ist das unmögliche Objekt schlechthin. Hierzu gilt es nun dreierlei zu bemerken: Zum einen sind die vier männlichen Protagonisten miteinander verwandt: Lakhdar und Mourad sind Halbbrüder und ihrerseits Cousins von Mustapha und Rachid; zum anderen sind die ersteren drei wiederum Cousins von Nedjma und der letztere - Rachid - höchstwahrscheinlich 184 sogar ihr Bruder. Alle fünf gehören darüber hinaus dem Stamm der Keblout an, der zwar von den Franzosen zerschlagen wurde, sich aber dennoch als eine - gleichwohl korrumpierte Blutlinie - fortsetzt. Keblout - so die Etymologie, die Si Mokhtar Rachid gegenüber nennt - bedeute „corde cassé“ (116), „mais aucun fil n’est jamais rompu“ (137). Nedjma, die ja schon aufgrund ihres Namens - Stern - auf Dispersion verweist, ist schließlich der Inbegriff dieser genealogischen Korruption. Gesichert weiß man nur, daß ihre Mutter eine ursprünglich in Marseille verheiratete französische Jüdin war; für die Rolle ihres Vaters kommen drei Männer in Frage: Si Ahmed, der Vater von Lakdhar und Mourad, der als erster die Französin entführt hat, der nominelle ‘Vater’ Rachids sowie Si Mokhtar, der aller Wahrscheinlichkeit seinen unmittelbaren Rivalen bei der Französin, Rachids ‘Vater’, getötet, hat, und mit ebenso großer Wahrscheinlichkeit auch der wahre Vater von Rachid ist, da er mit dessen Mutter über länger Zeit eine Affäre unterhielt. 65 Wie man sieht, bedeutet das déplacement vom Politischen ins Private, das sich nach dem Massaker von Sétif abgezeichnet hat, in Wirklichkeit eine Übertragung auf ein metonymisches Objekt; denn die sternengleiche, unerreichbare und polyethnische Nedjma ist eine deutlich nationalallegorische Figur. Kateb formuliert das folgendermaßen: „[...] Nedjma, c’est l’âme de l’Algérie déchirée depuis ses origines, et ravagée par trop de passions exclusives. 66 Bei allem Respekt vor dieser autographen Deutung sollte man aber nicht unterschlagen, daß Nedjma, die ja niemals für sich selbst zu existieren scheint und stets durch fremde Rede charakterisiert wird, weit weniger als ‘Seele’ Algeriens, denn als Projektion - um nicht zu sagen: als das erotisches Phantasma - der vier Rivalen erscheint. Diese Verbindung von Allegorie, Phantasma und Begehren scheint mir nun insofern wichtig, als sich daran sehr genau jene libidinöse Investition ablesen läßt, wie sie meines Erachtens in Nedjma zum Austrag kommt. Man könnte daher auch sagen, daß Nedjma gerade deshalb unerreichbar bleiben muß, weil auf sie die unmögliche, durch die Kolonisation enteignete Nation übertragen wird. Nedjma, von der es anderenorts heißt, sie sei „un objet quasi religieux“ (175), wäre damit ein ‘verlorenes Objekt’ im Sinne Freuds, das seine ‘Realität’ gerade aus seinem phantasmatischen Charakter - dem psychischen Einschluß in die sie begehrenden Subjekte - schöpft. 67 Komplementiert - aber auch kompliziert - wird diese politische Erotik durch eine genealogische Dimension: nämlich die im Maghreb übliche Endogamie. Diese von Jacqueline Arnaud als vivre entre soi übersetzte Praxis erlaubt, ja begünstigt die Heirat zwischen Cousins. 68 Wenn nun aber Mustapha in seinem Tagebuch schreibt: „l’inceste est notre lien, notre principe de cohésion depuis l’exil du premier ancêtre“ (187), so scheint in dem Begriff des Inzests zugleich ein Exzeß des vivre entre soi auf, der eben nicht mehr kohäsiv sondern entdifferenzierend wirkt. Dieses entdifferenzierende Moment deutet sich bereits bei der Anagnorisis à cran ajusté an und wird umso deutlicher, wenn man hinzu nimmt, daß Nedjma nicht nur verheiratet, sondern ohne es zu wissen auch mit ihrem (Halb-)Bruder Kamel verheiratet ist. Dem solchermaßen potenzierten vivre entre soi eignet mithin eine 185 doppelt Dynamik: Zum einen scheint darin eine exzessive Fixierung auf das Eigene auf, bei der alle nur die Eine wollen, zum anderen entpuppt sich die Rivalenzeit so als eine nahezu identische Reprise jenes Kampfes um die französische Jüdin, die der Geburt Nedjmas vorausgegangen war. Wie sehr das einstmals kohäsive Prinzip des vivre entre soi damit immer schon im Zeichen jener kolonialen Desintegration steht, die ich oben am Beispiel von Le Barbu diskutiert habe, zeigt sich schließlich daran, daß die zentrale Vaterfigur des Romans, der chronische Ehebrecher Si Moktar, nicht nur die illegitime Zeugung von Nedjma, Rachid und Kamel zu verantworten hat, sondern auch der Inbegriff der mimetischen Rivalität ist, die der Begehrensstruktur von Nedjma ganz wesentlich zugrunde liegt. So betrachtet, erweist sich die ‘Rivalenzeit’ als das Produkt eines genealogischerotischen Wiederholungszwangs, der auf nationalallegorischer Ebene nur in die Sackgasse führen kann. Das heißt dann aber auch, daß sowohl die Assimilation französischer Kultur, wie sie ja von den Studenten Lakhdar und Mustapha zunächst angestrebt wurde, als auch die Wiedergewinnung des Eigenen gleichermaßen unmögliche Bewegungen sind und die an Lakhdars west-östlicher Bekleidung offenkundige Hybridität nicht ohne weiteres zu überwinden ist. Auf der Geschichtsebene wird der Weg in die Sackgasse dadurch abgebogen, daß die vier Protagonisten gleichsam mit dem ‘Realitätsprinzip’ konfrontiert werden und Arbeit suchen müssen. Dies führt sie in die Ortschaft in der Nähe von Bône, in der der Roman seinen Anfang genommen hat. Die dort vorgefundene ‘Realität’ verdeutlicht ihnen jedoch nur umso mehr ihre ausweglose in-betweenness: Für die autochthone Bevölkerung sind sie „étrangers“ (241), für die Franzosen nur billige Arbeitssklaven. Eine supplementäre Übertragung des Begehrens von Nedjma auf die französische Suzy, wie sie Mourad unternimmt, ist daher auch zum Scheitern verurteilt. Es ist folglich nur zu bezeichnend, daß Nedjma wortidentisch mit jenem Absatz schließt, mit dem bereits im ersten Romanteil die Episode in der Ortschaft ihr Ende fand: Was bleibt sind Schatten, „[qui] se dissipent sur la route.“ (244) Damit ist freilich das letzte Wort noch nicht gesprochen, denn im ersten Romanteil folgt ja auf die Trennung der Vertriebenen noch ein längerer Nachspann, dessen Protagonist Rachid ist und der in der Messerstecherei mit Mourad endet. Die Ellipse, durch die diese beiden Zeitabschnitte voneinander getrennt sind, ist Gegenstand der Teile zwei und drei. Erzählt werden sie größtenteils von Rachid selbst, Zuhörer sind einmal Mourad im Gefängnis (vor oder nach der Messerstecherei), einmal ein nicht näher charakterisierter öffentlicher Schreiber, der Rachid (offenbar vor seiner Inhaftierung) im fondouk aufsucht. Dieser wesentlich orale Charakter wird in seiner Wahrhaftigkeit noch dahingehend eingeschränkt, daß Rachid zu Mourad im Fieberdelirium zu dem Schreiber im Haschischrausch spricht. Zeitlich fügen sich die Episoden, deren Protagonisten Rachid und sein Vater Si Mokhtar sind, daher auch nicht immer ohne weiteres in die Chronologie des Romans ein. Läßt sich das erste Treffen von Nedjma und Rachid in einer Klinik in Constantine noch auf das Jahr 1942 datieren, so findet die abgebrochene Mekkareise von Rachid und Si Mokhtar schon in einem um einiges 186 unbestimmteren Zeitraum vor 1945 statt. Die Entführung Nedjmas nach Nadhor, dem heiligen Ort der Keblout, ist schließlich, wie Jacqueline Arnaud im Rückgriff auf Gérard Genette zurecht bemerkt, eine narrative Paralipse, denn sie stellt zwar ein zentrales Ereignis innerhalb des Romans dar, doch scheint sie auf sonderbare Weise inkompatibel mit dessen Zeitstruktur. Bedenkt man, daß Rachid von der Ortschaft bei Bône direkt nach Constantine geht und dort auch bis zu seiner Inhaftierung bleibt, so kann sie genaugenommen gar nicht stattfinden. 69 Sie füllt also keine Ellipse, sondern ist ‘beiseite gelassen’ („omis latéralement“) und damit in gewisser Hinsicht bereits jenseits der Chronologie. 70 Über dieses ‘Beiseite-Lassen’ haben sich die Geister erhitzt. Die zur Debatte stehende Frage, ob es sich bei den Ereignissen von Nadhor nun um eine im Gefängnis geträumte Episode 71 oder um eine tatsächliche, dem Gefängnisaufenthalt vorgängige Ausfahrt Rachids 72 handele, scheint mir jedoch ein Scheinproblem darzustellen und an der Funktion dieser Rückkehr vorbeizugehen. Hierzu sei vorausgeschickt, daß Si Mokhtar Rachid seinen Plan, Nedjma nach Nadhor zu entführen, erstmals während der Mekkareise kundtut - und das exakt zum Zeitpunkt ihres Abbruchs: „Nous irons vivre au Nadhor, elle et toi, mes deux enfants [...] Et le sang de Keblout retrouvera sa chaude, son intime épaisseur.“ (121). Dieses déplacement von den heiligen Stätten des Islam auf die mythische Heimstatt der Keblout sollte man ernst nehmen. Nadhor tritt so nämlich an die Stelle Mekkas und die Rückführung Nedjmas gewinnt eine sakrale Dimension, die umso deutlicher zutage tritt, als sie im Zeichen des Eheverbots steht: „Mais sache-le“, sagt Si Moktar zu Rachid, „jamais tu ne l’épouseras“ (122). Der bereits während der Rivalenzeit drohende Inzest wird damit demonstrativ ausgesetzt und in eine Art monastisches Miteinander überführt, das, wie Si Mokhtar näherhin ausführt, in den „ruines reconquises“ (ebd.) der Moschee von Nadhor stattfinden solle. Daß auf diese Weise auch die mimetische Rivalität zu ihrem Ende kommt, zeigt sich daran, daß Si Mokhtar, der ja deren Agent gewesen ist, nunmehr endlich seiner Vaterrolle - „le vieil arbre qui [...] vous couvrira de son ombre“ (121) - gerecht werden will. Nadhor - „le secret tribal“ - wird so zu einem Ort, der wie ein Treibhaus „fruits hors de saison“ (122) hervorbringen und mithin die mythische Wiedergeburt garantieren kann. Wenn nun die dergestalt anvisierte Regeneration dennoch scheitert, so liegt das vor allem daran, daß weder Si Mokhtar noch Rachid in Nadhor willkommen ist. Bezeichnend erscheint mir in diesem Zusammenhang, daß Si Mokhtar von dem schwarzen Wächter des Hains einer illegitimen Beziehung mit Nedjma verdächtigt wird, Si Mokhtar also gerade jenes Entdifferenzierungsmoment zur Last gelegt wird, das er zu überwinden sucht. Die Ahndung der vermeintlichen Profanierung ist dementsprechend drastisch: Sie besteht in aus dem Hinterhalt abgefeuerten Schüssen, an denen Si Moktar wenig später stirbt. 73 Rachid, der in der Tat nach einer körperlichen Verbindung mit seiner Schwester strebt, wird ebenfalls der „félonie“ (138) geziehen, darf jedoch am Leben bleiben. Er muß allerdings Nedjma an die Asketen von Nadhor abtreten und das Stammesgebiet verlassen. Von Nedjma 187 heißt es schließlich wenig später: „C’est comme si elle n’était plus; [...] et ceux qui la connaissent ne la distinguent plus parmi les passantes; [...] elle est voilée de noir.“ (173). Die alte, von allen begehrte Nedjma ist nun unter ihrem schwarzen Schleier gleichsam aus der Welt genommen und damit vom Bereich des profanum in denjenigen des fanum, des Heiligen, überstellt. Die raumsemantische Funktion dieser Resakralisierung ist klar, denn so wird ja die „âme de l’Algérie déchirée depuis ses origines“ dem kolonialen (Außen-)Raum entzogen. Die verschleierte, nationalallegorische Nedjma ist daher auch das genaue Gegenteil des kolonialen homo sacer und als ein dem Fremden enteignetes Eigenes in gewisser Weise die Ausnahme vom kolonialen Ausnahmezustand. Die Fügung, „[c]’est comme si elle n’était plus“ sollte man dabei allerdings nicht übergehen, denn die asketische Enthybridisierung enthebt Nedjma gleichsam ihrer selbst. Man wird sich also fragen müssen, ob die Verschleierung tatsächlich eine (Re-)Sakralisierung in bonam partem ist oder ob die solchermaßen Arabisierte nicht vielmehr doch wiederum eine Verfluchte ist. Dies führt dann auch zu der Frage nach der zeitlichen Situierung der Nadhor- Episode und mithin zur Funktion der Paralipse zurück. Wenn die Paralipse nämlich eine Figur der Nachträglichkeit, d.h. der Supplementarität, darstellt, dann ist die von ihr getragene Bedeutungsdimension eine Art Exzeß, der nicht mehr mit dem Erzählten zu verrechnen ist und dennoch zu ihm gehört. Daß die Nadhor-Episode in der Tat einer solchen Überschüssigkeit geschuldet ist, zeigt sich meines Erachtens besonders deutlich am Ende des Romans, das ja, wie bereits erwähnt, in der Dispersionsbewegung der „ombres [qui] se dissipent sur la route“ (244) besteht. Dies gilt umso mehr, als die Resakralisierung diese Dispersionbewegung umkehrt und die sterngleiche Nedjma zentriert. Ich würde daher auch dafür plädieren, die Verschleierung Nedjmas als Antithese zu der anderweitigen Romanhandlung zu lesen und damit als eine Negation von Differenz sowie der damit verbundenen wesentlich destruktiven libidinösen Dynamik. Letzteres bedeutet freilich, daß die radikale Enthybridisierung kein Ziel an sich sein kann, sondern nur die notwenige Stufe einer - im Text freilich aufgeschobenen - dialektischen Überwindung. 74 IV Vergleicht man die Schließungsbewegungen von L’Etranger und Nedjma, so ergeben sich zwei Modelle abgebrochener Dialektik. Während bei Kateb jedoch das antithetische Moment an der autochthonen Nedjma zum Austrag kommt, verankert Camus die Negation in das algerienfranzösische Subjekt. Indem Camus den Kolonisierten auf diese Weise jede historische agency entzieht, redupliziert er zugleich unweigerlich die paternalistische Struktur der Kolonie. Die Figur der passiven Abkehr, die Meursault dabei verkörpert, ist darüber hinaus kein revolutionäres Moment im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr jene Art der ‘Empörung’, wie sie Karl Marx und Friedrich Engels in „Die deutsche Ideologie“ kritisiert haben: „Es ist 188 die alte Einbildung, daß der Staat von selbst zusammenfällt, sobald alle Mitglieder aus ihm heraustreten [...].“ 75 Nun ist es nicht die Aufgabe literarischer Texte, Revolutionen auszurufen. Dessen ungeachtet erscheint mir diese ‘Empörung’ symptomatisch für die Position von Camus, der als Algerienfranzose eben nicht soweit gehen will, die radikale Antithese zur Kolonialsituation zu denken. Bei Kateb läge die Sache ähnlich, sofern man die Verschleierung als einen Akt der Abkehr lesen möchte. Die deutlich nationalallegorische Dimension Nedjmas legt es allerdings nahe, die Verschleierung als Arabisierung des Landes und damit weniger als Abkehr denn als aktive Rückgewinnung zu lesen. Die Problematik einer solchen Rückgewinnung besteht nun freilich darin, daß es genau genommen nichts zurückzugewinnen gibt; denn die Kultur des Kolonisisierten ist, wie Fanon zurecht bemerkt hat, „figée dans le statut colonial“. 76 Das im orientalistischen Stereotyp arretierte Eigene ist also immer schon seiner selbst entfremdet. Nichtsdestoweniger stellt die ‘Rückkehr’ zu dieser Schwundkultur für Fanon den einzig gangbaren Weg dar - dies allerdings um den Preis einer grundlegenden Paradoxie: La culture encapsulée, végétative, depuis la domination étrangère est revalorisée. Elle n’est pas repensée, reprise, dynamisée de l’intérieur. Elle est clamée. Et cette revalorisation d’emblée, non structurée, verbale, recouvre des attitudes paradoxales. (51) Wie man sieht, besteht die Paradoxie gerade darin, daß ein Eigenes übernommen wird, das eben kein Eigenes mehr sein kann. Hierin liegt aber auch das dialektische Moment, sofern das solchermaßen Entfremdete eine aktive Aneignung erfährt: Le corps à corps de l’indigène avec sa culture [...] est condition et source de liberté. La fin logique de cette volonté de lutte est la libération totale du territoire national. [...] La culture spasmée et rigide de l’occupant, libérée s’ouvre enfin à la culture du peuple devenu réellement frère. Les deux cultures peuvent s’affronter, s’enrichir. (51sq.) Die Aneignung des entfremdeten Eigenen erweist sich damit nicht nur als notwendige Vorstufe der Befreiung, sondern auch als die Keimzelle einer hybriden Kultur. Diese Synthese verweigert Nedjma auf der Ebene des énoncé. Die verschleierte Nedjma ist, wie Mustapha in seinem carnet vermerkt „stérile et fatale“ (177). Die gleiche Sterilität läßt sich an Rachid feststellen: Im Gefängnis wiederholt er mit Mourad noch einmal das für den Roman konstitutive Moment mimetischer Rivalität, das nun umso sinnloser erscheinen muß, als Nedjma ja zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr zu haben ist. Wenn Rachid darüber hinaus von sich selbst sagt, „trois ans que je n’ai rien devant moi“ (31), so scheint in dieser dysphorischen Leere auch die Freudsche „Weltkatastrophe“ auf, in deren Folge Rachid sich dem dauerhaften Haschischrausch ergibt und „den Personen seiner Umgebung und der Außenwelt überhaupt die Libidobesetzungen“ entzieht. 77 Es wäre dennoch voreilig, die der Verschleierung Nedjmas analoge Selbsttilgung Rachids nur als Symptom der Abkehr zu lesen; denn der kif ist eben nicht bloß ein Betäubungsmittel, sondern auch das Stimulans poetischer Sprache. Letzteres zeigt sich spätestens, 189 wenn Rachid dem öffentlichen Schreiber seine Geschichte erzählt und fordert: „N’écris pas, écoute mon histoire.“ (179) Die damit verbundene Aufwertung einer Oralität im Zeichen des rauschhaften furor poeticus korrespondiert mit jener Äußerung Si Moktars bezüglich der Genealogie der Keblout: „L’histoire de notre tribu n’est écrite nulle part [...].“ (137) Daraus läßt sich nun folgern, daß das Wesentliche eben gerade nicht in einer Schrift festgehalten werden kann, wie sie den Chroniken eignet. „N’écris pas, écoute mon histoire“ (179) heißt daher auch, einer linearen (Ab-)Schrift zu mißtrauen, denn das, was es zu sagen gilt, liegt jenseits des Darstellbaren. In diesem Sinne hat man schließlich Rachids Sprachkritik - „Se taire ou dire l’indicible“ (179) - zu verstehen. Schweigen oder das Unsagbare sagen - das ist die Umkehrung von Wittgensteins berühmter Maxime „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“, mit der der Tractatus logicophilosophicus schließt. 78 Nur das Unsagbare ist es wert gesagt zu werden. Wie aber sagt man das Unsagbare? Eine Antwort hierauf wäre die Allegorie - allerdings eine Allegorie, die sich nicht mehr nach dem vierfachen Schriftsinn in immer schon Gewußtes übersetzten läßt, sondern eine solche, deren Bedeutung aufgeschoben bleiben muß. Daß Rachid, auch wenn man in ihm eine Art Dichter im Werden festmachen will, 79 nicht das Organon dergleichen Allegorie sein kann, versteht sich. Man könnte jedoch dafürhalten, daß der Text Nedjma selbst das Organon des Unaussprechlichen darstellt. Diese narrative Metalepse, durch die der Roman die Forderung der Figur erfüllt, 80 verlagert nun freilich die Frage nach der Bedeutung von der Ebene des énoncé auf die Ebene der énonciation und damit auf die Bewegung der signification. Letzteres führt mich dann auch zu dem Satz zurück, der den Ausgang meiner Überlegungen gebildet hat: „Indépendance de l’Algérie, écrit Lakhdar, au couteau, sur les pupitres, sur les portes.“ (217). Nach herkömmlichen Allegorieverständnis müßte man die darin verschriftlichte Unabhängigkeit als die textimmanente Allegorese des Romans verstehen 81 - und dies wohl im Sinne eines sensus anagogicus, der ja, wie Jameson zurecht dargelegt hat, immer auf die Bekräftigung einer kollektiven Sinndimension abzielt. 82 Nun hat sich aber gezeigt, daß es in Nedjma weniger um dieses énoncé geht als vielmehr um die dem Messer zugeordnete zirkuläre énonciation. Das Messer ist das Medium der Schrift, und wenn man in diesem Zusammenhang Marshall McLuhan bemühen darf, auch deren Botschaft. 83 Es zirkuliert also gerade deshalb zwischen den Figuren, weil seine Bedeutung aufgeschoben bleiben muß, und gerade weil seine Bedeutung aufgeschoben ist, verkehrt sich diese Bedeutung in ihr Gegenteil. Dies mag nun auf dem ersten Blick wie ein taschenspielerischer Syllogismus anmuten, doch denke ich, daß sich in eben diesem Umschlag die libidinöse Semiotik des Romans entfaltet. Aus zeichentheoretischer Warte läßt sich das dabei in Frage stehende Verhältnis von énoncé und énonciation als ein Aufschub des Signifikats begreifen, der eine disseminatorische Bewegung des Signifikanten in Gang setzt, die mit dem Signifikat nicht mehr zu verrechnen ist. Jacques Derrida hat dieses Phänomen 1968 mit dem Neologismus différance bezeichnet. Entschei- 190 dend ist für das Konzept dabei zunächst die Engführung von Aufschub (différer), Umschlag (différence) und Verlauf (différant). 84 Dieser semiotischen Minimaldefinition zieht nun Derrida zugleich eine psychoanalytische Dimension ein, wenn er gleich zu Anfang seiner Ausführungen von einem Moment der Verzeitlichung spricht, das einen „détour suspendant l’accomplissement ou remplissement du ‘désir’“ bedeute, und diesem Aufschub in der Zeit einen räumlichen Abstand zuordnet, der zugleich eine „persérverance dans la répétition“ (8) hervorrufe. Solchermaßen in Anschlag gebracht erweist sich die différance als ein Zeichen bzw ein Begehren, durch dessen Aufschub es zu einer differentiellen Bewegung in der Zeit kommt, die sich ihrerseits nach Maßgabe des Wiederholungszwanges artikuliert, und das deswegen, weil sie von dem Zeichen bzw. dem Begehrten räumlich getrennt bzw. von diesem semantisch unterschieden ist. Inwiefern Derrida mit dem Konzept der différance auf seine eigene in-betweenness rekurriert, kann ich hier nicht diskutieren. 85 Es dürfte jedoch deutlich geworden sein, das die libidinöse Semiotik von Nedjma eben diesem Konzept entspricht, wenn das aufgeschobene Signifikat/ Begehren (die Unabhängigkeit) in eine differentielle Bahnung des Signifikanten (das Messer) umschlägt und diese Bahnung ihrerseits das Gegenteil des begehrten Signifikats (die mimetische Rivalität) unaufhörlich wiederholt. Damit ist die différance aber zugleich die Vertextungsfigur des Romans; denn erst das aufgeschobene Signifikat - sei es die Unabhängigkeit, sei es Nedjma - setzt die Kette der Signifikation in Gang, durch die das Unsagbare zum Ausdruck kommt. In letzter Instanz bedeutet das freilich, daß die in der Lebenswirklichkeit aufgeschobene Unabhängigkeit auf einen literarischen Text verschoben wird und so die libidinöse Besetzung der Nation auf dem ‘anderen Schauplatz der Literatur’ supplementär zum Austrag gebracht wird. Das kann man nun als Abkehr lesen; ich würde jedoch meinen, daß es sich dabei um etwas anderes handelt. Meines Erachtens ist der ‘andere Schauplatz der Literatur’ der einzige Ort, an dem die Überwindung des von Fanon konstatieren Entfremdungsparadoxons überhaupt stattfinden kann. 86 Erst in dieser Literatur der différance, die im Medium des Anderen (der französischen Sprache) um das (das von der Fremdherrschaft enteignete) Eigene kreist, erst in dieser zutiefst hybriden énonciation, kann es dazu kommen, „[que] [l]es deux cultures peuvent s’affronter, s’enrichir“. 87 Eben diese Literatur bildet dann auch jenen Third Space of enunciation den Homi Bhabha von Derridas Schultern herab für die postcolonial studies ausgerufen hat. 88 Bei Kateb - und das macht vielleicht seinen größten Reiz aus - kann man miterleben, wie dieser ‘Dritte Raum’ performativ geöffnet wird, lange bevor er seinerseits zum Gemeinplatz geworden ist. 191 1 Frederic Jameson: „Third-World Literature in the Era of Multinational Capitalism“, in: Social Text, 15, 1986, 65-88. 2 Albrecht Koschorke hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, in welchem Maß die Entwicklung des neuzeitlichen Romans jener Ausdifferenzierung von einer zunächst noch höfischen - und immer auch öffentlich-politischen - ‘Erotik des Umgangs’ zu einem bürgerlichen Liebes- und Ehe-Ideal der Innerlichkeit geschuldet ist. Der empfindsam-psychologische Roman erweist sich damit als das Produkt einer Verschließung des Körpers gegen sein Außen und mithin als die Diskursivierung einer Abkehr vom Politischen und Ökonomischen. Cf. Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München, Fink, 1999, 15-35. 3 Jameson, 1986, op. cit., 69. 4 Der dem Jus Publicum Europaeum zugrunde liegende Nomos-Gedanke ist nicht unumstritten. In einer ersten Deutung übersetzt Schmitt das gr. Verb. nemein mit ‘nehmen’ und setzt so die Etablierung positiven Rechts (nomos im Sinne von ‘Ordnung’) in Kausalbeziehung zu der Landnahme (‘der Ortung’) der Griechen auf dem Peleponnes. Dieses territorial-juridische Kompositum gewinnt mit der „Raumrevolution“ der Frühen Neuzeit eine bislang ungeahnte Dimension, wenn das den nach innen hin antagonistischen europäischen Staaten gemeinsame Völkerrecht auf einer ‘Nahme’ des im Zuge der Entdeckungen in den Blick tretenden ‘freien’, d.h. nicht von Christen besiedelten Raums basiert. Diese kollektive Landnahme impliziert - so Schmitts zweite Ausdeutung des Begriffs nemein - zugleich ein ‘Teilen’ und ‘Verteilen’ der genommenen Gebiete. Die Verteilung des ‘freien’ Raums legitimiert das päpstliche Edikt Inter caetera divinae von 1494, in dem jene berühmte Linie festgelegt wird, die 100 Meilen westlich des Meridians der Azoren und des Cap Verde vom Nordzum Südpol verläuft und an der sich die, ebenfalls 1494 im Vertrag von Tordesillas ausgehandelten Rechtstitel Kastiliens und Portugals scheiden. Als dritte Bedeutung von nemein führt Schmitt schließlich das ‘Weiden’ und damit die ökonomische Ausbeutung des ‘leeren Raums’ an, wodurch sich für die europäische Weltordnung der anbrechenden Neuzeit der Dreischritt von „Nehmen-Teilen-Weiden“ ergibt. Cf. Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum (1950), Berlin, Dunker & Humblot, 3 1988, 36-48, 53-111, 156-184. Schmitts Analyse der europäischen Kolonialgeschichte von ihren Ursprüngen in Griechenland bis zum 20. Jahrhundert ist vielfach auf Widerstand gestoßen und nicht zuletzt mit der Rolle des Staatsrechtlers im Dritten Reich zusammengebracht worden. Nichtsdestoweniger liegt die Stärke der Studie - wie auch immer man zu ihrem Verfasser stehen mag - in einer rechtsgeschichtlichen Perspektivierung des historischen Materials, die auch heute bedauerlicherweise kaum an Aktualität eingebüßt hat. „Bedenkenswert bleibt“ Jörg Dünne zufolge daher an Schmitts Nomos-Denken, daß es „gleichsam wider Willen auf die komplexen territorialen und machtpolitischen Implikationen aktueller Konflikte verweist, die sich, anders als viele (neo)liberale Globalisierungstheorien annehmen, mitnichten zu einer ent-territorialisierten globalen Weltordnung auflösen lassen.“ Cf. „Politisch-geographische Räume. Einleitung“, in: ders. u. Stephan Günzel (eds.), Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosopie und Kulturwissenschaften, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2006, 371-385. Hier 378. 5 Benedict Anderson: Imagined Communites. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 2. erw. Aufl., London u. New York, Verso, 1991. Zum Verhältnis von Buchdruck und Nationalbewußtsein cf. 37-46. Zum post-kolonialen Amerika ibid. 52-65. 6 Doris Sommer: „Love and the Country: An Allegorical Speculation“, in: dies., Foundational Fictions. The National Romances of Latin America, Berkeley u. a., University of California Press, 1991, 30-51. 192 7 Wie man weiß, hat Lacan das Konzept des ‘Spiegelstadiums’ zunächst an dem motorisch noch unausgereiften Kleinkind entwickelt, dessen durch die Abhängigkeit von der Mutter bedingte Selbstwahrnehmung er als „corps morcelé“ bezeichnet hat. Der Blick in den Spiegel auf ein visuell erfaßbares ganzes Selbst - das Spiegelbild - läßt nun an die Stelle der problematischen Selbstwahrnehmung ein Ich-Ideal treten, mit dem sich das Subjekt imaginär-narzißtisch identifizieren kann. Das ‘Spiegelstadium’ entfremdet damit das Subjekt dahingehend, daß es die Imago illusorischer Ganzheit für die Ganzheit selbst nimmt. Cf. „Le stade du miroir comme formateur de la fonction du Je“ (1949), in: Jacques Lacan, Ecrits, Paris, Seuil 1966, 93-100. 8 Jameson 1986, op. cit., 71, sowie Sigmund Freud, „Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia“ (1911), in: Studienausgabe, Bd. VII, ed. Alexander Mitscherlich, Frankfurt/ M., Fischer, 1973, 133-204. Es sei darauf hingewiesen, daß Freud die Analogie zur Literatur selbst herstellt, wenn er im Nachtrag von 1911 feststellt: „Dieser kleine Nachtrag zur Analyse eines Paranoiden mag dartun, [...] daß die mythenbildenden Kräfte der Menschheit nicht erloschen sind, sondern heute noch in den Neurosen dieselben psychischen Produkte erzeugen wie in den ältesten Zeiten.“ (203) Sein wesentlich allegorisches Verständnis des Psychischen legt Freud bekanntermaßen am Traum dar, wo er von einem vermittels Metapher („Verdichtung“) und Metonymie („Verschiebung“) im „Trauminhalt“ verschlüsselten bzw. zensierten „Traumgedanken“ ausgeht. Cf. Traumdeutung (1900), in: Studienausgabe, op. cit., Bd. II, 305sqq. 9 „A Madman’s Diary“ funktioniert nach dem Prinzip des aufgefundenen Manuskripts, wobei dem hypodiegetischen Tagebuch eine Rahmenerzählung (die Überreichung des Manuskripts durch den Bruder des abwesenden Verfassers) vorausgeht, jedoch kein Text mehr folgt. 10 Cf. Tzvetan Todorov: Introduction à la littérature phantastique, Paris, Seuil, 1970, 28-45. 11 Freilich funktioniert auch Lu Xuns Erzählung mutatis mutandis nach dem Prinzip der phantastischen Ambivalenz, wenn es gleich zu Anfang heißt: „This morning when I went out cautiously, Mr. Zhao had a strange look in his eyes, as if he were afraid of me, as if he wanted to murder me. There were seven or eight others who discussed me in a whisper. And they were afraid of my seeing them. So, indeed, were all the people I passed. The fiercest among them grinned at me; whereupon I shivered from head to foot, knowing that their preparations were complete.“ Diese Ambivalenz wird - zumindest innerhalb des intern fokalisierten hypodiegtischen Berichts - nicht aufgelöst. Wenn dieser jedoch mit dem deutlichen Appell „Perhaps there are still children who haven’t eaten men? Save the children...“ endet, dann tritt eben jene (national-)allegorische Komponente in den Vordergrund, die Todorov (1975, op. cit., 63sqq., zufolge nicht mehr mit dem Phantastischen zu verrechnen ist. Cf. Lu Xun: Selected Works, Bd. I, übers. v. Yang Xianyi u. Gladys Yang, Peking, Foreign Languages Press, 1956, 40 u. 51. 12 Cf. hierzu das Kapitel „DissemiNation: Time, Narrative and the Margins of Modern Nation“, in: The Location of Culture, London u. New York, Routledge, 1994, 139-170. 13 In diesem Sinne wird auch bei Lu Xun 1956, op. cit., 39, die ‘Gesundung’ des paranoiden Bruders beschrieben: „[M]y brother recovered some time ago and has gone elsewhere to take up an official post.“ Da nun der Erzähler den Bruder nicht zu Gesicht bekommt, bleibt freilich offen, ob dies den Tatsachen entspricht oder ob der nur vermeintlich paranoide Bruder in Wirklichkeit doch das Opfer seiner Familie geworden ist. 14 Cf. hierzu das Kapitel „Du prétendu complexe de dépendence du colonisé“, in: Peau noire, masques blancs, Paris, Seuil, 1952, 69-89. 193 15 Cf. hierzu Frantz Fanon: „Racisme et culture“, in Pour une révolution africaine. Ecrits politiques (1964), Paris, La Découverte, 2006, 37-52. 16 „J’appelle stratégie le calcul (ou la manipulation) des rapports de forces qui devient possible à partir du moment où un sujet de vouloir et de pouvoir [...] est isolable. Elle postule un lieu susceptible d’être circonscrit comme un propre [...], c’est-à-dire le lieu du pouvoir et du vouloir propres.“ Cf. Michel de Certeau: L’Invention du quotidien. I. Arts de faire (1980), ed. L. Giard, Paris, 1990, 59. 17 Louis Althusser: „Idéologie et appareils idéologiques d’état (notes pour une recherche)“, in: ders., Sur la réproduction, Paris, P.U.F., 1995, 269-314. Althusser veranschaulicht das Wesen der Interpellation zunächst an der Anrufung durch die Polizei („hé, vous, là-bas“), die das Individuum dazu zwingt, sich um 180 Grad zu drehen und über sich selbst im Sinne des Gesetzes Auskunft zu geben (305). Eine komplexere Form besteht in der Interpellation durch die christliche Religion, die eine freiwillige Unterwerfung unter das ideale christliche Sujet (le Sujet Absolu) voraussetzt, zugleich aber auch die Anerkennung (reconnaissance) als Christ und die Eingliederung in die Gemeinschaft mit sich bringt (307sqq.). Letzteres ist Althusser zufolge auch die wesentliche Funktion jedweder Ideologie. Unabdingbar ist hierzu das spekulare Moment der Identifikation: „Nous constatons que la structure de toute idéologie est spéculaire, c’est á dire en mirroir, et doublement spéculaire [car] le Sujet Absolu […] interpelle autour de lui des individus en sujets, dans une double relation spéculaire telle qu’elle assujettit les sujets en Sujet, tout en leur donnant, dans le Sujet où tout sujet peut contempler sa propre image […], la garantie [...] qu’à condition que les sujets reconnaissent ce qu’ils sont et se conduisent en conséquence, tout ira bien“ (310). 18 Žižek verweist darauf, daß es gerade diese Uneinholbarkeit ist, die den Erfolg der Interpellation garantiert, da sie dem Subjekt die Möglichkeit läßt, zur ideologischen Identifikation eine - wiederum imaginäre - Distanz einzunehmen: „[I]deological identification succeeds precisely inasmuch as I perceive myself as ‘a full human person’ who ‘cannot be reduced to a puppet, to an instrument of some ideological big Other’.“ Cf. The Ticklish Subject. The Absent Centre of Political Ontology, London, 1999, 259. Kurs. v. Verf. 19 Cf. Certeau 1990, op. cit., 60sq.: „[J]’appelle tactique l’action calculée que détermine l’absence d’un propre. Alors aucune délimitation de l’extériorité ne lui fournit la condition d’une autonomie. La tactique n’a pour lieu que celui de l’autre. Aussi doit-elle jouer avec le terrain qui lui est imposé tel que l’organise la loi d’une force étrangère.“ 20 Zum Begriff der Konterdiskursivität als einer ‘Ausbettung’ literarischer Texte aus ihren diskursiven Kontexten cf. Rainer Warning: „Poetische Konterdiskursivität: Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit Foucault“, in: ders., Die Phantasie der Realisten, München, 1999, 313-345. 21 Cf. hierzu das Kapitel „The Other Question: Stereotype, Discrimination and the Discourse of Colonialsm“, in: Bhabha 1994, op. cit., 85-93. Bhabha geht hier von der Freudschen Fetisch-These aus, wonach der Fetisch einen Mangel - den fehlenden Penis der Mutter - substituiert und deshalb libidinös besetzt ist, weil er damit das männliche Subjekt vor der Kastrationsangst - also der Furcht, so zu werden wie die Mutter - bewahrt. Vgl. Sigmund Freud, „Fetischismus“ (1927), in: Studienausgabe, op. cit., Bd. III, 379-388. Die Hautfarbe des Anderen ist Bhabha zufolge nun deshalb ein Fetisch, weil sie jenen Mangel an Substanz auf Seiten des Stereotyps substituiert, der die privilegierte Position des eurozentrische Subjekts bedroht. 194 22 Orientalism. Western Conceptions of the Orient (1978), London, Penguin, 1995. Hier bes. das Kapitel „Imaginative Geography and its Representations: Orientalizing the Oriental“, 49-110. 23 „Can the Subaltern Speak? “, in: Cary Nelson u. Lawrence Grossberg (eds.): Marxism and the Interpretation of Culture, Urbana u. Chicago, University of Illinois Press, 1980, 271- 313. Zur epistemic violence s. näherhin 281sqq. 24 Cf. hierzu das Kapitel „Of Mimicry and Man: The Ambivalence of Colonial Discourse“, in: Bhabha, 1994, op. cit., 85-92. 25 In diesem Sinne, gleichwohl mit anderem Vorzeichen, argumentiert Alec G. Hargreaves, wenn er nach einer längeren Betrachtung der kolonialen Asymmetrie zu dem Schluß kommt, daß es gerade die Ethnizität des ‘Arabers’ war, die dazu beitrug, daß das Todesurteil von Camus und dem europäisches Publikum des Jahres 1942 als absurd empfunden werden konnte. Cf. „History and Ethnicity in the Reception of L’Etranger“, in: Adele King (ed.): Camus’s L’Etranger: Fifty Years on, New York, St. Martins Press, 1992, 101- 112. Hier 109. 26 So schreibt 1967 etwa der damalige Bildungsminister des unabhängigen Algerien, Ahmed Taleb Ibrahimi: „En tuant l’Arabe, Camus réalise de manière subconsciente le rêve du pied-noir qui aime l’Algérie mais ne peut concevoir cette Algérie que débarrassée des Algériens.“ De la décolonisation à la revolution culturelle (1962-1972), Algier, Société Nationale d’Edition et Diffusion, 1981, 198. 27 Der Begriff des writing back („...the Empire writes back to the Center...“) wurde ursprünglich von dem indischen Romancier Salman Rushdie geprägt. In das theoretische Arsenal der postcolonial studies eingegangen ist er durch die von Bill Ashcroft u. a. verfaßte Studie, The Empire Writes Back. Theory and Practice in post-colonial literatures, London u. New York, Routledge, 1989. 28 Cf. hierzu knapp Kristine Aurbakken: L’étoile d’araignée: une lecture de Nedjma de Kateb Yacine, Paris, Publisud, 1986, 49sq. 29 Cf. Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben (1995), übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2002, 18-22. 30 Obzwar selbst in Algerien gebürtig hat Derrida sein Konzept ursprünglich nicht in einem postkolonialen Kontext verortet. Brückenkopf zwischen Derrida und den postcolonial studies ist zweifellos Gaytari Spivac, die seinerzeit die englische Übersetzung von De la grammatologie besorgt hat. Das Werk Bhabhas steht schließlich unbestreitbar im Zeichen des französischen Philosophen. Cf. hierzu auch unten Anm. 85 31 Cf. hierzu überblicksweise Brian T. Fitch: L’Etranger d’Albert Camus. Un texte, ses lecteurs, ses lectures, Paris, Larousse, 1972, 78-89. 32 Cf. „Trauer und Melancholie“ (1917), in: Studienausgabe, op. cit., Bd. III, 193-212. Hier bes. 211sq. Eine Deutung in diese Richtung findet sich erstmals bei Arminda A. de Pichon-Rivière u. Willy Baranger, „Répression du deuil et intensification des mécanismes et des angoisses schizo-paranoïdes (notes su L’Etranger de Camus)“, in: Revue Française de Psychanalyse, 23, 1959, 409-420. 33 Aus diese Spannungsfeld ergibt sich dann auch eine Interpretation der Affektstruktur, wonach Marie, die ja schon durch ihren Namen auf die Muttergottes verweist, ein auf der Textebene weitgehend entsexualisiertes Liebesobjekt sein muß. Cf. Christine Margerrison: „The Dark Continent of Camus’s L’Etranger“, in: French Studies, 55, 1, 2001, 59-73. 34 Wolf-Dietrich Albes: Albert Camus und der Algerienkrieg. Die Auseinandersetzung der algerienfranzösischen Schriftsteller mit dem „directeur de conscience“ im Algerienkrieg (1954-1962), Tübingen, Niemeyer, 1990, 18-22. 195 35 Zum ‘künstlerischen Raum’ als einem sekundär modellbildenden System, das, topologisch-topographisch ausgerichtet, in disjunkte, semantisch oppositionell codierte Teilbereiche gegliedert ist cf. Die Struktur literarischer Texte (1970), übers. R.-D. Keil, München, Fink, 3 1989, 311-340. Hinsichtlich der tatsächlichen Raumordnung sei darauf hingewiesen, daß die littoralen Gebiete spätestens seit den 1880er Jahren von den großen französischen Weinkonzernen in Beschlag genommen waren und (die Städte eingeschlossen) etwa 80 % der europäischen Bevölkerung beherbergten. Cf. Pierre Bourdieu: Sociologie de l’Algérie (1961), Paris, PUF, 8 2006, 111. 36 Ich zitiere L’Etranger nach der gängigen Folio-Ausgabe, die im Satz der Gallimard-Ausgabe Paris 1942 entspricht. Hier 35. 37 Albes 1990, op. cit., 24. 38 Bourdieu 2006, op. cit., 118sqq. Eine weiterführende Darlegung findet sich in: ders. u. Abdelmalek Sayad, Le déracinement. La crise de l’agriculture traditionelle en Algérie, Paris, Minuit, 1964. 39 Gleich zu Anfang des Romans hebt Meursault auf diesen Aspekt der Mutter/ Sohn-Beziehung ab: „Quand elle était à la maison, maman passait son temps à me suivre des yeux en silence.“ (12) 40 Cf. Robert Silhol, „L’Etranger et le desir de l’Autre“, in: Henk Hillenaar u. Walter Schönau (eds.): Fathers and Mothers in Literature, Amsterdam u. Atlanta/ Ga., Rodopi, 1994, 199- 209. Hier 204, 205 u. 209. 41 Cf. „Der konditionierte Fremde. Selbst- und Fremdbetrachtungen in Camus’ L’Etranger“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 50, 4, 2000, 479-500. Hier 491. 42 Ich zitiere nach La Bible. Ancien et Nouveau Testament. Traduite de l’hébreu et du grec en français courant, Alliance Biblique Universelle, 1988. 43 Bourdieu 2006, op. cit., 114. 44 Cf. oben Anm. 35. 45 Der Koran, übers. v. Adel Theodor Khoudry u. Muhamed Salim Abdullah, Gütersloh, GTB, 1987. 46 Bhabha 1994, op. cit., 89. 47 Freud 1911, op. cit. 192. (Cf. Anm. 8) 48 Zu einer Deutung des Unheimlichen in diesem Sinne cf. Sigmund Freud, „Das Unheimliche“ (1919), in: Studienausgabe, op. cit, Bd. IV, 242-274. 49 Cf. hierzu oben Anm. 17. 50 „Kritik der Gewalt“, in: ders. Gesammelte Schriften, Bd. II.1, ed. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1977, 179-203. Hier 197sq. 51 Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem, ed. R. Gryson, Stuttgart, Deutsche Bibelgesellschaft, 4 1994. Kurs. v. Verf. 52 Studienausgabe, op. cit., Bd. VII, 191-196. 53 Zur Figuraltypologie als gemeinsames Moment von Bibelexegese und allegorischer Dichtung s. den auch heute noch grundliegenden Dante-Aufsatz von Erich Auerbach, „Figura“, in: ders., Neue Dantestudien, Istambul, 1944, Basimeri, 11-71. 54 Cf. hierzu oben Anm. 26. 55 Ich kann hier nur in aller Knappheit auf die Implikate des Benjaminschen Messianismus eingehen. Die Parallele zu den Paulinischen Briefen - und näherhin zum Römerbrief - hat erstmals Jacob Taubes diskutiert. Cf. Die Politische Theologie des Paulus (1993), München, Fink, 3 2003, 100-106. Gleiches gilt für die Nähe zu Carl Schmitt und der Denkfigur des Ausnahmezustandes, die Benjamin übrigens in einem enkomiastischen Brief an den Verfasser der Politischen Theologie deutlich zum Ausdruck gebracht hat. Cf. Ad Carl 196 Schmitt. Gegenstrebige Fügung, Berlin, Merve, 1987, 27. Giorgio Agamben deutet nun den Benjaminischen ‘Ausnahmezustand’ dahingehend, daß in ihm rechtssetzende Gewalt und gesetzten Rechtsnormen in die Aporie geraten und folglich mythische und göttliche Gewalt in ihrer Manifestation nicht mehr klar zu scheiden sind. Cf. Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben (1995), übers. v. Hubert Thüring, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2002, 75. Eben diese Aporie hat schließlich Jacques Derrida dazu veranlaßt, Benjamins „Kritik“ als eine Art gedankliche Präfiguration der ‘Endlösung’ zu deuten. Cf. „Post-Scriptum“, in: Force de Loi. Le „Fondement mystique“ de l’autorité, Paris, Galilée, 2005, 137-146. Hier 143sqq. 56 Diesen Aspekt wiederholt Fanon, der im Unabhängigkeitskrieg aktiv für den Front de Libération National arbeitet, immer wieder in seinen Artikeln in der Zeitung El Moudjahid. So etwa in dem am 16.4.1958 erschienen Artikel mit dem Titel „Décolonisation et indépendance“: „Le FLN ne vise pas à réaliser une décolonisation de l’Algérie ou un assouplissement des structures oppressives. Ce que le FLN réclame, c’est l’indépendance de l’Algérie. Une indépendance qui permette au peuple algérien de prendre totalement son destin en main. La révolution algérienne a introduit un scandale dans les déroulements des luttes de libération nationale. En général le colonialisme, au moment où l’histoire et la volonté national le nient, parvient à se maintenir comme vérité. [...] Le colonialisme français ne sera pas légitimé par le peuple algérien. [...] C’est pourquoi il n’est jamais question dans nos déclarations d’adaptation ou d’allégement, mais bien de restitution.“ Cf. Fanon 2006, op. cit., 116-123. Hier 118. 57 Nedjma wird durchweg zitiert nach der Ausgabe der Editions du Seuil 1956, die seitenidentisch in der Points-Ausgabe von 1996 wieder aufgelegt worden ist. 58 Zur kataklystischen Sujetfügung, bei der ein Außenraum einen Innenraum auslöscht vgl. Jurij M. Lotman, „Zur Metasprache typologischer Kulturbeschreibung“, in: ders., Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur, Kronberg, Scriptor, 1974, 338- 377. Hier 359. 59 Ich argumentiere hier eingedenk René Girards These, wonach eine bestimmte Person oder Gruppe nicht deshalb den Status des Sündenbocks bekommt, weil sie für die Entdifferenzierung der Gemeinschaft verantwortlich ist, sondern weil sie Züge aufweist, die auf die bereits bestehende Entdifferenzierung bezogen werden können. Cf. Le bouc émissaire, Paris, Grasset, 1985, 34sqq. 60 Hierauf hat bereits Jacqueline Arnaud in ihrem mittlerweile kanonischen Nedjma-Kapitel hingewiesen, wo sie die Polygamie als „frustration de vaincus tournée [...] en aventures amoureuses et combats singuliers“ deutet. Cf. La littérature maghrébine de langue française. Tome 2: Le cas de Kateb Yacine, Paris, Publisud, 1986, 255-326. Hier 286. 61 Zum ‘mimetischen Begehren’ und dessen destruktiver Dynamik für die betroffene Gesellschaftsstruktur s. René Girard: La violence et le sacré, Paris, Grasset, 1979, 81sq. 62 Eine ausführliche Analyse der Ereignisse, auf die ich hier nicht im Detail eingehen kann, findet sich bei Jean-Louis Planche: Sétif 1945. Histoire d’un massacre annoncé, Paris, Perrin, 2006, 110sqq. Planche geht dort von einem Insurrektionsphantasma auf Seiten der kolonialen Administration aus, das eine Dynamik der Angst erzeugt, die schließlich die gewaltsame (Re-)Aktion hervortreibt. 63 Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922/ 33), Berlin, Duncker & Humblot, 8 2004, 13sq. 64 Cf. hierzu vor allem den zweiten Teil von Homo sacer, op. cit., 81-126. 65 Cf. hierzu Arnaud 1986, op. cit., 285-290., sowie Aubakken 1986, op. cit., 121-138. 66 Nouveau Rhin, 18. Okt. 1956, zit. n. Arnaud 1986, op. cit., 255. 197 67 Ich beziehe mich hier wie bereits in Anm. 32 auf Freuds Aufsatz „Trauer und Melancholie“. Hier bes. 211sq. 68 Arnaud 1986, op. cit., 295. 69 Cf. hierzu die einschlägigen Textstellen. Bei Rachids Rückkehr von der Baustelle bei Bône heißt es: „Deux nuits après le crime, il était revenu par le train de Constantine [...].“ (161). Ebenso: „Rachid était arrivé.... Il revenait d’une longue absence.“ (144). Bezüglich der Zeit vor seiner Inhaftierung sagt Rachid: „Longtemps que je suis revenu du chantier, longtemps que je suis sans travail, trois ans que je n’ai rien devant moi.“ (31). Diese Ortsgebundenheit wird später noch deutlicher: „L’ami [sc. Mourad] était au bagne. Rachid ne cherchait plus de travail, ne quittait plus le fondouk où il s’était aventuré après une période, qu’il avait crue salutaire, d’isolement dans la maison de sa mère, morte à son insu pendant qu’il était employé „sur les lieux de la tragédie „ [sc. le chantier] [...].“ (161) Für die Zeit nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis gilt das gleiche: „Rachid ne quittait plus le fondouk [...]. Il ne quitterait plus Constantine, mourrait probablement au balcon, dans une nuage d’herbe interdite“ (159). 70 Cf. Arnaud 1986, op. cit., 321. Genette entwickelt den Begriff der Paralipse an Proust, der zentrale affektive Ereignisse im Leben Marcels dergestalt nachträgt, daß sie sich nicht mehr in eine Lücke der Erzählung fügen, sondern das Erzählte nachträglich verändern. Cf. Figures III, Paris, Seuil, 1973, 93. 71 Arnaud 1986, op. cit., 323. Ebenso Charles Bonn, Kateb Yacine: Nedjma, Paris, PUF, 1990, 32. 72 Cf. hierzu Marc Gontard, Nedjma de Kateb Yacine. Essai sur la structure formelle du roman, Rabat, Agdal, 1975. Eine Zusammenfassung der Debatte unter Beibehaltung seiner ursprünglichen These liefert Gontard in dem Aufsatz, „A propos de la séquence de Nadhor“ in: Charles Bonn (ed.): Actualité de Kateb Yacine, Paris, L’Harmattan, 1993, 133- 144. 73 Einer Deutung, wie sich Patricia Frederic liefert, wonach es sich bei Si Mokhtar um einen Sündenbock im Sinne Girards (cf. oben Anm. 59 u. 61) handele, würde ich dennoch nicht vorbehaltlos zustimmen. Zum einen ist ja Si Mokthar - wenngleich hier unschuldig - in der Tat die zentrale Entdifferenzierungsfigur des Romans, zum anderen wird durch seine Tötung keine neue Ordnung etabliert, sondern vielmehr eine alte Ordnung in ihrer Wirkungsmacht bekräftigt. Cf. „The Triad and the Sacrifice in Kateb Yacines Nedjma“, in: Romanic Review, 82, 2, 1991, 233-239. 74 Dies gilt ebenfalls für die zur Debatte stehenden Gender-Positionen. Winifred Woodhall weist hier zurecht darauf hin, daß der Schleier den Widerstandskämpferinnen während des Unabhängigkeitskrieges dazu diente, gefährliche Missionen auszuführen und Bomben zu transportieren. Die mit der Verschleierung verbundene Rückkehr zu der überkommenen Geschlechter-Asymmetrie, erweist sich aus diesem Blickwinkel als umso anachronistischer. Ich würde mich daher Woodhall anschließen, wenn sie die Verschleierung Nedjmas als eine double-bind-Struktur deutet, in der aufscheint, „what is at stake for women in the subjective and social transformations of the Algerian revolution.“ Cf. „Rereading Nedjma: Feminist Scholarship and North African Women“, in: SubStance, 69, 1992, 46-64. Hier 53 u. 59. 75 Karl Marx/ Friedrich Engels: „Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen Propheten“, in: dies., Werke, Berlin, Dietz, 1962, Bd. III, 9-530. Hier 362. 76 „Racisme et culture“, in: Fanon 2006, op. cit., 37-52. Hier 42. 198 77 Freud 1911, op. cit., 192. 78 Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus / Logisch-philosophische Abhandlung (1921), Frankfurt/ M., Suhrkamp, 22 1989, 115. 79 Cf. hierzu Arnaud 1986, op. cit., 326. 80 Zur narrativen Metalepse cf. Genette 1973, op. cit, 244sqq. 81 Etwa nach Art der permixta apertis allegoria, bei der proprium und improprium in einem Syntagma koexistieren. Cf. hierzu Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft (1960), Stuttgart, Steiner, 3 1990, § 807. 82 The Political Unconscious. Narrative as a Socially Symbolical Act (1981), London u. New York, Routledge, 1983, 16. 83 Cf. „The Medium Is the Message“, in: Marshall McLuhan, Understanding Media. The Extensions of Man (1964), Cambridge/ Mass. et al., MIT, 7-21. 84 „La différance“ (1968), in: Jacques Derrida: Marges de la philosophie, Paris, Minuit, 1972, 1-30. Hier 8sq. 85 Cf. hierzu die autobiographische Schrift Le monolinguisme de l’autre, Paris, Galilée, 1996, wo sich Derrida ausführlich mit seiner sprachlichen und emotionalen Situation als assimilierter algerischer Jude auseinandersetzt. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer „alienation [...] qui n’ait jamais pu réprésenter sa veille“ (48) und bezieht diese „structure d’alienation sans alienation“ (49) schließlich auf das Konzept der „différance“ (50). 86 Ich wäre daher auch zögerlich, den Roman als ein ‘freies’ Spiel der Differenz zu sehen, das, wie John D. Ericson meint, „through the use of relativism“ immer schon jenseits der (Kolonial-)Geschichte stehe. Cf. „Kateb Yacine’s Nedjma: A Dialogue of Difference“, in: SubStance, 69, 1992, 30-45. Hier 42sq. 87 Fanon 2006, op. cit., 52. 88 Bhabha 1994, op. cit., 36-39. Stephan Leopold: Hégémonie problématique, investissement libidinal. Sur la formation des allégories coloniales à l’exemple d’Albert Camus (L’Etranger) et de Kateb Yacine (Nedjma). En partant de l’hypothèse que la communauté nationale est surtout imaginée (B. Anderson), on peut concevoir la littérature coloniale comme médiatrice entre une légitimation et hégémonie problématiques et des narratifs pédagogiques qui visent à normaliser et naturaliser l’asymétrie qui existe entre le colonisé et le colonisateur. Cette littérature est allégorique dans le sens qu’elle est toujours liée à la situation coloniale - ou bien l’affirmant, ou bien la questionnant. Il y a, donc, un moment libidinal - soit-il positif, soit-il négatif - dans cette littérature dont l’objet est la nation (F. Jameson). Le but de cet article sera d’examiner à l’exemple de l’Algérie comment ce moment libidinal est formateur des allégories coloniales qui s’ouvrent à un futur incertain et produisent ainsi un ‘troisième’ espace de la littérature (H. Babha). 3: 32 199 Roland Höhne Kommunal- und Kantonalwahlen 2008 Zehn Monate nach der Wahl von Nicolas Sarkozy zum Staatspräsidenten und neun Monate nach dem Sieg der republikanischen Rechten bei den Parlamentswahlen 2007 konnte die Linke, insbesondere die Sozialistische Partei PS bei den Kommunal- und Kantonalwahlen vom März 2008 einen großen Erfolg erringen. Gemeinsam mit den Grünen (les Verts) wurde sie wieder zur stärksten Kraft auf der lokalen Ebene. Die republikanische Rechte verlor an Stimmen, konnte sich aber weitgehend behaupten. Das Zentrum wurde dagegen zwischen den beiden Blöcken zerrieben und die Randparteien trotz punktueller Erfolge erneut marginalisiert. Der Trend zum Zweiparteiensystem setzte sich somit auch auf der kommunalen Ebene fort. Allerdings blieb der Parteienpluralismus auf dieser innerhalb der beiden Lager erhalten. Die beiden Großparteien PS und UMP dominierten zwar eindeutig, aber neben ihnen behaupteten sich auch noch einige Kleinparteien, wenngleich oft nur mit ihrer Hilfe. Die politische Landkarte der lokalen Ebene ist weiterhin bunter als die nationale. Kommunal- und Kantonalwahlen sind auch im Zentralstaat Frankreich primär von lokaler Bedeutung. Infolge der personellen Verflechtung der lokalen und der nationalen Ebene des politischen Systems durch die Ämterkumulation haben sie jedoch auch eine nationale Dimension. Viele Abgeordnete der Nationalversammlung sind gleichzeitig Bürgermeister (député-maire) und fast alle Minister sind Mitglied eines Gemeinderates oder streben ein lokales Mandat an. Sie engagieren sich daher aktiv im Wahlkampf. Verstärkt wird die nationale Dimension durch die Rolle der Parteien. In den größeren Kommunen bestimmen sie das Wahlangebot und organisieren den Wahlkampf. Dadurch gewinnen auch ihre nationalen Zentralen Einfluß auf die Wahlen. Schließlich werden die Kommunal- und Kantonalwahlen auch als nationales Ereignis wahrgenommen, weil sie am gleichen Tag stattfinden. Die nationale Bedeutung der Kommunal- und Kantonalwahlen ist aber dann besonders groß, wenn sie knapp ein Jahr nach nationalen Wahlen stattfinden, wie dies im März 2008 der Fall war. Regierungswie Oppositionsparteien wollten sie dann zu einem nationalen Test machen und richteten daher ihre Strategien an diesem Ziel aus. Die Regierungsparteien suchten eine Bestätigung ihrer Politik (plébiscite), die Oppositionsparteien wollten deren Verurteilung durch den Wähler (vote-sanction). Aufgrund ihrer nationalen Dimension ermöglicht die Analyse von Kommunal- und Kantonalwahlen daher, Tendenzen und Probleme des nationalen Parteiensystems zu erkennen. Allerdings darf man die Ergebnisse in den über 36.000 Gemeinden nicht einfach national zusammenfassen, da sich die Wahlsituation und Wahlkonstellation von Gemeinde zu Gemeinde erheblich unterscheiden. So variiert z.B. die Zusammensetzung der Listen des ersten Wahlgangs stark von 200 Ort zu Ort. Mal schließen sich die Linksparteien gemeinsam mit den Grünen zusammen, mal treten sie gegeneinander an. Die Rechte verbündete sich manchmal mit dem Zentrum, manchmal mit Nationalkatholiken (MPF) oder Nationalrepublikanern. Besonders in den kleinen Gemeinden bilden sich häufig Listen der „Verschiedenen Rechten“ oder der „Verschiedenen Linken“, die sich national nicht eindeutig zuordnen lassen. Die Ergebnisse des 1. Wahlgangs unterscheiden sich daher regional erheblich von denen nationaler Wahlen. Im 2. Wahlgang findet dann allerdings unter dem Druck des Wahlrechts eine Vereinheitlichung des Wahlangebots statt, so daß man seine Ergebnisse national interpretieren kann. Die Wahlentscheidung bei Kommunalwahlen wird primär von lokalen Faktoren bestimmt. Unter diesen spielen außer lokalen Problemen die Persönlichkeit und die Parteizugehörigkeit bzw. die politische Orientierung der Kandidaten eine zentrale Rolle. Die Bedeutung der Persönlichkeit nimmt infolge der wachsenden Distanz zwischen Wählern und Politikern mit wachsender Größe der Gemeinde ab, die der Parteizugehörigkeit dagegen zu. Die Parteiorientierung wird neben der Personenorientierung bei der Wahlentscheidung daher immer wichtiger. Bei der Analyse der Ergebnisse von Kommunalwahlen muß daher zwischen großen, mittleren und kleinen Kommunen unterschieden werden. 1 Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Ergebnisse der Metropolen Paris, Lyon und Marseille. Sie haben Symbolfunktion für das Land und zeigen besonders deutlich den allgemeinen Wählertrend. Auch Kantonalwahlen werden stark von lokalen Faktoren bestimmt. Allerdings spielen die Parteien bei ihnen eine größere Rolle als bei Kommunalwahlen, da die Distanz zwischen Politikern und Wählern in den Departements erheblich größer ist als in den kleinen und mittleren Gemeinden. Ihre Ergebnisse sind deshalb aussagekräftiger für das nationale Kräfteverhältnis des Parteiensystems als die der Kommunalwahlen. Wahlgegenstand und Wahlangebot Bei den Kommunalwahlen werden in 36.763 Gemeinden fast 500.000 Gemeindevertreter auf sechs Jahre gewählt. Sie bestimmen aus ihrer Mitte die Bürgermeister. Ferner nominieren sie das Führungspersonal der interkommunalen Zweckverbände (Etablissements publics de coopération intercommunale (EPCI). Diese Zweckverbände sind keine Gebietskörperschaften, sondern Institutionen des öffentlichen Rechts. Sie sind vor allem zuständig für Wirtschaftsentwicklung, Transport- und Raumplanung, Wohnungsbau und Stadtplanung. Sie verfügen über beachtliche Finanzmittel und erledigen heute etwa 30% aller kommunalen Aufgaben. Bei den Kantonalwahlen wird die Hälfte der Mitglieder der Generalräte, der parlamentarischen Versammlungen der Departements, für sechs Jahre gewählt. Diese wählen aus ihrer Mitte den Präsidenten des Departements. Die Stimmabgabe erfolgt nur in der Hälfte der Kantone. Diese wurden während der Französi- 201 schen Revolution geschaffen, um den Bürgern ländlicher Gebiete die Kommunikation mit der Verwaltung zu erleichtern. Sie haben heute ihre administrative Bedeutung verloren, dienen jedoch weiterhin als Wahlbezirke. Das politische Personal der Departements rekrutiert sich aus den Kommunen. Kantonalwahlen stehen daher ganz im Schatten von Kommunalwahlen. Dies rechtfertigt die Zusammenlegung beider Wahlen. Wahlmodus Bei den Kommunalwahlen wird je nach Gemeindegröße nach unterschiedlichen Systemen gewählt. In Kommunen unter 3.500 Einwohnern erfolgt die Wahl des Gemeinderats nach der Mehrheitswahl mit offenen Listen in zwei Wahlgängen. Die Wähler können durch Panaschieren ihre Präferenzen ausdrücken und so die Wahlchancen der einzelnen Kandidaten beeinflussen. Gewählt ist die Liste, die im ersten Wahlgang die absolute oder im zweiten Wahlgang die relative Mehrheit erringt. Sie erhält alle Mandate. In Städten mit über 3.500 Einwohnern findet eine reine Listenwahl mit ebenfalls zwei Wahlgängen statt. Am zweiten Wahlgang dürfen nur Listen teilnehmen, die im ersten Wahlgang mindestens 10% der Stimmen erhalten haben. Die Hälfte der Mandate erhält die siegreiche Liste, die verbleibenden Mandate werden proportional verteilt. Der Bürgermeister wird nach den Wahlen von den Gemeinderatsmitgliedern aus ihrer Mitte gewählt. Für Paris, Lyon und Marseille gilt seit 1983 ein eigenes Kommunalwahlgesetz. Auch hier besteht Listenwahl, aber abgestimmt wird jeweils in den einzelnen Arrondissements bzw. Sektoren. Eine Zehn-Prozent-Hürde sorgt auch hier für eine Konzentration des Wahlangebots im zweiten Wahlgang. Allerdings können Listen, die über 5% der Stimmen gewonnen haben, mit Listen fusionieren, die sich für den zweiten Wahlgang qualifiziert haben. Das gemischte Kommunalwahlrecht hat vor allem vier Auswirkungen. Erstens begünstigt es die siegreiche Liste. Sie erhält auch mit nur relativer Stimmenmehrheit eine klare Mandatsmehrheit im Gemeindeparlament, so daß eine handlungsfähige Exekutive gebildet werden kann. Zweitens fördert es die Konzentration der politischen Kräfte; die Mehrheitswahl in den kleinen Gemeinden durch die Eliminierung der unterlegenen Listen, die Verhältniswahl in den größeren Kommunen durch den Koalitionsdruck auf die kleineren Listen. So verstärkt es auch auf der lokalen Ebene die Bipolarisierung des Parteiensystems. Drittens haben Kleinparteien nur in ihren Hochburgen die Chance, Wahlen zu gewinnen und so auch den Bürgermeister zu stellen. In allen anderen Kommunen sind sie auf die Wahlhilfe der Großparteien angewiesen und damit von diesen abhängig. Landesweit sind sie in den Gemeindeversammlungen unterrepräsentiert. Viertens erlaubt das Kommunalwahlrecht trotz seines Konzentrationseffekts und seiner Begünstigung der Großparteien die Erhaltung der lokalen und regionalen Vielfalt. Besonders in den 202 kleinen Kommunen haben auch Kräfte Wahlchancen, die auf der regionalen und nationalen Ebene nicht konkurrenzfähig sind. Die Aufstellung der Listen erfolgt in den Kommunen. Sie ermöglicht die Bildung von Wahlkoalitionen, die den jeweiligen lokalen Gegebenheiten entsprechen. Das Wahlangebot von Kommunalwahlen weicht daher besonders in kleinen Kommunen oft erheblich von dem nationaler Wahlen ab. Je größer jedoch die Kommunen sind, um so stärker spiegelt das lokale Wahlangebot die Struktur des nationalen Parteiensystems wider. Die Kantonalwahlen erfolgen nach dem romanischen Mehrheitswahlrecht. Gewählt ist die Liste, die im ersten Wahlgang die absolute oder im zweiten Wahlgang die relative Mehrheit erhält. Im ersten Wahlgang wird wie bei nationalen Wahlen ausgewählt, im zweiten Wahlgang eliminiert. Dies begünstigt die Großparteien und zwingt die Kleinparteien zu Wahlabsprachen mit diesen. Kleinparteien, die nicht koalitionsfähig oder nicht koalitionswillig sind, werden marginalisiert. Ausgangslage vor der Wahl Die republikanische Rechte (RPR/ UDF) hatte bei den Kommunal- und Kantonalwahlen 2001 einen großen Erfolg errungen. Sie verlor mit Paris und Lyon zwar zwei wichtige Metropolen, gewann aber insgesamt 40 Städte mit über 15.000 Einwohnern hinzu. Innerhalb der Rechten lag die RPR weit vor der UDF und den rechten Kleinparteien. Sie stellte in 137 Städten mit über 15.000 Einwohnern den Bürgermeister, die UDF nur in 82, die DL in 32 und die Verschiedene Rechte in 67. Bei den nationalen Wahlen von 2002 und 2007 war die republikanische Rechte ebenfalls erfolgreich, nur bei den Regionalwahlen 2004 erlitt sie eine schwere Niederlage. Sie dominierte daher am Vorabend der Wahlen auf der lokalen und nationalen, nicht jedoch auf der regionalen Ebene. Durch einen neuerlichen Erfolg bei den Kommunal- und Kantonalwahlen suchte sie eine Bestätigung ihrer Wahlsiege von 2001, 2002 und 2007, wollte aber gleichzeitig auch ihre Ausgangsbasis für die nächsten Regionalwahlen verbessern. Ihre Erfolgsaussichten schienen gut, denn infolge des Niedergangs der extremen Rechten brauchte sie deren Konkurrenz nicht mehr zu fürchten. Deren Spaltung im Januar 1999 in zwei rivalisierende Parteien (FN, MNR) hatte ihre ohnehin schon schwache kommunale Basis weiter geschwächt. Bei den Kommunalwahlen 2001 konnte sie die Mehrheit nur in drei Städten mit über 15.000 Einwohnern erobern. Seit der doppelten Niederlage des Front national (FN) bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2007 befand sie sich in einem desolaten Zustand. Ihr charismatischer Führer, Jean-Marie Le Pen, war schwer angeschlagen, ihr Rückhalt in der Wählerschaft stark geschrumpft, ihre Finanzen ruiniert, ihre Zukunft ungewiß. Ihr Störpotential war daher wesentlich geringer geworden. Die Linke gewann 2001 die Mehrheit in Paris und Lyon, verlor aber 42 Städte mit über 15.000 Einwohnern. Sie verwaltete daher nur noch 259 Städte dieser 203 Größenordnung, die PS 170, die PCF 51, die Verschiedene Linke 36, die Grünen 2. Sie konnte jedoch bei den Regionalwahlen 2004 einen großen Sieg erringen und kontrollierte seither 20 der 22 Regionen des Mutterlandes. Die Eroberung des Zentrums durch die Peripherie mißlang ihr jedoch sowohl 2002 als auch 2007. Sie wollte daher nicht nur die 2001 verlorenen Städte zurückgewinnen, sondern auch eine Revanche für die nationalen Niederlagen erzielen. Allerdings befand sie sich in keiner guten Ausgangslage. Der Machtkampf innerhalb der PS zwischen der erfolglosen Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal und der Parteielite war noch nicht entschieden. Die Einbindung einiger altgedienter Parteiführer in die Regierungsarbeit verbesserte zwar die Machtchancen der jungen Kader, aber diesen war es noch nicht gelungen, sich auf der nationalen Ebene durchzusetzen. Besonders in der Frage der Bündnisstrategie war die Partei tief gespalten. Während Royal eine Allianz mit dem oppositionellen Zentrum (MoDem) befürwortete, verteidigte der amtierende Parteivorsitzende Hollande das traditionelle Bündnis mit den Kommunisten und Grünen. Die Kommunisten hatten zwar keine akuten Führungsprobleme, wohl aber ein Akzeptanzproblem. Seit 1983 nahm ihr Wähleranteil auch bei Kommunalwahlen kontinuierlich ab. Ihre lokale Verankerung wurde so immer schwächer. Sie verwalteten nur noch 84 Städte über 10.000 Einwohner, darunter 29 über 30.000, aber keine Stadt mehr mit über 100.000 Einwohnern. 22 der 29 von ihnen kontrollierten Städte über 30.000 Einwohner lagen in der Pariser Banlieu, die übrigen weit über das Land verstreut. Diese Konzentration ihrer Wählerschaft in der Pariser Region machte den PCF auf der lokalen Ebene mehr und mehr zu einer Regionalpartei neuen Typus. Aber auch auf der nationalen Ebene schwand ihr Einfluß. Ihre glück- und glanzlose Präsidentschaftskandidatin Marie-George Buffet erhielt bei der Präsidentschaftswahl 2007 nur 1,93%, ihre Kandidaten bei den Parlamentswahlen 4,62%. Die PCF schrumpfte so zur Kleinpartei, die ihr parlamentarisches Überleben allein den Sozialisten verdankte. Um ihr Erbe bemühte sich eine radikale Linke, die zwar über kampagnefähige Organisationen verfügte, aber in sich tief gespalten war. Bei den Kommunalwahlen 2001 war sie mit drei Listen angetreten: der Ligue communiste révolutinnaire (LCR) in 93, der Lutte ouvrière (LO) in 129 und der Parti des travailleurs (PT) in 146 Städten. Trotz dieser Aufspaltung konnte sie in einigen Städten im 1. Wahlgang zweistellige Ergebnisse erzielen. Bestrebungen, die internen Gegensätze zu überwinden und eine neue antikapitalistische Linke zu gründen, waren auch nach den nationalen Wahlen 2007 über Pläne und Proklamationen nicht weit hinausgekommen. In einer wesentlich besseren Verfassung befanden sich die Grünen. Sie stellten zwar nur in zwei Städten mit über 15.000 Einwohnern den Bürgermeister, besaßen aber eine über das ganze Land verbreitete feste Wählerbasis. Dies machte sie für die Sozialisten zu einem wichtigen Bündnispartner und für die Kommunisten in einigen Fällen zu gefährlichen Konkurrenten. Eine unbekannte Größe bildete die liberal-demokratische Mitte. Der Versuch von François Bayrou, sie durch eine zentristische Strategie als eigenständige Kraft 204 zwischen den Lagern zu erneuern, war bei den nationalen Wahlen 2007 gescheitert. Im ersten Wahlgang hatte er mit 18,57% der Stimmen zwar fast 7 Millionen Wähler gewonnen, belegte aber nur den dritten Platz und mußte deshalb ausscheiden. In den anschließenden Parlamentswahlen gelang es ihm nicht, seine Anhänger und Wähler zusammenzuhalten. Die meisten UDF-Abgeordneten schlossen sich als Nouveau Centre der Rechten an, um ihre Mandate zu retten. Bayrou gründete daraufhin das Mouvement Démocrate (MoDem) als Auffangorganisation, dem jedoch nur eine Minderheit der ehemaligen UDF-Mitglieder beitrat. Auch die Wähler verließen ihn. Das MoDem ist daher nur mit vier Abgeordneten in der Nationalversammlung vertreten. Bei den Kantonalwahlen 2001 hatte die Linke 48,8%, die republikanische Rechte nur 42,1% erhalten. Die extreme Rechte hatte mit 10,2% die 10-Prozent- Marke überschritten, die extreme Linke kam dagegen nur auf einen Stimmenanteil von 0,6%. Ein direkter Vergleich dieser Ergebnisse mit denen der Kommunalwahlen ist nicht möglich, da nur in der Hälfte aller Kantone gewählt wurde. Die stärkere Position der Linken sowie der extremen Rechten auf der departementalen Ebene erklärt sich vor allem aus der stärkeren Politisierung der Kantonalwahlen und der daraus resultierenden stärkeren Parteiorientierung der Wahlentscheidung. Wahlkampf Nicolas Sarkozy wollte ursprünglich die Kommunalwahlen zu einem nationalen Popularitätstest über seine Politik machen. Er griff daher zu Beginn des Wahlkampfes aktiv in diesen ein. Das Pressecho sowie seine sinkenden Umfragewerte veranlaßten ihn jedoch rasch, sich aus dem Wahlkampf zurückzuziehen und den lokalen Charakter der Wahlen zu betonen. Auch nach dem ersten Wahlgang hielt er an dieser Strategie fest. So erklärte er am 11. März in Toulon, der Präsident der Republik habe sich nicht in die Kommunalwahlen einzumischen. 2 Angesichts der Stimmenverluste der republikanischen Rechten zog er sich auf seine präsidentielle Position zurück. Er habe ein nationales Mandat für fünf Jahre und werde daher unabhängig vom Ausgang des Urnenganges seine Modernisierungspolitik fortsetzen. Aber natürlich werde er auf Augenblicksstimmungen Rücksicht nehmen müssen. 3 Indirekt griff er jedoch erneut in den Wahlkampf ein, indem er am 11. März in Toulon über Einwanderung und Integration sprach. 4 Er wollte so vor allem ehemalige FN-Wähler gewinnen, die in der Mittelmeerstadt besonders zahlreich waren. 5 Den Wahlkampf der republikanischen Rechten führten daher Premierminister Fillon 6 und ihre lokalen Repräsentanten, unter ihnen 22 Minister und Staatssekretäre. 7 Die UMP-Kandidaten vermieden in ihren Wahlkampfdiskursen weitgehend nationale Themen und konzentrierten sich stattdessen auf lokale Angelegenheiten: Müllentsorgung, Infrastruktur, Sporteinrichtungen, Bibliotheken etc. Die Linke sprach dagegen auch nationale Themen an, so z.B. die steigenden Lebenshal- 205 tungskosten. Sie forderte die Wähler auf, die Politik des Präsidenten durch ihre Stimmabgabe für linke Kandidaten zu sanktionieren. 8 Das Zentrum führte einen eigenständigen Wahlkampf, um seine Unabhängigkeit zu demonstrieren. Unter den Zwängen des Wahlrechts und der lokalen Kräfteverhältnisse trafen aber viele Zentristen bereits vor dem ersten Wahlgang Absprachen mit einem der beiden Lager: so in Dijon, Grenoble, Montpellier oder Roubaix mit der Linken, in Bordeaux, Arras, Biarritz oder Epinay-sur-Seine mit der Rechten. Die Mitte ging daher geschwächt in den Wahlkampf. Ergebnis der Kommunalwahlen Erster Wahlgang Die Wahlbeteiligung am ersten Wahlgang lag mit 66,5% um etwa ein Prozent unter der Wahlbeteiligung von 2001, der niedrigsten seit 1959. Wie bei vorangegangenen Kommunalwahlen war sie in ländlichen Gegenden wesentlich höher als in den Großstädten und städtischen Ballungsgebieten. Besonders niedrig war sie in Arbeiterwohngebieten der städtischen Ballungszentren, so 40,18% in Roubaix, 41,91% in Saint-Denis, 46,70% in Villeurbanne, 55,27% in Grigny (Essonne). Die Beteiligung an lokalen Wahlen ist im allgemeinen stets niedriger als die an nationalen Wahlen. Im Vergleich zu den nationalen Wahlen 2007 war sie jedoch diesmal besonders niedrig. Im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen betrug sie 83,8%, in dem der Parlamentswahlen 60,5%. Diese nachlassende Mobilisierung kann als Enttäusch über die Folgen der nationalen Wahlen 2007 gedeutet werden. 9 Eindeutiger Sieger des ersten Wahlgangs war die Linke. Gemeinsam mit den Grünen (les Verts) gewann sie landesweit 47% der Stimmen, die Rechte nur 45%. Führende Kraft der Linken wurden die Sozialisten. Sie gewannen einige Städte zurück, die sie 2001 verloren hatten, so Rouen, Bourg-en-Bresse, Alençon, Laval, Chalon-sur-Saône. In Paris, Lyon, Straßburg, Caen, Quimper, Saint-Brie, Roanne, Blois besaßen sie günstige Ausgangspositionen für den zweiten Wahlgang. In Marseille und Toulouse erreichten sie dagegen nur den zweiten Platz hinter der Rechten. Nach der Auszählung der Stimmen entbrannte innerhalb der PS ein heftiger Richtungsstreit über die zu verfolgende Bündnisstrategie für den zweiten Wahlgang. Ségolène Royal plädierte erneut für ein landesweites Bündnis mit den oppositionellen Zentristen, ihr ehemaliger Lebensgefährte und Parteivorsitzender François Hollande befürwortete statt dessen die Erneuerung der traditionellen Allianz mit den Kommunisten und Grünen. Es gab daher keine einheitliche Haltung der Sozialisten gegenüber den oppositionellen Zentristen. In einigen größeren Städten bildeten Zentristen und Sozialisten gemeinsame Listen, so in Marseille, Chartres und Asnières, in anderen Städten kandidierten Zentristen als Einzelkandidaten „à titre individuel“ auf linken Listen, so in Dijon, Grenoble und Montpellier. 206 Zweite Kraft der Linken wurden die Kommunisten. Sie konnten erfolgreich ihre lokalen Hochburgen verteidigen, so Vérzon, oder aber Städte zurückerobern, die sie 2001 verloren hatten wie Dieppe. Außerdem qualifizierten sie sich in zahlreichen Kommunen für den zweiten Wahlgang. Ihre Erfolge verdanken sie vor allem der guten lokalen Verankerung ihrer erfolgreichen Kandidaten. Diese konnten sich sogar in einigen Kommunen gegen sozialistische Kandidaten durchsetzen. Die PCF bleibt daher trotz ihres nationalen Niedergangs eine relevante lokale Kraft. Den dritten Platz im linken Lager belegten die Grünen. Vor allem dank sozialistischer Wahlhilfe gelang etwa 2000 grünen Gemeinderatsmitgliedern die Wiederwahl. In einigen Städten, so in Rouen, Nantes und Lyon konnten sie sogar ihre Position im Gemeindeparlament verbessern. Sie erzielten aber auch Stimmengewinne in Städten, in den sie mit eigenen Listen antraten, so in Grenoble, Quimper und Morlaix. In Montpellier und Valence mußten sie jedoch leichte Verluste hinnehmen. Insgesamt profitierten auch die Grünen vom Erfolg der Linken. Die republikanische Rechte büßte gegenüber 2001 Stimmen ein. Ihre Verluste hielten sich jedoch in Grenzen. So verlor sie von den 2001 gewonnenen Städten nur Rouen und Bourg-en-Bresse an die Sozialisten, Dieppe an die Kommunisten. In der Pariser Region behauptete sie sich u.a. in Plaisir et Saint- Cyr-l’Ecole (Yveline), Epinay-sur-Seine et Drancy (Seine-Saint-Denis) sowie in Meaux (Seine-et- Marne). In Bordeaux gelang dagegen dem ehemaligen UMP-Vorsitzenden und glücklosen Parlamentskandidaten von 2007 Alain Juppé mit 56,62% ein glänzender Wahlsieg, in Mühlhausen (Elsaß) konnte sich der Ex-Sozialist Jean-Marie Bokkel mit Hilfe der Regierungsmehrheit für den zweiten Wahlgang qualifizieren. In einigen Städten scheiterte jedoch die republikanische Rechte aufgrund ihrer internen Zerwürfnisse, so in Reims und Metz. Den oppositionellen Zentristen gelang nicht der angestrebte kommunale Durchbruch. Sie konnten sich zwar in vielen Gemeinden als dritte Kraft vor den Grünen und den Nationalisten durchsetzen und in mehreren Städten für den zweiten Wahlgang qualifizieren, so in Saint-Etienne, Aix-en-Provence, Chartres, Belfort, Metz, Quimper, Rennes, Saint-Etienne und Saint-Malo. Sie gewannen jedoch in keiner größeren Stadt die Mehrheit. Auch ihr Spitzenpolitiker François Bayrou kam in Pau nur auf den zweiten Platz. Mit 32,6% lag er knapp hinter der Sozialistin Martine Lignière-Cassou (33,9%). Im zweiten Wahlgang konnte er nicht auf die Schützenhilfe der UMP zählen, da diese den sozialistischen Dissidenten Yves Urieta unterstützte, um seinen Erfolg zu verhindern. Trotz seiner bescheidenen Stimmenergebnisse nahm das MoDem in einigen wichtigen Städten, in denen es sich für den zweiten Wahlgang qualifiziert hatte, eine Schiedsrichterrolle zwischen den Großparteien ein. Sowohl Vertreter der UMP (Patrick Devedjan und Jean-Pierre Raffarin) als auch der PS (Ségolène Royal) boten ihm daher landesweit die Zusammenarbeit an. Bayrou lehnte diese jedoch empört ab, um seine Unabhängigkeit nicht zu gefährden. Er gab keine Wahlempfehlung, sondern überließ seinen Anhängern die freie Entscheidung. Diese entschieden sich je nach lokaler Konstellation und Interessenlage unterschiedlich: in Marseille, Dijon, Grenoble und Montpellier für 207 die Linken, in Toulouse für die Rechte. Wie bereits bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen wurde das oppositionelle Zentrum auch auf der lokalen Ebene ein Opfer der Bipolarisierung. Der FN schied in den meisten Kommunen bereits nach dem ersten Wahlgang aus. Nur in neun Städten über 30.000 Einwohnern konnte er sich für den zweiten Wahlgang qualifizieren, so in Clues (Haute-Savoie), Noyon (Oise), Perpignan, Mühlhausen (Elsaß). Das beste Wahlergebnis erzielte die stellvertretende Parteivorsitzende Marine Le Pen in Henin-Beaumont (Pas-de-Calais) mit fast 30%, bei den Parlamentswahlen 2007 hatte sie noch 47% erhalten. Der in den nationalen Wahlen von 2007 deutlich gewordene Niedergang setzt sich somit auch auf der kommunalen Ebene fort. Der FN war hier stets schwach, da er kaum über eine lokale Infrastruktur verfügt. Seine Schwäche hat aber gegenüber 1995 und 2001 erheblich zugenommen. Landesweit erhielt er nur 0,93% gegenüber 1,98% 2001. Auch anderen rechtsextremen Gruppierungen ging es nicht besser. Lediglich Jacques Bompart, der den FN verlassen und sich dem nationalkatholischen MPF von Philippe de Villiers angeschlossen hatte, wurde bereits im ersten Wahlgang in Orange (Vaucluse) mit 60,97% wiedergewählt. Die trotzkistische Ligue Communiste Révolutionnnaire (LCR) konnte dagegen überraschend in einigen Städten zweistellige Stimmenanteile erringen. So erhielt sie in Quimperlé (Finistère) 15,2%, in Sorgues (Vaucluse) 15%, in Sotteville-lès- Rouen (Seine-Maritime) 14,8%. Sie wird so auch auf der lokalen Ebene immer mehr zum Auffangbecken ehemaliger PCF- und PS-Wähler. In Paris erreichte die von dem amtierenden Bürgermeister Bertrand Delanoë geführte Linke aus PS, PCF, MRC, PRG 41,6%, ihr bestes Ergebnis seit 1959. Für den 2. Wahlgang vereinbarte sie eine Zusammenarbeit mit den Grünen, obwohl diese erheblich an Stimmen verloren hatten. Eine Zusammenarbeit mit dem Mo- Dem, die ihr deren Spitzenkandidatin Marielle de Sarnez angeboten hatte, lehnte sie dagegen ab. Die republikanische Rechte kam unter der Führung von Françoise de Panafieu nur auf 27,92%, ein mageres Ergebnis im Vergleich zu ihren Erfolgen unter der Führung von Jacques Chirac in den Jahren Jahre 1977-1989. Sie bot daher dem MoDem die Bildung gemeinsamer Listen für den zweiten Wahlgang an, was dieses jedoch ablehnte. Im 15. Arrondissement gelang ihr erst nach zähen Verhandlungen die Fusion mit der Liste eines Dissidenten aus den eigenen Reihen. In anderen Arrondissements mißlangen dagegen die Einigungsbemühungen. Dort ging daher die Rechte gespalten in den zweiten Wahlgang. Die Grünen erhielten mit 6,78% nur halb so viel Stimmen wie 2001. Dies reichte jedoch für die Listenfusion mit der Linken. Dadurch konnten sie sich gute Listenplätze sichern. Das MoDem gewann im Durchschnitt neun Prozent der Stimmen, konnte sich jedoch nur in drei Arrondissements (5., 7., 14.) für den zweiten Wahlgang qualifizieren. Im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen 2007 hatte Bayrou in der Hauptstadt fast 21% der Stimmen erhalten. Etwa die Hälfte seiner damaligen Wäh- 208 ler hatte diesmal für die PS gestimmt. Auch in Paris wurde das Zentrum zwischen der Rechten und der Linken zerrieben. Noch erfolgreicher als in Paris war die Linke in Lyon. Hier erhielt eine Listenverbindung aus PS, PCF, Verts, PRG unter der Führung des Sozialisten Collomb über 53%. Die Rechte unter dem ehemaligen Minister Dominique Perben kam lediglich auf 30%, das MoDem wurde weit abgeschlagen auf 6,02, die radikale Linke auf 5,85 und die radikale Rechte auf 4,15%. Damit war der Ausgang der Wahlen bereits entschieden, auch wenn noch drei Arrondissements umstritten waren. In Marseille lag der amtierende Bürgermeister Jean-Claude Gaudin (UMP, Ex- DL) dagegen mit 41% knapp vor dem Sozialisten Jean-Noel Guerini mit 39,14%. Dadurch erhielten die Nationalisten trotz ihrer hohen Stimmenverluste mit ihren knapp 9% sowie die oppositionellen Zentristen mit ihren 5,54% eine Schlüsselstellung für den zweiten Wahlgang. Der FN konnte diese infolge seiner Isolierung im Parteiensystem nicht nutzen und mußte im zweiten Wahlgang alleine antreten, das MoDem nutzte sie dagegen für Absprachen mit der PS und sicherte sich so fünf sichere Listenplätze. Zweiter Wahlgang Der erste Wahlgang hatte trotz der Vielzahl der Kandidaturen und der Vielfalt der Situationen zu einer starken Konzentration der politischen Kräfte auch auf der lokalen Ebene geführt. Lediglich in 110 Städten mit über 30.000 Einwohnern qualifizierten sich mehr als zwei Listen für den zweiten Wahlgang. Die Zwänge des Wahlrechts führten dann durch Absprachen und Fusionen zu einer weiteren Konzentration des Wahlangebots. Im zweiten Wahlgang standen sich daher in den meisten Wahlorten nur noch eine rechte und eine linke Liste gegenüber. Lediglich in 55 Fällen konkurrierten drei, in 13 Fällen vier und mehr Listen miteinander. Die Wettbewerbsstruktur des zweiten Wahlgangs der Kommunalwahlen ähnelte daher weitgehend der des zweiten Wahlgangs der Parlamentswahlen vom Frühjahr 2007. Innerhalb der beiden Blöcke dominierten eindeutig die Großparteien, d.h. die PS auf der Linken und die UMP auf der Rechten. Die Kleinparteien hatten daher in den Kommunen, in denen sie nicht die 10%-Hürde überwanden, nur noch im Bündnis mit ihnen Mandatschancen. Bei den Verhandlungen über Wahlabsprachen befanden sich die linken Kleinparteien (PCF, Verts, MCR, PRG) gegenüber der PS häufig in einer wesentlich stärkeren Position als die rechten Kleinparteien (Verschiedene Rechte und UMP-Dissidenten) gegenüber der UMP, da sie gebraucht wurden. Aus den Bündnisverhandlungen zwischen den beiden Wahlgängen ging daher ein asymmetrisches Wahlangebot hervor. Die linken Listen waren häufig Gemeinschaftslisten von PS, PCF, MRC, PRG und Verts, die rechten Listen waren dagegen meistens mit der UMP identisch. Die weitgehende Bipolarisierung der politischen Kräfte zwang auch die Zentristen in den Kommunen, in denen sie nicht die 10%-Hürde überwunden hatten, zu Wahlabsprachen mit den Großparteien. Da Bayrou keine generelle Bündnis- 209 empfehlung gab, verbündeten sie sich je nach örtlicher Interessenlage mal mit der Rechten, mal mit der Linken. Das Zentrum war daher nur noch in einigen Städten mit eigenen Listen vertreten. Auch die Randparteien spielten im zweiten Wahlgang nur noch Nebenrollen. Die LCR bedrohte dennoch in einigen Städten die Erfolgsaussichten linker Listen, der FN hatten dagegen sein Störpotential weitgehend verloren. 1995 hatte er sich in 103 Städten, 2001 noch in 41 Städten mit über 30.000 Einwohnern am zweiten Wahlgang beteiligt. Diesmal reichte es nur noch für die Beteiligung in neun Städten mit über 30.000 Einwohnern. 10 Ergebnisse Die Wahlbeteiligung war mit 65% etwas geringer als im ersten Wahlgang, der Wählertrend jedoch weitgehend der gleiche. Die Linke konnte ihren Vorsprung gegenüber der Rechten ausbauen und wurde so zur dominierenden Kraft. In den 612 Städten mit über 15.000 Einwohnern gewann sie in 350 Städten die Mehrheit. Besonders erfolgreich war sie in den Großstädten mit über 100.000 Einwohnern. Sie kontrolliert nun 32 der 52 größten Städte Frankreichs. Innerhalb der Linken führt weiterhin eindeutig die PS, gefolgt von der PCF, der Verschiedenen Linken und den Grünen. Die Sozialisten gewannen die Mehrheit in 250 Städten mit über 15.000 Einwohnern, darunter 25 Städte mit mehr als 100.000 Einwohner u.a, Paris, Lyon, Toulouse, Straßburg, Amiens, Metz, Caen, Reims, Rouen, Saint-Etienne, Saint-Denis (Réunion). Die Kommunisten verloren zwei ihrer früheren Hochburgen im Departement Seine-Saint-Denis - Aubervilliers und Montreuil - an die Sozialisten bzw. die Grünen sowie Calais im Departement Pas-de-Calais an die Rechte. Trotz dieser symbolträchtigen Verluste konnten sie sich jedoch als zweitstärkste Kraft der Linken behaupten. In 47 Städten stellen sie weiterhin den Bürgermeister. Sie bleiben damit auf der kommunalen Ebene eine ernstzunehmende politische Kraft. Die Rechte verlor insgesamt 80 Städte mit über 15.000 Einwohnern, darunter neun Städte mit über 100.000 Einwohnern. Sie stellt nur noch den Bürgermeister in 262 Städten, davon in 209 die UMP, in 11 das Neue Zentrum, in 37 die Verschiedene Rechte und in 5 unabhängige Rechtskoalitionen. Sie vermochte sich jedoch in Bordeaux, Nizza, Marseille, Toulon, Aix-en-Provence, Le Havre, Nîmes und Orléans zu behaupten. Die UMP verlor vor allem Stimmen in Großstädten mit über 100.000 Einwohnern, insbesondere bei Arbeitern und Angestellten, die 2007 für Sarkozy gestimmt hatten. Diese votierten diesmal für die Sozialisten oder blieben zuhause. Entscheidend für ihr Wahlverhalten waren soziale Motive, so vor allem der Unmut über die steigenden Lebenshaltungskosten. Die schichtenübergreifende Wählerkoalition, der Sarkozy seine Wahl verdankte, war in den meisten Großstädten zerfallen. 210 Den Grünen gelang ein Überraschungserfolg in Montreuil. Dort konnte sich ihre langjährige Parteichefin und Präsidentschaftskandidatin Dominique Voynet an der Spitze einer heterogenen neobürgerlichen Wahlkoalition gegen eine linke Liste aus Kommunisten und Sozialisten mit 54,2% zu 45,8% durchsetzen. Damit kontrollieren nun auch die Grünen eine Großstadt mit über 100.000 Einwohnern im ehemaligen roten Gürtel von Paris. Ihren Sieg verdanken sie vor allem bürgerlichen Wählern, welche den amtierenden kommunistischen Bürgermeister Jean-Pierre Brard abwählen wollten. Sie wurden indirekt von der UMP und dem MoDem unterstützt, indem diese keine eigenen Listen aufstellten. Eindeutige Verlierer der Wahlen waren die oppositionellen Zentristen und die Nationalisten. Das MoDem gewann lediglich in 15 Städten mit über 15.000 Einwohnern die Mehrheit. Unter diesen befand sich aber nur eine Stadt mit über 30.000 Einwohnern (Mont-de-Marsan). In den Großstädten mit über 100.000 Einwohnern war es dagegen erfolglos. Der Front national ging völlig leer aus. Auch in Hénin-Beaumont, wo seine Liste mit Marine Le Pen im ersten Wahlgang 30% erhalten hatte, konnte er sich nicht durchsetzen. Mit diesen Ergebnissen bestätigten die Kommunalwahlen die bipolare Grundstruktur des französischen Parteiensystems, verschoben aber sein Kräfteverhältnis zugunsten der Linken, insbesondere der Sozialisten. In Paris konnte sich Delanoë klar mit 57,7% durchsetzten. Zum ersten Mal besitzt die Linke (PS, PCF, PRG, MRC) gemeinsam mit den Grünen auch die Stimmenmehrheit in der Hauptstadt. Sie ist nun nicht mehr auf die Unterstützung der Zentristen angewiesen. Diese verloren neun ihrer zehn Mandate. Die Rechte vermochte ihre Führungsposition nur in acht Arrondissements zu behaupten. Der Sozialist Bertrand Delanoë nimmt nun den Platz ein, den einst der Neo-Gaullist Chirac in den Jahren 1977 bis 1995 eingenommen hatte. Er galt zunächst als farblos, da er nicht in das typische Pariser Karrieremuster paßte. Als Amtsinhaber aber gewann er an Ansehen und Kompetenz, so daß er heute als ein möglicher Anwärter auf die sozialistische Parteiführung gilt. Ergebnisse der Kantonalwahlen Die Kantonalwahlen bestätigten den allgemeinen Trend der Kommunalwahlen. Im ersten Wahlgang erhielt die Linke landesweit 48%, die Rechte 41% und das Zentrum 5%. Im zweiten Wahlgang konnte dann die Linke ihren Vorsprung ausbauen. Sie gewann acht Departements hinzu und kontrolliert nun 60 der 100 Gebietskörperschaften. Innerhalb der Linken führen wie in den Kommunen die Sozialisten. Sie sind damit auch auf der departementalen Ebene die stärkste Kraft. Dank ihrer Erfolge bei den Kommunal-, Kantonal- und Regionalwahlen seit 2004 dürfte die Zahl ihrer Senatoren bei der nächsten Senatswahl auf über 100 steigen. 211 Konklusion Kommunal- und Kantonalwahlen werden vor allem von lokalen Faktoren bestimmt. Unter diesen spielen die Persönlichkeit der Kandidaten, der Einfluß politischer Netzwerke und die Problemlösungsfähigkeit der Administrationen eine zentrale Rolle. Dies erklärt u.a. das gute Abschneiden der Kommunisten in ihren traditionellen Bastionen sowie den Erfolg von Alain Juppé in Bordeaux bereits im ersten Wahlgang. Wichtig sind aber auch die lokalen Wahlkonstellationen. So vermochte sich die Grüne Dominique Voynet in Montreuil an der Spitze einer neobürgerlichen Wahlkoalition gegen den kommunistischen Bürgermeister durchsetzen, weil die UMP und das MoDem keine eigenen Listen aufgestellt hatten. In Metz siegte dagegen die Linke, weil das bürgerliche Lager gespalten war. Aber trotz der großen Bedeutung lokaler Faktoren für den Wahlausgang bestätigte dieser landesweit die bipolare Grundstruktur des französischen Parteiensystems. Auch auf der lokalen Ebene dominieren die Linke und die Rechte eindeutig. Das Zentrum, das sich in einigen Kommunen im 1. Wahlgang noch als autonome Kraft behaupten konnte, wurde zwischen den Blöcken zerrieben, die Randparteien marginalisiert. An der Bipolarisierung der französischen Politik scheiterte nun auch auf der lokalen Ebene der Versuch von François Bayrou, sich eine eigenständige Machtbasis für seine präsidentiellen Ambitionen zu schaffen. Selbst in seinem heimatlichen Béarn, einst eine Hochburg der Christlichen Demokratie, gelang es ihm nicht, Bürgermeister einer Großstadt zu werden. Seine abermalige Niederlage wird nicht ohne Folgen auf der nationalen Ebene bleiben. Noch sind die Zentristen mit etwa 30 Senatoren im Senat vertreten. Ohne ausreichenden Rückhalt in den Kommunen werden sich diese aber nicht mehr lange aus eigener Kraft behaupten können. Sollten auch sie sich der republikanischen Rechten anschließen, dann wäre Bayrou definitiv verlassen. Ihm bliebe nur noch die vage Hoffnung, bei den Präsidentschaftswahlen 2012 mehr Glück zu haben als 2007. Die Marginalisierung der Randparteien war zu erwarten. Unter den Bedingungen der Mehrheitswahl haben sie nur in Ausnahmefällen eine Chance, sich im zweiten Wahlgang durchzusetzen. Die trotzkistische LCR konnte sich jedoch in einigen Städten erfolgreich als soziale Protestpartei artikulieren und hat gute Chancen, die Nachfolge der PCF anzutreten. Für den Front national aber bedeutete die Niederlage einen weiteren Schritt zum Exitus. Die Partei ist inhaltlich, personell und finanziell am Ende. Nach dem Verkauf ihrer Parteizentrale mußte sie nun auch das Erscheinen ihrer beiden wichtigsten Propagandazeitschriften (Français d’abord, National-Hebdo) einstellen. Die Tage von Le Pen an der Parteispitze sind gezählt, ein überzeugender Nachfolger ist nicht in Sicht. Aber selbst wenn die Partei die gegenwärtige Krise überleben sollte, hat sie keine Zukunft mehr. Innerhalb der Blöcke konnten die beiden Großparteien PS bzw. UMP ihre Dominanz behaupten. Die PS war jedoch in vielen Kommunen weit stärker als die UMP auf die Unterstützung von Bündnispartnern angewiesen. Die linken Kleinparteien 212 einschließlich der Grünen konnten sich so zahlreiche Mandate sichern. Der parteipolitische Pluralismus blieb somit auf der Linken erhalten. Die Rechte ist dagegen weitgehend mit der UMP identisch. Auch auf der lokalen Ebene existiert damit nun eine asymmetrische Bipolarität. Erst wenn sich auch die linken Parteien organisatorisch vereinen, könnte ein symmetrisches Zwei-Parteiensystem entstehen, in dem beide Großparteien auf allen Ebenen des politischen Systems die gleichen Machtchancen besäßen. Infolge ihrer Erfolge bei den Regionalwahlen 2004 sowie den Kommunal- und Kantonalwahlen 2008 verwaltet die Linke heute 20 der 22 Regionen, zwei Drittel der Departements und die Mehrheit der größeren Kommunen. Damit beherrscht sie weitgehend die subnationalen Ebenen des politischen Systems. Daraus ergibt sich eine vertikale Machtteilung mit der Rechten. Diese bestimmt zwar weiterhin die nationale Politik, muß jedoch bei deren Implementierung stärker als bisher auf die Linke Rücksicht nehmen. Die starke Position auf den subnationalen Ebenen ermöglicht es der Linken, insbesondere den Sozialisten, deren Ressourcen für den Ausbau ihrer Netzwerke zu nutzen und sich die Unterstützung wichtiger Klientele zu sichern. Sie besitzt damit eine solide Basis in der Peripherie für die Eroberung des Zentrums. Es fragt sich jedoch, ob sie ihre Machtchance zu nutzen weiß. Es fehlt ihr dazu z.Z. ein nationales Projekt, das wie 1936 und 1981 die Massen mobilisieren und eine charismatische Führungsfigur, die es verkörpern könnte. Entscheidend für die weitere politische Entwicklung Frankreichs ist daher die interne Entwicklung der Linken. Diese hängt im hohen Maße von der personellen, programmatischen und organisatorischen Erneuerung der PS ab. Im November dieses Jahres will diese ihre Führungsfrage klären. Ernsthafte Anwärter auf den Parteivorsitz sind nun nicht nur die alten Tenöre und grauen Elefanten (Fabius, Straus-Kahn), sondern auch die erfolgreichen Kommunalpolitiker wie Bertrand Delanoë und Martine Aubry. Sollte sich einer von ihnen durchsetzen, würde dies erheblich das Gesicht der Partei verändern. Wie die Kommunal- und Kantonalwahlen gezeigt haben, sind die Sozialisten jedoch weiterhin auf die Unterstützung von Bündnispartnern angewiesen. Unter diesen haben sich die Kommunisten zwar gut behauptet, ihre Verhandlungsmacht hat sich jedoch erheblich verringert. Ihren früheren Platz im Parteiensystem nimmt mehr und mehr die radikale Linke ein. Solange diese jedoch an ihrer trotzkistischen Ideologie festhält, wird sie nicht für die PS bündnisfähig werden. Die Sozialisten werden sich daher nach anderen Bündnispartnern umschauen müssen. Ob zu diesen auch die Zentristen gehören könnten, hängt nicht zuletzt von Bayrou ab. Solange dieser an seiner zentristischen Strategie festhält, wird es kein Bündnis mit ihnen auf der nationalen Ebene geben. Die Rechte ist heute weitgehend mit der UMP identisch. Diese hat jedoch seit ihrer Gründung im Jahre 2002 durch Chirac kaum ein Eigenleben entwickelt. Vielmehr ist sie auch nach den Wahlen von 2007 eine Präsidentenpartei geblieben, die nun von Gefolgsleuten Sarkozys geführt wird. Dessen „Öffnung“ zur Linken hat ihr keine neuen Wähler zugeführt. Wohl aber hat sie Wähler vor allem in den Un- 213 terschichten verloren. Es mehren sich daher die Stimmen, die eine engere Zusammenarbeit mit den Zentristen fordern, um die Einheit des bürgerlichen Lagers zu erneuern. Bayrou lehnt diese weiterhin ab, unter seinen Anhängern wächst jedoch die Zahl derjenigen, die sie angesichts der Niederlage in den Kommunalwahlen befürworten. 1 Üblich ist die Differenzierung zwischen Gemeinden unter 3500, 30.000-50.000, 50.000- 100.000 und über 100.000. 2 Cf. Le Monde, 13.03.08 3 Cf. Le Figaro, 10.03.08 4 Cf. Le Monde, 12.03.08 5 1995 hatte der FN in Toulon die Mehrheit gewonnen. Seine Wähler rekrutierten sich vor allem unter Algerienfranzosen, die sich sehr zahlreich in der Stadt niedergelassen hatten. 6 Cf. Le Figaro, 6.03.08 7 13 davon als Listenführer. 8 Cf. Le Monde, 11.03.08 9 Cf. Le Monde, 18.03.08 10 In Calais zog sich ihr Spitzenkandidat François Dubout zurück, um einen kommunistischen Wahlsieg zu verhindern. Daraufhin suspendierte ihn die Parteiführung prompt von seinen Parteiämtern. 214 Victor Klemperer / Rita Schober Briefe 1948 - 1959 Am 16. November 1945 erreichte Victor Klemperer die Mitteilung, daß er zum 1. September 1945 wieder in das Ordinariat für Romanische Philologie an der Technischen Hochschule Dresden eingesetzt worden sei, aus dem er am 1. Mai 1935 vertrieben worden war. Im Oktober 1947 erhielt er die Genehmigung, aus dem Lehrkörper der TH auszuscheiden, im Januar 1948 dann einen Ruf nach Greifswald. Im Juli desselben Jahres wurde er nach Halle berufen, wo er bis zu seinem Tode tätig war. Seit dem Sommersemester 1950 hielt er zudem als Gast Vorlesungen an der Humboldt-Universität Berlin, an die er im August 1951 als Professor mit Lehrstuhl für das Fach Romanistik (Literatur) berufen wurde. Von dem Berliner Lehrstuhl wurde er zum 1. September 1955 entpflichtet, hielt dort jedoch bis ins Frühjahr 1959 weiter eine Vorlesung. i Rita Schober arbeitete bereits seit 1946 am Romanischen Seminar in Halle, als Klemperer am 19. Mai 1948 zu Berufungsverhandlungen erstmals dorthin kam. Sie empfing ihn und seine Frau mit einem ersten Tee. ii Seinerseits hat Klemperer schon die ersten, offensichtlich für ihn sofort wichtigen, Begegnungen mit der jungen marxistischen Doktorin (wie dann auch spätere) in seinem Tagebuch beschrieben. iii Rita Schober wurde seine wichtigste Schülerin, habilitierte sich im März 1954 bei ihm, war seit dem 1. Mai 1954 Professor mit vollem Lehrauftrag sowie Fachrichtungsleiter am Institut für Romanistik der Humboldt-Universität und am 1. September desselben Jahres seine Nachfolgerin als geschäftsführender Direktor des Instituts (damals selbstverständlich mit der männlichen Form in den Ernennungsurkunden und im Umgang). Die zwischen Klemperer und Schober vom Beginn ihrer Bekanntschaft bis kurz vor Klemperers Tod im Februar 1960 gewechselten Briefe bringen nur den kleineren Teil ihrer Beziehungen zur Anschauung: wer am selben Ort zusammenarbeitet, spricht direkt und schreibt sich nur ausnahmsweise. Durch Klemperers Wohnsitz in Dresden und seine Tätigkeit auch an anderen Orten als Berlin waren die Kontakte aber doch häufig genug unterbrochen, um eine in mehreren Hinsichten aussagekräftige Korrespondenz entstehen zu lassen. Soweit sie erhalten ist, iv wird sie im folgenden ersti Vgl. genauer Rita Schober, Victor Klemperers Wirken nach 1945, in: Schober, Auf dem Prüfstand. Zola - Houellebecq - Klemperer, Berlin: edition tranvía - Verlag Walter Frey, 2003, S. 325-336. ii Vgl. ebenda, S. 325. iii Victor Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen, Bd. 1: Tagebücher 1945- 1949; Bd. 2: Tagebücher 1950-1959, hg. von Walter Nowojski, Berlin: Aufbau-Verlag, 1999 [Band 2 im folgenden: Tagebücher]. iv Den vorhandenen Briefen sind etliche Lücken in der Überlieferung der Korrespondenz, vor allem bei Briefen von Rita Schober, zu entnehmen. Alle nicht anders bezeichneten Briefe Victor Klemperers sind handschriftlich verfaßt und befinden sich im Archiv Rita 215 mals veröffentlicht - ohne jede Änderung auch dort, wo Schreibversehen zu korrigieren gewesen wären. Nur zwei Namen wurden anonymisiert. Wo es für das Verständnis erforderlich schien, sind erläuternde Anmerkungen hinzugefügt worden; nicht alle Anspielungen konnten allerdings aufgeschlüsselt werden. Die Briefe sind von Interesse zum einen als Zeugnisse zur Wissenschaftsgeschichte der frühen DDR. Wie Institute, Fakultäten und Universitäten intern kommunizierten und wie das zuständige Staatssekretariat Einfluß nahm, läßt sich ihnen ebenso ablesen wie der Gang des wissenschaftlichen Produzierens und das Verhältnis zwischen Ordinarius und wissenschaftlichem Nachwuchs. Auch der Blick nach außen findet sich, ins westliche Deutschland wie nach Frankreich. Die Ebene, auf der darüber geschrieben wird, ist eine mittlere: Es geht immer um Konkreta, nicht um das System, und noch, wo Prinzipielles zur Sprache kommt, ist es gebunden an Erfahrungen im Wissenschaftsalltag - aber die Akteure sind doch auch solche, die ihre Verhältnisse selbst zu gestalten bemüht sind und also allgemeinere Ansprüche formulieren und Kontexte beurteilen, statt in ihnen nur zu funktionieren. Dabei schätzen die beiden Briefpartner sich nicht nur fachlich, sie vertrauen sich persönlich, ja sie vertrauen sich sogar einander an, bis in ihre gelegentlich temperamentvoll ausgetragenen Differenzen hinein. Ihre Briefe vermitteln subjektiv authentische Nachrichten aus dem wissenschaftlichen Leben. Zumindest einige der umlaufenden Urteile über das, was es hieß, Romanist in der frühen DDR zu sein, erhalten in ihnen daher Erweiterungsmöglichkeiten. Das zweite Interesse richtet sich auf die Persönlichkeit Victor Klemperers, dem nicht nur, aber auch diese Zeitschrift v seit der Veröffentlichung seiner Tagebücher aus den Jahren 1933-1945 erneuerte Aufmerksamkeit gewidmet hat. In seinen Tagebüchern hat er über sein Leben in der DDR ebenfalls ein Zeugnis vorgelegt, das an persönlicher Genauigkeit und Ausführlichkeit kaum zu übertreffen ist. Auch viele der in der Korrespondenz mit Rita Schober erörterten Fragen gestattet es erweiternd zu begreifen. Die Briefe sind aber nicht nur Wiederholung des dort Notierten. Man schreibt Briefe aus bestimmten Anlässen, und man hebt sie zumeist erst auf, wenn sie in besonderen Hinsichten wichtig sind: sie pointieren also den gewöhnlichen Gang durch doppelte Auswahl. Hervorgehoben seien vier Aspekte (anderen Lesern werden andere oder weitere auffallen). Für Klemperer war Herzlichkeit von Bedeutung - die Grußformel unter seinen Briefen ist nie Floskel, immer aus dem davor Gesagten genährt (manchmal so sehr, daß auf sie verzichtet werden kann), und wo sie einmal samt sogar der Anrede verweigert wird, ist die persönliche Erregtheit tief. Diese Erregtheit, so ein zweiter Eindruck, schießt ab und an über die Grenzen des Vernünftigen hinaus - Klemperer war schnell verletzt und aufbrausend, reagierte auch, bevor alles abgewogen war, und ist vielleicht nicht zuletzt durch diese Sensibilität der für die Späteren Schobers. Klemperers Nachlaß in der Landesbibliothek Dresden enthält dagegen nur einen Brief von ihr sowie den Durchschlag eines seiner Briefe an sie, der wiederum bei ihr nicht erhalten ist. v Vgl. das von Michael Nerlich herausgegebene Doppelheft 1996/ 82-83 von lendemains. 216 bedeutende Genosse seiner Zeiten geworden, der er war. Des weiteren trug der Ort, den er nach 1945 gewählt hatte, die Kommunistische Partei, dann die SED in Deutschlands Osten und ihr besonderer, beschränkter Marxismus, zu seinem „Kummer, Ärger, Zwiespalt des Gemüts, des Intellektes, des Gewissens“ (so am 14. Januar 1959 als eine Frage an Rita Schober formuliert, die eigenes Erleben einschloß) nicht wenig bei, erfüllte neben Wichtigerem seinen durchaus auch auf äußere Zeichen gerichteten Ehrgeiz nicht - aber die Alternativen, im Judentum, im Westen, hat Klemperer für sich dennoch nicht akzeptieren können. So beeindruckt als Letztes und vielleicht vor allem, wie dieser Romanist seine Ansprüche nie aufgegeben hat - an eine Literaturwissenschaft, die ihren Bezug auf das „spezifisch Menschliche“ immer an die erste Stelle setzen solle (am 17. Februar 1954 in der Polemik gegen ein „engherziges“ Verkennen des Marxismus ausführlich dargelegt), und an sich selbst, der schwer krank und keine zwei Monate vor seinem Tod ein neues Auto kauft und „noch zu einer wirklich aktiven neuen Tätigkeit für ein paar Jahre zu kommen“ strebt. Wolfgang Klein 217 Victor Klemperer an Rita Schober Romanisches Seminar der Universität Halle Halle, den 23.12.1948 Liebe Genossin Rita - 1) telefonierte man vom Ministerium an, Ludwig Einicke 1 lasse Dir sagen, falls noch ein Referat für unsere Hochschulabende von ihm gebraucht wird, so müßte das vor dem 12. Januar steigen, danach sei er nicht mehr frei. Er bittet um Antwort. 2) Kannst Du, oder könnt Ihr uns mit etwas Schreibmaschinenpapier (für Manuskript u. für Durchschläge) aushelfen? Es braucht nur leihweise zu sein, da wir bestimmt von unseren Verlegern beliefert werden u. nur im Augenblick auf dem Trockenen sitzen. 3) Könnt Ihr uns eine Kuriersendung (Manuscript) an den Verlag (Volk und Welt) möglichst gleich nach dem Fest vermitteln? 4) Ist es Euch recht, an einem dieser Ferientage eine Tasse Tee bei uns zu trinken? Bitte bestimmt selber den Nachmittag (15 h), der Euch genehm ist. T 29368 Mit den besten Festwünschen und Grüßen v. H. z. H. Dein Victor Klemperer und Eva 2 Victor Klemperer an Rita Schober [Undatierter Zettel, vermutlich Ende 1950; Aufdruck auf der Vorderseite: Romanisches Seminar der Universität Halle (Saale) / Halle; am linken Rand unten handschriftlich: Dresden Sonntags vorm.] Liebste Rita ich werde bestimmt das SS. 51 im Amte bleiben, 3 ich lasse Dich bestimmt nicht im Stich. 1 Ludwig Einicke (1904-1975), früherer Häftling in den Konzentrationslagern Buchenwald, Auschwitz und Mauthausen, 1946-1950 im Sekretariat des Landesvorstandes der SED und zudem 1948-1950 Ministerialdirektor im Ministerium für Volksbildung in der Landesregierung Sachsen-Anhalt, im Sommer 1949 für einige Monate Minister für Volksbildung. 2 Eva Schlemmer (1882-1951) und Victor Klemperer hatten im Jahre 1906 geheiratet. 3 Mehrere Tagebucheintragungen zeigen Klemperer Ende 1950 voll der vergeblichen „leere[n] törichte[n] Hoffnung“, Rektor der Hallenser Universität zu werden (Tagebücher, 218 Wir waren gestern beide ein bißchen abgekämpft. Mein Rat: habilitiere Dich erst u. bekomme erst Dein Kindchen. Du hast dann alle Wege offen. Man muß Dir irgendwo ein Ordinariat geben. Keineswegs lasse ich Dir Storost 4 vor die Nase setze. Ich bin Freitag wieder in Halle. Mittwoch die Kammer. 5 Herzlich! VKl Victor Klemperer an Rita Schober Prof. Dr. Dr. Victor Klemperer Dresden A 34 Am Kirschberg 19 Telefon 83391 46825 Dresden 12. 4. 52 Meine liebe Rita noch einmal möchte ich Dir die herzlichsten Ostergrüße und Wünsche für rasche und völlige Wiederherstellung sagen. Ich schreibe Dir, weil ich Dir etwas ausdrükken möchte, was sich unter nüchternen und Pathos-feindlichen Menschen schriftlich besser als mündlich erledigen läßt. Du sollst meiner dauernden herzlichen Zuneigung, Freundschaft und Dankbarkeit ganz gewiß sein. Wie sehr ich Dich vom ersten Tage unserer Bekanntschaft an geschätzt habe, und wie diese Schätzung immerfort gewachsen ist, mußt Du wissen. Aber es ist wirklich nicht nur Schätzung beruflicher und intellektueller Art, sondern tiefe Verbundenheit. Jetzt hast Du in meine intimsten Dinge helfend und verständnisvoll eingegriffen. Du könntest mich mit zwei Worten lächerlich und unmöglich machen; stattdessen stehst Du mir bei. Es ist keine senile flüchtige Verliebtheit, die mich treibt; mir ist S. 102), „bitterlich“ leidend wegen des Einflusses von Werner Krauss in der Wissenschaft und Nachwuchsausbildung (ebd., S. 111) sowie „sehr, sehr desillusioniert“ von seiner politischen Rolle in der Volkskammer („leerstes Repraesentationsspiel“; ebd., S. 100). Unter dem 27. Januar 1951 hielt er dennoch in seinem Tagebuch fest: „Ich versprach treue Mitarbeit für ‘ein paar Semester’, bis Rita meine Nachfolge antreten könne“ (ebd., S. 128). 4 Joachim Storost (1905-1981), Romanist, Professuren: 1941 Halle, 1944 Innsbruck, 1948 Halle, 1949 Greifswald, 1953 Bamberg, 1958 Würzburg; Storost war für Klemperer nicht zuletzt als früheres Mitglied der NSDAP problematisch. 5 Seit den ersten Volkskammerwahlen am 15. Oktober 1950 war Victor Klemperer in der Fraktion des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands Abgeordneter der Volkskammer der DDR. 219 bei allem Glücksgefühl sehr, sehr schwer ums Herz, ich komme mir immer wieder wie ein Verräter an Eva vor, die ich beinahe fünfzig Jahre lang so sehr geliebt habe. Aber ich war so tödlich einsam, und ich finde bei Hadwig, die mir immer so sehr sympathisch war, eine neue Lebenswärme. 6 Ich weiß in jedem Augenblick, daß sie gewissermaßen mein Enkelkind ist. Aber Du selber hast mir gesagt, wie vieles mich mit ihr verbindet. Du hast Dich in dieser ganzen beinahe komischen, beinahe tragischen und doch wirklich sehr tiefgehenden und sehr glücklichen Angelegenheit mit Deiner ganzen Einsicht als unsere Freundin erwiesen, Du wirst das gewiß auch weiter so halten. Und wenn mir einmal etwas zustößt - Margarete 7 spricht immer von meinem „biblischen Alter“ -, dann sollst Du beide Hände über meine geliebte Hadwig halten. Sie hat zwar im Himmel ihren lieben Gott, aber auf Erden möchte ich sie doch gern in Deinem Schutz sehen. Liebe Rita, das ist ein sehr komischer Brief von Deinem alten Ordinarius - Ich habe das feste Vertrauen, daß Du ihn - den Ordinarius und den Brief - nicht komisch nimmst. Nochmals: alles, alles Gute für Dich und die Deinen. In lebenslänglicher Verbundenheit Dein Victor Klemperer Victor und Hadwig Klemperer an Rita Schober [Kopfbogen] Congresul Na ional Pentru Ap rarea P cii Bucure ti 5-7 Decembrie 1952 8 Dresden 28.12.52 Liebste Rita zunächst herzlichsten Dank für all Deine schönen Weihnachtsgaben und noch einmal alles, alles Gute Dir und den Deinen für 1953! (Das Pfefferkuchenkästchen mit der rumänischen Bluse ist hoffentlich als Weihnachtsgruß schon in Deinen Händen.) Sodann meinen Glückwunsch zur wohlgelungenen Maupassant-Studie. 9 6 Victor Klemperer und Hadwig Kirchner (geb. 1926) heirateten am 23. Mai 1952. 7 Margarete Steinhoff war Italienisch-Dozentin in Berlin; verheiratet mit Karl Steinhoff (1892-1981), 1946 Ministerpräsident des Landes Brandenburg, von 1949 bis zu seiner fristlosen Entlassung 1952 Innenminister der DDR sowie 1949-1953 Professor für Verwaltungsrecht an der Berliner Humboldt-Universität. 8 Klemperer war vom 6.-14. Dezember 1952 zur Teilnahme an der Schlußsitzung des Friedenskongresses und zu Vorlesungen an der Universität in Bukarest. 220 Und nun eine Bitte in Punkto der sehr herzlichen „Laudatio“. 10 Laß doch bitte den „Rabbiner“ sowie jede besondere Betonung meines Judentums fort. Ich will Dir sagen, aus wievielen Gründen mir sehr, sehr viel daran gelegen ist. 1) in Bezug auf meine Person ist mir jede philosemitische Extrawurst genau so zuwider wie jede antisemitische Anpöbelung. Ich lehne es für meine Person aufs allerentschiedenste ab zum „Volk der Juden“ oder zur jüdischen Religionsgemeinschaft gerechnet zur werden. Und ich lehne jede blutmäßige Bestimmtheit ab. Ich bin vor mir selber, so lange ich denken kann, Deutscher, ich bin in jungen Jahren zum Protestantismus übergetreten, 11 weil ich in ihm, den ich mit Lessingschem Denken identifiziert, das spezifisch Deutsche sah. In Wahrheit habe ich mit eigentlichem Gottglauben seit etwa 60 Jahren nichts mehr zu tun, und seit mindestens 30 Jahren sehe ich consequentes Christentum nur im Katholizismus, während mir Protestantismus nicht Fisch u. nicht Fleisch zu sein scheint. Ich bin 1945 aus der Kirche ausgetreten. Ich bin meiner Geistigkeit u. Bildung nach von Anfang an Deutscher u. nur Deutscher gewesen; ich bin in langsamer Entwicklung Kommunist geworden. 12 Etwas Drittes bin ich nicht. Ich habe sehr geringe Sympathie für eine große Reihe von Leuten, die ihr Judentum betonen, die sich zionistisch gebärden und es mit dem Westen halten. 2) Es ist mir jüdischerseits - cf. das Cap. „Zion“ in der Erstauflage meiner LTI 13 - „Antisemitismus“ vorgeworfen worden. Wenn Du jetzt den „Sohn des Rabbiners“ betonst wird man mir erneut meine Sünden vorwerfen, oder aber man wird erklären, jetzt ginge ich mit dem früher verleugneten Judentum angeln. (Denn was Du an Privatem über mich schreibst, wird natürlich auf meine Initiative zurückgeführt.) 3) Ohne Bezug auf meine Person. Es gibt überall, u. auch in der DDR, neuen blühenden Antisemitismus. Er wird durch jede philosemitische Bemerkung nur verstärkt. Das Beste u. einzig Gute u. einzig Vernünftige, was sich für die Juden tun läßt: sie nur noch als ein Gebilde der Vergangenheit, als ein historisches Faktum dunkler Zeiten betrachten. Im Gegenwärtigen sollen sie sich auflösen, sich 9 Gemeint ist Rita Schobers Nachwort zu der 1952 bei Rütten & Loening, Berlin, erschienenen Ausgabe von Maupassants Ein Leben, S. 297-320. 10 Zum 7. Oktober 1952, dem Gründungstag der DDR, war Klemperer der Nationalpreis der DDR III. Klasse für Wissenschaft und Forschung verliehen worden. Rita Schober hatte für das Buch, in dem die Nationalpreisträger vorgestellt wurden, die Laudatio über Klemperer geschrieben (Prof. Dr. Dr.h.c. Victor Klemperer, in: Nationalpreisträger 1952, Berlin 1953, S. 194-198). 11 Das geschah 1912, mit 21 Jahren. 12 Klemperer trat der KPD am 23. November 1945 bei. 13 Klemperer hatte dort zu „Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten Hitlers und Herzls“ in längeren Passagen über den Zionismus ausgeführt: „Herzl geht nirgends auf Unterdrückung und nun gar Ausrottung fremder Völker aus [...]. Sobald er sich aber zum Gottgesandten steigert und sich verpflichtet fühlt, seiner Mission gewachsen zu sein, nimmt die gedankliche, sittliche, sprachliche Ähnlichkeit des Messias der Juden mit dem der Deutschen einen bald grotesken, bald erschreckenden Charakter an.“ (Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin, 1947, S. 219f.) 221 einschmelzen in allgemeinere Menschengruppen, in die jeweilige Nation, der sie angehören. 4) Für mich selbst noch einmal: „Ins Allgemeine möcht’ ich gerne tauchen u. mit dem großen Strom des Lebens gehn.“ 14 Für mich besteht dies Allgemeine, dieser große Strom aus Deutschtum u. Kommunismus. Also, l. Rita, erspare mir bitte die besonderen Judenlichter auf meinem Bilde! Herzlichst Dein Vkl Liebe Rita! Ich benutze die Gelegenheit, Dir nochmals die herzlichsten Grüße zu senden. Was Victors letzten Satz betrifft: „besondere Lichter“ sind wirklich nicht nötig, Photographie sagt genug! Nach dieser gehässigen Bemerkung bin ich auf immer Deine Hadwig. Rita Schober an Victor Klemperer 15 Berlin, den 30.12.52 Lieber Victor! Auf alles war ich gefaßt, nur nicht auf diese Ausstellungen! Es ist mir unbegreiflich, völlig unbegreiflich, wie Du auf die Idee kommen kannst, daß ich besondere „Judenlichter“ auf Dein Bild setzen wollte! Und noch schlimmer ist, daß Du glaubst, meine „antisemitische“ Einstellung auf zwei Seiten bekämpfen und entkräften zu müssen! Und das nach vier Jahren Zusammenarbeit, in denen Du, glaube ich, von meiner Seite noch nichts anderes als Hochachtung, Eintreten für all Deine Ziele und Wünsche und eine wirkliche ehrliche Zuneigung zu Dir erfahren hast! Versteh mich bitte recht: es geht nicht darum, daß ich das Wort Rabbiner weglasse und den Satz über das Judenhaus; selbstverständlich, wenn Du es so für 14 Zitat aus Karl Gutzkows Drama Uriel Acosta (1846). Klemperer hatte 1913 über Die Zeitromane Friedrich Spielhagens und ihre Wurzeln promoviert. 15 Dieser Brief ist der einzige von Rita Schober, der sich in Klemperers Nachlaß findet (Landesbibliothek Dresden, Mscr.Dresd.App.2003, 440). In einer Tagebuch-Notiz vom 2. Januar 1953, vermutlich nach Erhalt des Briefes, bekräftigte Klemperer kurz und rein sachlich seine am 28. Dezember 1952 entwickelten Positionen (vgl. Tagebücher, S. 351). Im Archiv Rita Schobers findet sich der Durchschlag einer früheren Fassung, die in etlichen Formulierungen, nicht allerdings inhaltlich, von dem abgesandten Brief abwich. 222 besser hältst. 16 Du weißt, daß ich Dich nach dem Beruf Deines Vaters 17 erst fragen mußte! Ich habe ihn ebenso hingeschrieben, wie ich bei meinem Mann 18 geschrieben hätte: in der Familie des Schlossers usw. Wenn Du damals, als ich Dich fragte, gesagt hättest, daß ich das lieber weglassen sollte, so hätte ich es eben weggelassen. Aber wie konnte ich auf den Gedanken kommen, daß Dich das kränken könnte, denn es ist doch üblich, den Beruf des Vaters anzugeben! ! So also ist das Wort zu verstehen und niemand außer Dir hat bisher etwas anderes herausgelesen, obwohl ich die laudatio Frl. Limberg 19 und diesen ersten Teil auch Prof. Baldinger 20 gezeigt habe! Was das Judenhaus anbelangt, so war diese Feststellung für mich eine Vervollständigung all der Drangsalierungen, denen Du ausgesetzt warst. Hast Du die laudatio von Eugen Lerch im 4. Bd. des Hamburger Jahrbuches 21 nicht gelesen? Der Satz findet sich dort wortwörtlich! Ich bin überhaupt erst durch Lerch darauf gekommen, daß man das erwähnen muß, um ganz ermessen zu können, was Du in diesen Jahren hast durchmachen müssen. Lerch spricht dort 16 Klemperer war am 24. Mai 1940 aus seinem Dresdner Haus vertrieben und mit seiner Frau Eva in ein „Judenhaus“ eingewiesen worden; nach dem Luftangriff auf Dresden am 13. Februar 1945 konnten sie fliehen und überlebten bis zum Kriegsende in der Illegalität. In der veröffentlichten Fassung der Laudatio (vgl. Anmerkung 15) fand sich kein Hinweis auf Klemperers Elternhaus, und der kurze Absatz über die Jahre 1933-1945 benannte nur die Entfernung vom Lehrstuhl, den Raub des Hauses und das Verbot der Bibliotheksbenutzung. In Schobers Gedenkansprache nach Klemperers Tod hieß es später dagegen: „Er verlor nicht nur seine Stellung und sein Heim, mußte in einem Judenhaus kampieren und schwere körperliche Zwangsarbeit leisten, auch sonst blieb ihm an Demütigungen, Not und Leid nichts erspart.“ (Rita Schober, Vom Ertrag eines Gelehrtenlebens, in: Victor Klemperer zum Gedenken, Rudolstadt: Greifenverlag, 1961, S. 21) 17 Dr. Wilhelm Klemperer (1839-1912) war Rabbiner in Landsberg und Bromberg und seit 1890 zweiter Prediger an der jüdischen Reformgemeinde in Berlin (vgl. Victor Klemperer, Curriculum vitae. Erinnerungen eines Philologen 1881-1918, Berlin: Rütten & Loening, 1989, Bd. 1, S. 42f.). 18 Robert Schober (1911-1994) war der Sohn eines Eisengießers. Rita Schober und er hatten am 23. Juni 1950 geheiratet; Victor Klemperer war ihr Trauzeuge. 19 Lieselotte Limberg (1915 ca. 1985) war von 1951 bis 1981 als Sekretärin der Institutsdirektoren Klemperer und Schober, dann als Schobers Sekretärin im Dekanat der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät, schließlich als Sachbearbeiterin für die Beiträge zur Romanischen Philologie am Institut für Romanistik der Humboldt-Universität tätig. 20 Der Schweizer Linguist und Wartburg-Schüler Kurt Baldinger (1919-2007) war seit 1948 Professor mit Lehrauftrag, später Lehrstuhlinhaber an der Humboldt-Universität und leitete von 1949-1962 das Institut für Romanische Sprachwissenschaft an der Deutschen Akademie der Wissenschaften. 1957 folgte er einem Ruf nach Heidelberg. 21 Eugen Lerch, Victor Klemperer zum 70. Geburtstag, in: Romanistisches Jahrbuch 4/ 1951, S. 25-29; dort S. 27: „Die Nationalsozialisten [...] zwangen ihn, im Judenhaus zu wohnen und mißachtet, mit dem Judenstern angetan, in einer Fabrik zu schuften.“ Lerch und Klemperer hatten 1921 gemeinsam eine Festschrift für ihren Lehrer Karl Vossler herausgegeben; zu späteren Differenzen vgl. die Artikel über Klemperer und über Lerch in: Utz Maas, Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945, Bd. 2: Biobibliographische Daten G-P, Osnabrück: Secolo-Verlag, 2004, S. 176, 248. Zu Lerchs Geburtstagsartikel notierte Klemperer: „rührender u. in vielem verständnisloser Artikel“ (Tagebücher, S. 349). 223 auch davon, daß es Dir als Sternträger besonders schwer erging. Zweifelsohne hat dann Lerch auch „Judenlichter“ aufsetzen wollen! Und Deine eigene LTI! Victor, die Schande liegt doch bei uns, nicht bei Dir, daß man Dich so behandelt hat! Für Dich aber ist diese erlittene und überstandene Not heute eine Ehre! ! Wie kannst Du meine Worte so falsch verstehen? Wie kannst Du mir so einen Brief schreiben? Hast Du vergessen, daß ich von der „wahrhaft nationalen Bedeutung“ Deiner LTI in der laudatio der Fakultät gesprochen habe? Daß in dieser laudatio steht, daß die LTI für die Erneuerung und Erhaltung einer reinen deutschen Sprache die größte Bedeutung hat? 22 Daß ich Dich wegen Deiner echt deutschen Begeisterung für die Hochseeflotte auf dem Parteitag 23 immer wieder ein bißchen geärgert habe? Ich kann mir Deinen Brief nur so erklären, daß Du die ganze laudatio überhaupt nicht richtig gelesen hast, sondern nur das, was Du herauslesen wolltest! Eine Erscheinung, die in der letzten Zeit immer öfter auftritt. Du hörst etwas und bist sofort sehr aufgebracht, ohne zu Ende gehört zu haben! Wie sollen wir zusammenarbeiten, wenn kein rechtes Vertrauen mehr da ist und eine übergroße Empfindlichkeit, die in allem irgendwie einen versteckten Angriff sieht? Es ist ja leider auch nicht das erste Mißverständnis in diesem Jahr. Du scheinst auch gar nicht zu wissen, wie schwer mich jedes getroffen hat. Du müßtest doch wahrhaftig nach all den Jahren überzeugt sein, daß ich Dich aufrichtig schätze, nicht nur menschlich, sondern auch wissenschaftlich. Ich kann Dir sagen, daß ich z. B. Deine Literaturgeschichte des 19. Jh. 24 erst jetzt, da ich selbst intensiver darüber gearbeitet habe, wirklich zu würdigen weiß und außerordentlich hoch schätze, was ich in der Vorlesung immer wieder betont habe, nicht als höfliche Geste. Daß ich manchmal anderer Meinung bin, weißt Du auch, ich habe damit nie hinter dem Berge gehalten. Das ist auch kein Unglück. Du warst auch manchmal anderer Meinung als Voßler 25 und hast ihn stets verehrt, das ist das ewige Verhältnis von Lehrer und Schüler. Aber in dieser Beziehung habe ich mir wirklich den Kopf zerbrochen, ob Du die 22 In Nationalpreisträger 1952, S. 198, ist von „großer Bedeutung“ die Rede; Details der Würdigung im Rahmen der Fakultät waren nicht mehr zu ermitteln. 23 Klemperer und Schober hatten als Delegierte vom 20.-24. Juli 1950 am III. Parteitag der SED teilgenommen. In seinen ausführlichen Tagebuchnotizen erwähnte Klemperer die dortigen Beschlüsse zum Aufbau einer eigenen Handelsflotte der DDR nicht. 24 Victor Klemperer, Die französische Literatur von Napoleon bis zur Gegenwart, T. 1: Die Romantik, T. 2: Der Positivismus, T. 3: Der Ausgleich (Die Gegenwart), Hälfte 1: Bergson. Die gewahrte Form, Hälfte 2: Die Entgrenzung. Der Ausgleich, Leipzig/ Berlin: Teubner, 1925-1931. In ihrer Laudatio zum Nationalpreis nannte Rita Schober diese Arbeit „Klemperers bedeutendste wissenschaftliche Leistung. Mit einem unglaublichen Fleiß und einem seltenen Einfühlungsvermögen gelingt es ihm, den behandelten Stoff in großen zusammenfassenden Entwicklungslinien zu zeichnen.“ (Nationalpreisträger 1952, S. 196) Eine überarbeitete Neuausgabe in zwei Bänden brachte Klemperer 1956 u.d.T. Geschichte der französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. 1800-1925 (Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften) heraus. 25 Bei Karl Vossler (1872-1949) hatte Klemperer sich 1914 habilitiert. 224 Bemerkung wegen der Prosa, 26 daß man heute vielleicht manches Stück davon weglassen würde, nicht übel nehmen könntest, und bereits diesen Satz im Kulturbundexemplar 27 zur Streichung vorgeschlagen. Andererseits glaubte ich Dir wirklich einen Bärendienst zu erweisen, wenn ich in meiner laudatio nicht eine gewisse Unabhängigkeit und Eigenständigkeit des Urteils zum Ausdruck brächte, damit die positiven Seiten auch voll wirksam würden - und ich glaube, der positiven Seiten sind genügend in diesem Aufsatz! 28 Die Bluse habe ich mit gleicher Post zurückgesandt. Es dürfte beim Einpacken eine Verwechslung vorgekommen sein, denn dies ist, wenn ich mich recht erinnere, Hadwigs Sommerbluse. Sie ist an den Ärmeln ganz verschwitzt und verfärbt, muß also schon getragen sein und Hadwig würde sie sicher suchen. - Welchen Brief hättest du mir als Antwort auf eine solche Blusensendung geschrieben? Mit nochmaligen besten Wünschen für ein frohes Neues Jahr und einen schönen Silvester verbleibe ich Deine Rita 26 Victor Klemperer, Die moderne französische Prosa 1870-1920. Studie und erläuterte Texte, Leipzig: Teubner, 1923, 3. erneuerte Aufl. im selben Verlag, 1948. 27 Das Buch über die Nationalpreisträger erschien im Aufbau-Verlag, dem Verlag des Kulturbundes. In ihm ist Klemperers Prosa-Buch tatsächlich nicht erwähnt. 28 In Schobers Entwurf folgte hier ein handschriftlich bereits gestrichener Absatz: „Zum Schluß muß ich Dir noch etwas sagen, was ich Dir gern als Ärger erspart hätte. Ich habe diese laudatio geschrieben im gleichen Augenblick, da von Krauß im Staatssekretariat ein wissenschaftlich deprezierendes Gutachten eingegangen ist.“ Klemperer hatte am 21. März 1952 zu dem seit 1950 von Werner Krauss (1900-1976) verfolgten Plan, an der Deutschen Akademie der Wissenschaften ein Institut für romanische Philologie einzurichten, ergänzende Vorschläge gemacht. In einer ausführlichen, auf den 2. Dezember 1952 datierten „Charakteristik der wissenschaftlichen Befähigung von Prof. Dr. Victor Klemperer“ sprach Krauss diesem danach zwar die Fähigkeit zu, „ein durchdachtes und meist mit größter Wirksamkeit formuliertes Bild“ literarischer Tatbestände zu entwerfen, nannte dies aber eine „reproduktive und interpretierende Orientierung“, die zur Mitwirkung in einem Akademie-Institut unzureichend sei. Vgl. hierzu genauer Rita Schober, Victor Klemperers Wirken nach 1945 (wie Anmerkung 1, Zitate S. 334), sowie zu den Beziehungen zwischen Klemperer und Krauss generell Manfred Naumann, PLN und LTI. Gespräche zwischen Krauss und Klemperer, in: Geschichte und Text in der Literatur Frankreichs, der Romania und der Literaturwissenschaft. Rita Schober zum 80. Geburtstag, hg. von Hans-Otto Dill, Berlin: trafo verlag, 2000, S. 173-178. 225 Victor Klemperer an Rita Schober 29 Prof. Dr. Dr. h.c. Victor Klemperer Dresden, den 17. Februar 1954 Am Kirschberg 19 Liebe Rita, ich benutze Fräulein Limbergs Anwesenheit, um über einige Punkte, die uns und das Institut und Deine Nachfolge angehen, an Dich zu schreiben. Zuerst Deine Habilitationsschrift: Du weißt wie sehr ich mit Deiner Auffassung der Marie de France übereinstimme. Ich glaube, es war das erste Thema, an dem wir uns in Halle wissenschaftlich kennenlernten. Ich bin also ganz überzeugt, dass Du einen sehr schönen Vortrag darüber halten wirst. Da ich annehmen darf, dass Du ihn später veröffentlichst, am besten wohl in unserem Jahrbuch, 30 so macht es Dir vielleicht keine sonderliche Mühe, ihn mir fixiert beizeiten einzusenden (selbst wenn es sich auch noch nicht um die ausgeführte endgültige Form handeln sollte). Dann könnte ich der Fakultät von hier aus ein Gutachten schreiben. Wir sind uns gewiss auch darüber einig, dass Du gut tust, im Hinblick auf Baldinger ein bisschen mit dem altfranzösischen Handwerk zu klappern. Das macht umso besseren Eindruck, je weniger das Gros der Fakultät davon versteht. Zweitens liegt mir nun am Herzen der unselige Fall W[.] M[.]. M[.] hat mir einen sehr herzlichen Brief geschrieben und mich gebeten, bis zur nächsten Fakultätssitzung seine Doktorarbeit zu begutachten. 31 Wobei er natürlich annimmt, dass es sich um ein zustimmendes Gutachten handeln würde. Er hat aber niemals, aber wirklich niemals über seine Arbeit ernstlich mit mir gesprochen. Er hat neulich im Aspirantenkurs ein Referat über Vercors gehalten, das in seinem zweiten, skizzenhaften Abschnitt mir recht unklar und anfechtbar vorkam. Ich glaubte, es handele sich um einen ersten embryonalen Zustand seiner Arbeit. Jetzt legt er mir eine von ihm aus fertige Doktorarbeit vor, von der ich annehmen muss, dass er sich an Dich als an seine eigentliche Betreuerin gehalten und wesentliche Deiner Belehrungen falsch verstanden hat, denn Du selber in Deiner Habilitationsschrift 32 bist vorbildlich sorgsam in der Anwendung und Definition des ins Schwanken geratenen ästhetischen Begriffs, und Du selber hältst Dich bei aller Betonung Deiner Parteizu- 29 Maschinenschriftlicher Durchschlag im Nachlaß Victor Klemperers in der Landesbibliothek Dresden, Mscr.Dresd.App.2003, 236; das Original befindet sich nicht in Rita Schobers Archiv. 30 Rita Schober veröffentlichte „Kompositionsfragen in den lais der Marie de France“ in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 1954-1955/ 1, S. 45-59, sowie bearbeitet in ihrer Sammlung Von der wirklichen Welt in der Dichtung. Aufsätze zur Theorie und Praxis des Realismus in der französischen Literatur, Berlin/ Weimar: Aufbau-Verlag, 1970, S. 112-136. 31 Die im folgenden erörterte Arbeit hat nicht zu einer Promotion geführt. 32 Rita Schober, Emile Zolas Theorie des naturalistischen Romans und das Problem des Realismus, Typoskript, Berlin, 1953, 295 S. 226 gehörigkeit von aller ästhetischen Sturheit fern. Ich bin aber noch nie einer Arbeit begegnet, die derart engherzig, stur, dumm und gehässig ihr Thema anfasst, derart entfernt von aller Wissenschaftlichkeit des Literarhistorikers und derart unsinnig umgehend mit unsicheren Schlagwörtern wie M[.]s Doktorarbeit. Ich will nur hoffen, dass diese Arbeit mir noch nicht offiziell, sondern nur zur vorläufigen Einsicht vorgelegt ist. Denn andernfalls müsste ich der Fakultät in schroffer Form die Ablehnung vorschlagen. Es ist mir unfassbar wie jemand, der semesterlang bei mir studiert hat, solch eine Arbeit schreiben kann. Entweder habe ich als Lehrer völlig versagt, oder der Mann passt zum Literarhistoriker wie der Igel zum Lautenschlagen. Soweit, liebe Rita, schütte ich Dir freundschaftlich mein Herz aus und nehme an, dass der Inhalt des Briefes ein privater ist. Ich will nun im einzelnen auseinandersetzen, was mich an M[.]s Arbeit aufs äusserste empört und was ich für eine vollkommen verfehlte und unmarxistische Anwendung marxistischer Theorien halte. (Psychologische Erklärung: soviel mir bekannt, bewirbt sich M[.], der von der LDP 33 herkommt, ehrlichen Herzens um Aufnahme in die SED, dies mag ihn in die Blindheit der 250%igen hineintreiben.) Nun also: Gleich die erste Seite der Einleitung enthält einen theoretisch absolut falschen und doppelt falschen Satz: es ist nicht wahr, dass ein Schriftsteller „nur die Interessen und Ansichten“ seiner Klasse künstlerisch gestalten kann. Die wirklich grossen Dichter von Homer über Goethe bis zu Feuchtwanger und Arnold Zweig sind deshalb gross, weil sie über die Grenzen ihrer Klasse hinaus Menschliches gestalten können. Und ebenso ist es nicht wahr, dass der Ideengehalt eines Werkes „letzten Endes“ auch dessen künstlerischen Wert bestimmt. Ohne Ideengehalt ist man gewiss kein Künstler, aber die Idee allein tut es nun einmal auch nicht. M[.] ist mit dem Schlagwort Formalismus 34 bei der Hand, sobald ihm die ausgeführte Idee nicht passt. Vercors ist in all seinen Arbeiten tiefer Ethiker. Deswegen ist der Vorwurf des Formalismus völlig unzutreffend und geradezu gehässig. M[.] selbst - Du findest die betreffenden Stellen in der Dissertation von mir angestrichen - wirft dem Vercors wiederholt vor, Didaktiker und Moralist zu sein: wie passt das zum Vorwurf des Formalismus und seit wann ist didaktischer Gehalt von seiten unserer Theorie aus ein Vorwurf? 33 Die 1945 gegründete Liberaldemokratische Partei Deutschlands, eine der in der Nationalen Front organisierten Blockparteien, suchte „vor allem Handwerker, Einzelhändler, Unternehmer und andere Gewerbetreibende sowie Teile der Intelligenz und [...] den Mittelstand sowie [...] das nationalgesinnte Bürgertum in Westdeutschland“ (Meyers Neues Lexikon, Bd. 5, Leipzig: Bibliographisches Institut, 1963, S. 387) für den Aufbau des Sozialismus in der DDR zu mobilisieren. 34 Der Formalismus-Begriff diente in der Sowjetunion seit Mitte der 1930er Jahre zur Stigmatisierung und Verfolgung jener Literatur und Kunst, die es bei den autorisierten Inhalten und Stilmitteln des sozialistischen Realismus nicht belassen wollte; ihr wurde vorgeworfen, die Form überzubetonen. Im beginnenden Kalten Krieg wurde der Begriff um 1950 in den Ländern unter sowjetischem Einfluß zentral eingesetzt, um „Ästhetizismus und Gruppen bourgeoiser Kosmopoliten“ zu bekämpfen. 227 Um nun der Reihe nach zu gehen: Auf die fragwürdige Einleitung läßt M[.] eine kurze orientierende Darstellung der französischen Résistance folgen. Diese Abschnitte seiner Arbeit sind durchaus gut, aber sie waren nach den vorliegenden von ihm benutzten Werken leicht herzustellen. Es folgen dann die Ausführungen über Vercors’ Résistancenovellen, woran mir nichts auszusetzen scheint. Das Kapitel Auffassung und Darstellung des Feindes mußte einsichtsvoller und historischer behandelt werden. Es ist eine allgemeine Erscheinung, daß man den Feind im Hinblick der höchsten Bedrängnis als den Unmenschen schlechthin betrachtet. Im 70iger Krieg hat Maupassant nicht überall stich gehalten, im ersten Weltkrieg haben sich Franzosen und Deutsche (Anatole France, Thomas Mann etc. etc.) gleicherweise verrannt. Ich habe M[.] ganz besonders auf Rivieres „Deutschen“ 35 hingewiesen. Warum tut er das mit einer halben Zeile ab, statt die Möglichkeit zu ergreifen, den mageren Spatzen, seine Arbeit, ein bißchen historisch aufzufüttern? Und warum bemüht er sich nicht darum, die Erzählungskunst überhaupt in Verbindung zu bringen? Christiansen, der ein ebenso modernes und so an sich noch dünneres Thema behandelt, 36 untersucht bei Stil wie und wieweit der politische Artikelschreiber oder Journalist zum Novellisten wird und wieweit sich der Novellist zum Romanautor entwickelt. Statt einer ähnlichen Untersuchung finde ich bei M[.] die törichte Behauptung, dass sich der komplexe Stoff der Résistance zur Form der klassischen Novelle nicht eigne. (Sieh Dir einmal von Hay: „Der Wellenjäger von Schewtschenko“ an! ! ) 37 Vercors schreibt Erzählungen, weil diese Form seinem Wesen am besten entspricht. Romane wiederum werden meist erst später geschrieben: cf. Aragon, Wurmser usw. Immerhin durchbricht das Genie jede Regel. Barbusse hat „Das Feuer“ beinahe im Schützengraben komponiert. Mein Haupteinwand gegen M[.] ist aber dieser: er setzt dessen ästhetisch philosophische Theorie auseinander. Es ergibt sich, daß Vercors neben zeitgebundenen und wechselnden Moralvorschriften einige Grundregeln, die für die Menschen aller Zeiten schlechthin gelten, anerkennt, hierbei in enger Gedankeverbindung mit Kant. Dies bedeutet für M[.] eine Versündigung gegen den Geist des Materialismus und einen zu verdammenden bürgerlichen Unfug schlechthin. Für M[.] ist der Mensch durchweg nach seiner Klassenlage zu beurteilen. Es ist aber doch so, daß jeder Mensch zuerst einmal eine Kopf- oder Steiß- oder sonstige Lage im Mutterleib hat. Und das Zweite: jeder Mensch 35 Jacques Rivière, L’Allemand. Souvenirs et réflexions d’un prisonnier de guerre, Paris: Gallimard, 1918. Zu dem Buch schrieb Franz Arens im März 1920 im Neuen Merkur (S. 667, 657), den „mutigen Wahrheitsernst“ eines „redlichen Feindes“ würdigend, hier spreche „die Unversöhnlichkeit des Instinkthasses“. Zu den Veränderungen in Rivières Positionen in der Folgezeit vgl. Volker Steinkamp, Die Nouvelle Revue Française unter Jacques Rivière (1919-1925), in: lendemains 2001/ 101-102, S. 187-198. 36 Vgl. Anmerkung 63. 37 Gyula (Julius) Hay (1900-1975), nach Teilnahme an der Ungarischen Räterepublik 1919 nach Berlin, 1933 in die Sowjetunion emigriert, war vor allem als Dramatiker hervorgetreten. 1957-1960 in Ungarn in Haft, emigrierte er 1965 in die Schweiz. 228 zuletzt eine Sarglage hat, die auch wieder mit der Klassenlage nichts zu tun hat, sofern man in diesem zweiten Fall nicht das Begräbnis erster, zweiter oder sonstiger Klasse und die daraus folgende Beschaffenheit des Sarges für wesentlich erklären will. Und es ist einfach nicht abzuleugnen und wird von keinem vernünftigen Menschen, welcher Partei, Konfession und Weltanschauung auch immer, abgeleugnet, daß diese allgemein gültigen Anfangs- und Schlußtatsachen bestimmend auf alle Menschen einwirken. Vercors leugnet durchaus nicht, daß soziale, also Klasseneinflüsse auf den Menschen vorhanden sind, aber dies Allgemeingültige bedeutet doch etwas dauernd Menschliches und Verbindendes. Weiter. Vercors läßt den lieben Gott und alles Transzendente durchaus aus dem Spiel. Er sagt, das Gehirn entwickle sich bis zu einem gewissen Grade gleichartig bei Mensch und Tier. Es tritt aber der Punkt ein, wo sich das Gehirn des Menschen weiterentwickelt, wo es ein Selbstbewußtsein erhält, das dem Tier nicht gegeben ist und wo es nun von diesem Bewußtsein aus und eben durch dieses Selbstbewußtsein sich gegen die Natur auflehnt und sich zum Herrn über diese Natur (die physische) zu machen sucht. In dieser Fähigkeit der Rebellion, wie Vercors sie nennt, sieht er das spezifisch Menschliche, sieht er die Entwicklung der Menschheit begründet. Inwiefern unterscheidet sich diese Lehre von dem herrlichen sowjetischen Satz: „wir werden die Erbsen zwingen, auf Bäumen zu wachsen“. 38 M[.] nennt das unmaterialistisch, idealistisch und kantisch gedacht. Ich für meinen Teil glaube, dass es ohne diesen „Idealismus“ weder einen Marx, noch einen Lenin, noch eine marxistische Lehre gäbe. M[.] doziert: als Marxist habe man der Lehre Engels zu folgen, wonach sich der Mensch durch die Arbeit entwickelt habe. Wo liegt der Unterschied? Die Entwicklung durch die Arbeit beginnt damit, dass der Mensch Werkzeuge gebraucht. Ist nicht die Grundbedingung für diese Erfindung die besondere Weiterentwicklung des menschlichen Gehirns? M[.] stößt sich daran, dass bei Vercors das Auftreten dieser menschlichen Eigenschaften als etwas Persönliches und damit Geheimnisvolles gegeben sei. Soweit mir bekannt, rechnet der Marxismus durchweg mit dem Umschlagen der Quantität in die Qualität. Das alles hat mit irgendwelcher Mystik nichts zu schaffen. Hier setzt die Entwicklung der Menschheit und der menschlichen Gesellschaft ein. Die Frage nach dem Vorher oder dem Weshalb wird von Vercors nicht gestellt. Ich kann also nicht einsehen, weswegen Vercors als Idealist und Kantianer beschimpft werden muß und weiter kann ich erst recht nicht einsehen, weswegen er ein geringerer Dichter sein müßte oder umgekehrt ein größerer Dichter sein würde, wenn er nur, je nachdem, religiöse oder antireligiöse Gründe für seine Theorie heranzöge. Um den Dichter Vercors zu beurteilen, kommt es darauf an, wie er seine Ideen in Fleisch und Blut umsetzt und ob er seine Dichtung menschenfreundlichen 38 Die Behauptung des sowjetischen Agrarbiologen Trofim Lyssenko (1898-1976), Erbanlagen ließen sich gezielt verändern, war tragender Teil der damaligen Ideologie eines Mensch wie Gesellschaft radikal umwälzenden, siegreichen Kommunismus. 229 oder -feindlichen Dingen dienen läßt. M[.] selbst bestreitet keinen Augenblick, und das ist das einzig Richtige an seiner Arbeit, dass Vercors überall rein human denkt. Aber er wirft ihm in jedem Augenblick vor, ein bürgerlicher Idealist zu sein und damit wirklichkeitsfremd. Es gibt aber heute noch Millionen bürgerlicher Idealisten, und wer sie zeichnet, ist nicht wirklichkeitsfremd. M[.] wirft dem späteren Vercors außerdem vor, dass er sich in Gewissenskonflikte einbohre. Welch eine unerhörte Enge, von Psychologismus zu sprechen und im Zusammenhang damit, das Schlagwort untypisch zu gebrauchen! Der Begriff des Typischen ist sehr ins Wackeln gekommen, man pflegt bei uns die vorletzte Moskauer Aussage für bindend zu erklären, wenn man in Moskau bereits einen Schritt weiter ist. Es ist absolut notwendig, und Du selber hast das mustergültig getan, heute aufs genaueste zu erklären, was man jeweils unter typisch versteht. M[.] benutzt die Ausdrücke typisch, psychologisch, dekadent und formalistisch ohne alles ernste Nachdenken in willkürlicher und oberflächlicher Weise. Bisweilen geht seine Oberflächlichkeit in Gehässigkeit über. Hat Vercors mit einem Werk geringeren Erfolg, dann ist das ein Zeichen für seine Ungenießbarkeit, setzt er in einem anderen Werk seine Idee in stark bewegte Handlung um, dann ist das „ein krampfhaftes Bemühen“ um Erfolg. Für ebenso ungerecht halte ich das Urteil über Vercors Stil. Warum soll er keine komplizierteren Sätze gebrauchen, wenn er kompliziertere Gewissensvorgänge darstellt? Die Beispiele, die M. anführt, sind jedenfalls in wesentlich besserem und durchdachterem Französisch geschrieben, als man von M[.]s deutschem Stil aussagen kann. Er gebraucht, wie gesagt, ständig definierte und bequeme Schlagworte. Er gebraucht auch Modeworte, die morgen die Mode von gestern sein werden. Zähle einmal nach, wie oft er auf einer Seite von „Rückblendung“ und „rückblenden“ spricht. Ich habe alles das in seiner Arbeit mit Bleistiftzeichen versehen. Nur manchmal, wenn es mir gar zu hoch kam, habe ich ein paar Ausrufezeichen oder Bemerkungen an den Rand gesetzt. Wirklich, liebe Rita, ich habe mich dieser Arbeit geschämt und ich kann mir nicht denken, dass Du sie mit freundlicheren Empfindungen angesehen hast. Solange das Institut unter meinem Namen läuft, lasse ich sie weder als Literarhistoriker noch als Marxist passieren. Sie ist das Engherzigste und Törichste, was mir auf diesem Gebiet bisher vor Augen gekommen ist. Ich habe noch eine Einzelheit vergessen. M. stösst sich daran, dass Vercors ein paar Mal biblische Bilder gebraucht. Er stösst sich daran, dass Vercors eines seiner Werke Mystère nennt. Er stösst sich daran, dass diesem „Mystère“ ausdrücklich die Erklärung vorangestellt wird, hier handle es sich um die vielfältige Verkörperung oder Gestaltung der Grundidee. M. sieht rot, sobald von Idee die Rede ist. Er sieht rot, sobald biblische Bilder ins Spiel kommen, die blosse Bezeichnung „Mystère“ - dass es auch ein Mysterium von der Geschichte Trojas gibt - hat er wahrscheinlich nicht „gehabt“. Ich meine: er kennt nicht die technische Weite des Begriffs Mysterium. Er kommt mir immer wieder vor wie die Leute in „Dantons Tod“: „er hat ein Taschentuch, er ist ein Aristokrat, hängt ihn an die Laterne.“ 230 Ich habe Dir, liebe Rita, dies alles privat geschrieben, um einmal ganz ungeschminkt meine Meinung auszusprechen. Ich bitte Dich, von Dir aus mit M[.] deutlich aber unkränkend zu reden. Ich selber werde ihm für seinen sehr herzlichen Brief ebenso herzlich danken und ihm nur mitteilen, dass ich ihn für mein ablehnendes Urteil an Dich verweise. Ich hoffe, dass ich im Frühjahr wieder nach Berlin kommen kann. Dann werde ich gern gründlich mit ihm sprechen. Wenn der Vercors eine Doktorarbeit bei mir werden soll, dann muss er nach der literarhistorischen Seite gründlich, wie man so schön sagt, „untermauert“ werden. (Aber wehe ihm, wenn er das Verbum untermauern in der Arbeit gebraucht. Es sei denn, dass er seine Theorie von der Klassenlage untermauern will.) Und zum zweiten und eigentlich zum allerersten muss er seine Urteile menschlicher und scheuklappenloser fassen. Es ist sehr schade, dass ich Dir das alles schreiben muss. Vielleicht ist es ein Stückchen Schwanengesang, denn in diesem Semester komme ich nicht mehr aufs Katheder, und wieweit ich im nächsten Semester verwendungsfähig sein werde, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Da ich in Halle unter allen Umständen aufgeben soll, wird es wahrscheinlich das beste sein, wenn ich von mir aus meine Emeritierung beantrage. Sei herzlich gegrüsst von Deinem gez. Victor Klemperer Hadwig und Victor Klemperer an Rita Schober [Ansichtskarte: Elbsandsteingebirge. Kletterei an der Amselspitze; Schrift von Hadwig K.] Dresden, 26.6.54 Liebe Rita! Hab’ herzlichen Dank für Deine lieben Feriengrüße. Daß Hansel 39 so krank ist, tut uns aufrichtig leid, hoffentlich geht es ihm schon bisl besser. - Umseitiges Bild erinnert mich an Deine Erzählung Deiner hallenser Kletterpartie, ich glaube nach Krippelmoos. 40 In Ahlbeck bist Du nun wenigstens nicht in der Versuchung derart gefährlicher Exkursionen! - Mit herzlichen Grüßen, Deine Hadwig u. Victorklemperer 39 Rita Schobers Sohn Hans-Robert war am 1. März 1951 geboren worden. 40 Moos für die Weihnachtskrippe, das bei einem Urlaub im Harz gesucht worden war. 231 Victor und Hadwig Klemperer an Rita Schober Dresden 19.7.54 L. Rita - von Frl. Limberg hören wir, daß Du frisch vom Sommerurlaub zurückgekehrt bist; möge die Erholung recht gut und lange vorhalten! Inzwischen kam Dein Sand-Band mit der hübschen Widmung. Recht herzlichen Dank dafür. Den Essai 41 finde ich sehr wohl gelungen. In der Gesamtauffassung gehen wir völlig zusammen; das Politische hast Du weiter ausgeführt als ich, und ich benutze das für die Neuausgabe meines 19 ième , petite Fadette etc. hätte ich gern schon um unserer „Dorfgeschichten“ (Auerbach) 42 willen ein klein wenig ausführlicher behandelt gesehen, aber natürlich mußte in einem Nachwort zum Compagnon das Politische central stehen. Da bin ich nun bei dem, was mir momentan besonders am Herzen liegt. Ich arbeite ständig am 19 ième . 43 Du weißt, es soll in 2 Teilen erscheinen, den ersten bilden die jetzigen Bände 1 u. 2. Davon habe ich Teil 1 eben fertig; das einleitende Napoleoncapitel habe ich ernstlich umgearbeitet. Wenn aus der Frankreichreise, die ja am 1. Aug. beginnen soll, aber bisher rührt sich nichts und ich bin sehr skeptisch - - wenn aus ihr nichts wird, liefere ich am 1. Sept. vertragsgemäß den ganzen ersten Band ab, u. er soll möglichst bald herauskommen. Was fehlt, ist Dein Vorwort. 44 Nun hast Du dafür auf alle Fälle Zeit, denn man könnte ja erst meinen Text drucken, auch muß dazu eine Übersetzung der französ. Citate geliefert werden. Aber immerhin: der Verlag hofft auf Deine Einleitung, und irgendwann im Spätherbst wäre sie vonnöten. Bitte äußere Dich doch einmal dazu. In allernächster Zeit schicke ich Dir das kurze Vorwort, in dem ich selber Rechenschaft darüber ablege, was ich, teils streichend, teils hinzufugend, ändere. Ich habe nur eine Schwierigkeit, u. dabei kannst du mir vielleicht raten. Wenn ich selber „selbstkritisch“ erkläre: dies und dies muß ich nach 30 Jahren aus dem u. jenem Grund ändern; anderes muß ich stehen lassen, weil sonst ein ganz neues Buch geschrieben werden müßte, und weil ich an vielem von anno dazumal festhalte (Trägergestalt z.B.) - - womit motiviere ich dann die Neuveröffentlichung? ? 41 Rita Schober, Nachwort, in: George Sand, Gefährten von der Frankreichwanderschaft, Berlin: Rütten & Loening, 1954, S. 419-462. 42 Die Dorfgeschichten von Berthold Auerbach (1812-1882) dürften Klemperer in der Arbeit an seiner Dissertation über Friedrich Spielhagen zum Begriff geworden sein; die konkrete Anspielung konnte nicht geklärt werden. 43 Vgl. Anmerkung 29. 44 Am 1. August 1954 las Klemperer bei Rita Schober sein eigenes Vorwort zu dem Buch vor. „Es fand so große Billigung, daß Rita nun auf ihr Vorwort verzichten u. den Verzicht vor Verlag u. Censur begründen will.“ (Tagebücher, S. 445) 232 Ich wäre Dir sehr dankbar, wenn Du mir darauf antwortetest. Vielleicht auch können wir mündlich darüber sprechen. Aller Wahrscheinlichkeit nach sind wir am Mittwoch 28.7. in Berlin. Die abscheuliche Ungewißheit über den Termin der Frankreichreise hindert mich am Festlegen des Datums. Ich lasse über Frl. Limberg zum x. Mal das Staatssekretariat anfragen. Noch eines: wem von unseren Leuten könnte man Citatübersetzungen u. Register übertragen? Und könnte das als Teil des Forschungsauftrages angesetzt werden? - Gestern erledigte ich die Correktur meiner Studie über Rollands Kriegstagebuch für das Universitätsheft. 45 Merkwürdigerweise fragt das Prorektorat an, ob die Arbeit zu einem „Forschungsauftrag“ gehört. Ich schrieb zurück: nein - private Studie. Weßwegen diese Anfrage? Soviel von mir aus. Auf der anderen Seite will Dir H. noch danken. Herzlich Dein VictorKlemperer Liebe Rita! Wie Victor umseitig ankündigt, möchte auch ich Dir für den George-Sand-Band und besonders für die Widmung recht herzlich danken. Es tut mir leid, daß Du mit Deinem Urlaubswetter solches Pech hattest. Du solltest Dich vielleicht von dem nun anscheinend beginnenden besseren Wetter dazu verführen lassen, noch einen kleinen Nachurlaub anzuhängen? Wie geht es dem Hansel? Hat er seine Krankheit gut überstanden, und haben ihm seine Eltern als Trostpreis etwas Schönes aus dem Urlaub mitgebracht? Viele herzliche Grüße Deine Hadwig. Victor und Hadwig Klemperer an Rita Schober [Ansichtskarte: Elbsandsteingebirge, Bad Schandau a. Elbe und die Schrammsteine; Absender: Klemperer / Dresden A 34 / Am Kirschberg 19] 27.8.54 L. R. wir gratulierten schon nach Berlin und tun es gern an Deine Ferienadresse di nuovo. Über die Institutssachen reden wir in Berlin - („auf in den Kampf! “ der Gegner ist wirklich ein Hornvieh! ) 46 - in Liebenstein erhole Dich. - Hast Du gesehen, daß 45 Klemperer Studie „Romain Rollands Kriegstagebuch 1914-1919“ erschien in: Neue Deutsche Literatur, 1955/ 9, S. 98-106. 46 Bezug auf Rita Schobers Ernennungen zum Professor und zum Institutsdirektor; vgl. die Einführung zu diesem Briefwechsel. 233 der „Sonntag“ Deinen Nationalpreisartikel über mich 47 wörtlich abgedruckt hat? Vor einem viertel Jahr ist mein dickes 18 ième erschienen, 48 seit Wochen bist Du Professor - aber Frau Doctor Sch. schreibt, daß ich nur kleine Sachen seit 45 herausgebracht habe! Jetzt „Sonntag“! Sei von uns beiden sehr herzlich gegrüßt. Deine H. u. V. Kl. Rita Schober an Victor Klemperer [Maschinenschrift, Durchschlag] Prof. Dr. Rita Schober Berlin NW 7, den 1. September 1955 Clara-Zetkin-Straße 1 Lieber Victor, vielen Dank für Deine lieben Zeilen vom 29. August d.J. Ich bin frisch und munter aus Varna zurückgekehrt, obwohl ich es dort wohl nicht ganz so erfreulich hatte wie Du, 49 vor allem haben wir weniger zu essen bekommen als Du. Nun zu Deinen speziellen Anfragen: Dein Lehrauftrag, den ich, wie Du ja weisst, rechtzeitig gestellt habe, ist selbstverständlich vom Rektor bestätigt worden, und wir haben Deine Vorlesung „Einflüsse der Romania auf die deutsche Literatur“ auf Donnerstag um 12.00 (bis 14.00) Uhr, Hörsaal 1064 gelegt. Was das zusätzliche Seminar mit den Germanisten anbelangt, so waren wir, wie Du Dich erinnern wirst, übereingekommen, dass dies gelegentlich Deiner ersten Vorlesung gemeinsam mit den Germanisten geregelt werden sollte. In dieser Angelegenheit habe ich also nichts weiter veranlasst, weil ich mich dazu wirklich nicht befugt fühle. Lilo hat allerdings die Germanisten von Deiner Bereitschaft, ein Seminar über Lessing und Frankreich für Germanisten und Romanisten gemeinsam 50 zu halten, in Kenntnis gesetzt. Ich würde Dich also herzlich bitten, am Donnerstag noch einmal mit den Germanisten Kontakt aufzunehmen. Sonst ist jetzt, glaube ich, alles soweit in Ordnung. 47 Vgl. Anmerkung 15. 48 Victor Klemperer, Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert, Bd. 1: Das Jahrhundert Voltaires, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften 1954; der Band 2, Das Jahrhundert Rousseaus, erschien postum 1966 bei Niemeyer, Halle. 49 Klemperer hatte im Juni/ Juli 1955 seinen Urlaub in Bulgarien verbracht. 50 Das Vorhaben gemeinsamer Lehrveranstaltungen für Romanisten und Germanisten in Berlin ging auf ein Gespräch über Klemperers weitere Tätigkeit im Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen der DDR Ende Juli 1955 zurück (vgl. Tagebücher, S. 500). Klemperer hielt monatlich eine Vorlesung und notierte über die erste: „Ich hatte das vollste Haus meines Lebens. Der Saal mußte gewechselt werden. Über 200 Leute, die ausgepowerten Germanisten, dazu 10 französische Studenten als Gastgruppe.“ (Ebd., S. 511) 234 Wie geht es Dir, was macht Hadwigs Arbeit? 51 Ich freue mich, Euch das nächste Mal in Berlin wiederzusehen und verbleibe bis dahin mit herzlichsten Grüßen Eure alte Rita Victor Klemperer an Rita Schober Prof. Dr. phil. Dr. paed. h. c. Dresden A 34 Victor Klemperer Am Kirschberg 19 Telefon 833 91 17.9.55 Liebe Rita - Gestern in zwei Hallenser Sitzungen, a) Partei, b) Fakultät, beidemal mit Rektor und Staatssekretariat (Kortum und Frau Krause) 52 wurde, einigermaßen dramatisch, beschlossen, daß das Dutzend Romanisten in Halle bleibt, daß ich als Emeritus meine volle Tätigkeit mit wöchentlichen Vorlesungen in Halle ausübe und in Berlin ganz aufhöre. Vorangegangen war diesem Umschwung eine große Aktivität der Studenten. Sodann in der Parteisitzung meinerseits eine sehr unzweideutige Meinungsäußerung über den verehrungswürdigen Dekan, 53 eine sehr ausführliche Satisfaktion durch den Rektor. Schließlich war auch Kortum der Ansicht, daß man den billigen Rest meiner Kräfte besser in Halle verwerten könne als in dem reichlicher versehenen und jugendlich geleiteten Berlin. Ich möchte diesen und den nächsten Donnerstag in Berlin lesen, dann ist ein Abschnitt meines Themas beendet u. das Aufhören kein abruptes. Nun noch etwas Persönliches. Wir sind sieben Jahre lang (reichliche sieben! ) in unserer Tätigkeit eng verbunden gewesen, haben ein gutes Stück Entwicklung miteinander erlebt, haben auf unserem Sektor auch ein klein bißchen selber dazu beigetragen, immer in guter Freundschaft. In einem der von Dir bevorworteten 51 Hadwig Kirchner-Klemperer promovierte 1957 an der Humboldt-Universität Berlin über Heinrich Manns Roman „Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre“ im Verhältnis zu seinen Quellen und Vorlagen. Die Arbeit war von Alfred Kantorowicz angeregt und betreut worden. 52 Der Romanist Hans Kortum (1923-1997) und die Slawistin und Bibliothekswissenschaftlerin Friedhilde Krause (geb. 1928) arbeiteten im Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen der DDR, Kortum leitete dort die Abteilung Philosophische Fakultäten; er hatte zuvor bis 1952 als Assistent bei Werner Krauss gearbeitet, bei dem er nach seinem Ausscheiden aus dem Staatssekretariat (1957) mit der Arbeit Charles Perrault und Nicolas Boileau. Der Antike-Streit im Zeitalter der klassischen französischen Literatur (Berlin: Rütten & Loening, 1966; Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft, 22) auch promovierte. 53 Zu Eugen Häusler (1895-1977), von 1945 bis 1962 Direktor des Slawistischen Instituts in Halle, hat Klemperer sich in seinen Tagebüchern mehrfach deutlich distanziert geäußert. 235 Bände schreibst Du mir als Widmung: „Meinem väterlichen Freund“. Wenn es im letzten Jahr bisweilen zu Verstimmungen zwischen uns kam, so hattest Du mit Deinem Satz vom alten Bauern, der ungern aufs Altenteil geht, gewiß in hohem Maße recht. Man wird nicht ungestraft alt, und es ist bei aller Selbsterkenntnis nun einmal nicht leicht, zum sechsten Rad am Wagen zu werden - (das fünfte als Reserve ist für den Fahrer von großer Wichtigkeit) -, wo man früher den ganzen Wagen gesteuert hat. Lieber Caesar auf dem Dorfe... Ich bin überzeugt, daß meine Hallenser retraite unserer Freundschaft gut tun wird. Es soll übrigens keine vollkommene Trennung sein. Du weißt, ich habe immer wieder durch Kammer, Akademie, 54 Kulturbund in Berlin zu tun. Es wäre nun sehr erfreulich, wenn Du mir ein Arbeitsplätzchen in Deinem Institut zu gelegentlicher Benutzung freistellen würdest; ich würde auch gern, wenn die Gelegenheit sich ergibt, ein- oder zweimal im anno scolare zu einem Gastvortrag vor Deinen Romanisten eingeladen werden. In den allernächsten Monaten ergibt sich ja auch noch eine Zusammenarbeit in etlichen Prüfungen u. Promotionen. Es wäre sehr angenehm, wenn wir uns darüber am nächsten oder übernächsten Donnerstag noch unterhalten könnten. Inzwischen recht herzliche Grüße, auch von Hadwig. Dein alter Victor Kl. Victor Klemperer „an die Direction des Romanischen Instituts der Humboldt-Universität“ Prof. Dr. phil. Dr. paed. h. c. Dresden A 34 Victor Klemperer Am Kirschberg 19 Telefon 833 91 12.X.55 Für die guten Geburtstagswünsche, die mir liebenswürdiger Weise vom Institut in corpore und von einzelnen seiner Mitglieder übersandt wurden, danke ich hiermit aufs beste und bitte die Einzelnen, es freundlich zu entschuldigen, daß ich es bei diesem allgemeinen Dank belasse. - Mein Aspirant B[.] teilt mir mit, daß er sich dem eindringlichen Wunsch des Prorektors für die Aspirantur-Angelegenheiten fügen und mich bitten müsse, von seiner weiteren Betreuung in Berlin abzusehen. Dieser durchaus befremdliche Schritt 54 Seit Februar 1953 war Klemperer Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin; der Antrag auf Zuwahl trug u. a. die Unterschrift von Werner Krauss (vgl. Schober, wie Anmerkung 1, S. 334). 236 des Prorektors kann nicht ohne Befragung der Institutsleitung erfolgt sein 55 und ist erfolgt, ohne daß man mich befragt hat. Ich sehe mich infolgedessen veranlaßt, meine seit dem 1. IX. freiwillige Tätigkeit am Berliner romanischen Institut nunmehr gänzlich aufzugeben. Die für den 14. X. angekündigte Vorlesung ist mein letztes Berliner Colleg. Ebenso trete ich von jeder Mitwirkung an irgendwelchen Examen zurück. Dies betrifft im Punkt des Doctorats die Fälle Papenbrock 56 und Nöckler. 57 Mein Gutachten zur Dissertation Christiansen 58 habe ich bereits zurückgezogen. Keineswegs soll mir etwas hiervon nach Halle übertragen werden. Dies würde nur zu völlig inopportunen Erörterungen fuhren; auch liegt ja in Berlin alles in bewährten Händen. Im Punkte der Staatsexamina liegt mir nur die Reutersche Arbeit vor. Ich gebe sie unbeurteilt zurück. Ich darf betonen, daß ich von weiterer Correspondenz in dieser Angelegenheit mir nichts verspreche; von meiner Seite ist sie jedenfalls endgültig beendet. 59 In vorzüglicher Hochachtung VKlemperer Das Sekretariat bitte ich, bei der Kasse dafür zu sorgen, daß mir das Honorar für drei zweistündige Vorlesungen im September u. am 14. October und die Fahrtauslagen (3x Dresden-Berlin, hin und zurück zweiter Klasse) überwiesen werden. 55 Ein Brief Rita Schobers an den Prorektor der Humboldt-Universität für Aspirantur Georg Klaus (1912-1974, seit 1953 Professor für Logik und Erkenntnistheorie) vom 17. Oktober 1955 enthielt die entgegengesetzte Feststellung, daß sie den Aspiranten in einem Gespräch am 30. September auf die Notwendigkeit hingewiesen habe, in Klemperers Betreuung zu verbleiben. 56 Jürgen Papenbrock (1923-1995) verteidigte seine von Klemperer und Schober begutachtete Dissertation über François Coppée im Februar 1956. 57 Horst-Werner Nöckler (geb. 1926) legte zur Verteidigung im August 1957 Studien zu Robert Challes unter besonderer Berücksichtigung der Eheauffassung vor; Gutachter waren auch hier Klemperer und Schober. 58 Holger Christiansen (1926-2001) zog seine Promotionsmeldung zu André Stil und die proletarische Kampfliteratur. Ein Beitrag zur gegenwärtigen französischen Literatursituation im Februar 1956 zurück. 59 Zwischen Rita Schober, Georg Klaus und Hans Kortum vom Staatssekretariat für Hochschulwesen wurden die durch den Aspiranten ausgelösten Mißverständnisse, die Klemperers aufbrausende Verärgerung ausgelöst hatten, in den folgenden Tagen geklärt. Klemperer setzte seine Tätigkeit in Berlin in dem im September 1955 vereinbarten Maße fort, auch als Promotionsgutachter und Prüfer. Sein Aspirant verließ Anfang 1956 die Universität. 237 Victor Klemperer an Rita Schober [Postkarte] 29. XII. [1955] Liebe Rita - aufrichtigen Dank für rasche Antwort! Ich habe R. entsprechend geschrieben, daß von persönlicher Ehrenkränkung keine Rede sein könne, daß die traurige Gesamtspannung Schuld trage... etc. 60 Mein Gutachten über Papenbr. liegt längst vor. Eine sehr anständige Arbeit. Ich censurierte: „III obere Grenze“. Wenn Du ein bißchen höher oder tiefer greifst, bin ich nicht entsetzt; ich schwankte zwischen cum laude u. magna cum laude - - rite wäre m.E. zu wenig. Deine Wünsche aus Berlin erhielten wir dankend ebenso wie auch Du wohl die unseren bekamst; auf den polnischen Gruß die Hoffnung aufzugeben, wäre nach postalischen Erfahrungen verfrüht. Noch einmal alles Gute v. H. z. H. Dein Victor Klemperer Rita Schober an Victor Klemperer [Maschinenschrift, Durchschlag] Berlin den 17.1.56 Lieber Victor, Vielen Dank für Deinen lieben und Gott sei Dank nicht grollenden Brief. Ich bin auch wirklich nur halb schuldig, indem ich vergessen hatte, daß die Bücher auf Institutskarte aus der UB Halle geliehen worden waren und sie daher direkt zurück sandte. Es handelte sich um zwei Bändchen, die ich seinerzeit in Halle selbst, mit 60 Hans Rheinfelder (1898-1971), der den Privatdozenten Klemperer 1919 in seinem ersten Semester an der Universität München erlebt hatte, war seit 1946 (nachdem die Nationalsozialisten das seit 1933 verhindert hatten) Professor in München, 1950-1971 Vorsitzender der Dante-Gesellschaft und 1955 Gründungsvorsitzender des Deutschen Romanistenverbandes, wo er sich engagiert für den gesamtdeutschen Zusammenhalt der Romanistik einsetzte. Er hatte an Klemperer und einen weiteren Dresdner Bekannten Büchersendungen geschickt, die vom Amt für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs der DDR beschlagnahmt wurden. Rheinfelder hatte Rita Schober darüber in einem langen, betroffenen Brief vom 12. Dezember 1955 informiert, in dem es hieß, daß er die Beschlagnahme „als so volksfeindlich empfinde, daß dort [bei dem genannten Amt] nach dem Rechten gesehen werden sollte. Nochmals: nicht um meinetwillen, auch nicht zuerst um der Adressaten willen, sondern um meines bisherigen Eintretens für die DDR willen ist mir die ganze Sache so schwer.“ Nach schriftlicher und persönlicher Intervention Rita Schobers wurde die Beschlagnahme „ausnahmsweise aufgehoben“; am 31. Januar 1956 bat die Abteilung Paketkontrolle der Hauptabteilung Zoll in einem Brief an Rita Schober, „unser Versehen vielmals zu entschuldigen“. Vgl. auch die Anmerkungen 70 und 71. 238 Silzers 61 Hilfe, auslieh, als ich dort war, um meinen Habil-Vortrag vorzubereiten. Damals ging es um Stunden. Erstens hatte ich ja nur wenige Tage in Halle zur Verfügung, zweitens drängte die Zeit wegen meines Termins in Berlin. Ich bat also Erwin, diese Bände mir zu besorgen, sonst hätte ich gar nicht weiter arbeiten können. Jeder, der nur eine Ahnung von wissenschaftlicher Arbeit hat, wird das verstehen. Herr Selbmann 62 müßte es eigentlich auch begreifen, wenn er wollte. Nun könnte er Dir mit Recht Vorwürfe machen, wenn die Bücher auf diesem Wege verloren gegangen wären, aber da sie zurückkommen, einen solchen Krach zu schlagen, noch dazu in diesem Ton, ist zumindest wenig zivilisierten Gebräuchen angepaßt. Man hat immer das Gefühl, die Bibliotheksleute betrachten die Bücher als Museumsschätze, ohne zu begreifen, daß sie in erster Linie zum Arbeiten da sind. In Berlin gibt es ähnlich schöne Dinge. Die UB wollte uns jetzt die Ausleihe sperren, weil seit Jahren! ! (z.T. noch von Christa Naeter! ) 63 Bücher entliehen sind auf die Institutskarte, ohne daß im Institut auch nur verzeichnet wurde, an wen die Bücher gegangen sind. Von Bator sind es ganze Schwünge und er weiß selbst nicht, für wen er sie besorgt hat. Nun stell Dir einmal vor, wie wir die Bücher wieder herzaubern sollen. Keßler 64 ist ebenso verzweifelt wie ich. Natürlich hätte man gleich bei Übergabe der Assistenten diesen Dingen auf die Spur gehen müssen, aber ehrlich gesagt, auf so eine Idee, daß da eine derartige Mißwirtschaft herrscht, bin ich überhaupt nicht gekommen. Gott sei Dank ist Keßler sehr ordentlich und bringt langsam Licht in das Dunkel. - - Zurück zu Halle. Ich werde Selbmann auch noch selbst schreiben und die Angelegenheit erklären und bitte Dich nochmals, mir nicht böse zu sein. Damit Du aber für alle Fälle in Zukunft orientiert bist, was ich in Halle persönlich ausgeliehen habe, schicke ich Dir eine Bücherliste mit. Nicht verzeichnet ist darauf der Zola, den ich habe. Ich schicke Silzer mit gleicher Post ebenfalls nochmals die Liste zu und bitte ihn festzustellen, ob alles in Ordnung ist. - Was macht Hadwig und Heinrich Mann? Wann sieht man Euch wieder einmal in Berlin? Ist die Karte aus Polen angekommen? Rheinfelder hat den Erhalt der seinen schon bestätigt. Übrigens ist die leidige Beschlagnahmegeschichte auch geklärt. Die Pakete sind frei gegeben und Rheinfelder zürnt uns nicht mehr, so daß die Hallenser Feier in Ruhe und Frieden vor sich gehen kann. 65 Ich würde dort üb- 61 Erwin Silzer (geb. 1924) Rumänist in Halle, gab gemeinsam mit Horst Heintze die Festschrift zu Klemperers 75. Geburtstag Im Dienste der Sprache, Halle: Niemeyer, 1958, heraus. 62 Der damalige Direktor der Hallenser Universitätsbibliothek. 63 Bibliotheksassistentin am Institut für Romanistik der Humboldt-Universität. 64 Helmut Keßler (1933-1969) promovierte 1960 bei Rita Schober; er verließ noch im selben Jahr die DDR und arbeitete dann in Bonn und Bochum. Seine Dissertation veröffentlichte er bearbeitet 1966: Maupassants Novellen. Typen und Themen, Braunschweig: Westermann. 65 In seinem Brief an Rita Schober vom 12. Dezember 1955 hatte Hans Rheinfelder seine in Aussicht gestellte Teilnahme an der Feier zum 80-jährigen Jubiläum des Romanischen 239 rigens gern, wenn es Dir Freude macht, einen Vortrag halten. Für Florenz 66 aber habe ich abgesagt, denn nach allem scheinen da doch in erster Linie eng mit dem Thema verbundene Vorträge gewünscht zu werden. Hast Du übrigens das zweite Rundschreiben erhalten? Viele herzliche Grüße an Dich und Hadwig und alles Gute! Deine Victor und Hadwig Klemperer an Rita Schober [Postkarte aus Paris, Cité Universitaire, Maison internationale] 25.4.56 L. Rita - Du bist hoffentlich gut und zufrieden zurückgekommen, Du hast wohl unseren Kartengruß erhalten und sollst bald einmal einen langen Brief haben. Für heute eine wichtige Bitte. Ich soll hier am 27.5. in eben dem im wesentlichen germanistischen „Heine-Cirkel“ sprechen, 67 in dem vor ein paar Wochen H. Mayer 68 sprach. Bitte laß mir doch - wenn irgend möglich in mehreren Exemplaren - die Liste unserer Übersetzungen etc. durch Luftpost überweisen. Ich glaube, sie wird allerbeste Wirkungen tun. Mein Thema soll ganz frei heißen: Französ. Lit. in Deutschland, natürlich mit dem Nachdruck auf unser Heute und auf die DDR. Wie gesagt, sobald ich besser im Bilde bin, hörst Du Genaueres von mir. Aber Deine Bücherliste ist auf alle Fälle von centraler Wichtigkeit. In alter stürmisch-herzlicher Verbundenheit Dein Singe malin nebst Hadwig Wir sind hier pracht- und ehrenvoll (nur leider ziemlich kostspielig) untergebracht. Seminars Halle „nach dieser Kränkung“ durch die Beschlagnahme seiner Buchsendungen abgesagt. 66 In Florenz fand vom 3.-8. April 1956 der Internationale Romanistenkongreß statt; Klemperer nahm ebenso wie Rita Schober an ihm teil. Sie trafen dort auch mehrfach mit Rheinfelder zusammen, für Klemperer war er „unser Freund“ (Tagebücher, S. 542). 67 Klemperer sprach am 26. Mai 1956 über den „Einfluß der französischen Kultur auf Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert“, seiner ausführlich beschreibenden Tagebuchnotiz zufolge war es, einschließlich des Vortrages, „ein Pechtag“ (Tagebücher, S. 561). Der Cercle Heine versammelte zu Vorträgen und Diskussionen linke, vor allem kommunistische, Deutschlandinteressenten; an der seinem Vortrag vorausgehenden Veranstaltung am 12. Mai nahm Klemperer teil (vgl. Tagebücher, S. 558). 68 Hans Mayer (1907-2001) war von 1948 bis 1963 Professor für Kultursoziologie und Geschichte der Nationalliteraturen in Leipzig. 240 Victor und Hadwig Klemperer an Rita Schober 26.7.57 Liebe Rita - wir hören von Lilo, daß Du wieder im Lande und in der Arbeit bist. 69 Gewiß hat L. Dir auch die für Dich bestimmten Zeilen übergeben. Aus Greifswald telefonierte mir Nöckler, daß der (seiner Meinung nach fest mit Lehnert 70 verabredete) Termin seiner Doctorprüfung, 30. Juli, hinfällig geworden sei, und daß Du, poveretta, überhäuft seiest mit Staatsprüfungen. Nun kommt heute eine gedruckte Vorankündigung, daß die Volkskammer „voraussichtlich“ in den nächsten Tagen auf den 8. August, 10 h einberufen werde, wozu Erscheinen „unbedingt“ (unterstrichen! ) erforderlich sei. Könntest Du, rebus sic stantibus, vielleicht darauf hinwirken, daß die Nöckler- Prüfung auf den 7. oder 8. oder 9. August angesetzt werde? Deine Anwesenheit beim Mündlichen ist ja wohl gar nicht nötig, nur Dein Gutachten zur Dissertation. (Ich schwanke zwischen III+ und II) Uns beiden ist auch daran gelegen, wieder einmal ernstlich Gott und die Welt mit Dir zu besprechen - ich bin mit beiden wenig zufrieden. Hadwig möchte Dich vor der Drucklegung ihrer Arbeit konsultieren, ich meinerseits habe eine sehr unerfreuliche Sache mit dem Kulturbund auf dem Herzen. Hoffentlich hast Du Freude an Deinem Frankreich-Aufenthalt gehabt, u. vor allem hoffentlich bist Du mit der Gesundheit in Ordnung. 71 Alles andere mündlich. Wir wollen 2 Tage in Berlin sein, da muß sich doch Gelegenheit zu allseitiger Aussprache finden. Sehr herzlich! Deine H. u. V. Hast du schon Deine Privatexemplare von meinem 19 e Bd II und meiner Mod. frz. Lyrik? 72 Und schon das Greifenbuch Louise Labé-Zech? 73 (Ich weiß nicht, ob ich die Verse oder die unbekleidete Dame der Ausgabe unlabélicher finde.) 69 Von Ende April bis Mitte Juli 1957 arbeitete Rita Schober in Paris an der Vorbereitung einer kommentierten Ausgabe von Boileaus Art poétique (erschienen bei Niemeyer, Halle, 1968). 70 Martin Lehnert (1910-1992), seit 1951 Professor für Anglistik an der Humboldt-Unversität, war von 1957 bis 1961 Dekan der Philosophischen Fakultät. 71 Rita Schober hatte von Februar bis April 1957 wegen eines schweren Ischiasanfalls mehrere Wochen in der Charité zugebracht. 72 Victor Klemperer, Moderne französische Lyrik. (Dekadenz - Symbolismus - Neuromantik). Studie und kommentierte Texte. Neuausgabe mit einem Anhang: Vom Surrealismus zur Résistance, Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1957; bearbeitete Neuausgabe von: Die moderne französische Lyrik von 1870 bis zur Gegenwart. Studie, erläuterte 241 Was Dir von diesen Angeboten fehlt, bringe ich mit. U. A. w. g. - Hast Du Deine Ernennung zum Ordinarius 74 erhalten? Viele herzliche Grüße, Deine Hadwig. Victor und Hadwig Klemperer an Rita Schober Prof. Dr. phil. Dr. paed. h. c. Dresden A 34 Victor Klemperer Am Kirschberg 19 Telefon 833 91 14.I.59 Liebe Rita - Weil ich nun doch runde 40 Jahre älter bin als Du, auch in mindestens einer Deiner schriftlichen Buchwidmungen an mich den Titel „VÄTERLICHER Freund“ trage, weil.... na usw.: ein bisschen zürne ich Dir zu 50 % und bin zu den anderen 50% ein bisschen um Dich besorgt. Wir schreiben Dir ausführlich und herzlich zu den Festtagen, ich richtete in diesem Brief zwei Fragen an Dich, und bis heute liegt keine Antwort vor, Du gibst nur kurze Auskünfte durch die verschiedenen Kräfte Deines Instituts. Was hat es auf sich mit Dir? 75 Kummer, Ärger, Zwiespalt des Gemüts, des Intellektes, des Gewissens? Es ist zu alledem so sehr viel Anlaß und Möglichkeit vorhanden! - Die Geschichte mit der Sitzung am 9. Januar ist mir dunkel. Hadwig erinnert sich, daß Lilo Limberg hier bei uns an der Copie des betr. Sitzungsberichtes arbeitete. Aber daß wir dann ein Exemplar erhielten, ist weder ihr noch mir erinnerlich. Hadwig kontrolliert u. ordnet meine Posteingänge immer sehr genau. Ich selber war in der Zeit vom 22.12.-10.I. unter grausamem Arbeitsdruck und hatte gar nichts von den Festtagen. Am Morgen des 23.XII. rief mich nämlich die N.D.L. an, Feuchtwanger sei gestorben, u. bat um einen termingebundenen Aufsatz; gleich darauf kam auch aus Rudolstadt die Bitte des Verlages, bei einer Trauerfeier zu Texte, Leipzig/ Berlin: Teubner, 1929; zu Klemperers Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts vgl. Anmerkung 29. 73 Die Liebesgedichte einer schönen Lyoneser Seilerin namens Louize Labé, Nachdichtung Paul Zech, Nachwort Victor Klemperer, Rudolstadt: Greifen-Verlag, 1956. 74 Auf Antrag Klemperers wurde Rita Schober mit Wirkung zum 1. September 1957 zum Professor mit Lehrstuhl ernannt. 75 Rita Schober hatte in den Jahren 1958 bis 1960 sowohl privat wie durch politische Angriffe in der Parteigruppe der SED, der sie angehörte, eine Reihe von Schwierigkeiten, die auch zu Unterbrechungen in der Korrespondenz mit Klemperer beitrugen. 242 sprechen. 76 Ich habe Feuchtwanger ungemein geschätzt, habe sehr hübsche Briefe von ihm, 77 wollte bestimmt zu seinem 75. Geburtstag (im Sommer 59), wollte nach Beendigung meines 18 ième eine Monographie über ihn schreiben. Nun kam mir das über den Hals. Ich habe buchstäblich Tag für Tag wie ein Sklave gearbeitet, um etwas Rechtes zustande zu bringen, Provisorisches natürlich. Zum 9.I. also hätte ich auch dann leider absagen müssen, wenn mir das Datum der Sitzung vorher gegenwärtig gewesen wäre. Noch eines frappiert mich an dem Protokoll. Mir war gesagt worden, nur Berlin erhielte neue Romanisten zugewiesen. Erst aus dem Protokoll, das Du mir jetzt durch Kollegin Anders 78 „mit vorzüglicher Hochachtung“ übersenden ließest (oder vielleicht zum zweitenmal übersenden ließest), ersehe ich, daß nur Halle kein neues Kontingent erhalten hat. Alle anderen, auch Greifswald, sind bedacht worden. Warum das? ? Will man mich auch mundtot machen, nachdem man meine Publikationen längst mehr und mehr totgeschwiegen hat u. abwürgte. Es ist manchmal sehr ehrenvoll in Ungnade zu sein, aber angenehm ist es natürlich nicht. - - [Randbemerkung: ] Absatz! Einrücken! Nun also die zwei Fragen, die ich Dir im Weihnachtsbrief stellte („... und ein Narr wartete auf Antwort“) 1.) soll ich in Berlin meine monatlichen Vorträge weiterhalten oder aufgeben? Mit meinem letzten Programm: Corneille - Racine - Molière war ich vor Weihnachten nicht weit gekommen. Ich weiß nicht, ob Interessenten für Fortsetzung vorhanden. 79 76 Lion Feuchtwanger war am 21. Dezember 1958 gestorben. Der Greifen-Verlag Rudolstadt war Feuchtwangers wichtigster Verlag in der DDR (insgesamt 24 Titel von 1948 bis 1962). Klemperer sprach auf der Gedenkfeier des Verlages am 4. Januar 1959 über „Der zentrale Roman Lion Feuchtwangers“ (gemeint war Erfolg; publiziert in dem Band Lion Feuchtwanger zum Gedenken. Von seinen Freunden auf der Heidecksburg, Rudolstadt: Greifen-Verlag 1959, S. 37-73); die Neue Deutsche Literatur (1959/ 2, S. 5-17) veröffentlichte den Text leicht gekürzt u.d.T. „Der gläubige Skeptiker. Lion Feuchtwangers zentraler Roman“. Nach der Romaninterpretation hieß es in beiden Fassungen in einer Schlußpassage (S. 72 bzw. 17): „Alles in allem, seiner ganzen Natur und seinem ganzen Werk nach steht er doch dem milderen Voltaire näher als dem Rebellen Rousseau. Robespierre ist ihm ein wenig unheimlich, steht ihm ein wenig ferner. (Es ist anzunehmen, daß auch Jean-Jacques, der vor der Revolution starb, nur halb und nur widerstrebend einverstanden gewesen wäre mit seinem blutig konsequenten Schüler Robespierre.)“ 77 In Klemperers Nachlaß befinden sich drei Briefe Feuchtwangers an Hadwig Klemperer (9.11.1954-30.1.1956) sowie neun Briefe an Victor Klemperer (22.10.1956-1.11.1958). 78 Hildegard Anders (geb. 1926) war von 1954 bis 1960 Sekretärin am Romanischen Institut der Humboldt-Universität. 79 Das „erste Kolleg nach den Ferien“ hielt Klemperer am 17. Februar 1959 über Béranger, „vor einem zusammengeschmolzenen Häufchen“ (Tagebücher, S. 738). Am 21. Mai 1959 erhielt er ein ärztliches „Vorlesungsverbot für den ganzen Semesterrest. Ich habe es nicht anders erwartet u bin doch sehr, sehr erschüttert.“ (Ebd., S. 747). 243 Und 2.) Was ist es mit Lissabon? 80 Ihr habt mich vorgeschlagen, ich erhielt Einladung aus L., man will bis Ende Januar wegen des Hôtels aber bestimmte Zusage. Ich schrieb Dir, daß ich - ärztliche Vorschrift! - nur in Begleitung meiner Frau reisen darf, übrigens allgemein üblich u. selbstverständlich, wo es sich um „namhafte Gelehrte“, bzw. gelehrte Greise über 70 handelt. Wie ist es mit der Devisenbewilligung des Ministeriums? Ich richte die gleiche Frage an die Akademie. - Es ist möglich, daß wir am 21. od. 23. Januar zu einer Sitzung des KB-Praesidialrates 81 nach Berlin kommen; dann müssten wir natürlich auch mit Dir zusammentreffen. Aber beim KB werden immer im letzten Augenblick andere Daten angesetzt, u. die Antwort an Lissabon muß bald gegeben werden. Also noch einmal: gib bitte Antwort Deinem alten Victor Kl Liebe Rita! Hoffentlich hast Du mit den Deinen recht schöne, friedvolle Festtage und einen guten Jahresanfang gehabt! Bei uns war es inzwischen schön und anstrengend: Victor saß festgenagelt über seiner Feuchtwangerstudie, meine Eltern waren da, dann mein Bruder mit Gattin, alle Tische liegen voller unerledigter Korrespondenz, die Zimmer gleichen Schlachtfeldern, Zeitungen liegen ungelesen umher. Allmählich jedoch verlaufen sich die Wasser. Liebe Rita, laß es Dir recht gut gehen, und sei herzlichst gegrüßt von Deiner Hadwig. Victor Klemperer an Rita Schober [Handschrift Hadwig Klemperer] Prof. Dr. phil. Dr. paed. h. c. Dresden A 34, 1.7.59 Victor Klemperer Am Kirschberg 19 Telefon 833 91 z.Zt. Dresden N 23 Industriestr. 40 Krankenhaus A I / 13 (Diktat) Liebe Rita! Ich vermute Dich jetzt bald von der Reise zurück, hoffentlich recht erholt. Und ich hoffe, daß wir uns bald über alles aussprechen können. Ich danke Dir erstens für 80 In Lissabon fand Anfang April 1959 nach Florenz 1956 der nächste Internationale Romanistenkongreß statt. Auf der Reise dorthin erlitt Klemperer in Brüssel in der Nacht vom 28. zum 29. März 1959 einen schweren Herzanfall, der ihn zur Rückreise zwang und von dem er sich nicht mehr erholen sollte. 81 Dem Präsidialrat des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands gehörte Klemperer von Mai 1947 bis zu seinem Tode an. 244 die schönen Blumen, die ich „Exoticum Ritensis“ getauft habe und die durch ihre dauerhafte Schönheit - sie hielten vier Wochen in voller Frische - ständig meine Freude und die Bewunderung des Krankenhauspersonals waren. Ich danke Dir wesentlich mehr noch für alle Liebe und Treue, deren Du Hadwig und mich versicherst. Es sind mir in den vollen fünf Wochen, die ich nun hier in strenger Strophantinkur verbracht habe, 82 viele Gedanken durch den Kopf gegangen. Wir beide haben doch durch volle elf Jahre unsern Weg gemeinsam gemacht und, von gelegentlichen Reibungen abgesehen, an denen mal der eine mal der andere schuldig war, in treuer und guter Kameradschaft. Daß ich Dir jetzt als ein besonderes Vermächtnis die Hadwig empfohlen habe, die ich als Ehefrau im letzten Dir verdanke, das werte als einen besonderen Ausdruck meiner Gefühle. Es steht leider schlecht um unseren Akademieplan, 83 denn es ist fraglich, wieweit ich noch reise- und vorlesungsfähig bleibe. Sehr gern möchte ich mit Dir mündlich unsere politischen Standpunkte besprechen. Du weißt, wie sehr und wie erfolglos wir beide uns um die geistigen Interessen der Universität bemüht haben. Die letzten anderthalb Jahre haben meinen Glauben tief erschüttert, und ich habe mich von allem zurückgezogen. Aber wie gesagt, dies ist ein Thema zu mündlicher Aussprache. Also laß Dich recht bald hier sehen. Du bist uns jederzeit herzlich willkommen. Dein alter Victor Kl. P. S. Ich schicke Dir einen Sonderdruck aus gesunden Tagen 84 mit und mache Dich aufmerksam auf einige Randbemerkungen, die von mir in der Augustnummer der NDL über das Buch aus dem Warschauer Ghetto „Im Feuer vergangen“ und über die Verkehrtheit des üblichen Vergleiches zwischen dem Inferno Dantes und der Nazis angestellt werden. 85 Liebe Rita! Nun danke ich Dir selber für Deine lieben Extra-Zeilen an mich; mit nur ganz wenig verändertem Vorzeichen könnte ich Dir Deinen frommen Wunsch zurückgeben, soll ich? Viele herzliche Grüße, Deine Hadwig. 82 Dem Tagebuch zufolge war Klemperer fünf Tage zuvor, am 26. Juni 1959, ins Krankenhaus eingeliefert worden (Tagebücher, S. 751). 83 Vgl. auch im folgenden Brief die Bemerkung zu Beginn des zweiten Absatzes; worauf sich die Anspielung bezog, war nicht aufzuklären. 84 Gemeint sein könnten „Stendhal in doppelter Beleuchtung“ (in: Wissenschaftliche Annalen 11/ 1954, S. 641-697) oder Delilles „Gärten“, ein Mosaikbild des 18. Jahrhunderts, Berlin 1954 (Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst, 1953/ 2). 85 Der Artikel erschien erst im September/ Oktober: Victor Klemperer, Inferno und Nazihölle. Bemerkungen zu den „Tagebüchern aus dem Ghetto“, in: Neue Deutsche Literatur 1959/ 9-10, S. 245-252. Das Buch Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto, das Zeugenberichte aus dem Warschauer Ghetto sammelte, war mit einem Vorwort von Arnold Zweig 1958 im Verlag Rütten & Loening, Berlin, veröffentlicht worden. 245 Hadwig und Victor Klemperer an Rita Schober [undatierte Karte, ca. Mitte Juli 1959, Maschinenschrift, als Beigabe zu einem Blumengruß] Herzliche Grüsse von Krankenhaus zu Krankenhaus und gute Besserung Hadwig und Victor Victor und Hadwig Klemperer an Rita Schober [Handschrift Hadwig Klemperer] Prof. Dr. phil. Dr. paed. h. c. Dresden A 34, 15.7.59 Victor Klemperer Am Kirschberg 19 Telefon 833 91 z.Zt. Dresden N 23 Industriestr. 40 Krankenhaus A I / 13 (Diktat) Liebe Rita! Herzlichen Dank für das Telegramm und alles Gute für Dein Schmerzenslager. 86 Dies ist der erste Brief, den ich selber diktiere. Dieser zweite Anfall mit allem Zubehör und plötzlich aufgetretenen Altersleiden hat mir einigermaßen den Rest gegeben. Da ich andauernd unter Strophantin gehalten werde und ein sehr widerstandsfähiges Herz habe, so komme ich nach menschlichem Ermessen nochmal davon, und die Prozedur wiederholt sich mehrfach. Daß das ein Vergnügen ist, kann niemand behaupten, und Eva hat es leichter gehabt. Wenn irgend möglich, möchte ich Dir noch den Posten an der Akademie zuschanzen, und gleichzeitig möchte ich Dir Hadwig ans Herz legen. Ihre Dr.-Arbeit, die Niemeyer drucken will, hat im Manuskript in Tübingen Eindruck geschunden. Und nun will Niemeyer auch gleich ihre zweite größere Arbeit drucken. 87 Kurzum, ich sehe ihre Anfänge, aber leider nicht, ob man sie bei uns habilitieren wird. Am liebsten sähe ich sie als Deine Mitarbeiterin an der Akademie. Es hängt 86 Im Juni/ Juli 1959 war Rita Schober wegen schwerer Ischiasanfälle erneut in stationärer Behandlung in der Berliner Charité. 87 Hadwig Kirchner-Klemperers Dissertation (vgl. Anmerkung 56) blieb ungedruckt. In der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 1962/ 2, S. 241-280, erschien - Ausweis der auf die Dissertation folgenden Forschung - ihr Aufsatz „Der deutsche soziale Roman der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, repräsentiert durch Ernst Willkomm und Robert Prutz einerseits und Alexander Sternberg andererseits, unter besonderer Berücksichtigung seiner Beziehungen zum französischen Roman“. 246 alles davon ab, ob ich nochmal hinüber kann. Im Ganzen wird allenfalls noch ein halb Lebendiger aus mir. Hadwig bewährt sich als Krankenschwester wie in allem. Und was Ihr ihr tut, das tut Ihr mir. Vorderhand, wie gesagt, liege ich sehr hilflos hier, aber bei dem vielen Strophil und den vielen Schlafspritzen läßt es sich leben oder was man so nennt. In alter Gesinnung Dein Victor Liebe Rita! Auch von mir die besten Genesungswünsche! Was Victor eben von „vielen“ Spritzen schreibt, ist natürlich sanft übertrieben. Er bekommt pro Tag 1 Strophilspritze (= 1/ 8) und abends 1/ 4 Luminalspritze. Dazu kam allerdings eine Woche lang eine größere Penicillin-Kur, da er leichtes Fieber hatte, zum Teil gewiß wegen der starken Hitze, die ihm überhaupt zu schaffen machte. Seit es wieder kühler ist, geht es ihm wieder etwas besser, vor allem nimmt er nun wieder etwas mehr Nahrung zu sich. Liebe Rita, hoffentlich gestattet es Dir Deine Gesundheit bald, uns hier zu besuchen! Herzlichste Grüße Dir und Deinen Lieben, Deine Hadwig. Victor und Hadwig Klemperer an Rita Schober [undatierte Briefkarte, Herbst 1959] L. Rita - recht herzl. Dank für Deinen guten Brief; daß er inzwischen durch unser Telefongespräch überholt wurde, nimmt ihm nichts von seinem Freundschaftswert. Dir wünsche ich baldige und endlich einmal völlige Befreiung von dem Ischiaselend, mir - ich weiß, es ist sehr unbescheiden u. ein wenig gegen die Natur - noch einmal gebrauchsfähig zu werden. Ich bin noch immer sehr klapprig u. darf mich in diesem Semester gar nicht mehr produzieren. Besonders schwer ist mir eine notgedrungene Absage an die Akademie der Künste gefallen. Dort sollte ich zum 75. Geburtstag Lion Feuchtwangers sprechen - Rezitatorin Helene Weigel! 88 Vanitas vanitatum. Feuchtwanger war längst mein hobby, ich habe mehrere Teilstudien über ihn teils publiziert, teils gesprochen, 89 es schwebt mir immer eine Monographie über ihn vor, u. er schrieb mir einmal - weiß Gott, wie viel anderen Leuten er dasselbe geschrieben 88 Feuchtwanger wäre am 7. Juli 75 Jahre alt geworden. Helene Weigel (1900-1971) war die Witwe Bertolt Brechts und Intendantin sowie wichtigste Schauspielerin des Berliner Ensembles. 89 Vgl. Anmerkung 81; 1957 war bereits ein Artikel über Feuchtwangers Stück „Die Witwe Capet“ im Almanach des Greifenverlags Rudolstadt erschienen, den der Verlag 1961 auch in den Band Victor Klemperer zum Gedenken aufnahm. 247 hat! - ich verstünde ihn besonders gut. Mit unserer gemeinsamen SU-Vortragsreise 90 ist es nun auch nichts. So schwimmen die Felle eins nach dem anderen weg. Helf er sich! Wer hat mit beinahe 78 Jahren noch Anspruch auf Wirken können? Du siehst, ich bin arg deprimiert, aber da ich von altbewährt zäher Rasse bin, u. die Hadwig mich andauernd pflegt und tröstet und zur Geduld ermahnt, so komme ich vielleicht doch noch einmal auf die Beine. Laß Dich recht bald bei uns sehen, es wäre wirklich über mancherlei zu sprechen. Alles Gute, sehr herzlich Dein Victor Klemperer Liebe Rita! Victors Einladung und gute Wünsche unterstreiche ich auf das Nachdrücklichste! Herzlichst! Deine Hadwig Victor und Hadwig Klemperer an Rita Schober Prof. Dr. phil. Dr. paed. h. c. Dresden A 34 Victor Klemperer Am Kirschberg 19 Telefon 833 91 23. Okt. 59 Liebste Rita - Tausend Dank für alle gehäuften Herzlichkeiten. Die Miserabligkeit dieses handschriftlichen Dankes liegt nicht an physischer Schwäche, sondern an technischen Schwierigkeiten (Mangel eines Schreibtisches und geeigneten Stuhles, Höhe usw.). Aber ich bin immerhin so weit, daß ich außerhalb des wackligen Bettes eine Stunde aufrecht sitze und nicht bloß auf Diktieren angewiesen bin. Und mein Kopf nimmt Lektüre einigermaßen wieder auf und in guten Stunden (denen noch viele depressive, zumal während der Nacht, folgen) fange ich wirklich an, den Versicherungen der Ärzte und der Tag und Nacht unermüdlich um mich bemühten Hadwig Glauben zu schenken. Man schwört, mein zähes [gestrichen] gutes Herz 91 habe die attaque überwunden und könne noch eine Weile aushalten. Anfang Dez. will man mich nach Haus entlassen.. jeden Falls sollst Du aus diesem „Handschreiben“ ersehen, daß ich ernstlich an Dich denke und Dir dankbar bin. Ob es für H. ein so besonderes Glück ist, daß ich mich noch einmal zu raffen scheine, ist eine Frage für sich. Soviel für heute; ich muß ins Bett, u. H. muß ergänzen. Es geht mir manchmal durch den Kopf, daß ich an dem ganz unverdienten Glück dieses Lebensabends zu nicht geringem Teil Dir verpflichtet bin. Dein Victor 90 Die Vortragsreise hat Rita Schober Ende 1959 allein nach Moskau und Rumänien geführt. 91 Korrigiert aus: zähes. 248 Es sind heute am 23. X. auf den Tag 7 Jahre und 7 Monate, seit Du unsere Trauzeugin warst. 92 Liebe Rita! Victor geht es nun wirklich besser, ich hoffe, entscheidend. Er geht seit zwei Tagen ohne Stütze freihändig, und kleine Autofahrten erweitern seinen Gesichtskreis, was ja bei so langem Krankenhausaufenthalt sehr wichtig ist. Wie geht es nun Dir und Deinen Lieben? Waren Deine diversen Auslandstourneen 93 erfreulich und erfolgreich? Alles Gute! Herzliche Grüße! Deine Hadwig. Victor und Hadwig Klemperer an Rita Schober [Weihnachtskarte mit einer Krippen-Darstellung] 20.12.59 Liebe Rita! herzl. Dank von uns beiden für Deine Grüße von unterwegs und ebensolche guten Wünsche für 1960. Zum erstenmal schreibe ich von zu Hause, und von Februar an soll ich auch wieder einigermaßen aktiv werden. Ich danke dies nicht mehr Erhoffte nach ärztlicher Meinung vor allem neben meiner guten Natur und der ärztlichen Behandlung Hadwigs täglicher und nächtlicher Sonderpflege, die die ganzen sechs Monate das Krankenhaus mit mir geteilt hat. Daß wir wieder Hoffnung haben, geht aus der Anschaffung eines großen Wolga-Fünfsitzers 94 hervor. Ich hoffe mit Hadwigs Hilfe die Herausgabe meiner früheren Opera beenden zu können und vielleicht sogar noch zu einer wirklich aktiven neuen Tätigkeit für ein paar Jahre zu kommen. 95 Herzlichst in alter Verbundenheit Dein Victor Klemperer Liebe Rita! Dir und allen Deinen Lieben wünsche ich ein recht gutes Weihnachtsfest und friedliches Neues Jahr! Herzlichst Deine Hadwig 92 Die Trauung fand am 23. Mai, nicht am 23. März 1952 statt. 93 Im September 1959 hatte Rita Schober gemeinsam mit Werner Krauss an einem unter Schirmherrschaft der UNESCO veranstalteten Colloque international de civilisations, littératures et langues romanes in Bukarest teilgenommen (vgl. den Bericht von Zygmunt Czerny in: Beiträge zur romanischen Philologie 1963/ 1, S. 182-191). 94 Auto aus sowjetischer Produktion. 95 Victor Klemperer starb am 11. Februar 1960 in seinem Dresdner Haus. Auf seinen Wunsch hielt Rita Schober die Grabrede. 249 Werner Krauss / Rita Schober Briefe 1951 - 1975 Die einen Zeitraum von nahezu einem Vierteljahrhundert umspannende Korrespondenz zwischen Werner Krauss (1900-1976) und Rita Schober (*1918) ist ihrem Umfang nach eher schmal und in ihren Bezügen lückenhaft. Viele Gegenbriefe fehlen, so dass Zusammenhänge des miteinander Besprochenen, der Fluß der Gedanken dunkel bleiben und sich dem interessierten Leser nicht ohne Zuhilfenahme komplementärer Literatur, von „Quellen“ erschließen, aus denen sich aufklärende Informationen über die in den Briefen verhandelten Fragen und über die Haltung und Meinung der Briefpartner gewinnen lassen. Gleichwohl vermitteln die 28 Briefe dieser Korrespondenz, 18 Briefe von Werner Krauss (W.Kr.), 10 Briefe von Rita Schober (R.Sch.), die im Nachlaß Krauss (NL Krauss) des Archivs der berlin-brandenburgischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrt sind, auch Einblicke in die Fachgeschichte der deutschen Romanistik, ihre inner- und interdeutschen Verwicklungen unter den geschichtlichen und politischen Bedingungen der deutschen Teilung in den fünziger und sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Diese besonderen Bedingungen und ihre Zuspitzung in zwei Jahrzehnten nach 1945 spiegelt z. B. die Veränderung des Namens jener am damaligen ostberliner Platz der Akademie (heute Gendarmenmarkt) sitzenden wissenschaftlichen Institution, die ein besonderer lieu de mémoire für die beiden Briefpartner war: von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zur Akademie der Wissenschaften der DDR (seit 1969). Werner Krauss, der nach der Befreiung aus dem Wehrmachtsgefängnis Torgau an seine Universität Marburg zurückgekehrt war, wo er am 27. August 1945 durch den Rektor in das Amt des außerplanmäßigen Professors der Romanischen Philologie wieder eingesetzt wurde, folgte im September 1947 einem Ruf an die Universität Leipzig, die später als Karl-Marx-Universität Leipzig umbenannt wurde, und wurde unter dem Rektorat von Hans-Georg Gadamer zum Direktor des Romanischen Instituts ernannt. Von Leipzig aus war W.Kr. 1949/ 50 in die Verhandlungen zur Besetzung des romanistischen Lehrstuhls an der Berliner Humboldt Universität (HUB) involviert. Dieser Lehrstuhl war nach dem Wechsel (1948) seines Inhabers Fritz Neubert an die in Westberlin neu gegründete Freie Universität (FU) frei. W.Kr., der über ein durchdachtes wissenschaftsstrategisches Konzept für den „Abbau oder Wiederaufbau der Romanistik in der deutschen Republik“ i verfügte, bemühte sich vor allem um eine Berufung Erich Auerbachs, der damals noch in Istanbul war, auf den Lehrstuhl an der i Vgl. die im NL Krauss im Archiv der berlin-brandenburgischen AdW überlieferten unveröffentlichten Typoskripte Nr. 77: Die Notwendigkeit der einer Konzentration der Romanistik (9.3.1951); Nr. 78: Reorganisation des romanistischen Studiums in der DDR (1.8.51); Nr. 80: Abbau oder Wiederaufbau der Romanistik in der deutschen Republik? (undatiert); sowie ein Memorandum über die gegenwärtige Lage der Romanistik in Berlin und Leipzig (Nr. 79, undatiert, verfasst im zweiten Halbjahr 1952). 250 HUB. ii Mit dem Scheitern dieser Bemühungen wurde der Berliner Lehrstuhl bis zur Berufung Rita Schobers am 1. Mai 1954 kommissarisch besetzt von Victor Klemperer und Werner Krauss (vom 13.9.1950-September 1952). In dieser Zeit, R.Sch. war als Assistentin und Mitarbeiterin von V. Klemperer von Halle nach Berlin gewechselt, iii wo sie ein gutes Jahr (1951-1952) als Fachreferentin für Philologien im Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen tätig war, lernten W.Kr. und R.Sch. sich kennen. Man kann beider Briefe aus diesen 50er Jahren lesen als eine Innenansicht von institutionellen, personellen und auch persönlichen Problemen beim Aufbau der Romanistik in der jungen DDR. Die Beteiligten, durch ihren Beruf als Romanisten und Hochschullehrer verbunden, unterschieden durch ihrer Biographien und Erfahrungen, agierten in den 50er Jahren in einer Konstellation, deren geographische Brennpunkte Berlin und Leipzig und deren Kontrahenten Victor Klemperer und Werner Krauss waren. iv Manfred Naumann hat in dem hier beigegebenen Text die über dieser Konstellation liegenden Schatten, auch das Wetterleuchten hinter den Wolken, als ein Zeitzeuge beschrieben. Rita Schober, Klemperers junge und dynamische Assistentin in Halle, dann seine Habilitandin in Berlin, die noch vor Kriegsende an der damals deutschen Universität in Prag promoviert worden war, spielte in dieser Konstellation die Rolle eines agent de liaison. Klemperer, der seinen Minderwertigkeits-Complex gegenüber Krauss nie überwunden hat, beobachtete R.Sch’s Vermittlungsversuche mit Misstrauen. So notierte er im Januar 1952: „Im Augenblick hat er (Krauss) mit zwei gelesenen Stunden Rita gänzlich für sich gewonnen, ich bin zweiteste Geige, habe Traditionswert. Widerum: sie triumphiert, er u. ich zusammen - ihr Werk - werde großen Zusammenklang geben. Auch herrscht große Freundschaft zwischen uns dreien; Krauss soll nächste Woche meine Aufnahme in die Akademie beantragen, es werde gut laufen u. ich soll dann Rita ein <Abendkleid> schenken.“ v Mehr Gewicht als ein Generationskonflikt in dieser Dreierkonstellation zwischen dem siebzigjährigen Klemperer, dem fünzigjährigen Krauss und der dreißigjährigen Rita Schober hatten indes die theoretischen und methodischen Differenzen zwischen Klemperer und Krauss. Sie waren auch der Hintergrund der in dem Memorandum über die gegenwärtige Lage der Romanistik in Berlin und Leipzig von Krauss erläuterten Gründe für das Scheitern der Einrichtung eines Instituts für Romanische Literaturii Vgl. dazu die entsprechende Korrespondenz in: K. Barck, „Eine unveröffentlichte Korrespondenz. Erich Auerbach/ Werner Krauss“. Teil 1 in: Beiträge zur romanischen Philologie (Berlin) 26 (1987), S. 301-326; Teil 2: BRPH 27 (1988), S. 161-186. iii Vgl. R. Schober, „Zu Victor Klemperers Wirken nach 1945.“ In: R.Sch., Auf dem Prüfstand. Zola-Houllebecq-Klemperer, Berlin: edition tranvía 2003, S. 325-350. iv Vgl. dazu bei Gerdi Seidel, Vom Leben und Überleben eines <Luxusfachs>. Die Anfangsjahre der Romanistik in der DDR, Heidelberg 2005; Peter Jehle, Werner Krauss und die Romanistik im NS-Staat, Hamburg-Berlin 1996 (Argument-Sonderband NF 242); Karlheinz Barck/ Manfred Naumann/ Winfried Schröder, „Literatur und Gesellschaft: Zur literaturwissenschaftlichen Position von Werner Krauss.“ In: Werner Mittenzwei (Hg.), Positionen. Beiträge zur marxistischen Literaturtheorie der DDR, Leipzig: Reclam 1971. v V. Klemperer, So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1950-1959. Hg. v. Walter Nowojski unter Mitarbeit v. Christian Löser, Berlin 1999, S. 240. 251 wissenschaft an der DAW in Berlin. vi W.Kr. hat seinen Einspruch gegen den von Klemperer geforderten Einfluß auf das zu gründende Institut begründet mit dessen „Verzicht auf eine forscherische Einstellung zugunsten einer darstellenden und interpretierenden Funktion, die ein durchdachtes und meistens mit größter Wirksamkeit formuliertes Bild eines forscherisch längst erschlossenen literarischen Themas entrollen. Dabei versteht es Prof. Kl. in einem rhetorisch durchgearbeiteten Stil mit gleicher Brillianz, die breite Pinselführung des Polyhistors zu meistern, wie einfühlsame Betrachtungen über weltanschauliche oder poetische Lebensbilder anzustellen.“ vii In dieser konfliktuellen Situation geriet R.Sch. als Meisterschülerin von Klemperer viii bei dem immer misstrauischen W.Kr. in die Rolle eines Sündenbocks. In den 60er Jahren dann, nach Victor Klemperers Tod (1960) verbesserten sich beider Beziehungen, worüber R.Sch. selbst rückblickend bemerkt hat: „Mein Verhältnis zu Werner Krauss (ist) in all seiner Zwiespältigkeit (wie könnte es für eine Klemperer-Assistentin anders sein), in der Widersprüchlichkeit von Anziehung und Ablehnung, von Bewunderung und Reserve, ein essentieller Bestandteil meines eigenen wissenschaftlichen Werdegangs gewesen. Krauss hat mich im Jahr 1951 dem Aufbau-Verlag für die Herausgabe der Zola-Edition in deutscher Sprache empfohlen, meine Boileau-Studien waren ein beinahe verzweifelter Versuch der Annäherung an das von ihm in den Mittelpunkt gestellte Jahrhundert der Aufklärung, und sein anerkennender Brief für meinen 1973 erschienenen Artikel zur literarischen Wertung bedeutetet mir mehr als Akademiemitgliedschaft (1969) und Nationalpreis (1973). Erst mit diesem Brief hatte ich das Gefühl, im Fach wirklich angekommen zu sein.“ ix Karlheinz Barck PS. Ich danke Rita Schober und Manfred Naumann für aufklärende Informationen zum Kontext der Korrespondenz. Manfred Naumanns Text ist ein Kapitel aus seiner noch unveröffentlichten autobiographischen Chronik. Nathalie Crombée vom Institut für Romanistik der Universität Osnabrück danke ich für ihre umsichtige Transkription und drucktechnische Einrichtung der Briefe. vi Dem Memorandum ist beigefügt ein Vorschlag für die Wiederaufnahme des romanistischen Lehr- und Forschungsbetriebs an der Leipziger Universität. Beide Texte, geschrieben im August 1952, befinden sich unter der Nr. 79 GUTA im Nachlaß Krauss der berlinbrandenburgischen Akademie der Wissenschaften. vii Werner Krauss, Charakteristik der wissenschaftlichen Befähigung von Prof. Dr. Victor Klemperer. Typoskript in NL Krauss. GUTA, S. 1. viii V. Klemperer notierte am 30. Mai 1951 in sein Tagebuch: „Ich möchte R. habilitieren, in Berlin als ihr Berliner Ordinarius habilitieren, sie soll dort eine Vorlesung im Semester halten, sie soll mein ins Ministerium reichender Arm sein. Sie ist gelockt durch den Titel eines Prorektors in Halle.“ (a.a.O., S. 169). ix R.Sch., Rezension zu Hans Ulrich Gumbrecht, Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. In: Poetica 34. Bd. (2002) H. 1-2, S. 279. 252 Rita Schober an Werner Krauss Halle/ S. Felsenstraße 23 Halle, den 9.4.1951 Sehr geehrter Genosse Prof. Krauß. [sic] Eine Reihe widriger Umstände haben mein Schreiben bis heute verzögert. Nun erhielt ich aber bereits eine Anfrage von Herrn Prof. Dornseiff 1 wegen der Klemperer-Festschrift 2 und konnte nichts anderes tun, als ihn an Dich zu verweisen, da ich selbst keineswegs imstande bin, eine Drucklegung durchzusetzen. Ich hoffe jedoch, daß Du trotz des vorgerückten Zeitpunktes die Freundlichkeit haben wirst, Dich mit Deiner Autorität für das Erscheinen dieser Festschrift einzusetzen. Das Ergebnis der Verhandlungen mit Niemeyer lege ich bei. Es ist nicht sehr ermutigend und ich glaube, es wäre besser, wenn man einen anderen Verlag finden könnte. Andererseits wäre es jedoch sehr schade, wenn dieser Plan vollkommen scheitern würde, ist er ja zugleich auch eine Möglichkeit, die Romanistik aus ihrer Hochschulklausurierung wieder einmal an das Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Ich bin auch der Ansicht, daß es nicht allzu schlimm wäre, wenn die Festschrift verspätet erscheint, die Festschrift für Eug. Lerch 3 ist wohl auch über ein Jahr später herausgekommen. Und Gen. Klemperer würde sich bestimmt auch über eine geplante Festschrift freuen, selbst wenn sie noch nicht zu seinem Geburtstag fertig vorliegt. Ich wäre daher außerordentlich dankbar, wenn Du die Freundlichkeit haben würdest, mir Deine Meinung und jetzige Stellungnahme zur Frage der Festschrift mitzuteilen. Von uns in Halle kämen drei Beiträge in Betracht. Mit Gen. Porf. [sic] Stern 4 habe ich wegen des Vortrags seinerzeit auch sofort verhandelt. Leider erklärte er sich für außerstande, über dieses Thema zu sprechen und verwies mich an die Gen. Zaisser. 5 1 Franz Dornseiff (1888-1960). Alt-Philologe. Seit 1948 Professor an der Universität Leipzig. War mit Werner Krauss befreundet. Autor des Standardwerkes Der deutsche Wortschatz nach Sachgruppen (1934). 2 Horst Heintze/ Erwin Silzer (Hg.), Im Dienste der Sprache. Festschrift für Victor Klemperer zum 75. Geburtstag, Halle 1958. 3 Eugen Lerch (1888-1952), Romanist und Schüler (wie W.Kr. und V. Klemperer) von Karl Vossler in München. In den 20er Jahren mit Victor Klemperer in der idealistischen Neuphilologie engagiert. Gab gemeinsam mit Klemperer eine gleichnamige Zeitschrift heraus. 1935 zwangsemeritiert. Vgl. Utz Maas, Verfolgung und Auswanderung deutschsprachiger Sprachforscher 1933-1945. Bd. 2: Bibliographische Daten G-P, Osnabrück: Secolo-Verlag 2004. 4 Leo Stern (1901-1982), Historiker (Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung). Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und in den 60er Jahren Vizepräsident der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin. 5 Elisabeth Zaisser (1898-1987), Slavistin und in den 50er Jahren Lehrbeauftragte für sowjetische Literatur an der Universität Halle.1949 Prof. für Methodik des Russischunter- 253 Für einen baldigen freundlichen Bescheid wäre ich sehr dankbar und erlaube mir, mich für heute mit den besten Grüßen und Wünschen für Dein persönliches Wohlergehen und Deine Gesundheit zu verabschieden. Rita Schober Werner Krauss an Rita Schober [Kopfbogen des Romanischen Instituts der Universität Leipzig] 17. April 1951 Verehrte Genossin Schober! Vielen Dank für Deine letzten Zeilen, aus denen ich mit Bekümmernis ersehe, daß die vorgesehene Druckmöglichkeit für die Festschrift ausschaltet. Nach Lage der Dinge wüßte ich nur noch den Aufbauverlag zu nennen, der vielleicht im Hinblick auf die mannigfaltigen Bande zu Klemperer sich bereit finden würde, den Druck zu übernehmen, wenn man ihm die gewiß reichlich vorhandenen Absatzmöglichkeiten vor Augen hält. Es käme also darauf an, die Verhandlungen mit Wendt 6 oder Schroeder 7 zu führen. Zunächst warte ich auf eine Gegenäußerung deinerseits. Möglicherweise würde es am günstigsten sein, daß Klemperer selbst unsern Vorschlag bei dem Verlag befürwortet. Nach wie vor bin ich davon überzeugt, daß hinreichend Material für einen hübschen Wissenschaftsquerschnitt verfügbar wäre. Ich möchte die Gelegenheit nicht unbenutzt lassen, um einen kleinen Irrtum zu berichtigen: es wurde mir gesagt, daß man in Halle vor einigen Monaten davon Abstand genommen hätte, mich für ein Referat über Stalin und die Sprachwissenschaften heranzuziehen, da ich meine Inkompetenz über diesen Gegenstand verlautbart haben soll. Selbstverständlich habe ich eine solche Äußerung niemals getan, nachdem ich mehrwöchige Diskussionen in Leipzig und Berlin über dieses Thema durchgeführt hatte. Man braucht kein vollblütiger Linguist zu sein, um dieses Thema, welches das Thema für jedes wissenschaftliche Selbstbewußtsein bildet, einigermaßen zu meistern. Obwohl dies heute keine praktische Bedeutung richts an der TU Dresden, Ministerin für Volksbildung in der Regierung der DDR (1952- 1953). Verheiratet mit Wilhelm Zaisser (1893-1958), Minister für Staatssicherheit in der Regierung der DDR (1952-1953). Vgl. Irina Liebmann, Wär es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt, Berlin Verlag 2008. 6 Erich Wendt (1902-1965), Leiter des Berliner Aufbau-Verlag (1947-1954). 7 Max Schroeder (1900-1958), Publizist und Verleger, ab 1947 Cheflektor des Ostberliner Aufbau-Verlages. 254 mehr hat, so wäre ich dir dankbar für eine Richtigstellung dieses für mich nicht gerade ergötzlich Mißverständnisses. 8 Wenn die Fama nicht trügt, hast Du in den letzten Wochen einem neuen Erdenbürger das Licht geschenkt. 9 Meine herzlichsten Wünsche für diese freudige Ereignis und einen schönen Gruß in der Hoffnung, daß der Kontakt zwischen Halle und Leipzig sich etwas stärker befestigen läßt. Rita Schober [Abschrift eines Gutachtens] Berlin C 2, Wallstr. 76/ 79 Berlin, den 24.10.51 Der vorliegende erste Teil des Lesebuches der französischen Literatur über die Aufklärung und Revolution 10 packt bei der Lektüre durch die Geschlossenheit der Gesamtkonzeption. Die großen geistigen Entwicklungslinien, die von Descartes über die französische Revolution in letzter Konsequenz zum wissenschaftlichen Sozialismus von Marx und Engls [sic] führen, werden durch die gut ausgewählten Textstellen klar erkenntlich. Dabei ist es besonders verdienstvoll, daß diese Texte unter dem Gesichtspunkt ausgewählt sind, darzulegen, was jeder Autor speziell zur Bereicherung der gesellschaftlichen Problematik beigetragen hat. Es ist auch begrüßenswert, daß die allgemein weniger bekannten Schriften, von Mably, Morelly, Holbach und Helvetius, sowie vor allem von Babeuf nicht unerwähnt bleiben. Ebenso erfreulich sind die jeden Autor vorangestellten kritischen Würdigungen, die den neuesten wissenschaftlichen Abhandlungen entnommen wurde und die letzten Forschungsergebnisse vermitteln. Es ist klar, daß bei dem beschränkten Umfang eines Lesebuches und der notwendigen Rücksichtnahme auf die durchzuführende Grundkonzeption manche 8 Zur Debatte über Stalins Schrift und W.Kr. Interesse an einer Differenzierung und Relativierung der mechanisch-materialistischen Basis-Überbau-Theorie (Widerspiegelungstheorie) im Interesse einer relativen Unabhängigkeit kultureller und künstlerischer Prozesse von sozialgeschichtlichen Gesetzen vgl. Werner Krauss, „Die Bedeutung der sprachwissenschaftlichen Arbeiten Stalins für die Weiterentwicklung der Theorie des Marxismus-Leninismus.“ (1951). In: W.Kr., Das wissenschaftliche Werk Bd. 8. Sprachwissenschaft und Wortgeschichte. Hg. V. Bernhard Henschel. Mit einer Bibliographie von Horst F. Müller, Berlin-New York: Walter de Gruyter 1997, S. 191-206. 9 Rita Schobers Sohn Hans-Robert war am 1. März 1951 in Berlin geboren worden. 10 Das von Werner Krauss unter Mitarbeit seines Leipziger Oberassistenten Manfred Naumann 1952 im Berliner volkseigenen Volk-und-Wissen-Verlag für den Französischunterricht an den Oberschulen der DDR herausgegebene Lesebuch der französischen Literatur. Teil I: Aufklärung und Revolution enthielt eine kommentierte Anthologie einschlägiger Texte im französischen Original. Der zweite Band ist nicht erschienen. 255 Probe wegbleiben mußte, die man sonst in einem Lesebuch der französischen Literatur nicht vermissen möchte. Besonders positiv hervorzuheben ist aber die Einleitung von Prof. Dr. Werner Krauß [sic]. Sie bringt auf knapp 20 Seiten einen Gesamtabriß der gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung Frankreichs von den Anfängen bis zur Gegenwart, wobei trotz der Kürze die für den vorliegenden Abschnitt entwicklungsmäßig entscheidenden Fragen marxistisch analysiert werden. Hier ist nicht ein Wort zu viel, aber auch nicht eines zu wenig gesagt. Diese Einleitung wird selbst jeder Fachromanist mit größtem Genuß und Gewinn lesen, weil eine ganze Reihe entscheidender Probleme neu beleuchtet wird. Andererseits wird sie auch den Lehrern bei der Behandlung des Stoffes wertvollste Anregungen bieten. Dem Schüler allerdings müssen Fülle und Reichtum des hier Gebotenen durch den Lehrer erst erschlossen und vermittelt werden. Abschließend kann man sagen, daß dieses Lesebuch wegen seines hohen wissenschaftlichen Niveaus nicht nur ein wertvolles Lehrbuch für unsere Oberschulen ist, sondern auch für unsere Universitäten. Es ist in mancher Hinsicht geradezu die textliche Ergänzung zu den sources françaises du socialisme scientifique von Garaudy. 11 gez. Dr. Rita Schober Werner Krauss an Rita Schober 10. März 52 Liebe Rita! Ich bedaure sehr, daß meine Berliner Tage so wenig mit Deinen Hochschultagen zusammenfallen, zumal im gegenwärtigen Augenblick, wo alles darauf ankäme, das Schiff der Akademie in die richtige Strömung zu versetzen. In der Anlage mein Gutachten über Viktor [sic] für die Akademie. Und nun noch einmal die Bitte, mir möglichst schnell (vielleicht durch Dr. Heintze) 12 einen Werkkatalog von Victor anzufertigen. Des weiteren ein Passus aus einem Brief von dem Genossen Dr. Engels, 13 Groningen, in wörtlicher Übersetzung aus dem Holländischen: 11 Roger Garaudys Schrift war 1948 erschienen und wurde 1954 in Berlin/ DDR in einer Übersetzung und mit einem Vorwort des Krauss-Schülers Winfried Schröder (1923-2005) versehen veröffentlicht: Die französischen Quellen des wissenschaftlichen Sozialismus. 12 Der Romanist, Italianist (Dantespezialist) Horst Heintze (*1923) war in Halle Klempererschüler und seit 1953 Dozent, später Prof. am Romanischen Institut der Humboldt-Universität Berlin. 13 Joseph Engels (1910-1975), niederl. Sprachwissenschaftler, 1943 in Groningen promoviert, ab 1958 (1963 Lehrstuhl) Professur für Neolatinistik in Utrecht, Redaktionsmitglied von Neophilologus (ab 1957). W.Kr. wollte ihn um 1950 an die Universität Leipzig holen. 256 „Wartburg 14 hat gesprochen: er habe seinen Lehrling 15 nach Berlin ge- “schickt, der Romanistik zuliebe; man könne sich keine Vorstellung „machen von den Umständen, unter denen man dort arbeiten müsse; er „wolle darüber - vielleicht wegen meiner Abwesenheit? - nicht weiter „sprechen. Außerdem mache er sich keine einzige Illusion über die „Dauer der Beziehung zu Berlin. - Das war so ungefähr der Umkreis „seiner Ausführungen. Über seine persönliche Einstellung („subjek- „tive“) besteht folglich kein Zweifel. An der Genauigkeit der Berichterstattung ist nicht zu zweifeln. Übrigens erhielt ich jetzt von Wartburg eine äußerst freundschaftlich gehaltene Empfehlung an die Klasse, das literatur-wissenschaftliche Institut so schnell wie möglich in Funktion zu bringen. Herzliche Grüße! Rita Schober an Werner Krauss Berlin-Niederschönhausen Berlin, 2. Mai 1952 Strasse 200, Parzelle 17 Tel. 480484 Lieber Werner! schon längst wollte ich Dir schreiben, aber leider sind meine Leistungsmöglichkeiten noch immer sehr beschränkt und so hatte ich vor allem gehofft, Dich am letzten Freitag selbst sprechen zu können, um Dir alles das zu sagen, was mir auf der Seele liegt. Denn ich habe doch von Naas 16 eine Zuschrift bekommen, worin er mir mitteilt, daß das Präsidium das Institut [sic] beschlossen hat und mich zur Leiterin der Arbeit ernannt hat. Ich war ganz aufgeregt vor Freude und werde bestimmt auch schneller gesund, denn Freude ist bekanntlich die beste Medizin. 14 Walter von Wartburg (1888-1971), schweizerischer romanistischer Linguist und Begründer und Herausgeber des Französischen Etymologischen Wörterbuchs (FEW), das an der Berliner Deutschen Akademie der Wissenschaften bearbeitet wurde (bis 1962). 15 Meint den schweizer Linguisten und Wartburg-Schüler Kurt Baldinger (1919-2007), der seit 1948 Professor mit Lehrauftrag, später Lehrstuhlinhaber an der Humboldt-Universität zu Berlin war und von 1949-1962 das Institut für Romanische Sprachwissenschaft und die Arbeiten zum FEW an der Deutschen Akademie der Wissenschaften leitete. Folgte 1957 einem Ruf nach Heidelberg. 16 Josef Naas (1906-1993), Mathematiker, 1932 KPD; 1942-1945 KZ Mauthausen; 1946- 1953 Direktor der Deutschen Akademie der Wissenschaften und Prof. an deren Forschungsinstitut für Mathematik. 257 Dir lieber Werner, möchte ich aber vor allen Dingen danken, denn ich weiß, daß ohne Deine wohlwollende Befürwortung dies nicht möglich gewesen wäre. Für mich gehen mit dieser neuen Aufgabe zwei lang gehegte Wünsche in Erfüllung: endlich wieder wissenschaftlich arbeiten zu dürfen und dabei zugleich die Verbindung zu Dir und Deiner Wissenschaftskonzeption zu finden, eine Verbindung, die ich seit dem Anfang Deines Leipziger Aufenthaltes immer wieder gesucht habe. Du erinnerst Dich vielleicht nicht mehr daran, aber noch ehe Victor nach Halle kam, war ich schon einmal bei Dir in Leipzig und bat Dich uns Hallensern doch einen Ordinarius besorgen zu helfen. Du hast dann ja auch mit Victor selbst gesprochen. Und in der Folgezeit war ich dann noch mehrmals in Leipzig, noch ehe der Aspirantenkurs offiziell bei Dir tagte. Einmal habe ich eine Pascalvorlesung bei Dir gehört, Dir anschließend meine Dissertation zur Begutachtung gegeben. Damals hat noch Popinceanu 17 den Gesprächsvermittler gemacht. Und immer wieder war es mein Wunsch, einmal ein Semester lang eine Vorlesung bei Dir hören zu können. Versteh mich, bitte, nicht falsch, wenn ich Dir das einmal schreibe, es ist lediglich die story meines jahrelangen Bemühens um einen wissenschaftlichen Kontakt mit Dir und wenn ich Dir davon sprach, so hatte ich manchmal den Eindruck als ob Du mir nicht ganz glaubtest. Vielleicht siehst Du darin einen Widerspruch zu meinem Verhältnis zu Victor. Dem ist aber nicht so. Ich habe Victor sehr viel zu danken, wissenschaftlich und menschlich, ich habe ihn vor allem in diesen Jahren als absolut offenen und ehrlichen Charakter schätzen und nehmen gelernt und er ist zu mir fast wie ein zweiter Vater. Aber das heißt doch nicht, daß mir der Blick versperrt sein muß für jede andere wissenschaftliche Problematik und für die Menschen, die ihrer Lösung meiner Ansicht nach näher gekommen sind. Dir ging noch ehe Du nach Leipzig gekommen warst, der Ruf eines marxistischen Literarhistorikus voraus. War es da nicht natürlich, daß ich wünschte, bei Dir ebenfalls lernen zu dürfen? Aber dann kam immer wieder so vieles dazwischen. Immer wieder wurde ich durch Parteiauftrag aus meiner wissenschaftlichen Arbeit gerissen, erst durch den Studentendekan und nun durch das Staatssekretariat. 18 Lange genug habe ich mich gerade gegen diese letzte Stellung gewehrt. Ich weiß nicht, ob Du Dich daran erinnerst, wie ich Dir bei unserer letzten Aspirantentagung in Leipzig auf dem Hauptbahnhof von dem Plan mich ins Staatssekretariat zu holen erzählte. Damals sagtest Du noch, es könne gar nichts schaden, wenn da einmal jemand Vernünftiges sitzen würde. Aber für mich bedeutete es wieder das Aufgeben der wissenschaftlichen Arbeit für längere Zeit. Und darum bin ich so froh, daß ich nun endlich mit Wunsch und Willen der Partei wieder wissenschaftlich arbeiten kann und danke Dir für Deine Mithilfe bei der Erreichung dieses Zieles. Du hattest seinerzeit den Wunsch geäußert, meine bisherigen Arbeiten kennenzulernen. Wäre es Dir nicht doch einmal möglich bei einem Deiner nächsten Berli- 17 Popinceanu war in Leipzig Leiter der rumänischen Abteilung des Instituts für Romanistik. 18 R.Sch. war 1951-1952 Hauptreferentin für Philologien im Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen bei der Regierung der DDR. 258 ner Besuche zu mir zu kommen, da ich noch immer nicht transportfähig bin? Dann könnte ich Dir alles vorlegen was überhaupt da ist. Das Richtigste wird es jedoch sein, wenn ich die Disposition meiner Arbeit vorlege, sobald ich einigermaßen hergestellt bin und wieder denken kann. Jetzt fällt mir dieser Brief schon schwer und ich muß Dich um Nachsicht für meinen Stil bitten. Mit der herzlichen Bitte, daß Du meines aufrichtigen Wunsches zu einer guten und fruchtbaren Zusammenarbeit versichert sein mögest, verbleibe ich mit den besten Grüßen und Wünschen Deine Rita Schober 259 Rita Schober an Werner Krauss Berlin, den 3.5.52 Lieber Werner! Ich war eben im Begriff den beiligenden [sic] Brief an Dich abzusenden, als ich nach einigen Umwegen Dein Schreiben vom 30.4. erhielt. Du hattest auf der Adresse Hohen-schönhausen statt Niederschönhausen geschrieben, so daß der Brief erst eine Rundreise gemacht hat. Dem Inhalt Deines Schreibens stehe ich etwas fassungslos gegenüber, denn ich kann mir absolut nicht vorstellen, um welche „Gestionen“ es sich handelt; ist für den Laien doch die Akademie ein Buch mit sieben Siegeln. 19 19 Dieser Brief (wie auch die beiden vom 2. Mai und vom 1. Dez. 1952) bezieht sich auf die Vorgänge im Jahr 1952 um die von W.Kr. betriebene Gründung eines Instituts für Romanische Literaturwissenschaft an der Deutschen Akademie der Wissenschaften. Am 29. Februar 1952 hatte W.Kr. der Abteilung Wissenschaft beim ZK der SED einen entsprechenden Antrag eingereicht. Das Profil des zu gründenden Instituts sollte durch drei Themen und Gegenstandsfelder bestimmt werden: 1. Aufklärung 2. Klassischer bürgerlicher Roman des 19. Jahrhunderts 3. Übergänge zum sozialistischen Roman im 20. Jahrhundert in Frankreich. Seine Personalvorschläge sahen vor, dass die Forschungen zu Thema 3 von R.Sch. geleitet werden. In einem nicht mehr auffindbaren Brief von R.Sch. an W.Kr., den Jürgen Storost zitiert in seinem Buch 300 Jahre romanische Sprachen und Literaturen an der Berliner Akademie (Berlin 2001, Teil II, S. 394), bekräftigte R.Sch. ihre Zusage mit den Worten: „Ich werde mich mit allen Kräften bemühen, dieses Vertrauen durch gute Arbeit zu rechtfertigen, denn ich bin der großen Ehre, die die Übertragung dieser Aufgabe für mich bedeutet, bewusst. - Ich hoffe, dass es mir mit dem Einverständnis des Institutsdirektors, Herrn Prof. W. Krauß [sic], recht bald möglich sein wird, die Arbeit aufzunehmen.“ W.Kr. hatte seinem Antrag die ff. Begründung des Antrages für die Einstellung von Frau Dr. Rita Schober als gehobene wissenschaftliche Mitarbeiterin beigefügt: „Frau Dr. S c h o b e r hat ihre linguistische Vorbildung in den Jahren 1936-1944 an der damals deutschen Universität zu Prag genossen. Seit ihrem Übertritt in die DDR hat sie sich der wissenschaftlichen Anleitung von Professor Klemperer unterstellt und auf seine Anregung eine Habilitationsschrift vorbereitet, die das Verhältnis George Sands zum Sozialismus beleuchten soll. Frau Dr. Schober hat neben diesen gelehrten Bemühungen eine umfangreiche akademische Praxis als Studentendekan, als Hauptreferentin im Staatssekretariat für Hochschulwesen und durch die Ausfüllung verschiedener Lehraufträge entfaltet. Es wird beantragt, Frau Dr. S c h o b e r in die akademische Stellung einer gehobenen wissenschaftlichen Mitarbeiterin zu übernehmen. Es ist vorgesehen, ihr die Stellung einer Leiterin der Arbeiten einzuräumen von dem Zeitpunkt an, an dem sie ihre abgeschlossene Habilitationsschrift vorlegt und die Zusage machen kann, dass sie die ihr heute noch fehlende Kenntnis in dem für die Aufrechterhaltung des wissenschaftlichen Betriebes entscheidenden Sprach- und Kulturgebiet des Russischen und des Spanischen nachgeholt hat.“ (NL Krauss GUTA, Archiv der berlin-brandenburgischen Akademie der Wissenschaften) In einem bei J. Storost S. 395 überlieferten Brief von W.Kr. an Theodor Frings, den Sekretär der Klasse für Sprachen, Literatur und Kunst, zog Kr. seinen Antrag mit dem Argument zurück, R.Sch., die ihre Habilarbeit noch nicht abgeschlossen habe, sei als Leiterin 260 Als ich die Mitteilung von Naas erhielt, so war meine erste Reaktion die, Dir zu schreiben oder Dich anzurufen, um Dir zu danken. Diesem Zweck galt mein Anruf vom vorigen Freitag im Institut und ich war sehr enttäuscht, als ich Dich nicht erreichen konnte, zumal ich Dich im Institut wußte. Denn ich habe natürlich angenommen, daß diese Ernennung zur Leiterin der Arbeit von Dir ausgeht, so wie es besprochen worden war. Zweifel daran sind mir überhaupt nicht gekommen, denn ich hatte nach unseren vielen und ausführlichen Gesprächen über das Institut den Eindruck, daß Du selbst meine Mitarbeit wünschtest. Hätte ich den Eindruck gehabt, daß es sich für Dich nur um die „Einhaltung eines Vertrages“ handle, um deren Realisierung man besorgt sein müsse, so wäre dies für mich inacceptabel gewesen. Vielmehr gaben mir gerade diese langen Nachtgespräche die Zuversicht, daß ein Vertrauensverhältnis im Entstehen sei, das alle Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit biete. Umso schmerzlicher, lieber Werner, berührt mich Deine Bemerkung von den zwei „Lebensmethoden“, die die verschiedensten Deutungsmöglichkeiten zuläßt und mir eine Beteiligung an den Vorgängen in der Akademie zu insinuieren scheint, wodurch das eben erst entstandene Gebäude des Vertrauens in sich zusammen zu sinken droht. Auch ich muß Dich bitten, mich nicht falsch zu verstehen, aber es liegt mir wirklich alles an einer guten, ehrlichen Zusammenarbeit, da ich weiß, daß ich nur so wirklich etwas lernen kann und wir nur so die Erwartungen, die schließlich von Partei und Akademie in ein neues Institut gesetzt werden, erfüllen können. Ich hoffe jedoch, daß sich all diese Mißverständnisse in einem persönlichen Gespräch klären werden und möchte Dich nochmals herzlich bitten, mich doch so bald wie möglich zu besuchen. Auf alle Fälle lege ich Dir die notwendigen Unterlagen bei zu Deiner eigenen Information und für alle noch irgendwie erforderlichen Anträge. Auch ich möchte zum Abschluß eine schon beinahe verzweifelte Bitte aussprechen, mir zu glauben, daß Reden und Denken nicht auseinanderfallen, es mir so lange zu glauben, bis ich Dich durch die Arbeit werde überzeugen können, wozu ich in der Akademie hoffentlich recht bald Gelegenheit haben werde. Mit den besten Wünschen für Deine Gesundheit und vielen herzlichen Grüßen verbleibe ich Deine Rita Schober 5 Anlagen der Arbeiten noch nicht qualifiziert. Diese Entscheidung und der Rückzug von seinem eigenen Antrag war ein Eklat, dessen Motive in den von offizieller Seite unterstützten Bestrebungen V. Klemperers zu suchen sind, über seine Schülerin R.Sch. Einfluß auf das zu gründende Akademieinstitut zu gewinnen. Die eigentlichen wissenschaftlichen Beweggründe, die W.Kr. zur Aufgabe seines Plans brachten, sind dem Memorandum über die gegenwärtige Lage der Romanistik in Berlin und Leipzig (s. NL Krauss, Nr. 79), zu entnehmen (vgl. auch die Darstellung dieser Vorgänge bei Gerdi Seidel, Vom Leben und Überleben eines <Luxusfachs>. Die Anfangsjahre der Romanistik in der DDR, Heidelberg 2005). 261 Rita Schober an Werner Krauss Berlin-Niederschönhausen Strasse 200, Parzelle 17 Berlin, 1.12.52 Herrn Prof. Dr. Werner Krauß Leipzig 0 27 Gletschersteinstraße 53 Betr.: Lebenslauf, Zeugnisabschriften. Am 3.5.52 übersandte ich die von mir angeblich für den Akademievorschlag am 15.5.52 angeforderten Personalunterlagen: Lebenslauf, 4 Zeugnisabschriften. Bis heute ist eine Bestätigung des Eingangs dieser Unterlagen nicht erfolgt, noch viel weniger natürlich ihre Verwendung für die Akademie, ich ersuche daher um ihre unverzügliche Rückgabe. Ich darf mich dabei der berechtigten Hoffnung hingeben, daß in der Zwischenzeit von 5 Monaten alle notwendigen Personalnotizen, die zu einer speziellen Forschungsarbeit über meine politische und sonstige Vergangenheit notwendig waren, inzwischen abschriftlich entnommen werden konnten, so daß auch von diesem zweifelsohne wichtigen Gesichtspunkt aus einer Rückgabe kaum mehr etwas im Wege stehen dürfte. Was die Beschwerlichkeiten der Dissertationsbeschaffung aus Prag anbelangt, so hätten sie dem interessierten Forscher durch eine Lektüre der von mir bereits 1948 persönlich in Leipzig im Frühjahr bei einem Besuch überreichten Dissertation erspart werden können. Sie war unverändert und enthielt sämtlich Klammerzusätze, auch den hinter Gradenwitz. Allerdings wußte mir der damalige rumänische Lektor von Leipzig, Herr Dr. Popinceanu von keinerlei diffamierenden Äußerungen des Direktors des Leipziger Romanischen Instituts Herrn Prof. Dr. Werner Krauß über Dissertation und Inhalt zu berichten, als er sie mir im Auftrag des gleichen Direktors nach einem Jahr zurückgab. Ich gestatte mir, an diese an sich belanglose Tatsache zu erinnern, falls sie in Vergessenheit geraten sein sollte. Ich erwarte die Rückgabe meiner Papiere bis spätestens zum 5.12. einschließlich/ Datum des Poststempels/ . Mit dem Ausdruck vorzüglicher Hochachtung: Dr. Rita Schober 262 im Auftrag von Werner Krauss an Rita Schober 4. Dezember 1952 Berlin-Niederschönhausen Straße 200, Intelligenzsiedlung Sehr geehrte Frau Dr. Schober! Im Auftrag von Herrn Prof. Krauss Leipzig habe ich Ihnen bezüglich Ihres Eilbriefes folgendes mitzuteilen: das gesamte Material an persönlichen Dokumenten, die Prof. Krauss für die damals vorgesehen Gründung eines romanistischen literaturgeschichtlichen Instituts an der Deutschen Akademie der Wissenschaften geplant hatte, ist auf dem regulären Instanzenweg zunächst an die Klasse für Sprache und Literatur zur Stellungnahme eingereicht worden. In dieser Akte befanden sich Ihre Papiere an erster Stelle entsprechend der von Prof. Krauss für Sie damals vorgesehenen Position. Nach der positiven Verabschiedung seiner Vorschläge durch die Klasse für Sprache und Literatur ist Prof. Krauss über das weitere Schicksal seiner Anträge keine offizielle Nachricht zugegangen. Da aber auf Anfrage das Präsidium der Deutschen Akademie erklärte, daß die betr. Anträge ihm überhaupt nicht vorgelegen hätten, dürften die von Ihnen zurückerbetenen Papiere mitsamt den Anträgen dem Direktor der Akademie, Herrn Dr. Josef Naas, vorliegen. Prof. Krauss möchte Ihnen daher empfehlen, sich in dieser Angelegenheit mit dem Büro des Akademiedirektors auseinanderzusetzen. Schließlich habe ich den Auftrag, Ihnen mitzuteilen, daß weder die Form noch der Inhalt Ihres Briefes eine Grundlage für eine Bereinigung von persönlichen Mißverständnissen sein können. Mit vorzüglichster Hochachtung i.A. 20 Werner Krauss an Rita Schober 22.12.53 Liebe Rita, sehr herzlichen Dank für Deine freundliche Weihnachtsgabe und die daran geknüpften Wünsche, die ich diesmal leider mit leeren Händen, aber aus vollem Herzen erwidere. Vor allem müssen wir alle dafür stehen, dass das Neue romanistische Jahr ein Jahr der romanistischen Erneuerung werde. Als einen Beitrag dazu begrüsse ich Deine Bereitschaft, an der so dringenden Textherstellung mitzuwir- 20 Der Verfasser des nicht unterzeichneten Briefes konnte nicht ermittelt werden. 263 ken. Ich schlug Dir das Stichwort Zola vor, 21 weil Dir es doch wohl jetzt am schnellsten von der Hand geht. Bei der Art der Ausarbeitung schalte bitte ganz nach Ermessen! Im Prinzip habe ich uns vorbehalten, dass auch kommentierte Einzelausgaben (so etwa Discours de la méthode, oder D’Alemberts Discours préliminaire) erscheinen können. Für Zola kommt dies wohl weniger in Frage. Die Ausbeute von „Paris“ würde vielleicht auch noch für einen Band „Kommune oder französischer Sozialismus“ verwertbar sein. In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch betonen, dass die von H. Mayer und mir mit dem Sammelband „Aufklärung“ eröffnete literaturgeschichtliche Reihe für jede methodologische oder forscherisch ertragreiche Arbeit offensteht. 22 Wenn Du also für Deine Habilschrift nichts besseres vor hast, so bitte ich Dich diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht zu ziehen: Dein Erscheinen hätte auch den symbolischen Sinn einer Besitzergreifung der Reihe durch die Gesamtromanistik. Meine Arbeit beschränkt sich auf die unumgänglichen Hebammendienste. Gute Wünsche fürs Neue Jahr W. Kr. Werner Krauss an Rita Schober (27.2.1954) Liebe Rita! Behalte nur den P. 23 noch 14 Tage - aber dann brauche ich ihn, schon wegen der Korrektur der Fahnen. Hattest Du keinen so zwiespältigen Eindruck? Jedenfalls gehört es zu den repräsentativen Büchern, über die auch die Zeitschrift referieren müsste. Sicher wäre P. einverstanden mit einer ev. Teilpublikation! Eine weitere Anregung möchte ich auf Grund meiner letzthinnigen westdeutschen Erfahrungen wagen: die Ignoranz über sowjetische Dinge ist total, nicht aber die Unlust sie zu erfahren. Nur dass jede Verflechtung mit Politischem geächtet ist. Eine objektive 21 Werner Krauss war Anfang der 50er Jahre vom Potsdamer Verlag Rütten&Loening über das Projekt einer Zola-Ausgabe konsultiert worden und hatte Rita Schober als Herausgeberin empfohlen, die zu der Zeit an ihrer Habilschrift über Zola arbeitete. (Krauss hatte ihr das Thema nahegelegt, mit dem sie sich 1954 in Berlin habilitierte: Emile Zolas Theorie des naturalistischen Romans und das Problem des Realismus. Die Arbeit wurde nicht publiziert. 22 Im Verlag Rütten&Loening gaben Werner Krauss und Hans Mayer seit 1955 die Reihe Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft heraus, die mit dem Band Grundpositionen der französischen Aufklärung eröffnet wurde. 23 R.Sch. hatte sich von Krauss die Arbeit des westberliner Romanisten Walter Pabst (1907- 1992) Novellentheorie und Novellendichtung. Zur Geschichte ihrer Antinomie in den romanischen Literaturen ausgeliehen 264 Darstellung der sprachwissenschaftlichen oder literaturmethodologischen Entwicklungen in der S.U. würde geradezu begierig aufgenommen. Warum machst Du nicht letzteres auf Grund Deiner Vorarbeiten? Wir behandeln dieses Thema jetzt in einem Aspirantenseminar, ausgehend von Burows letztem Aufsatz in „Fragen der Philosophie“ V. 24 Ein weiterer Vorschlag zur Güte ist ein jeweiliger Austausch von Listen über unsere Neuerwerbungen und daran anschliessend die Einrichtung kurzfristiger (gestrichen) Verleihungen zwischen beiden Instituten. Das wäre ein bescheidener Anfang, der aber doch zu sehr viel mehr führen könnte. Wann kommen Deine Zola-Naturalismus-Texte? Sie würden sofort gesetzt: Anmerkungen könntest Du auf Grund der Fahnen machen. Am nächsten Donnerstag muss ich zu einer Besprechung nach Berlin, hätte aber vor 17h Zeit und bitte in diesem Fall um baldige Nachricht, weil ich dann mit einem früheren Zug führe. Will der Dr. Heintze nicht in der Textreihe mitarbeiten? Ich hatte ihm 17. Jahrhundert vorgeschlagen. Sehr herzliche Grüße W. Kr. Rita Schober an Werner Krauss Berlin-Niederschönhausen, 3.4.1954 Strasse 200 Parzelle 17 Lieber Werner! Du hast sicher inzwischen das Buchpaket mit der Habilitationsarbeit und dem Pabst erhalten. Zum Pabst: Nochmals recht herzlichen Dank dafür, daß Du ihn mir geliehen hast und sei, bitte, auch nicht böse, daß es mit dem Zurückschicken etwas länger gedauert hat. Ich konnte mich bei der Genrefrage der Lais auf die Anfangskapitel vom Pabst sehr gut stützen. Leider kann ich die versprochene Stellungnahme zum ganzen Buch nicht abgeben, da ich wegen der Überlastung mit den Vorarbeiten für die Habilitation nicht dazu gekommen bin, das ganze Werk durchzuarbeiten. Ich habe nur den ersten Abschnitt über die italienischen Novellen durchgesehen und den über die französischen überflogen und von beiden den Eindruck bekommen, 24 Aleksandr Ivanovitch Burow, russischer Philosoph und Anti-Kantianer. Hatte in der Moskauer Zeitschrift Voprossy filofofii 1954 einen Aufsatz zur Theorie der Kunst publiziert, worin er „die relative Selbständigkeit der Kunst“ gegen „Tendenzen der Vulgarisierung in der Ästhetik“ ins Feld führte. W.Kr., der in der russisch sprach, interessierte diese These im Kontext der Formalismus-Debatten der 40er/ 50er Jahre in den sozialistischen Ländern. Burows 1956 in Moskau erschienenes Buch zu dieser Problematik Esteti eskaja suchnostj iskusstva erschien 1958 auf deutsch im ostberliner Dietz-Verlag unter dem Titel Das ästhetische Wesen der Kunst. 265 daß es sich um eine sehr sorgfältige und sehr materialreiche Arbeit handelt. Allerdings definiert Pabst nirgends seinen Novellenbegriff, obwohl er dauernd gegen einen normativen Novellenbegriff polemisiert. Sicher wäre das Erscheinen dieser Arbeit bei uns ein Gewinn, ich fürchte aber, daß der Leserkreis des Buches ein sehr kleiner ist und ich weiß nicht, ob der Verlag R. & L. eine solche Edition geschäftlich wagen kann. Zur Habilitationsarbeit: Lieber Werner, entschuldige bitte, daß ich Dir nur einen Durchschlag schicken konnte, das Original liegt noch immer in der Fakultät. Wenn man einen weißen Bogen unterlegt, läßt sich der Durchschlag besser lesen. Und nun zum Inhalt. Meiner Ansicht nach muß in den Teilen über Molière, Diderot, die Romantik und Zolas Auffassungen von Sprache und Stil noch ergänzt werden. Der zweite Teil, die Germinal-Analyse, soll nur ein Beispiel sein, wie ich mir die Untersuchung der Zolaschen Romankunst ungefähr vorstelle. Ursprünglich sollten die Rougon-Macquart im Mittelpunkt stehen, die Romantheorie war nur als Einleitung gedacht. Ich bin sehr gespannt auf Dein Urteil und bitte Dich herzlich, es mir offen und ehrlich zu sagen. Solltest Du nach der Lektüre der Arbeit noch die Herausgabe in Deiner Reihe für wünschenswert erachten, so würde ich vorschlagen, nur den ersten Teil zu bringen, der ja dann noch überfeilt und abgerundet werden könnte. Die Habilitation hat gut geklappt und ich bin sehr froh, daß ich es hinter mir habe. Mit Manfred habe ich gestern wegen der Zeitschrift gesprochen und auch wegen Quevedo. Die Angelegenheit B. läßt sich kaum länger hinausschieben. Ich habe auch diese Dinge mit Manfred 25 durchgesprochen und er wird Dir sicher davon berichten. Schalk ist eingeladen. Ich nehme an, daß wir bald eine Beiratssitzung haben, auf der die wichtigsten Fragen der Romanistik besprochen werden können. Im übrigen würde ich Dich herzlich bitten, daß wir die endlich wieder angeknüpfte Verbindung nicht abreißen lassen und uns über die wichtigsten Dinge verständigen. Für heute viele herzliche Grüße und hoffentlich gefällt Dir die Arbeit. Deine Rita 25 Manfred Naumann (*1927), Romanist, Literaturwissenschaftler und Stendhalspezialist. Schüler der ersten Generation von W.Kr.; 1955 Leiter der Arbeiten an der an der Deutschen Akademie der Wissenschaften auf Antrag von W.Kr. gegründeten Arbeitsstelle zur Geschichte der französischen und der deutschen Aufklärung. Nach Professuren in Jena, Berlin und Rostock, 1969 Mitbegründer mit dem Brechtforscher Werner Mittenzwei und dem Anglisten und Shakespeareforscher Robert Weimann des Zentralinstituts für Literaturgeschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR; Leiter des Theoriebereichs und seit 1982 Direktor des ZIL bis zu seiner Emeritierung 1990. 266 Rita Schober an Werner Krauss [Kopfbogen des Romanischen Instituts der Humboldt-Universität] 1. Juni 1954 Lektorenstunden von Frau Rüdiger. Lieber Werner, von Frau Rüdiger 26 erfuhr ich, dass sie im nächsten Studienjahr stärker als bisher in Leipzig mit Stunden belastet sein wird und dass sie durch Deine Fürsorge so beträchtlich gefördert worden ist, dass sie sich Dir zutiefst verpflichtet fühlt und deshalb nicht recht weiss, ob sie die weitere Fortführung des Berliner Sprachunterrichts Deinem Institut gegenüber verantworten kann. Ich sehe deshalb nur die eine Möglichkeit, mich mit der herzlichen Bitte an Dich zu wenden, uns Frau Rüdiger auch weiterhin für ein bis zwei Tage in der Woche „zu leihen“ und wäre Dir für Deine Zustimmung sehr dankbar. Ich wüsste sonst im Augenblick nicht, wie ich den Unterricht von Frau Rüdiger gleichwertig ersetzen sollte. Vor einigen Tagen hatte sich ein Herr Sokolow 27 bei mir gemeldet, der bisher als Lektor für Französisch und Russisch an unserer Universität tätig war. Er ist ähnlich wie Frau Kotler 28 in Frankreich geboren, hat dort studiert und nach dem Krieg für die Sowjet-Union optiert und befindet sich deshalb auf Zwischenstation bei uns. Er wollte gern in nähere Verbindung mit dem Romanischen Institut kommen. Da ich seinetwegen nicht Frau Kotler entlassen kann, andererseits weiss, dass Du ebenfalls einen fremdsprachigen Lektor für Französisch dringend benötigst, habe ich ihn gebeten, sich an Dich zu wenden. Sollte daraus nichts werden, so bitte ich Dich, mir noch einmal mitzuteilen, ob Du Frau Kotler im Wintersemester benötigst und wieviel Stunden. Ich würde dann in Deinem Namen mit ihr sprechen. Lieber Werner, nun komme ich noch mit einer Anfrage. Du weisst, dass durch das Ableben vom Genossen Prof. Böhme 29 in der Hispanistik bei uns eine schwierige Lage eingetreten ist. Genosse Dessau, 30 der ja Aspirant unter Deiner Betreu- 26 Die Wienerin Hermine Rüdiger war in den 40er und 50er Jahren Französischlektorin in Leipzig und Berlin. 27 Die Identität konnte nicht aufgeklärt werden. 28 Françoise Kotler, eine mit einem Franzosen verheiratete Russin, war in den 40er und 50er Jahren in Halle und Berlin Französischlektorin. 29 Traugott Böhme (1884-1954); Berliner Hispanist; lehrte von 1947 bis 1954 am Romanischen Institut der HUB. 30 Adalbert Dessau (1928-1984), Hispanist und Lateinamerikanist; hatte als Ass. bei W.Kr. in Leipzig gearbeitet; war nach seiner Promotion Dozent am Berliner Romanischen Institut (1952-1960) und danach Gründungsdirektor des Lateinamerikainstituts an der Wilhelm-Pieck-Universität Rostock (1960-1984). 267 ung für Hispanistik werden soll, hat sich prinzipiell bereiterklärt, die sechs bzw. vier Vorlesungs- und Übungsstunden vom Genossen Prof. Böhme zu übernehmen. Das würde allerdings bedeuten, dass er bereits im ersten Ausbildungsjahr seiner Aspirantur eine zweistündige Überblicksvorlesung über spanische Literaturgeschichte halten müsste. Das ist natürlich eine grosse Belastung. Genosse Klemperer hatte deshalb daran gedacht, Genossen Dr. Bahner 31 zu bitten, bei uns diese Vorlesung zu lesen. Ich möchte Dich deshalb fragen, ob Du Genosse Dr. Bahner eine solche einsemestrige Gastvorlesung bei uns gestatten würdest, zumal ich nicht ganz sicher bin, ob das Staatssekretariat Genossen Dessau eine so hohe Stundenzahl im ersten Aspiranturjahr bewilligen wird. Ich würde mich auch sonst sehr freuen, von Dir und Leipzig wieder einmal etwas zu hören, und verbleibe für heute mit den herzlichsten Grüssen Deine Rita Werner Krauss an Rita Schober [Kopfbogen des Romanischen Instituts der Karl-Marx-Universität, Leipzig] 16. Juli 1954 Liebe Rita! Entschuldige bitte die lange Verzögerung meiner Antwort durch meinen leider zu kurzen Ferienaufenthalt und die Hoffnung, Dir zugleich abschliessend über Zola schreiben zu können. Für heute nur als Vorgriff, dass selbstverständlich Frau Rüdiger wie verabredet nach Berlin kommen wird, was Bahner betrifft, so ist es ja unser gemeinsames Interesse, dass durch ihn das bisherige sprachwissenschaftliche Monopol gebrochen wird und dass er die entsprechenden Vorlesungen bei uns hält. Ausserdem sind bei seiner Habilitierung retardierende Momente in Erscheinung getreten und schliesslich müssen wir alle hier zusammenwirken, um die unbillige und einen wahren Abgrund von Inkompetenz und Erbärmlichkeit eröffnende Entlassung von Quevedo 32 solange lehrmässig auszugleichen, bis wir ihn in der Form eines Lehr- 31 Werner Bahner (*1927), Romanist und Schüler von W.Kr. der ersten Generation an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Nachfolger als Direktor des Instituts für romanische Sprachen und Kultur an der Berliner Akademie der Wissenschaften (1965-1970). Promovierte bei W.Kr. mit der Arbeit Beitrag zum Sprachbewußtsein in der spanischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts, die 1956 als Band 5 der Reihe Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft erschien. 32 José Quevedo (1908-1984), Flugzeugtechniker und Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg, der nach 1945 als Emigrant in der DDR lebte und von W.Kr. als Spanischlektor am Romanischen Institut der KMU von 1952 bis 1962 engagiert wurde. Übernahm zeitweise auch als Muttersprachler den Spanischunterricht am Romanischen Institut der HUB. Va- 268 auftrags wieder verwenden können. Wenn Bahner bei all dem es trotzdem schafft und vor allem nicht zu einer sehr unzweckmässigen Hast bei der Habilitierung gezwungen ist, kann er es ja machen. Viel zweckmässiger wäre es allerdings, bei den jungen Dozenten, wenn sie die mühsam erarbeiteten Erstvorlesungen dann auch zum Gegenstand ihrer Gastreisen machen würden. Für heute nur dies. Über das andere und wichtigere einandermal ausführlicher Herzliche Grüße Werner Krauss handschriftlich: Ich hoffe der Zola wird schnell erscheinen können. Die Nummerierung (5) schliesst nicht aus, dass die Arbeit vor der früher nummerierten gesetzt wird und erscheint. 33 P.S. Was das Merkblatt betrifft, so beruhen leider Beziehungen wie Schalk 34 vorläufig darauf, dass er mir nicht eine solche Koppelung zutraut. Allenfalls könnte man es bei Rheinfelder 35 machen, der ja im Herbst kommt. Werner Krauss an Rita Schober [nach 57? nach 58? oder 60 (handschriftlich R.Sch.)]36 Liebe Rita! Sei sehr herzlich bedankt für Deine freundlichen Gedenkworte! Da Berge und Propheten so selten zusammen kommen, so möchte ich Dir auf diesem nicht gerade ter der in der DDR sozialisierten Malerin Nuria Quevedo (*1938). - Die Vorgänge um die Entlassung konnten nicht mehr aufgeklärt werden. 33 Die Habilschrift über Zola ist nicht erschienen. Einer der Gutachter, der Philosoph und Kybernetiker Georg Klaus, hatte umfangreiche Ausbauten empfohlen, zu denen die jüngst mit der Leitung des Romanischen Instituts der HUB beauftragte Autorin keine Zeit hatte. 34 Fritz Schalk (1903-1980), Kölner Romanist (1940-1970) und lebenslang Herausgeber der Romanischen Forschungen. Mit W.Kr. befreundet, der seine Zuwahl zum korrespondierenden Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaft in Ostberlin betrieb. 35 Hans Rheinfelder (1898-1971), Münchener Romanist. Begründet 1953 inmitten des Kalten Krieges den Deutschen Romanistenverband und setzt sich für deutsch-deutsche Wissenschaftskooperation ein. Mit W.Kr. und R.Sch. befreundet, die ihn in den 50er Jahren mehrfach zu Gastvorträgen einladen. Engagierte sich für den gesamtdeutschen Zusammenhalt der deutschen Romanistik. 36 Wahrscheinlich 1954. Nimmt Bezug auf R.Sch.’s Ernennung nach ihrer Habilitation im März 1954 zur Professorin mit vollem Lehrauftrag am Institut für Romanistik der HUB am 1. Mai 1954 und daselbst als Victor Klemperers Nachfolgerin als geschäftsführende Direktorin des Instituts (ab 1. September 1954). 269 geeigneten Wege meine Freude darüber mitteilen, dass der Berliner Wirkungsort von keiner anderen Hypothek belastet Dir überlassen bleibt. Das wird hoffentlich auch eine solide Grundlage sein für ein neues Einvernehmen in fachlicher Hinsicht. Das andere was ich Dir längst schon sagte, ist nun unumgänglich: das Erscheinen Deines Zola muss in die nächste freie Produktionslücke eingesetzt werden! Für heute nur diesen kurzen Gruß Dein Werner Krauss Rita Schober an Werner Krauss Berlin NW 7, den 8. Juni 1955 Clara-Zetkin-Str. 1 Lieber Werner, eingedenk Deiner Bemerkung im Staatssekretariat über die Unsitte des grassierenden ‘Du’ habe ich die Karte mit Harry [sic] Meier 37 absichtlich auf ‘Herr’ und ‘Sie’ umgestellt. Ich hoffe jedoch, dass Du mir im privaten Verkehr auch weiterhin das freundschaftliche Du zubilligst. Ich komme mit einer grossen Bitte: wäre es Dir wohl möglich, im Verlauf des nächsten Studienjahres eine Gastvorlesung bei uns über ein spanisches Thema zu halten? Ich sage „spanisch“ weil es auf diesem Gebiet bei uns besonders schlecht aussieht. Sollte Dir das nicht angenehm sein, so ist mir selbstverständlich ein Vortrag über ein Dir genehmes Thema der französischen Literatur oder irgendein anderes Thema ebenso angenehm. Ich würde mich nur freuen, wenn durch eine solche Gastvorlesung die so dringend notwendige wissenschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem Leipziger und Berliner Institut auch äusserlich dokumentiert würde. Ich bin selbstverständlich ebenso gern bereit, für einen Vortrag nach Leipzig zu kommen, wenn Du es wünschst. Ich möchte Dir auf diesem Wege auch noch einmal herzliche danken für Dein Entgegenkommen in bezug auf Frau Rüdiger. Ohne die Hilfe von Frau Rüdiger wüsste ich gar nicht, wie wir den Anfangsunterricht in Französisch bewältigen sollten, und da mir aus ihren Mitteilungen bekannt ist, dass die Freistellung Frau Rüdigers für einen Tag nicht ohne gewisse Einschränkungen bei Euch möglich war, danke ich besonders herzlich. 37 Harri Meier (1905-1990), linguistischer Romanist. Professor an der Universität Leipzig 1940-1945. War von 1943 bis 1945 Direktor des Deutschen wissenschaftlichen Instituts in Lissabon. 270 Über die Münchener Erlebnisse wird Dir ja Manfred 38 ausführlich berichtet haben. Ich habe von Deinem Brief gegenüber den Kollegen Dabcovich, 39 Meier und Weinert 40 Gebrauch gemacht und ihnen die Gründe Deines Fernbleibens in Deinem Sinne dargelegt. Sie waren über die Urteilsbegründung und die im Zusammenhang damit gemachten offiziösen Bemerkungen sehr erstaunt. Frau Dabcovich scheint im übrigen nicht ganz so böse auf uns zu sein, wie Du es immer annimmst. Sie ist eine sehr angenehme und aufgeschlossene Frau, und wie sie mir sagte, bereit, bei uns einen Gastvortrag zu halten. Ob Du wohl auch daran interessiert wärest? Denn ich möchte nicht wieder, dass so ein Fehler wie mit Rheinfelder entsteht. Ich werde mir überhaupt erlauben, sobald meine Liste von Gastvorlesungen für das kommende Jahr feststeht, sie Dir in Abschrift zugehen zu lassen mit der Bitte, dass Du mir mitteilst, welche der eingeladenen Kollegen Du ebenfalls in Leipzig haben möchtest. Für heute herzliche Grüsse und auf hoffentlich baldiges Wiedersehen. Deine Rita Schober (Prof. Dr. handschriftlich durchgestrichen Rita Schober) Werner Krauss an Rita Schober [2. Nov. 1960 Briefumschlag (handschriftlich R.Sch.); Kopfbogen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin] Liebe Rita! Bitte entschuldige dass die Blätter für die Zeitschrift 41 so lange liegen blieben, unter einem Berg von Unerledigtem. Solche Stauungen kommen immer wieder vor und verursachen dann Katastrophen, von Kriegserklärungen und Hinrichtungsbefehlen gefolgt. Und zwar nicht mit Unrecht! 38 Manfred Naumann (*1927); s. Anm. 25. 39 Elena Eberwein-Dabcovich (1899-1970). Romanistin. 1932 Assistentin von Leo Spitzer in Köln; 1937 wegen öffentlicher Solidarisierung mit ihrem Lehrer von den Nazi-Behörden entlassen; 1952 ao. Prof. an der TU Berlin bis zu ihrer Emeritierung. 40 Hermann Karl Weinert (1909-1974), Romanist. Professor in Tübingen. 41 Bezieht sich auf die Beiträge zur Romanischen Philologie, die seit 1961 gemeinsam von W.Kr. und R.Sch. in Berlin herausgegeben wurde; ab Jg. IV (1965) erweitert durch Werner Bahner, Leipzig; Adalbert Dessau, Rostock. - In dem von W.Kr. verfassten Geleitwort zur 1. Nummer steht das Credo: „Nur marxistisch orientierte Forschung“ im Zeichen toleranter wissenschaftlicher Auseinandersetzung „mit allen fruchtbaren Bemühungen in unserem Fach“. „Wissenschaft ist nur gegenüber der Unwissenschaftlichkeit zur Intoleranz verpflichtet.“ (I. Jg. 1961). 271 Könnten wir nicht wieder mal einen so schönen Abend wie damals in [recte: im] Warschau 42 verbringen? Ich würde Dich sehr gerne hören, aber mein Horror vor Festivitäten ist ungeheuer. Schon das Wort Rumänien verursacht mir Magendrücken und zwingt mich Pepsin zu schlucken. Das Sachliche kommt morgen. Bitte, bitte um Verständnis wenn auch Vergebung nicht gewährt wird. Und schreibe mal unvermittelt, ein gutes Wort täte mir dringend not! Ich weiss noch gar nicht, was ich mit meinen sechs Jahrzehnten anfangen soll. Früher gab es dafür Fischbein und Korsette! Vale! Flehentlich: Werner Krauss Werner Krauss an Rita Schober [Budapest, 1962? (handschriftlich R.Sch.)] Liebe Rita Ich werde nicht gerade von einem Glücksstern verfolgt: gestern ist meine Zahnprothese zerbrochen: Daher kann ich weder essen noch sprechen. Meine Bitte ergeht an Dich: das beiliegende Essbillett einem beliebigen Dir sympathischen Bettler zu schenken 1. Aus dem beiliegenden Geld im besagten Duna meine Bierrechnung zu bezahlen 2. Etiemble zu verständigen, warum ich am Montag V. II. zu seinem Referat nicht kommen kann und ihn bitten muss, den Vorsitz an meiner Stelle zu übernehmen 3. Dich wegen des Flugbillets zu gedulden. Ich war gestern um 16 Uhr dort und es war geschlossen. Ich werde aber morgen, Montag früh die beiden Flugscheine besorgen und den Deinigen in die Schlüsselkassette stecken lassen. Vielen Dank für all die Mühe und herzlichem Gruß W. Kr. 42 Meint das Café Warschau in der Berliner Stalinallee (später: Karl-Marx-Allee), dessen Ambiente W.Kr. goutierte. 272 Werner Krauss an Rita Schober [Kopfbogen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin] 9. Januar 1963 Sehr verehrte Frau Professor Schober! Im Zuge der Neuordnung des ehemaligen Instituts für Sprachwissenschaft der romanischen Völker ist in der DAW ein Institut für Romanische Sprachen und Kultur begründet worden. 43 Die verschiedenen Abteilungen sollen allmählich aufgebaut werden; fest stand aber von vorneherein, dass die sofortige Errichtung einer Abteilung für Moderne Französische Literaturgeschichte ein unaufschiebbares Desiderat ist. Ich habe die Ehre, in Übereinstimmung mit einem Sitzungsbeschluss der Klasse für Sprache und Literatur, Sie, verehrte Frau Professor Schober, mit der Leitung dieser Abteilung zu betrauen. Die Entwicklung der Ihnen unterstehenden Abteilung ist in den Empfehlungen des Präsidiums für den Ausbau der Gesellschaftswissenschaftlichen Institute sowie in den Beschlüssen der Zentralen Parteigruppe der SED an der DAW verankert. In der sicheren Erwartung, dass die fruchtbare Zusammenarbeit mit Ihnen auch den Gesamtinteressen des Institutes zugutekommt, begrüsse ich Sie als Ihr ergebenster Werner Krauss 43 Der Brief bezieht sich auf die Auflösung des von Walter v. Wartburg an der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin geleiteten Instituts für romanistische Sprachwissenschaft und die im Sommer 1962 beschlossene Neugründung eines Instituts für romanische Sprachen und Kultur, das die vorgängige Arbeitsstelle zur Geschichte der französischen und der deutschen Aufklärung integrierte und dessen Direktor W.Kr. bis zu seiner Emeritierung 1965 war. Diesem Institut sollte die von W.Kr. erwähnte Abteilung zur modernen französischen Literaturgeschichte angegliedert werden, die unter der Leitung von R.Sch. einige Jahre bestand und Forschungen über den französischen Strukturalismus betrieb. Obwohl nie aufgelöst, stellte die Abteilung ihre Tätigkeiten in den 60er Jahren ein. R.Sch.’s Essay Im Banne der Sprache. Strukturalismus in der Nouvelle Critique, speziell bei Roland Barthes (Halle 1968) ist ein Ergebnis der Arbeit dieser akademieexternen Abteilung. Vgl. zum Kontext Martin Fontius, „Werner Krauss und die Deutsche Akademie der Wissenschaften.“ In: Lendemains, 18. Jg. 1993, H. 69/ 70, S. 225-238 und Gerdi Seidel, Vom Leben und Überleben eines <Luxusfachs> (2005) 273 Werner Krauss an Rita Schober [23.V.1963 Poststempel (handschriftlich R.Sch.)] Montag Liebe Rita! Da die cubanische Exzellenz ihre Ankunft verschoben hat, so fahre ich doch wie geplant, am Mittwoch. Von Rumänien mache ich gleich die westliche Tournée von der ich um den 20.7., nichts als Ruhe im Hessenwinkler Schreberglück 44 erstrebend, zurück sein werde. Kortum 45 ist beauftragt unter allen Umständen, ob Du mitgehst oder nicht, die Änderung Deines Arbeitsvertrages in dem besprochenen Sinn durchzusehen. Der Krausssche Teufel 46 ging heut schon ab. Nun alles Gute und Liebe! W. 44 W.Kr. Wohnort am südöstlichen Rande von Berlin in der Kanalstraße 35 in Berlin- Hessenwinkel. Vgl. dazu das Tagebuch Vor gefallenem Vorhang. Aufzeichnungen eines Kronzeugen des Jahrhunderts, hg. v. Manfred Naumann. Mit einem Vorwort von Hans Robert Jauss, Frankfurt/ M. 1995 (insbesondere das Kap. X Waldstraße in Hessenwinkel). 45 Hans Kortum (1923-1997), Romanist und Schüler der ersten Generation von W.Kr. in Leipzig. Promovierte mit einer Arbeit über die Querelle des Anciens et Modernes (Charles Perrault und Nicolas Boileau. Der Antike-Streit im Zeitalter der klassischen französischen Literatur, Berlin: Rütten&Loening 1966 = Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft Bd. 22.) H. Kortum war am von W.Kr. geleiteten Akademie-Institut für romanische Sprachen und Kultur sein Stellvertreter bis zu dessen Emeritierung 1965. 46 Meint den von W.Kr. 1963 im Berliner Verlag Rütten&Loening hg. Sammelband Der verliebte Teufel. Französische Erzählungen des 18. Jahrhunderts. 274 Werner Krauss an Rita Schober [Kopfbogen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin] 2. Nov. 1963 Liebe Rita! In diesem Jahr hast Du offenbar eine große Pechsträhne. Auf der Diderotkonferenz 47 wurdest Du sehr vermißt. Es war eigentlich eine recht gute Sache. Hoffentlich gibst Du den Text Deines Referats der Wissenschaftlichen Zeitung von Berlin zum Abdruck, damit sich wenigstens in der Schrift die Reihen wieder schließen. Nun noch ein Vorschlag zu der Promotionsangelegenheit der Jutta Emke. 48 Die Promotionsbestimmung der Humboldt Universität sind sehr rigoros, was im Prinzip ganz richtig ist, aber in dem gegebenen Fall ein Bestehen der Prüfung unmöglich macht. Fächer, wie italienische Lautlehre liegen ebenso außerhalb ihres Horizontes, wie Kenntnisse im Russischen. Ich würde daher den Vorschlag machen, daß wir die Prüfung nach meiner Rückkehr oder wann immer es sei in Leipzig durchführen und dass Dein Gutachten dort als das Erste angesehen wird. Der Vorteil dieses Arrangement ist auch ein sehr egoistischer: die Karl-Marx-Universität hat mit mir ausgemacht, daß ich Doktorprüfungen bei mir zu Hause machen kann. Vielleicht erinnerst Du Dich an den kleinen Gutachtentwurf, den ich in die Arbeit eingelegt hatte. Die große Sucherei nach der Kopie blieb ergebnislos, und so würde ich Dich bitten, das Gutachten direkt an mein Institut zu schicken, wo es dann abgeschrieben wird als eine vorläufige Stellungnahme gekennzeichnet wird. Übermorgen mache ich den Flug nach Kuba, das ich zum Hispanismus zurückzubekehren hoffe. 49 Nun laß es Dir gut gehen und entschließe Dich einmal, alle Verpflichtungen auch nach Deiner Entlassung abzusagen. Es grüßt sehr herzlich Dein Werner 47 W.Kr. organisierte 1963 als Direktor des Akademie-Instituts für Romanische Sprachen und Kultur eine Diderot-Konferenz, an der namhafte französische Wissenschaftler teilnehmen. 48 Jutta Emcke (*1934) studierte und promovierte bei W.Kr. in Leipzig (1964). Ging dann nach Westdeutschland und arbeitete als freie Journalistin. 49 Auf Einladung der kubanischen Akademie der Wissenschaften reiste W.Kr. im November 1963 in Begleitung seines damaligen hispanistischen Assistenten Fritz Rudolf Fries zu einem vierwöchigen Aufenthalt nach Cuba zu Vorträgen und Gesprächen. Hauptmotiv war die Beobachtung des kubanischen Weges zum Sozialismus. Krauss’ utopischer Roman Die nabellose Welt (hg. Von Elisabeth Fillmann u. Karlheinz Barck im Berliner Verlag Basisdruck 2001) ist auch eine Stellungnahme zu W.Kr. kubanischen Erfahrungen im Jahr der Ermordung Kennedys. 275 Werner Krauss an Rita Schober Berlin - Hessenwinkel Berlin, den 14. Juli 1964 Kanalstr. 35 - Tel.: 64 96 36 Liebe Rita! Vielen Dank für Deinen Brief. Ich gehe morgen auf die DLZ, 50 auf deren Gestion es schwierig ist, Einfluß zu nehmen, da der entscheidende Mann Französisch nicht versteht. Ich werde schriftlich fixieren, daß Frankreich, 19. Jahrhundert, immer automatisch an Dich geschickt wird; was Dir nicht behagt, kannst Du ja dann weitergeben. Ich habe nun die Arbeit über Balzac gelesen und bin, wenn man alles abwägt, doch sehr dafür, daß wir sie bringen. In der Anlage schicke ich Dir eine ganz provisorische Beurteilung. Inwieweit die Verfasserin meine darin enthaltenen Einwände bei der Fassung für den Druck berücksichtigen will, das muß ich in erster Linie Dir und in zweiter ihr selbst überlassen. Ich nehme an, Du bist im Alpina-Hotel, 1400m. Bitte, grüße dort allerseits von mir. Mit den besten Wünschen und allerherzlichsten Grüßen Dein Werner Anlagen: Gutachten Brief des Akademie-Verlages. Rita Schober an Werner Krauss [Abschrift] Prieros, den 17.7.64 Eilboten/ Einschreiben An Prof. Dr. Werner Krauss Hessenwinkel b. Berlin Kanalstrasse 35 Lieber Werner, Verzeih die rustikale Form dieses Briefes. Ich bin nicht auf der „Cota“, sondern schlicht und einfach in der „Wildnis“, um zu arbeiten. Sinaia soll im August folgen, aber zum Ferienkurs, was wohl weniger erholsam werden sürfte [sic]. Frl. Lim- 50 Die Deutsche Literatur Zeitung (DLZ) war das in Ostberlin an der Akademie der Wissenschaften von allen deutschen Akademien der Wissenschaften herausgegebene und redigierte renommierte Rezensionsorgan, zu dessen regelmäßigen Mitarbeitern W.Kr. gehörte. Nach der „Wende“ und der deutschen Wiedervereinigung wurde es abgeschafft. 276 berg 51 hat mir nun gestern mit Robi Deinen Brief geschickt. Hab’ vielen Dank für alles? - Wegen der Literaturgeschichte waren wir uns ja einig! Ich habe gerade eine „Rezension“ des 4. Bandes fertig gemacht, die vielleicht weniger eine Rezension im üblichen Sinne als eine Diskussion dieser Grundprinzipien ist. Dabei bin ich mit der Periodisierung noch immer nicht fertig. Die „sowjetische“ ist einfach historisch. Da ....? und in allen Bänden durchgehalten, auch ein Standpunkt. Aber das ist noch keine literarhistorische! Nun schlage ich mich schon drei Jahre damit herum. Willst Du mir nicht helfen? Ich möchte diese Frage so gern einmal mit Dir diskutieren, aber ich wage es doch immer nicht. Lach mich bitte nicht aus, Dir gegenüber habe ich immer ein bisschen Komplexe! Na! - Aber diese Periodisierungsfrage - ich muss noch einmal darauf zurückkommen - rührt ja an das Grundproblem: wie man Literatur überhaupt auffasst. Im „sowjetischen“ Fall steht der ideologiegeschichtliche Aspekt einwandfrei im Vordergrund. - Nun zum Balzac! 52 Hab’ schönen Dank für Deine Mühe. Ich freue mich sehr, dass Du Dir soviel Zeit dafür genommen hast und die Arbeit bringen willst. Und ich stimme Deiner Kritik auch insgesamt zu: uneingeschränkt: Rückverklammerung? 18. Jh., Curtius, Glorifizierungstendenz und notwendige ausgewogene Darstellung der „magischen“ Überhöhung. Utopisten scheinen mir vor allem für Geniekult und Rolle der Kunst überhaupt in Frage zu kommen, was ich schon in früheren Gesprächen Christa gegenüber betont habe. Weniger religiöse Seite. Auch wenn solche Tendenzen verstärkt worden sein können. - Wäre Dir über die Arbeit ein Gespräch zu dritt recht? Sobald Sinaia, Schweiz und endlich fälliger Urlaub hinter uns liegen? - Leider habe ich noch eine grosse Bitte: Vor mir liegt Heintzes Arbeit über „Humanismus und rhetorische Praxis in der franz. Beredsamkeit des 16. Jh.“ (eine Untersuchung über die gesellschaftliche Funktion der Rede). Es ist die zweite Fassung. Die erste, - die ja auch ohne mein Zutun entstanden war - hatte ich gründlich kritisiert. Diese neue habe ich noch nicht gelesen. Ich möchte sie aber auf keinen Fall durch die Fakultät ohne Dich gehen lassen. Ich möchte das in Zukunft überhaupt bei lohnenden Problemen so handhaben. Mal müssen wir doch zu kontinuierlicher Zusammenarbeit kommen. - Für die DLZ bin ich Dir dankbar. Möchte aber nicht gern zum „18. Jh.“ gestempelt werden. Es gab viele Jahre, wo ich im „Mittelalter“ z.B. versunken war. Na! - So, und nun: sehr liebe Grüsse und noch einmal vielen Dank! Deine gez. Rita 51 Lieselotte Limberg (1915-1985) war von 1951-1981 am Romanischen Institut der HUB Sekretärin der Institutsdirektoren V. Klemperer und R.Sch.; später Sekretärin bei R.Sch. im Dekanat der gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät. 52 Bezieht sich auf die Dissertation von Christa Bevernis (*1929), Ass. von R.Sch., die 1963 mit der Diss. Die ästhetischen Anschauungen Balzacs promoviert wurde. 277 Rita Schober an Werner Krauss 13.11.1964 Prof. Dr. Krauss, Hessenwinkl [sic], Kanalstr. 35 und Durchschlag an Akademie-Inst. Lieber Werner, Nach unserem Gespräch habe ich mir die Möglichkeiten für die inhaltliche Gestaltung der beiden Seminare an Deinem Akademie-Institut noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Ich würde denken, dass es vielleicht ganz glücklich wäre, eine der beiden Sitzungen Herrn Dr. Heintze zur Verfügung zu stellen. Da die Abteilung ja über keine festen Mitarbeiter verfügt, könnte man ihn als Gast heranziehen. Sein Thema über die Rolle der Beredsamkeit in Humanismus und Renaissance würde sich sicher gut in den Rahmen der allgemeinen Orientierung Deiner Aufklärungsforschung einfügen. Ich würde dann selbst zum zweiten Termin den in der Schweiz gehaltenen Vortrag zur Übersetzungstheorie bringen. Ich wäre Dir dankbar, wenn Du Dich mit dieser veränderten Regelung einverstanden erklärtest und mir gleichzeitig durch Dein Sekretariat die genauen Termine nennen liessest. Mit Dank für die Kaffeestunde und sehr herzlichen Grüssen verbleibe ich Deine Rita Schober Werner Krauss an Rita Schober [Kopfbogen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin] Frau Prof. Dr. Rita Schober Berlin - Niederschönhausen Straße 200, No. 17 19.11.1964 Sehr verehrte Frau Kollegin! Wir hatten seinerzeit ausgemacht, daß Sie am 3. Dezember eine seminaristische Übung über „Theorie der Übersetzungen“ und am 17. Dezember über „Lyrische und epische Gestaltung der Wirklichkeit“ halten. Ihr Vorschlag, daß nun an Ihrer Stelle Herr Dr. Heintze über „die Rolle der Beredsamkeit in Humanismus und Renaissance“, eintreten soll, entspricht nicht ganz den Bedürfnissen unserer Mitarbeiter. Vielleicht werden wir später einmal eine Abteilung für Humanismus und Re- 278 naissance-Literatur einrichten; solange dies nicht der Fall ist, ist es aber tunlich, unsere Veranstaltungen auf diejenigen Gebiete zu beschränken, die in den schon vorhandenen Abteilungen bearbeitet werden. Aus diesem Grunde, sehr verehrte Frau Kollegin, geht meine Bitte an Sie, es doch bei der ursprünglichen Ausmachung zu belassen. Die neuerdings auf den 11. Dezember, 15.oo Uhr, verschobene Besprechung über die Gestaltung der Zeitschrift wird - Ihr Einverständnis vorausgesetzt - in unseren Räumen stattfinden. Mit vorzüglicher Hochachtung (Prof. Dr. Werner Krauss) Rita Schober an Werner Krauss 23.11.1964 Sehr geehrter Herr Professor Krauss, Ich habe Ihr Schreiben vom 19.d.M. erhalten. Es ist selbstverständlich, dass ich Ihrem Wunsch als Institutsdirektor, die beiden vorgesehenen seminaristischen Übungen am 3. und 17. Dezember abzuhalten, Rechnung tragen werde. Ich bedaure jedoch aufrichtig, dass Sie es nicht für möglich halten, Herrn Dr. Heintze in Ihrem Institut einen Diskussionsrahmen für seine Probleme zu bieten. Ich glaube nicht, dass es dafür unbedingt einer Abteilung für Humanismus und Renaissance bedurft hätte. Mein Vorschlag resultierte aus der Überlegung, dass eine Ausweitung der Themen in eng benachbarte Grenzgebiete, zumindest zu Ihrer Aufklärungsforschung, wünschenswert sein könnte. Aber selbstverständlich muss eine solche Entscheidung Ihrem Ermessen überlassen bleiben. Mit vorzüglicher Hochachtung Prof. Dr. Rita Schober Rita Schober an Werner Krauss [7.6.65, handschriftlich, Telegramm] Telegramm aus 44 LX Berlin F 30/ 28 9 1525 = LIEBER WERNER ZU DEINEM 65. GEBURTSTAG MEINE ALLERHERZLICH- STEN GLUECKWUENSCHE FUER DIE SCHOENE ZEIT DEINER REICHEN WISSENSCHAFTLICHEN ERNTE AD MULTOS ANNOS = RITA + 279 Rita Schober an Werner Krauss [Kopfbogen der Beiträge zur Romanischen Philologie im Verlang Rütten & Loening - Berlin, Redaktion] Einschreiben 20. Mai 1966 Herrn Prof. Dr. Werner Krauss 1167 Berlin-Hessenwinkel Kanalstrasse 35 Sehr geehrter Herr Kollege, Die „Weimarer Beiträge“ bringen, wie uns erst jetzt bekannt geworden ist, in ihrer Nummer 1/ 66 eine von Dr. Rincón/ Barck verfasste Rezension Ihres Sammelbandes „Zur Dichtungsgeschichte der romanischen Völker“. Dieselbe Rezension - möglicherweise sind im Wortlaut geringfügige Abweichungen enthalten - ist mit Ihrer nachträglichen Befürwortung von Herrn Barck zur Veröffentlichung in den „Beiträge zur Romanischen Philologie“ eingereicht worden. Beide Einreichungen erfolgten, wie eine Rückfrage bei den „Weimarer Beiträgen“ ergeben hat, gleichzeitig im Oktober 1965. Da nach den Prinzipien unserer Zeitschrift bisher nur Erstveröffentlichungen abgedruckt wurden, bitte ich Sie um Ihre Stellungnahme. 53 Mit kollegialem Gruss Prof. Dr. Rita Schober Werner Krauss an Rita Schober 24.8.73 Liebe Rita! Nur kurz die Nachricht, daß wir auf unserer Kongreßreise Erfolg hatten und daß überhaupt die Stimmung ausgesprochen DDR-freundlich war. Dein Name wurde des öfteren mit Bedauern über Dein Nichterscheinen genannt. Ich möchte Dich noch besonders beglückwünschen zu dem sehr guten Aufsatz über das Problem der Wertung in den Weimarer Beiträgen. 54 Läßt Du Dich wieder einmal bei mir sehen? Sehr herzliche Grüße Dein Werner Krauss 53 W.Kr. „Stellungnahme“ ist nicht überliefert. 54 R. Sch’s Essay Zum Problem der literarischen Wertung erschien in den Weimarer Beiträgen 7 (1973), S. 10-54. 280 Werner Krauss an Rita Schober [Donnerstag 13. X (1974, handschriftlich R.Sch.)] Liebe Rita, vielen herzlichen Dank für Deine lieben Glückwünsche. Ich beglückwünsche Dich meinerseits für Deine Unesco-Stellung 55 für die man im weiten Umkreis keine bessere Wahl hätte treffen können. Ich hoffe, wir können bald zusammenkommen, denn meine Tage werden nicht mehr unendlich währen. Nach verschiedenen Herzkollapsen bin ich in die Bucher Herzklinik transportiert worden. Es wäre schwarzer Undank über das hier Gebotene Klage zu führen - nur eben bin ich ein miserabler Klinikpatient, der sich mit dem Verlust der Freiheit niemals versöhnen wird. 56 Euch herzliche Grüße, liebe Rita, von Deinem Werner Krauss Werner Krauss an Rita Schober [28.06.1975 (handschriftlich R.Sch.)] Liebe Rita! Unter der fast 3 stelligen Zahl von Telegrammen, die mich zum Mythos museumsreif machen wollen, greife ich das Deinige heraus, weil es ein Anliegen vorbringt, das ich durchaus teile. Dass zwischen uns friedlich-freundschaftliche Beziehungen bestehen will wenig sagen, so lang wir uns nicht in möglichst häufiger Begegnung konfrontieren. Leider bin ich mit Schwemmfüssen und wässrig aufgedunsenen Beinen zu jeder Bewegung außerhalb der 500m Zone des Gartens unfähig; so dass alles davon abhängt, ob Du mit Deinem hurtigen Wägelchen herausfahren kannst. Bis 20. VI. habe ich bei konventionellen Einladungen wie ein verstaubter Apoll von Tenea eine Maske des starren Lächelns zu tragen. Dann aber würde mich jeder Tag erfreuen, an dem Du kommen könntest. Lass hören! Mit Dank und in Herzlichkeit Dein Werner Kr. 55 R.Sch. wurde im Herbst 1974 für zwei Jahre zum Mitglied des Exekutivrats der UNESCO gewählt. 56 Vgl. zum Horizont dieser Erfahrungen außer den Tagebuch-Notizen in Vor gefallenem Vorhang die jüngst erstmals veröffentlichten autobiographischen Dokumente in: Werner Krauss, Ein Romanist im Widerstand. Briefe an die Familie und andere Dokumente. Hg. v. Peter Jehle und Peter-Volker Springborn, Berlin: Weidler Buchverlag 2004. 281 Werner Krauss an Rita Schober 9.12.75 Liebe Rita Sei herzlich bedankt für Deine wundervollen Blumen und Deine lieben Worte. Seit einigen Wochen bin ich aus Buch zurückgekehrt, aber belastet durch eine Unzahl diätischer Vorschriften die sich unerträglich in meinen Mahlzeiten auswirken. Aus diesem Grund muss ich die Einladung zum Abendessen so lang verschieben, bis ich wieder normal essen und leben kann. Würdest Du mich nicht vorläufig zu Kaffee und Kuchen besuchen? Über den Tag mögest Du noch telefonieren, am besten über Frau Erika Wolf, 57 die in der Teilnehmerliste steht. Sehr herzlichen Dank und Gruss! Dein W.K. 57 Erika Wolf war die Besitzerin der Villa in der Hessenwinkler Kanalstraße 35 am Dämeritz- See, wo W.Kr. das spanische Souterrain und die französische Beletage bewohnte. 282 Manfred Naumann Stellungskämpfe in der Romanistik der Humboldt-Universität 1951/ 52 1949 war an der Humboldt-Universität der Romanistische Lehrstuhl durch den Abgang Fritz Neuberts an die Freie Universität vakant geworden. Werner Krauss hätte gern gesehen, wenn sich Erich Auerbach hätte berufen lassen, der in den USA damals noch keine sichere Professur hatte. Doch Auerbach hatte gegen die Einbürgerung in östliche Gefilde Bedenken, und die verpackte er in seinen Briefen an Krauss zwar taktvoll, aber doch so unmissverständlich, dass Krauss den Plan fallen ließ. Um die Romanistik an der Humboldt-Universität nicht aussterben zu lassen, erklärte sich Krauss bereit, neben Victor Klemperer, der wie er durch die Nazis verfolgt worden war und nun eine Professur in Halle hatte, in Berlin ab Sommersemester 1950 als Gastprofessor zu wirken. Krauss hatte sich im Zuchthaus körperliche Schäden zugezogen, die eine ständige ärztliche Behandlung erforderten; man spürte, dass er sich durch die Berliner Lehrverpflichtungen überlastet fühlte. Daher nahmen seine Leipziger Lehrlinge ein Jahr später mit ziemlicher Erleichterung zur Kenntnis, dass das Provisorium durch die offizielle Berufung Klemperers auf den Berliner Lehrstuhl beendet war. Damit hatte sich für Krauss, so dachten wir, das Berliner Gastspiel erledigt. Doch das war ein Irrtum. Nach dem Sommersemester 1951 trat Krauss einen Erholungsurlaub auf der Krim an, von dem niemand wusste, wie lange er dauern würde. Nach seiner Rückkehr im Oktober fand Krauss den Ruf auf ein Ordinariat an der Humboldt-Universität neben Klemperer vor; das Institut sollten beide gemeinsam leiten, Klemperer aber die Geschäfte führen. Über die Gründe, die ihn zur Annahme bewogen, schwieg Krauss sich aus. Vielleicht hatte ihn Gerhard Harig dazu überredet, der Staatssekretär für Hochschulwesen, mit dem er befreundet war. Jedenfalls war von den Obrigkeiten beschlossen worden, die Leipziger Romanistik mit der in Berlin zusammenzulegen, und mir, dem Assistenten von Krauss, fiel die Aufgabe zu, als Vorkommando vorauszueilen und in Berlin für die Leipziger Studentenschaft Quartier zu machen. Die meisten kamen in einer heruntergekommenen Großraumwohnung am Zionskirchplatz unter; auch ich verbrachte dort meine Berliner Nächte. * Victor Klemperer, mit dem ich es nun zu tun kriegte, war mir natürlich vom Namen her ein Begriff. Begegnet war ich ihm zum ersten Mal irgendwann 1947. Auf einer seiner Vortragsreisen quer durch die Ostzone, die er ausführlich in seinen ‘Tagebüchern von 1945 bis 1959’ beschreibt, war er auch einmal durch Mittweida gekommen, meine Heimatstadt. Ich hatte gerade Semesterferien und ließ mir den Auftritt eines Romanisten, von dem ich wusste, dass er in der Nazizeit den Judenpogro- 283 men in Dresden ausgesetzt gewesen war, nicht entgehen. Worüber er sprach, habe ich vergessen. Aber ich weiß noch, dass mich sein Auftreten und seine Rede sehr beeindruckt hatten. Er sprach völlig frei, ohne sichtbares Konzept, schien seinen Text erst beim Reden zu erfinden und verstand, seine Zuhörer mit seinem Vortrag mitzureißen. Wenig später kam ‘LTI’ heraus, sein Buch über die ‘Lingua Tertii Imperii’, über die ‘Sprache des Dritten Reiches’. Es wurde für mich zu einer Art Sprachlehrbuch; vor dem Gebrauch von Worthülsen wie Fanatismus, Heldentum, Kampfeswille, Weltanschauung und ähnlichen Vokabeln, die von den Nazis zu Tode geritten worden waren, nahm ich mich von nun an noch mehr als vorher in Acht. Nun also war ich Assistent an dem Institut, dessen geschäftsführender Direktor er war, und lernte ihn persönlich kennen. Die Hochachtung, die mir seine Persönlichkeit eingeflößt hatte, blieb bestehen. Er war der glänzende Redner, als den ich ihn erlebt hatte, geblieben. Die Gespräche, die er mit einem führte, waren gelehrsam, die Vorlesungen, die man bei ihm hörte, waren mit literarischer Bildung gesättigt und hatten darüber hinaus noch den Vorzug, weil sie sprachlich elegant vorgetragen wurden und kein anstrengendes begriffliches Mitdenken verlangten, im Unterschied zu denen von Krauss, unterhaltsam zu sein. Seine wissenschaftlichen Schriften, die ich in Berlin zu lesen begann, sagten mir weniger zu. Die kulturkundlichen deutsch-französischen Querelen, in die er sich in den zwanziger Jahren verwickelt hatte, kamen mir wie Papiere aus der grauen Vorzeit vor. Auch mit seinem Montesquieu-Buch von 1913, in dem er die These vertrat, bei Montesquieu habe der Dichter über den Denker gesiegt und die verspielte Rokoko-Ästhetik habe es zum Glück fertig gebracht, sein strenges Aufklärungsdenken zu würzen, konnte ich nicht viel anfangen; bei Elie Carcassonne z.B., der das Nachwirken der von Montesquieu konzipierten Gewaltenteilung im 18. Jahrhundert untersucht hatte, war mehr zu lernen. In Klemperers literaturgeschichtlichen Überblicken über das französische 19. Jahrhundert waren sehr schöne Portraits von den Schriftstellern und ihren Werken entworfen, aber ich fragte mich, warum sie nicht in übergreifende philosophische und mentale Strukturen eingebettet worden waren, die dem Individuell-Biographischen erst seine geschichtliche Bedeutung verleihen. Ich hatte beim Lesen immer das Bild einer Ahnengalerie vor mir, deren Gestalten sich den Dialogen mit der Gegenwart verweigern. Dass bei ihm die Geschichte der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts auf ein ‘Jahrhundert Voltaires’ und auf ein ‘Jahrhundert Rousseaus’ zusammenschrumpfte und die sonst noch schreibenden Heerscharen nur als Komparsen behandelt wurden, die den Reden der Hauptakteure Beifall zollen oder den Stab über sie brechen, störte mich besonders; ich war ja gerade dabei, auch von den aufgeklärten Kleingeistern etwas zu lernen. Das war vor einem halben Jahrhundert; heute leiste ich Klemperer im stillen Abbitte dafür, dass ich ihn mir damals als einen Lehrer, bei dem ich Lust gehabt hätte, das akademische Handwerk zu erlernen, gar nicht vorstellen konnte. Die Ausmaße seines kreativen Potentials entdeckte ich erst nach der Lektüre seiner 284 posthum veröffentlichten Tagebücher, in denen er ‘Zeugnis bis zum letzten’ über das mit seiner Frau Eva erlittene Schicksal in der Nazizeit ablegt. Ich kenne kein Werk über den Alltag eines jüdischen Bürgers unter faschistischer Herrschaft, das mir näher gegangen wäre. Mit diesem Großwerk wird Victor Klemperer einen unverlierbaren Platz in den geschichtlichen Annalen finden. * Verständlicherweise legte er damals Wert darauf, dass ihn auch die Krauss’schen ‘Nachwüchslinge’ als Institutsdirektor akzeptierten, wozu wir im Prinzip auch durchaus bereit waren. Aber wenn er es darauf anlegte, uns zu seinen wissenschaftlichen Ansichten zu bekehren, gingen wir auf Distanz. Natürlich blieb ihm der Abstand, den wir wahrten, nicht verborgen, und das ließ er uns auch spüren. Mich behandelte er, wie er in den Tagebüchern kundtut, als den ‘Adlatus von Krauss’, was ich ihm nicht weiter übelnahm; denn ein solcher ‘Adlatus’ war ich ja in der Tat. Trotz der Spannungen hatte das Zusammensein der Krauss- und Klempererleute manchmal auch seine heiteren Seiten. Nicht ohne Sarkasmus vermerkt Klemperer: ‘Tragikomisch: Rita setzte sich auf etwas Hartes - es war Werners Gebiss. Schon kam Manfred Naumann, es mitleidig verschämt holen.’ Solche zum Schmunzeln Anlass bietende Vorkommnisse waren allerdings selten. Rita Schober, die sich auf das Harte gesetzt hatte, das sich als das Gebiss von Werner Krauss entpuppte, bereitete sich auf ihre Habilitation bei Klemperer vor und stand natürlich auf der Seite ihres Präzeptors. Außerdem hatten wir in Erinnerung behalten, dass sie eine Zeitlang Referentin für Romanistik im Staatssekretariat gewesen war und dabei für die Leipziger Romanistik nicht viel übrig gehabt hatte; darüber hinaus empfanden wir es als störend, dass sie auch noch zu ihrer Nachfolgerin in diesem Amt gut funktionierende Beziehungen hatte. Es blieb daher nicht aus, dass sich die Differenzen zwischen den beiden Professoren auch auf ihre Anhänger auswirkten. Rita und ich brauchten ein paar Jahre, um die uns von unseren Lehrern in die Hand gedrückten oder aus eigenem Antrieb geschwungenen Lanzen beiseite zu legen. Am besten gelang uns das auf den ausländischen Kongressen, die wir später manchmal gemeinsam besuchen durften. Das internationale Flair sorgte dafür, dass die Kriegsbeile, die uns in der Heimat zu schaffen machten, begraben wurden. Jeder von uns spann seinen eigenen wissenschaftlichen Faden weiter; aber allmählich bildete sich ein kollegiales und bald auch freundschaftliches Verhältnis zwischen uns heraus. Vor etlichen Jahren feierten wir in trauter Gemeinschaft Ritas 80. Geburtstag, an dem ich der Beziehungen zwischen Krauss und Klemperer anhand von ‘PLN und LTI’ gedachte, und aus Anlass meines 75. entwarf sie von mir ein Bild, in dem sie mir so viel Lob spendete, dass ich mich in dem Portrait beinahe gar nicht wiedererkannt hätte. Inzwischen ist Rita Schober neunzig geworden. Sie sieht noch immer blendend aus und schreibt noch immer sehr lesenswerte Abhandlungen; auch dafür bewundere ich sie. 285 Doch damals, Anfang der fünfziger Jahre, lagen die Auffassungen und wissenschaftlichen Vorlieben von Krauss und Klemperer nebst ihren Anhängerschaften so weit auseinander, dass an ein fruchtbares Zusammenwirken gar nicht zu denken war. So war es nur folgerichtig, dass das von den Behörden angestrebte Bündnis schon nach einem Semester wieder zusammenbrach. Im Herbst 1952 wurde zum Rückzug geblasen, die Kraussianer bezogen wieder in Leipzig Stellung. Drei oder vier Studentinnen oder Studenten, die nicht gerade die besten waren, blieben in Berlin. Wir weinten ihnen keine Träne nach. * Von den Geplänkeln im Institut abgesehen, waren die mir zugemuteten Berliner Assistentendienste durchaus erträglich. Zwar hatte mir Krauss ein Proseminar anvertraut, das zum Gegenstand, wenn ich mich recht erinnere, Montaigne hatte, über den ich seit 1949 Bescheid zu wissen glaubte. Aber es blieb noch genügend Zeit, um in der Staats- und Universitätsbibliothek meine Aufklärungsstudien fortzusetzen und meine Kenntnisse der romanischen Literaturen zu erweitern. Auch noch andere Vorteile bot die ‘Hauptstadt’; so existierte damals auf dem Alexanderplatz noch eine internationale Buchhandlung, in der es gegen Ostgeld vom französischen Kulturministerium gespendete Bücher und Zeitschriften zu kaufen gab. Ich erstand den sechsbändigen ‘Larousse du XX e Siècle’ und einige Jahrgänge von ‘La Pensée, Revue du rationalisme moderne’, die mir halfen, mich im zeitgenössischen französischen Geistesleben besser zurechtzufinden. ‘La Pensée’ wie auch die der KPF nahestehende Zeitschrift ‘La Nouvelle Critique’ konnten sogar abonniert werden. Die Abende nutzte ich vornehmlich für Kinobesuche am Potsdamer Platz und in der ‘Maison de France’ am Kurfürstendamm, wo es französische Filme zu sehen gab. Von ‘Lohn der Angst’ mit Yves Montand war ich besonders begeistert. Manchmal fiel hinterher auch ein Dortmunder Pils ab, das mir besser als das Bier in den Ostberliner Kneipen schmeckte. Oft war ich auch Gast im Deutschen Theater, das damals noch das Berliner Ensemble beherbergte. Ich sah die ‘Mutter Courage’, ‘Herrn Puntila und seinen Knecht Matti’ und den von Brecht bearbeiteten ‘Hofmeister’. Nach irgendeiner Premiere nahm mich mein Freund Carl Andrießen, Theaterkritiker der ‘Weltbühne’, in die Kantine mit; dabei bekam ich ein zweites Mal Brecht zu Gesicht, den 1949 Hans Mayer den Leipziger Literarturstudenten vorgestellt hatte. Das erneute Brecht-Erlebnis tröstete mich über den unfreiwillig unternommenen Berliner Exodus hinweg. Krauss selbst ließ sich im Institut nur selten blicken, und wenn er da war, hatte ich mich nicht nur um sein Gebiss zu kümmern; ich musste manchmal auch die Bücher tragen, die er in Westberlin beim Antiquar Streisand gekauft hatte. Kontrollen an den Sektorengrenzen gab es zu dieser Zeit noch nicht, wohl aber sorgten Polizisten in den Zügen zwischen Leipzig und Berlin für Ordnung. Schon ein Jahr zuvor waren Krauss und Winfried Schröder einem so schikanösen Verhör über Sinn und Zweck ihrer Reise unterzogen worden, dass sich Krauss bei Mielke be- 286 schwerte, dem Staatssekretär des soeben gegründeten Ministeriums für Staatssicherheit. Wahrscheinlich hat er auf seinen Brief nie eine Antwort erhalten, aber das Vorkommnis ging gesprächsweise in die Institutsannalen ein. Krauss leitete daraus Regeln für den Umgang mit Kontrolleuren ab. Bei einer der Kontrollen erlebte ich, wie er nach langem Kramen in einer mit Geldscheinen gefüllten Aktentasche seinen Ausweis zückte und die in anderen Mappen verwahrten Bücher den Aufpassern mit der Bemerkung zur Durchsicht anbot, sie sollten aus den fremdsprachlichen Texten, in denen die Bücher abgefasst seien, keine falschen Schlüsse ziehen, es handele sich nicht um aufrührerische Schmuggelware, sondern nur um Werke, zu deren Lektüre ein Professor für Romanistik aus rein beruflichen Gründen verpflichtet sei. Diese Auskunft hatte Erfolg; die Kontrolleure verzichteten auf eine nähere Besichtigung des Inhalts. Mitte 1952 zogen wir wieder in Leipzig ein, und nachdem wir uns dort wieder eingelebt hatten, schrieb ich, befreit von dem Stress in Berlin, zügig an meiner Habilitationsschrift weiter, deren Thema Krauss mir gleich nach der Promotion gestellt hatte: ‘D'Holbach und das Materialismusproblem in der französischen Aufklärung’. Nebenbei hatte ich auch Seminare zu leiten, und manchmal kam es sogar vor, dass ich einspringen musste, wenn Krauss wegen Unwohlseins seine Vorlesung ausfallen ließ, was er mir meistens erst am Abend zuvor mitteilte. Ich wusste dann immer, was ich nächtens zu tun hatte. Die Studenten waren gnädig gesonnen; sie ließen sich ihre Enttäuschung, dass nur ein Ersatzmann am Pult stand, nicht anmerken. 287 PIERRE DE RONSARD: AMOREN FÜR CASSANDRE. FRANZÖSISCH - DEUTSCH. HG. V. CAROLIN FISCHER UND ÜBERSETZT V. GEORG HOLZER. BERLIN, ELFENBEIN, 2006, 333 S. Um denjenigen Leser, der sich das amouröse Werk des Prince des Poètes Pierre de Ronsard (1524-1585) in deutscher Sprache zu Gemüte führen wollte, war es bisher schlecht bestellt. Mehr als einzelne Übersetzungen in Anthologien und meist ohne den französischen Originaltext standen diesem kaum zur Verfügung, sieht man von den Aufsätzen über einzelne Gedichte oder die zahlreichen Übertragungen im Barock (v. a. von Opitz und seinen Anhängern) ab. Jedenfalls wurde dem Interessierten der Blick auf das umfassende Werk Ronsards nicht eröffnet. Die Herausgeberin hat diesem Mißstand, der merkwürdigen Diskrepanz zwischen der Bedeutung des Pétrarque Vandomois (wie sein Zeitgenosse Oliver de Magny ihn einst betitelte) für die französische Literatur und seiner derzeitigen (Nicht-)Beachtung in Deutschland, mit ihren Amoren für Cassandre und damit der ersten deutschen Gesamtausgabe zumindest eines Zyklus des Dichters erste Abhilfe geschaffen. Hieraus ergibt sich ein doppelter Vorteil: für die Herausgeberin das Umgehen der lästigen Aufgabe einer stets willkürlichen und daher niemals zufriedenstellenden Auswahl und für den Leser der Genuß des Gesamteindrucks. Die Herausgeberin und der Übersetzer haben es sich dabei nicht leicht gemacht, stellt doch das Premier Livre des Amours den schwierigsten Canzoniere Ronsards dar. Schließlich handelt es sich hierbei um eine ausgesprochene Bildungsdichtung in einem Stil, der kaum höher und dem heutigen Leser v. a. durch mannigfache mythologische Anspielungen kaum ferner sein könnte. Die Übertragung Holzers belegt die Richtigkeit des Diktums von Pierre Garnier über die Unübersetzbar-, dafür aber Mitteilbarkeit von Gedichten. Weit davon entfernt, einer sklavischen wörtlichen Übersetzung zu verfallen, wird der gedankliche Kern unter Beibehaltung des ursprünglichen Metrums und Reimschemas wiedergegeben. Dies ist umso wichtiger, als beide bei einer so streng reglementierten Form wie dem Sonett niemals bloß schmuckvolles Beiwerk sind, sondern stets sinnkonstituierend wirken. Zum Teil kühne Übertragungen ermöglichen es, den stilus grande Ronsards und die beim Sonett so wichtige Musikalität ins Deutsche zu transportieren - philologische Präzision weicht vor Erzielung der Wirkungsäquivalenz. So wie Ronsard durch das Porträt am Anfang des Bandes nebst seiner umworbenen Cassandre über seinen Liebeszyklus wacht, so scheint der wachsame Blick des Pléiade-Dichters auch Herausgeberin und Übersetzer begleitet zu haben. Auf die Gedichte folgt ein Kommentar der Herausgeberin, der, wie angekündigt, alle wichtigen mythologischen Anspielungen in den Gedichten erhellt. Daß hierbei die Belegstellen mit wissenschaftlicher Genauigkeit angeführt sind, wird so mancher Leser dankbar zu schätzen wissen. Beschlossen wird der Band mit einem dem Umfang nach angemessenen Nachwort der Herausgeberin, in dem der Leser nicht nur über Biographie und Werk 288 Ronsards, den historischen Kontext der Amoren für Cassandre sowie deren Namensymbolik, sondern en passant darüber hinaus auch über die wichtigsten Dichtungsprinzipien der Pléiade und das Phänomen des Petrarkismus unterrichtet wird. Diese komprimierten Informationen ermöglichen es dem Leser erst, Ronsards Werk als typische Ausdrucksform der Renaissance zu begreifen. Lobend sei erwähnt, daß die Herausgeberin wiederholt auf die Fiktionalität der in den Amoren geschilderten Liebe hinweist, um der sich leider immer noch hartnäckig am Leben haltenden Interpretation der Gedichte als autobiographische Zeugnisse Ronsards endgültig den Garaus zu machen. Allein, der streng wissenschaftlich interessierte Rezipient wünschte sich einen umfangreicheren Anhang, der im Sinne einer historisch-kritischen Leseweise auch die verschiedenen Varianten Ronsards, auf die die Herausgeberin wiederholt hinweist, berücksichtigte. Den Amoren für Cassandre könnte es gelingen, dem hellsten Stern der Pléiade endlich auch einen dauerhaften Platz am deutschen Literaturhimmel zu sichern und selbst ein „livre immortel“ zu werden - so wie es Ronsard in seinem Vœu erhofft. Beatrice Nickel (Stuttgart)
