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lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/31
2011
36141
lendemains 141 Soziologie in den deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen 36. Jahrgang 2011 141 Soziologie in den deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen 038711 Lendemains 141 02.05.11 10: 29 Seite 1 038711 Lendemains 141 02.05.11 10: 29 Seite 2 lendemains Etudes comparées sur la France / Vergleichende Frankreichforschung Ökonomie · Politik · Geschichte · Kultur · Literatur · Medien · Sprache 1975 gegründet von Evelyne Sinnassamy und Michael Nerlich Herausgegeben von / édité par Wolfgang Asholt, Hans Manfred Bock, Alain Montandon, Michael Nerlich, Margarete Zimmermann. Wissenschaftlicher Beirat / comité scientifique: Réda Bensmaïa · Tom Conley · Michael Erbe · Gunter Gebauer · Wlad Godzich · Gerhard Goebel · Roland Höhne · Alain Lance · Jean- Louis Leutrat · Manfred Naumann · Marc Quaghebeur · Evelyne Sinnassamy · Jenaro Talens · Joachim Umlauf · Pierre Vaisse · Michel Vovelle · Harald Weinrich · Friedrich Wolfzettel L’esperance de l’endemain Ce sont mes festes. Rutebeuf Redaktion/ Rédaction: François Beilecke, Corine Defrance, Andrea Grewe, Wolfgang Klein, Katja Marmetschke Sekretariat/ Secrétariat: Nathalie Crombée Umschlaggestaltung/ Maquette couverture: Redaktion/ Rédaction Titelbild: Max Weber, 1918. Credit: Leif Geiges. Weber, Max. Photograph. Encyclopædia Britannica Online. Web. 19 Apr. 2011. <http: / / www.britannica.com/ EBchecked/ media/ 32320/ Max-Weber- 1918>. Emile Durkheim. Wikimedia. LENDEMAINS erscheint vierteljährlich mit je 2 Einzelheften und 1 Doppelheft und ist direkt vom Verlag und durch jede Buchhandlung zu beziehen. Das Einzelheft kostet 18,00 €/ SFr 32,90, das Doppelheft 36,00 €/ SFr 61,00; der Abonnementspreis (vier Heftnummern) beträgt für Privatpersonen 52,00 €/ SFr 88,00 (für Schüler und Studenten sowie Arbeitslose 40,00 €/ SFr 68,00 - bitte Kopie des entsprechenden Ausweises beifügen) und für Institutionen 58,00 €/ SFr 98,00 pro Jahr zuzüglich Porto- und Versandkosten. Abonnementsrechnungen sind innerhalb von vier Wochen nach ihrer Ausstellung zu begleichen. Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn nicht bis zum 30. September des laufenden Jahres eine Kündigung zum Jahresende beim Verlag eingegangen ist. Änderungen der Anschrift sind dem Verlag unverzüglich mitzuteilen. Anschrift Verlag/ Vertrieb: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen, Fon: 07071/ 9797-0, Fax: 07071/ 979711, info@narr.de. Lendemains, revue trimestrielle (prix du numéro 18,00 €, du numéro double 36,00 €; abonnement annuel normal - quatre numéros - 52,00 € + frais d’envoi; étudiants et chômeurs - s.v.p. ajouter copie des pièces justificatives - 40,00 €; abonnement d’une institution 58,00 €) peut être commandée / abonnée à Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen, tél.: 07071/ 9797-0, fax: 07071/ 979711, info@narr.de. Die in LENDEMAINS veröffentlichten Beiträge geben die Meinung der Autoren wieder und nicht notwendigerweise die der Herausgeber und der Redaktion. / Les articles publiés dans LENDEMAINS ne reflètent pas obligatoirement l’opinion des éditeurs ou de la rédaction. Redaktionelle Post und Manuskripte für den Bereich der Literatur- und Kunstwissenschaft/ Courrier destiné à la rédaction ainsi que manuscrits pour le ressort lettres et arts: Prof. Dr. Wolfgang Asholt, Universität Osnabrück, Romanistik, FB 7, D-49069 Osnabrück, e-mail: washolt@uos.de; Sekr. Tel.: 0541 969 4058, e-mail: ncrombee@uos.de. Korrespondenz für den Bereich der Politik und der Sozialwissenschaften/ Correspondance destinée au ressort politique et sciences sociales: Prof. Dr. Hans Manfred Bock, Universität Kassel, FB 5, Nora Platiel-Straße 1, D-34109 Kassel, hansmanfredbock@web.de © 2011 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. ISSN 0170-3803 Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Sommaire Editorial ................................................................................................................. 3 Dossier Hans Manfred Bock/ Lothar Peter (eds.) Soziologie in den deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen Lothar Peter: Deutsch-französischer Soziologietransfer........................................ 6 Cécile Rol: Guillaume-Léonce Duprat (1872-1956), l’Institut International de Sociologie et l’Allemagne dans l’entre-deux-guerres ........................................... 18 Hans Manfred Bock: Raymond Aron und Deutschland. Aspekte einer intellektuellen Generationsanalyse ...................................................................... 43 Katja Marmetschke: Transdisziplinäre und transnationale Wissenschaftskommunikation zwischen Soziologen und Germanisten in der Zwischenkriegszeit: Das Beispiel Edmond Vermeils (1878-1964) ...................................... 59 Lothar Peter: Soziologie der Kritik oder Sozialkritik? Zum Werk Luc Boltanskis und zu dessen deutscher Rezeption.................................................................... 73 Discussion Hartmut Stenzel: Identität als politische Strategie und als ‘Plastikwort’: Zur französischen Diskussion um die „identité nationale“.................................... 91 Entretien Urs Urban: „La résistance est première - Penser contre les pouvoirs, contre les conformismes, contre les évidences.“ Entretien avec Didier Eribon ........... 109 Sommaire Arts & Lettres Horst F. Müller: A propos de Henri Barbusse. Quelques remarques de philologie barbussiste......................................................................................................... 128 In memoriam Reinhard Krüger: „Mentir ou mourir“. Raymond Federman (1928-2009) ......... 132 Werner von Koppenfels: Baudelaire als Lebensretter: Nachruf auf Friedhelm Kemp (1914-2011) ....................................................... 136 Comptes rendus M. Calle-Gruber (ed.): Les triptyques de Claude Simon ou l’art du montage (A. B. Duncan) .... 138 B. Sändig (ed.): Nach dem Mauerfall: Diskussion um A. Camus’ Der Mensch in der Revolte (S. Schmidt) .............................................................................. 139 G. Seybert: Deutsche und Französische Spiel- und Sprachräume in Poesie und Prosa (M. Antes)............................................................................................ 142 P. Veyne: Foucault. Der Philosoph als Samurai (C. Klünemann) ......................................... 143 Manuskripte sind in doppelter Ausführung in Maschinenschrift (einseitig beschrieben, 30 Zeilen à 60 Anschläge) unter Beachtung der Lendemains-Normen einzureichen, die bei der Redaktion angefordert werden können. Manuskripte von Besprechungen sollen den Umfang von drei Seiten nicht überschreiten. Auf Computer hergestellte Manuskripte können als Diskette eingereicht werden, ein Ausdruck und die genaue Angabe des verwendeten Textverarbeitungsprogramms sind beizulegen. Prière d’envoyer les typoscripts (30 lignes à 60 frappes par page) en double exemplaire et de respecter les normes de Lendemains (on peut se les procurer auprès de la rédaction). Les typoscripts pour les comptes rendus ne doivent pas dépasser trois pages. Les textes écrits sur ordinateur peuvent être envoyés sur disquettes, avec une version imprimée du texte et l’indication précise du programme de traitement de textes employé. 3 Editorial Oft, und für manche Leserinnen und Leser vielleicht zu oft, haben die Herausgeber von lendemains in den letzten Jahren den Zustand der deutsch-französischen Beziehungen beklagt. Leider haben die Entwicklungen der letzten Monate unsere Befürchtungen übertroffen. Ein wirklicher und vor allem kontinuierlicher Dialog zwischen den beiden Partnern findet kaum noch statt. Stattdessen suchen und finden beide Zivilgesellschaften je eigene Wege (man ist versucht, von Sonderwegen zu sprechen), um sich der eigenen Identität zu versichern, wie die Landtagswahlen in Deutschland und die Kantonalwahlen in Frankreich am 27. März erschreckend deutlich illustrieren. Unter dem Eindruck der japanischen Atom-Katastrophe kommt es in Baden-Württemberg und Rheinland- Pfalz zu einem massiven Votum für die Partei des Atomausstiegs. Die japanischen Ereignisse scheinen die französischen Wahlen kaum beeinflusst zu haben. Vielmehr machen die Wähler in Frankreich, unter dem Eindruck der Ereignisse in Nordafrika und der diversen, von der Regierungspartei und dem Präsidenten lancierten Immigrations- und Identitätsdebatten (s. den Beitrag von Hartmut Stenzel), den Front National zur (zumindest) drittstärksten Kraft. Weiter können die politischen und gesellschaftlichen Kulturen kaum auseinanderdriften. Die UN-Abstimmung über die Libyen- Resolution hat die mangelnde Bereitschaft und Fähigkeit zur Kooperation zwischen dem ehemaligen Tandem Berlin- Paris eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Daß die beiden Außenminister sich danach ignorieren, ist nur die Konsequenz der der Abstimmung vorausgehenden Absenz von Koordination. Offensichtlich fehlt auf beiden Seiten, und vielleicht noch mehr auf der deutschen, jedes Bewusstsein dafür, daß in einer so entscheiden- Souvent - et pour quelques lectrices et lecteurs peut-être trop souvent - les éditeurs de lendemains ont déploré la situation des relations franco-allemandes au cours de ces dernières années. Malheureusement, l’évolution des derniers mois a dépassé nos craintes. Un dialogue réel et surtout continu entre les deux sociétés civiles n’a pratiquement plus lieu. Les deux cherchent et trouvent par contre des chemins particuliers (on est tenté de parler de parcours isolés/ Sonderwege), pour s’assurer de leur propre identité, comme l’ont illustré de manière éclatante les élections régionales en Allemagne et les cantonales en France le 27 mars. Sous l’impression de la catastrophe nucléaire au Japon, le parti réclamant l’abandon de l’énergie atomique a obtenu un vote massif en Bade-Wurtemberg et en Rhénanie- Palatinat. Les événements japonais semblent guère avoir influencé les élections françaises. Tandis que les électeurs français - sous l’effet des événements en Afrique du nord et des débats sur l’immigration et l’identité nationale lancés par le parti au pouvoir et le président de la République - font du Front National, pour le moins, le parti numéro trois (voir la contribution de Hartmut Stenzel). Les cultures politique et sociétale ne pourraient s’éloigner plus l’une de l’autre. Le vote de l’ONU sur la résolution concernant la Libye a fait preuve, de manière impressionnante, du manque de disposition et de capacité de coopération entre l’ancien tandem Paris-Berlin. Que les deux ministres des Affaires étrangères se soient ensuite mésestimés, n’est que la conséquence de l’absence de coordination préalable. Apparemment, il manque des deux côtés, et peut-être même plus du côté allemand, toute conscience que dans une question aussi décisive, tout doit être fait pour atteindre 4 Editorial den Frage alles versucht werden muss, um eine gemeinsame Position zu erreichen. Und offensichtlich ist auch, daß die jeweilige Position mehr mit innenpolitischen Erwägungen zu tun hat als mit einer vertrauensvollen, die Interessen des jeweils anderen berücksichtigenden Zusammenarbeit. Wenn jedoch die innenpolitischen Probleme der einen wie der anderen (wie sie die Resultate der Wahlen widerspiegeln) auf dem Rücken und auf Kosten der deutsch-französischen Freundschaft ausgetragen werden, dann wird mit dieser nationalen Instrumentalisierung der privilegierten Partnerschaft der Boden entzogen, allen offiziellen Freundschaftsbekundungen zum Trotz. Vor einer solchen Entwicklung können wir nur warnen. Mit dem thematischen Schwerpunkt des vorliegenden Heftes knüpft Lendemains an eine Tradition an, die zu den Markenzeichen der Zeitschrift zählt. Nach zahlreichen Beiträgen zur Wissenschaftsgeschichte der deutschen Romanistik und der französischen Germanistik, nach Dossiers zum Vergleich deutscher und französischer Zeitgeschichte, Volkskunde und Politikwissenschaft ist es endlich einmal gelungen, die fachgeschichtlichen Beziehungen der Soziologie beider Länder zur Sprache zu bringen. Es wird damit ein Aspekt der Wissenschaftsbeziehungen zwischen beiden Nationen erschlossen, der (wie alle Geistes- und Sozialwissenschaften im 20. Jahrhundert) in Konfliktfällen oft der nationalen Identitätssicherung beflissener diente als dem gemeinsamen Bemühen um die Verbesserung der Kenntnis der gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse. Neben dieser partiellen politischen Instrumentalisierung der Soziologie wird in den Beiträgen aber auch deutlich, daß in der (in Frankreich relativ früh institutionalisierten) Soziologie une position commune. Il est également évident que la position respective a plus de rapport avec des considérations de la politique intérieure qu’avec une coopération basée sur la confiance qui tient compte des intérêts de l’autre. Mais si les problèmes de la politique intérieure des uns comme des autres (comme le reflètent les résultats des élections) sont résolus sur le dos et au détriment de l’amitié franco-allemande, on retire avec cette instrumentalisation nationale le terrain à ce partenariat privilégié, malgré toutes les manifestations officielles d’amitié. Nous ne pouvons que mettre en garde contre une telle évolution. Par les contributions groupées autour d’un thème central Lendemains continue une tradition qui, désormais, est devenue une image de marque de la revue. Après de nombreuses études consacrées à l’histoire disciplinaire de la romanistique allemande et de la germanistique française, après des numéros groupés autour de considerations comparatives sur l’histoire contemporaine, l’éthnologie et les sciences politiques des deux pays, voilà enfin un cahier réunissant des textes abordant les relations entre la sociologie allemande et française dans une perspective historique. De cette façon, un aspect des relations scientifiques entre les deux nations est analysé qui (à l’instar de toutes les Sciences humaines et sociales du 20 e siècle) à servi beaucoup plus souvent, en situation conflictuelle entre les nations, à la sauvegarde de l’identité nationale respective qu’à la tentative commune d’améliorer les connaissances des structures et du fonctionnement des sociétés humaines. D’autre part, les contributions thématiques mettent en évidence qu’au-delà de cette instrumentalisation politique partielle de la sociologie (dont le processus d’institutionnalisation discipli- 5 Editorial andere wissenschaftstheoretische Gründungsimpulse fortwirkten als in der deutschen Schwesterdisziplin. Die Portraits der beiden Gründerväter Emile Durkheim und Max Weber stehen da nur pars pro toto für diese wissenschaftstheoretischen und wissenschaftsgeschichtlichen Unterschiede. Daß diese Unterschiede ein Motiv für das wechselseitige Interesse aneinander werden konnten und daß sie zur Basis für punktuelle Kooperation und Austauschvorgänge zu werden vermochten, ist ein dritter Argumentationsstrang, der sich durch die hier vorgelegten Einzelstudien hindurchzieht. Das Zustandekommen des Soziologie-Dossiers wäre ohne die kompetente und bereitwillige Mitarbeit des Bremer Soziologen Lothar Peter (Initiator und Mitherausgeber der neuesten Überblicksdarstellung über „Französische Soziologie der Gegenwart“, Konstanz, UTB, 2004) nicht möglich gewesen. Ihm danken die Herausgeber. Die meisten der im folgenden abgedruckten Studien sind hervorgegangen aus einem Podium des Soziologentages 2010 in Frankfurt/ Main. Dort waren Frankreich und die USA die Gastländer. Vertreter der französischen Soziologie folgten der Einladung, die offiziellen Politikrepräsentanten aus Frankreich waren auffallend unsichtbar. Das Interview von Urs Urban mit Didier Eribon ergänzt auf ideale Weise diesen Schwerpunkt, der deutlich macht, wie wichtig und notwendig der deutschfranzösische (Wissenschafts-)Dialog ist. Wolfgang Asholt * Hans Manfred Bock naire a abouti plus tôt en France qu’en Allemagne) les deux disciplines universitaires suivaient, dès le début, des tracés épistémologiques différents. Le portrait des deux pères fondateurs, Emile Durkheim et Max Weber, ne reflète que partiellement ces différences d’ordre historique et épistémologique. Une troisième ligne d’argumentation parcourant les études réunies dans ce numéro de Lendemains démontre que ces différences constituaient un motif pour l’intérêt mutuel entre les deux sociologies et qu’elles pouvaient, le cas échéant, donner naissance à la coopération et à l’échange. La réalisation de cet ensemble de textes consacrés aux relations entre la sociologie allemande et française doit beaucoup à la participation compétente et active du sociologue de Brème Lothar Peter (inspirateur et coéditeur du manuel le plus récent en la matière „Französische Soziologie der Gegenwart“, Konstanz, UTB, 2004). Qu’il en soit remercié par les éditeurs de la revue Lendemains. La plupart des textes reproduits dans ce numéro sont issus d’un groupe de travail du Soziologentag à Francfort en 2010. La France et les Etats Unis y étaient les invités d’honneur. Des représentants de la sociologie française contemporaine acceptèrent l’invitation, tandis les représentants culturels officiels se faisaient remarquer par leur absence. L’interview de Urs Urban avec Didier Eribon complète de manière idéale cette thématique qui souligne l’importance et la nécessité d’un dialogue (scientifique) franco-allemand. 6 Dossier Hans Manfred Bock, Lothar Peter (eds.) Soziologie in den deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen Lothar Peter Deutsch-französischer Soziologietransfer Rezeption, Aneignung und Austausch zwischen der deutschen und französischen Soziologie stellen sich als heterogener, einerseits von intensiver Diskussion, andererseits aber auch von Desinteresse, Kontingenz und Asymmetrie geprägter Prozess dar. Die Heterogenität dieses Prozesses hat mehrere Ursachen, die sich teilweise überschneiden und in ihren Wirkungen wechselseitig verstärken. Unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungen, politische Zyklen, Transformationen des wissenschaftlichen Feldes, aber auch die Leistungen einzelner soziologischer Akteure haben in der einen oder anderen Weise beeinflusst, in welche Richtung sich die transnationalen Beziehungen des Faches bewegten und welche Formen sie annahmen. Gründungsphase und Zwischenkriegszeit In der Gründungsphase des Faches Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, während derer sich die Soziologie als Einzelwissenschaft aus Philosophie, Geschichtswissenschaft, Nationalökonomie und Völkerkunde auszudifferenzieren begann, lässt sich eine bemerkenswerte Offenheit in beide Richtungen, insbesondere aber von französischer Seite her, beobachten. Mehrere Vertreter der Gründergeneration der französischen Soziologie wie Emile Durkheim, Célestin Bouglé und Maurice Halbwachs reisten nach Deutschland, um sich dort mit dem sozialwissenschaftlichen Forschungsstand vertraut zu machen, der im Vergleich zum Heimatland als weiter fortgeschritten galt. 1 Das große Interesse an Repräsentanten der deutschen Sozialwissenschaften wie Albert E. F. Schäffle, Ludwig Gumplowicz, Wilhelm Wundt, Gustav Schmoller und Paul von Lilienfeld korrespondierte mit einer ausführlicheren Beschäftigung etwa von Wilhelm Jerusalem mit der im Entstehen begriffenen Durkheim-Schule, namentlich mit Emile Durkheim sowie Marcel Mauss und Henri Hubert, aber auch Lucien Lévy-Bruhl. 2 1894 verfasste Georg Simmel seinerseits Überlegungen über den spezifischen Gegenstand der Soziologie als einer die sozialen Formen - nicht primär deren Inhalt - untersuchenden 7 Dossier Wissenschaft in der Revue de métaphysique et de morale. 3 Ein weiterer Artikel von Simmel über ein ähnliches Thema folgte 1898 im ersten Jahrgang der Année sociologique. Als wichtiger Vermittler der deutschen Soziologie betätigte sich Célestin Bouglé, der bereits 1895 einen Überblick über die Sozialwissenschaften in Deutschland verfasste, in dem er, unter anderem anknüpfend an Georg Simmel, den von Durkheim akzentuierten Gegensatz zwischen Soziologie und Psychologie überwinden wollte. 4 Sein Vorschlag, Psychologie nicht auf Individualpsychologie zu verkürzen, sondern als Wissenschaft kollektiver psychischer Phänomene zu begreifen, machte in der Folge einen Konsens mit Emile Durkheim möglich. Weitere Versuche, die Zusammenarbeit zwischen Emile Durkheim und Georg Simmel zu vertiefen, scheiterten jedoch. 5 Außerdem ist es bis heute ein Rätsel geblieben, warum sich Max Weber und Emile Durkheim, die ja nicht nur der nationalen Wissenschaftslandschaft nachhaltig Konturen verliehen, sondern auch international eine überragende Rolle für die Konstituierung der Soziologie als eigenständiger Disziplin spielten, sich wechselseitig demonstrativ nicht zur Kenntnis genommen haben. 6 Zu den prominenten Ausnahmen auf französischer Seite zählt Emile Durkheims durchaus respektvolle, wenn auch kritische Rezension von Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies 1889 in der Revue philosophique. 7 Mit dem 1.Weltkrieg trat eine jähe Zäsur der ohnehin nur zaghaften Bemühungen um wissenschaftliche Verständigung und Kommunikation ein. Der Krieg belastete den fachlichen Austausch in einer bis zu totaler Verdrängung reichenden Weise. Extremer Nationalismus, imperialistische Überlegenheitsattitüde und eine geradezu obsessive Kriegsbegeisterung führender deutscher Philosophen und Sozialwissenschaftler wie Max Scheler, Werner Sombart und Georg Simmel 8 trafen auf eine ebenfalls von nationalistischen Neigungen nicht ganz freie Haltung Durkheims und seiner Schule. Als ungewöhnlich kann deshalb die Tatsache betrachtet werden, dass Maurice Halbwachs, dem wichtige Beiträge über das „kollektive Gedächtnis“ zu verdanken sind, zu den Schülern des 1914 an die Universität Straßburg berufenen Georg Simmel gehörte. Zu den wenigen Zeugnissen dafür, dass sich die soziologischen Akteure diesseits und jenseits des Rheins während der zwanziger Jahre überhaupt wechselseitig wahrnahmen oder gar inspirierten, zählen die verdienstvollen, vom Zeitgeist abweichenden Vermittlungsbemühungen von Gottfried Salomon-Delatour. 9 Maurice Halbwachs engagierte sich nach dem 1. Weltkrieg ebenfalls dafür, die Verbindung zu den deutschen Sozialwissenschaften nicht abreißen zu lassen, indem er 1921 einen Lehrauftrag am Centre d’études germaniques im französisch besetzten Mainz übernahm und in den zwanziger Jahren sowohl über Max Webers Protestantische Ethik schrieb als auch ein Lebensbild Webers lieferte. 10 (Es gehört zu den tragischen Ereignissen in den kulturellen Beziehungen beider Länder, dass Halbwachs, dessen Sohn Pierre in der Résistance aktiv war, 1944 von der Gestapo verhaftet wurde und 1945 kurz vor der Befreiung im KZ Buchenwald umkam). 8 Dossier In der Zwischenkriegszeit entwickelte sich die Soziologie beider Länder also weitgehend separat. Während in Frankreich die Durkheim-Schule unter Führung von Marcel Mauss ihre hegemoniale Stellung auf dem Feld der Sozialwissenschaften ausbaute und erfolgreich eine empirische Ausrichtung vertrat, 11 dominierte in Deutschland eine von geisteswissenschaftlichen, sozialphilosophischen und formalwissenschaftlichen Subtexten unterfütterte Soziologie (Ferdinand Tönnies, Franz Oppenheimer, Leopold von Wiese, Hans Freyer), innerhalb derer die Frankfurter Schule mit ihrer Verknüpfung von Sozialphilosophie und empirischer Forschung eine Sonderstellung einnahm. 12 Die offensichtliche Indifferenz, mit der die soziologischen Akteure in der Zwischenkriegszeit der Entwicklung des Faches im jeweiligen Nachbarland begegneten, und die ohnehin schon vorhandene geistige Distanz, die sich durch den Versailler Vertrag und seine Folgen zusätzlich verfestigt hatte, wurden jedoch in einem Fall eindrucksvoll durchbrochen. Mit La sociologie allemande contemporaine (1935, 1938) 13 setzte sich Raymond Aron, einer der Repräsentanten der „nonkonformistischen“ Intellektuellengeneration der Zwischenkriegszeit, 14 über die deutsche und französische Soziologen trennenden Mauern der Entfremdung hinweg und vermittelte einem aufgeschlossenen Fachpublikum ein kompetentes und wissenschaftlich empathisches Bild des Panoramas der deutschen Soziologie. Deren wesentliche Differenzen zur französischen sah er sowohl in der Polarität von „Kultur“ und „Zivilisation“ bzw. Gesellschaft, von Fortschrittsskepsis und Modernisierungsbejahung als auch methodologisch in einer ideographisch-„verstehenden“ Orientierung der deutschen und einer dem Paradigma der Naturwissenschaften folgenden „positivistischen“ Orientierung der französischen Soziologie. Von deutscher Seite hat sich René König 1931 und 1932 in einem bemerkenswerten Aufsatz in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie ausführlich mit dem Stand der damaligen französischen Soziologie auseinandergesetzt. 15 Dort rekonstruierte König wichtige Züge im Wandel der französischen Soziologie von Durkheim bis zu den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts. Er arbeitet heraus, dass sich die Konzeption der Durkheim-Schule nach 1920 vor allem unter dem Einfluss von Marcel Mauss, dem Neffen Durkheims, von einer eher philosophisch geprägten Soziologie zu einer stärker auf die Erforschung sozialer Tatsachen gerichteten Wissenschaft entwickelte , die einen bedeutenden Einfluss auf andere Einzelwissenschaften, insbesondere die Rechts- und Staatswissenschaften und die Ökonomie, ausübte. König ging aber auch auf bestimmte Kritiken an Positionen Durkheims (etwa von Maurice Halbwachs an Durkheims Selbstmordstudie) und insbesondere auf die komplexe Auseinandersetzung zwischen Soziologie und Psychologie sowie die Diskussion über die „mentalité primitive“ (Lucien Lévy- Bruhl) ein und betonte, sich auf Erkenntnisse von Marcel Mauss stützend, die Notwendigkeit einer Integration von Soziologie und Psychologie. Königs auf einem umfassenden Quellenstudium beruhende Bestandsaufnahme schloss mit einem Plädoyer für eine Weiterentwicklung der epistemologischen und methodologischen Prämissen der Durkheim-Schule ab. Dieser Beitrag rechtfertigt es, René König in 9 Dossier der Periode der Zwischenkriegszeit als den mit Abstand besten deutschen Kenner der französischen Soziologie zu bezeichnen. Intensive Rezeption und blinde Flecken Die nationalsozialistische Diktatur, der 2.Weltkrieg und die Besetzung Frankreichs eliminierten die ohnehin schwachen soziologischen Bindungen zwischen beiden Ländern nahezu vollständig, ehe sich dann nach 1945 der Kontext der fachwissenschaftlichen Beziehungen und die Möglichkeiten des transnationalen Austausches in der Soziologie grundlegend veränderten. 16 Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich übte die am amerikanischen Vorbild geschulte empirische Sozialforschung einen erheblichen Einfluss aus, 17 was dazu beitrug, dass sich die Entwicklung des Faches in beiden Ländern objektiv in einigen Punkten annäherte. Probleme der „Massengesellschaft“ und industriellen Modernisierung, der Rationalisierung der Arbeit und der Bürokratisierung traten hier wie dort stärker in den Vordergrund des soziologischen Blickfeldes. Der nun verstärkt einsetzende Transfer wies jedoch ein eindeutiges Gefälle von der französischen zur deutschen Soziologie auf, die sich, nicht zuletzt bedingt durch die vom Nationalsozialismus betriebene Abkoppelung vom internationalen Soziologiediskurs, vor allem in einer Situation des Nehmens und Rezipierens befand. Das lässt sich am Beispiel der Arbeits- und Industriesoziologie zeigen, von der zwischen den fünfziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts wichtige Impulse für die deutsche Forschung ausgingen und die darüber hinaus in zivilgesellschaftlichen Organisationen wie den westdeutschen Gewerkschaften auf Resonanz stieß. Zunächst waren es die Veröffentlichungen von Georges Friedmann über die Grenzen der Mechanisierung (frz. 1947, dtsch. 1952) 18 oder die Zukunft der Arbeit (frz. 1950, dtsch. 1953), 19 die ins Deutsche übersetzt und im DGB-eigenen Bund-Verlag veröffentlicht wurden. Hier wirkte das lebhafte deutsche Interesse an Phänomenen der Entfremdung und Versachlichung in der massiv rationalisierten und taylorisierten industriellen Arbeit als Vektor des soziologischen Transfers, ein Interesse, mit dem die später in den westdeutschen Gewerkschaften programmatischen Stellenwert erlangende „Humanisierung der Arbeit“ teilweise schon soziologisch vorweggenommen wurde. In den sechziger und siebziger Jahren schloss sich daran eine Phase intensiver deutscher Rezeption organisations- und industriesoziologischer Forschungen an, die im Spannungsfeld zwischen kapitalistischer Arbeitsorganisation einerseits sowie Arbeitserfahrungen und Bewusstseinsformen der Beschäftigten andererseits verortet waren. Namentlich die Untersuchungen von Alain Touraine, Michel Crozier, Pierre Naville und Serge Mallet fanden Eingang in den industrie- und organisationssoziologischen deutschen Diskurs, was sich in zahlreichen, teilweise marxistisch beeinflussten Publikationen über „Arbeiterbewusstsein“, eine „neue Arbeiterklasse“ und die technische Intelligenz niederschlug. 20 1974 erschien sogar eine umfangreiche Monographie, die sich ausschließlich mit der Industriesoziologie in Frankreich befasste. 21 10 Dossier Den realen gesellschaftlichen und politischen Hintergrund dieses Rezeptionsprozesses bildete die - im Kontrast zur deutschen Situation - nicht nur relativ enge Beziehung der französischen Industriesoziologie zur empirischen Arbeitswelt, sondern vor allem auch zu einer konfliktorientierten und mobilisierungsfähigen Arbeiterbewegung, die 1968 zu einem kollektiven Hauptakteur im Zusammenhang der studentischen Rebellion, der Massenstreiks, betrieblichen Protestaktionen und politischen Aktivitäten der Linken avancierte. Mit dem Verebben der Bewegung von 1968, einer forcierten „postfordistischen“ Modernisierung und Umstrukturierung der Arbeit sowie der nun beginnenden Krise und Erosion einer militanten Arbeiterbewegung verlor die französische Arbeits- und Industriesoziologie für die deutsche Fachgemeinschaft jedoch wieder an Attraktivität. In der entgegengesetzten Richtung lassen sich vergleichbare Transfers allerdings kaum oder nur punktuell beobachten. So wurde zwar die wegweisende, international anerkannte Studie von Horst Kern und Michael Schumann über Das Ende der Arbeitsteilung (dtsch. 1984) , in der die These einer Aufwertung und Reprofessionalisierung der Industriearbeit trotz gleichzeitiger Rationalisierung und Automation entfaltet wurde, von der Maison des sciences de l’homme 1989 in einer französischen Übersetzung herausgebracht und auch gelegentlich erwähnt oder kommentiert, 22 aber eine so intensive Rezeption und Diskussion wie die der erwähnten französischen industriesoziologischen Protagonisten durch die deutschen Fachkollegen lässt sich nicht auch nur annähernd erkennen, obwohl in Zeitschriften wie Sociologie du travail oder Revue française de sociologie immer wieder einmal Hinweise auf die arbeits- und industriesoziologische Forschung in Deutschland erfolgten. Besaß die französische Arbeits- und Industriesoziologie während des Zeitraums von 1950 bis Ende der siebziger Jahre ein hohes Prestige, so blieb die klassische Theorietradition der französischen Soziologie, vor allem Emile Durkheim selbst, in der Bundesrepublik auffällig unterbelichtet. Eine produktive Auseinandersetzung mit Durkheims Werk und dessen epistemologischen Prämissen wurde sowohl durch das wirkmächtige Pauschalverdikt gegen alles, was seinerzeit als positivistisch galt, im Allgemeinen und ein gegen Durkheim gerichtetes Pamphlet von Theodor W. Adorno im Besonderen erheblich blockiert. 23 Es war in der Fachprominenz nur René König, der den Vorurteilen gegen Durkheim Widerstand entgegensetzte und dessen epochalen Leistungen unbeirrt, sachkundig und differenziert den ihnen gebührenden Stellenwert einräumte. 24 Neben René König ist in diesem Zusammenhang auch Heinz Maus zu erwähnen, der sich, als ehemaliger Assistent von Max Horkheimer einige Jahre der Frankfurter Schule angehörend, als profunder Kenner der Geschichte der französischen Sozialwissenschaften erwies. Zwar die Kritik der Frankfurter Schule am soziologischen Positivismus in wesentlichen Punkten durchaus teilend, wahrte Maus jedoch seine intellektuelle Unabhängigkeit, indem er zu dem von René König seit 1967 herausgegebenen zwölfbändigen Standardwerk Handbuch der empirischen Sozialforschung ein informatives Kapitel 11 Dossier über die „Vorgeschichte der empirischen Sozialforschung“ beisteuerte, das die französischen Anteile angemessen berücksichtigt. 25 Französisches Echo auf deutsche Klassiker Fanden Durkheim und die Durkheim-Schule in der westdeutschen Soziologie, von der Marginalisierung durch die „marxistisch-leninistische Soziologie“ in der DDR ganz zu schweigen, nach 1945 lange Zeit kaum Anklang, so wurde in Frankreich die Beschäftigung mit den theoretischen Paradigmen der deutschen soziologischen Theorie, insbesondere mit Max Weber, nie ganz unterbrochen. Während der letzten beiden Dekaden stoßen Klassiker wie Max Weber, Georg Simmel, Alfred Schütz, Theodor W. Adorno und Norbert Elias sogar deutlich spürbar auf ein neues Aneignungsbedürfnis. Nachdem Raymond Aron schon vor dem 2. Weltkrieg das Werk von Max Weber in Frankreich bekannt gemacht hatte, setzte vor allem seit den sechziger Jahren, also seit der Periode, in der sich sowohl in Deutschland als auch in Frankreich die Soziologie als universitäre Disziplin breit ausdifferenzierte, institutionalisierte und professionalisierte, in der französischen Fachöffentlichkeit eine ebenso lebhafte wie kontroverse Auseinandersetzung mit dem Werk von Max Weber ein. Während Michel Crozier den Bürokratisierungsaspekt in den Mittelpunkt stellte 26 und Raymond Boudon als führender Vertreter des modernen methodologischen Individualismus den Gedanken der Rationalität sozialen Handelns fokussierte, 27 richtete Alain Touraine seine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf das Problem einer die Identität des Subjekts bedrohenden gesellschaftlicher Rationalisierung 28 und ließ sich Pierre Bourdieu insbesondere durch die von Weber analysierten Zusammenhänge zwischen ökonomischer und sozial-symbolischer Logik anregen, so etwa in seinen Studien über die Soziologie der symbolischen Formen, die Grundlagen einer Theorie des sozialen Sinns oder über das religiöse Feld. 29 Diesen im Einzelnen sehr unterschiedlichen Verarbeitungsweisen im Blick auf Max Weber ist das Bemühen gemeinsam, dessen Denken nicht nur deskriptiv zu reproduzieren oder dogmatisch zu übernehmen, sondern eigenständig zu reflektieren und in das je eigene theoretische und methodische Konzept einzuarbeiten. Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Max Weber scheint bis in die unmittelbare Gegenwart hinein ungebrochen, wie unter anderem die von der Maison des sciences de l’homme herausgegebene Zeitschrift Trivium zeigt, die sich ausdrücklich als Medium des Austausches zwischen den französischen und deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften versteht und 2010 ein ganzes Heft ausschließlich der Bürokratietheorie Max Webers gewidmet hat. Jean-Pierre Grossein hat an anderer Stelle die Differenzen zwischen dem authentischen Gehalt des Werks von Max Weber einerseits und den interpretativen Modifikationen und Umdeutungen nicht nur in der französischen Soziologie, sondern auch in der Geschichtswissenschaft andererseits zum Thema gemacht. 30 Neben Max Weber geht gegenwärtig vor allem von Georg Simmel eine gewisse Anziehungskraft aus, was sich in zahlreichen 12 Dossier Einzelstudien, Monographien und Sammelbänden dokumentiert. 31 Es scheinen hier vor allem die von Simmel antizipierten „postmodernen“ Elemente zu sein, welche die französischen Rezipienten zur eingehenderen Beschäftigung mit seinem Werk motivieren, wie dies etwa bei Michel Maffesoli geschieht. 32 Sich sowohl gegen einen systemischen Begriff von Gesellschaft als auch gegen die einflussreiche Individualisierungsthese abgrenzend, beruft sich Maffesoli mit seinem Konzept des „formisme“ explizit auf Georg Simmel und dessen Definition der Soziologie als relationale Wissenschaft „sozialer Kreise“ und „Wechselwirkungen“. Obwohl also in der gegenwärtigen französischen Soziologie die deutschen Klassiker große Beachtung finden, aber auch zeitgenössische soziologische Theorien wie die von Jürgen Habermas und Niklas Luhmann ausführlich gewürdigt werden, 33 besteht ein gewisses Gefälle im transnationalen Austausch fort. Die Präsenz der französischen Soziologie im deutschen Fachdiskurs ist noch immer ungleich größer als umgekehrt, obwohl die Differenz während der letzten zwei Jahrzehnte vielleicht weniger schroff erscheint. Worin liegen die Ursachen für dieses Gefälle und diese Asymmetrie? Die gegenwärtige Situation Neben den sprachlichen Barrieren, einer relativ geschlossenen französischen Wissenschaftskultur sowie einer offensichtlich größeren gesellschaftlichen Problemnähe und Aktualität der französischen Soziologie sind es auch kontextunabhängige Faktoren, welche die nach wie vor existierenden Ungleichgewichte in den Beziehungen zwischen den Soziologien beider Länder miterklären können. So verdankt sich die ungewöhnlich breite, vielschichtige und intensive, sowohl theoretische als auch empirische Aufnahme und Verarbeitung des Werks von Pierre Bourdieu nicht allein dessen alle Register des Faches ziehenden Soziologie, sondern beruht auch auf der epochalen individuellen schöpferischen Leistung Bourdieus, die ja nicht nur in Frankreich, sondern auch international ihresgleichen sucht. Die Wirkungen Bourdieus auf die deutsche Soziologie sind komplex und reichen von persönlichen Kooperationen (etwa mit Franz Schultheis, dem eine wichtige Funktion bei der Vermittlung, Herausgabe und eigenständigen Anwendung der Arbeiten Bourdieus in Deutschland zukommt), über theoretisch vergleichende Studien über Bourdieu und Luhmann, 34 bis zu empirischen Untersuchungen beispielsweise über soziale Prekarität, 35 soziale Milieus 36 und Elitenbildung. 37 Einen neuen Höhepunkt erreichte die Bourdieu-Rezeption mit einem 2009 erschienenen umfassenden Handbuch über dessen Leben, Werk und Wirkung. 38 Dabei fällt auf, dass in dem Maße wie reale gesellschaftliche Ungleichheiten und soziale Exklusion sowohl in Frankreich als auch in Deutschland zunehmen, die sozialkritische Dimension im Vergleich zu früheren Perioden der deutschen Befassung mit Bourdieu, als eher kulturelle und symbolische Aspekte wie die der Habitus- und Lebensstil-Analyse im Vordergrund standen, 39 offenkundig an Bedeutung gewinnt. Das gilt ähnlich für die beachtliche Resonanz, welche die Untersuchun- 13 Dossier gen von Robert Castel über Prekarität und Exklusion, namentlich die Metamorphosen der sozialen Frage (frz. 1995, dtsch. 2000), die Armutsforschung von Serge Paugam und neuerdings die ebenfalls breit angelegte Studie von Luc Boltanski und Eve Chiapello über den „nouvel esprit“ des Kapitalismus in Deutschland hervorgerufen haben. 40 Das Interesse an Boltanski drückt sich ebenso in der Übersetzung seiner wichtigsten, teilweise mit anderen gemeinsam verfassten Publikationen aus wie in Angeboten von Gastprofessuren, Vorträgen und Einladungen zu Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS), die bekanntlich fachwissenschaftlich eine Art nationales Ereignis darstellen. Inzwischen liegen zu Boltanski zahlreiche Veröffentlichungen vor, darunter eine Monographie, ein Sammelband sowie zahlreiche Buch- und Zeitschriftenbeiträge. 41 In umgekehrter Richtung lässt sich eine vergleichbare Komplexität, Verarbeitung und Würdigung aktueller deutscher Soziologieproduktionen nicht ausmachen, obwohl es auf der institutionellen Mikroebene, bei einzelnen Projekten, Workshops usw. zahlreiche Kontakte, Kooperationen und Interaktionen gibt. Es ist deshalb im Großen und Ganzen durchaus zutreffend, wenn eine aktuelle Seminarankündigung des Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne an der Université Paris-Sorbonne mit der lapidaren Feststellung beginnt: „La sociologie allemande contemporaine, dans son versant théorique et surtout empirique, reste assez inconnue en France“. Die Berechtigung dieser Feststellung spiegelt sich auch darin wider, dass eine Gesamtdarstellung der deutschen Soziologie seit der bahnbrechenden Schrift von Raymond Aron bis heute fehlt, wohingegen in Deutschland nach 1945 immerhin mehrere, teilweise umfassende Einführungen, Überblickstexte und Sammelbände über Geschichte, Strömungen, institutionelle Strukturen und inhaltliche Schwerpunkte der französischen Soziologie veröffentlicht wurden. 42 Aber selbst da, wo die deutsche Soziologie auf bestimmten Gebieten - wie dem der Umweltsoziologie - einen Vorsprung aufweist, wurden entsprechende Defizite in Frankreich nur zögernd zur Kenntnis genommen, wobei die Gründe dafür nicht nur in innerwissenschaftlichen Hindernissen, sondern auch in einem lange Zeit geringeren öffentlichen Problembewusstsein hinsichtlich ökologischer Bedrohungen und Umweltschäden liegen dürften. Als prominentes Beispiel lässt sich hier das ein enormes internationales Echo auslösende Buch Die Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne von Ulrich Beck (1986) erwähnen, das zwar auch, aber ungewöhnlich spät, nämlich erst 2001, in einer französischen Ausgabe erschien. Florence Rudolf, eine gute französische Kennerin der sozialwissenschaftlichen Umweltforschung ihres Landes, hat die verspätete Diskussion der Risikogesellschaft von Beck vor allem darauf zurückgeführt, dass die französische Soziologie in ihrer positivistischen Tradition sich eher konkreten empirischen Tatsachen und technischen Mängeln als einer allgemeinen „Krisenanfälligkeit moderner Gesellschaften“ zuwende, wie sie bei deutschen Autoren wie Niklas Luhmann und Ulrich Beck thematisiert werde. 43 14 Dossier Was wäre zukünftig wünschenswert? Erfreulicherweise gibt es aber in der letzten Zeit vermehrt Anzeichen für eine engere Kooperation zwischen deutschen und französischen Soziologen und Soziologinnen, wie zahlreiche gemeinsame Buchpublikationen, Forschungsprojekte, Workshops und öffentliche Aktivitäten belegen. Allerdings könnte der transnationale Austausch qualitativ verbessert werden, wenn es gelänge, ihn dauerhaft zu institutionalisieren. Dies könnte geschehen, indem zum Beispiel eine geeignete bestehende oder neu zu schaffende Einrichtung in Frankreich oder Deutschland einen permanenten wechselseitigen Informationsfluss, gemeinsame Projekte, Veranstaltungen, Netzwerke und Veröffentlichungen über relevante Entwicklungen und Ergebnisse der Soziologie in beiden Ländern ermöglichen, fördern und gewährleisten würde. 1 Laurent Mucchielli: La découverte du social. Naissance de la sociologie en France (1870- 1914), Paris, La Découverte, 1998. 2 Erhard Stölting: Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin 1986, Duncker & Humblot, 64sq. 3 Georg Simmel: „Le problème de la sociologie“, in: Revue de métaphysique et de morale, No 5, 1894, 497-504. 4 Célestin Bouglé: Les Sciences sociales en Allemagne. Les méthodes actuelles, Paris, Alcan , 1895. 5 Christian Papilloud: „Trois épreuves de la relation humaine. Georg Simmel et Marcel Mauss, précurseurs de l’interactionisme“, in: Sociologie et sociétés, N° 2, 2004, 55-72, 57. 6 Edward A. Tiryakian: „Ein Problem für die Wissenssoziologie. Die gegenseitige Nichtbeachtung von Emile Durkheim und Max Weber“, in Wolf Lepenies (ed.): Geschichte der Soziologie, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1981, Bd. 4, 17-28. 7 Emile Durkheim: „Gemeinschaft und Gesellschaft nach Tönnies“ in: Franz Schultheis/ Andreas Gipper (eds.): Emile Durkheim: Über Deutschland. Texte aus den Jahren 1887 bis 1915, Konstanz, UVK, 1995, 217-225. 8 Hans Joas/ Helmut Steiner (eds.): Machtpolitischer Realismus und pazifistische Utopie. Krieg und Frieden in der Geschichte der Sozialwissenschaften, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1989. 9 Christoph Henning: „Der übernationale Gedanke der geistigen Einheit. Gottfried Salomon (-Delatour), der vergessene Soziologe der Verständigung“, in: Amalia Barboza/ Christoph Henning (eds.): Deutsch-jüdische Wissenschaftsschicksale. Studien über Identitätskonstruktionen in den Sozialwissenschaften, Bielefeld, transkript, 2006, 48-100; Hans Manfred Bock: „Gottfried Salomon-Delatour. Ein soziologischer Wegbereiter deutsch-französischer Verständigung und Vordenker transnationaler Begegegnung in der Weimarer Republik“, i.E. 10 Wolf Lepenies: „Deutsch-französische Kulturkriege - Maurice Halbwachs in Berlin“, in: WZB-Vorlesungen, Nr. 10, 2004, 3-19. 11 Stephan Moebius: Marcel Mauss, Konstanz, UVK, 2006. 12 Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Politische Bedeutung, München, dtv, 1988. 15 Dossier 13 Raymond Aron: Die deutsche Soziologie der Gegenwart. Systematische Einführung in das soziologische Denken, Stuttgart, Kröner, 1969. 14 Hans Manfred Bock: „Deutsch-französischer Soziologietransfer im Generationenkontext. Zu Raymond Arons Rezeption der deutschen Soziologie in den 1930er Jahren“, in: Stephan Moebius/ Gerhard Schäfer (eds.): Soziologie als Gesellschaftskritik. Wider den Verlust einer aktuellen Tradition, Hamburg, VSA, 2005, 161-171. 15 Der Aufsatz erschien unter dem Titel „Die neuesten Strömungen in der gegenwärtigen französischen Soziologie“ in der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Soziologie, Bd. VII (1931) und Band VIII (1932). Er wurde unter dem Titel „Bilanz der französischen Soziologie um 1930“ wieder abgedruckt in René König: Emile Durkheim zur Diskussion. Jenseits von Dogmatismus und Skepsis, München, Wien, Carl Hanser, 1978, 56-103. 16 Michael Pollak: Gesellschaft und Soziologie in Frankreich. Tradition und Wandel in der neueren französischen Soziologie, Königstein/ Taunus, Hain, 1978; M. Rainer Lepsius: „Die Entwicklung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg 1945-1977“, in: Günther Lüschen (ed.): Deutsche Soziologie seit 1945, Sonderheft 2 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1979, 25-70. 17 Johan Heilbron: „La sociologie européenne existe-elle? “, in: Gisèle Sapiro (ed.): L’espace intellectuel en Europe. De la formation des Etats-nations à la mondialisation XIX e -XXI e siècle, Paris, La Découverte, 2010, 347-357, 350. 18 Georges Friedmann: Der Mensch in der mechanisierten Produktion, Köln, Bund-Verlag, 1952. 19 Georges Friedmann: Zukunft der Arbeit. Perspektiven der industriellen Gesellschaft, Köln, Bund-Verlag, 1953. 20 Frank Deppe/ Hellmuth Lange/ Lothar Peter (eds.): Die neue Arbeiterklasse. Technische Intelligenz und Gewerkschaften im organisierten Kapitalismus, Frankfurt/ M., Europäische Verlagsanstalt, 1970; Frank Deppe: Das Bewußtsein der Arbeiter. Studien zur politischen Soziologie des Arbeiterbewußtseins, Köln, Pahl-Rugenstein, 1971; Karl H. Hörning (ed.): Der „neue“ Arbeiter. Zum Wandel sozialer Schichtstrukturen, Frankfurt/ M., Fischer Taschenbuch, 1971. 21 Klaus Düll: Industriesoziologie in Frankreich. Eine historische Analyse zu den Themen Technik, Industriearbeit, Arbeiterklasse, Frankfurt/ M., Europäische Verlagsanstalt, 1974. 22 Jean-Philippe Durand/ Robert Weil (eds.): Sociologie Contemporaine, Paris, Vigot, 1997, 2 e édition revue et augmentée. 23 Theodor W. Adorno: „Einleitung „zu Emile Durkheim: Soziologie und Philosophie », Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1970, 7-44; Lothar Peter: „Dialectics of Society versus ‘Conscience Collective’‘? Adorno’s Criticism of Durkheim“, Vortrag an der Humboldt- Universität Berlin, 18. Juni 2010, unveröff. Manuskr. 24 René König: Emile Durkheim zur Diskussion. Jenseits von Dogmatismus und Skepsis, op. cit. 25 Heinz Maus: „Zur Vorgeschichte der empirischen Sozialforschung“, in: René König (ed.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Stuttgart, Ferdinand Enke, 1973, Bd.1: Geschichte und Grundprobleme, 3.Aufl., 21-56. 26 Michel Crozier: Le Phénomène bureaucratique. Essai sur les tendances bureaucratiques des systèmes d’organisation modernes et sur leurs relations avec le système social et culturel, Paris, Editions du Seuil, 1963. 27 Raymond Boudon: La logique du social. Introduction à l’analyse sociologique, Paris, Presses Universitaires de France, 1979. 28 Alain Touraine: Critique de la modernité, Paris, Fayard, 1992. 16 Dossier 29 Pierre Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1974; Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1987; Pierre Bourdieu: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, Konstanz, UVK, 2000. 30 Jean-Pierre Grossein: „Max Weber auf französisch oder Max Weber ‚à la française’“, in: Klaus Lichtblau (ed.): Max Webers ‘Grundbegriffe’. Kategorien der kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, 367- 381. 31 Christian Papilloud: „Trois épreuves ...“, l. c.; Frédéric Vandenberghe: La sociologie de Georg Simmel, Paris, La Découverte, 2001: Lyliane Deroche-Gurcel/ Patrick Watier (eds.): La sociologie de Georg Simmel. Eléments actuels de modélisation sociale, Paris, Presses Universitaires de France, 2002. 32 Michel Maffesoli: Eloge de la raison sensible, Paris, Grasset, 1996. 33 Danilo Martuccelli: Sociologie de la modernité, Paris, Gallimard, 1999. 34 Armin Nassehi/ Gerd Nollmann (eds.): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2004. 35 Franz Schultheis/ Kristina Schulz (eds.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag, Konstanz, UVK, 2005. 36 Michael Vester et al. (eds.): Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 2001. 37 Michael Hartmann: Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Frankfurt/ New York, Campus, 2002. 38 Gerhard Fröhlich/ Boike Rehbein (eds.): Bourdieu-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung, Stuttgart, Metzler, 2009. 39 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt/ New York, Campus, 1997, 7. Aufl. 40 Luc Boltanski/ Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz, UVK, 2003. 41 Tanja Bogusz: Zur Aktualität von Luc Boltanski. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2010; Gabriele Wagner/ Philipp Hessinger (eds.): Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien und Ambivalenzen der Netzwerkökonomie, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2008; Peter Wagner: „Soziologie der kritischen Urteilskraft und der Rechtfertigung: Die Politik- und Moralsoziologie von Luc Boltanski und Laurent Thévenot“, in: Stephan Moebius/ Lothar Peter (eds.): Französische Soziologie der Gegenwart, Konstanz, UVK, 2004; Jörg Potthast: „Der Kapitalismus ist kritisierbar. Le nouvel esprit du capitalisme und das Forschungsprogramm der ‘Soziologie der Kritik’“, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 4, 2001, 551-562; Lothar Peter: „‘Der neue Geist des Kapitalismus’. Stärken und Schwächen eines Erklärungsversuchs“, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, Nr. 62, 2005, 7-24. 42 Josef Gugler: Die neuere französische Soziologie. Ansätze zu einer Standortbestimmung der Soziologie, Neuwied, Luchterhand, 1961; Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie, Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1968/ 1969, Bd.1, 2 und 3; Stephan Moebius/ Lothar Peter: Französische Soziologie der Gegenwart, ..., l. c. 43 Florence Rudolf: „Von einer Krisenzur Risikosoziologie in Frankreich. Ein Beitrag zur Katastrophenforschung“, in: Historical Social Research, N 3, 2007, 115-130. 17 Dossier Résumé: Lothar Peter, Le Transfert sociologique franco-allemand esquisse les relations sociologiques entre les deux pays. Sì, avant 1914, les échanges entre les jeunes disciplines universitaires se développaient d’une manière productive et plus que sporadique, la Première Guerre mondiale interrompa ces débuts prometteurs. Durant l’entre-deux-guerres les contacts actifs entre sociologues allemands et français n’arrivaient pas à se stabiliser et restaient, à quelques exceptions près, à un niveau bas. L’une de ces exceptions rares était la „Sociologie allemande contemporaine“ de Raymond Aron (1935). Après 1945 et en particulier depuis les années 1950, un regain d’intérêt des sociologues allemands à la sociologie française, et tout particulièrement à la sociologie du travail, se dessinait nettement. D’autre part les théories classiques de Durkheim, Mauss et d’autres restaient en même temps assez inconnues en Allemagne. Aujourd’hui, l’oeuvre de Pierre Bourdieu exerce une influence considérable sur le discours et les recherches sociologiques en Allemagne. En fin de compte, l’état des échanges et da la coopération entre les deux pays reste quelque peu asymétrique. C’est la raison pour laquelle l’auteur plaide en faveur d’une amélioration de cet état de choses par une institutionnalisation plus forte de la coopération sociologique transnationale. 18 Dossier Cécile Rol Guillaume-Léonce Duprat (1872-1956), l’Institut International de Sociologie et l’Allemagne dans l’entre-deux-guerres Guillaume-Léonce Duprat compte parmi les figures les plus inclassables de la sociologie française, dont il fut, avant d’en disparaître de la mémoire, un prolifique représentant. 1 Il est au faîte de sa carrière lorsqu’il reprend les rênes du vieil Institut International de Sociologie (IIS) que René Worms avait fondé à Paris en 1893. Dix ans durant, de 1927 à 1937, ce poste lui permet de renouer avec les sociologues allemands, tels Gottfried Salomon, Max Horkheimer et en particulier Leopold von Wiese. Le fil rouge de ce laborieux rapprochement se voulait doublement programmatique. L’avènement de la forme „normale“ de la solidarité des peuples à venir, celle d’un fédéralisme européen intégral, ne pouvait être pensé et réalisé que sociologiquement. Aussi n’y avait-il pas de tâche plus urgente que de fédérer la discipline elle-même. „No ‚school‘ will be permitted to prevail. There is no longer any German, or English, or American, or French sociology“: si la sociologie sortait du „chaos“ stérile des oppositions d’écoles et des traditions nationales, les Etats européens abandonneraient leurs rivalités impérialistes et militaires (Duprat 1936a: 451; 1938: 48sq.). Aussi, la réorganisation de la sociologie était-elle plus qu’un pré-requis. Elle valait comme fin en soi. L’IIS de Duprat - ou plus exactement Fédération internationale des Sociétés et Instituts de Sociologie - existera de 1933 à 1937, sans pourtant atteindre son but. Le néo-organicisme durkheimien par lequel Duprat désirait asseoir rationnellement un fédéralisme politique d’extraction proudhonienne reposait sur une double affirmation du référent français. Or à reprendre la typologie de Bock, si cette prémisse permit à Duprat de substituer à un „regard hégémonique“ sur l’Allemagne une stratégie de rapprochement plus „pragmatique“, la méfiance l’emportera sur l’„empathie“. 2 Outre la politisation des relations franco-allemandes, qui explique en grande partie les limites du transnationalisme de l’IIS dans l’entre-deux-guerres, la collaboration que Duprat voulut initier permet de différencier deux autres variables de ce rendez-vous manqué. La première est un effet de génération dans un contexte de quasi-identité entre l’Ecole sociologique française et celle de Durkheim. La seconde, plus complexe, se rattache au concept de „réseau de sociabilité“. Moins étudiée que l’appartenance politique, institutionnelle ou confessionnelle, l’adhésion à la franc-maçonnerie, qu’elle fût active ou idéale, semble mériter une place dans l’analyse. 19 Dossier Duprat, l’Allemagne et la sociologie avant-guerre Duprat naît en 1872, peu après la défaite contre l’Allemagne, à Léogeats, une petite commune du Sud-Ouest de la France. 3 A Bordeaux, il obtient en 1890 deux baccalauréats, l’un ès lettres, l’autre ès sciences restreint. Cette orientation bicéphale se poursuit dans son cursus. Duprat étudie la philosophie et la sociologie, notamment avec Alfred Espinas et Emile Durkheim, mais aussi la médecine. Jamais il ne tranchera, cherchant au contraire à concilier les deux voies dans son programme psycho-sociologique. Comme le neveu de Durkheim, Marcel Mauss, Duprat décroche sa licence en 1893 haut la main. Il est le premier de sa promotion. C’est un étudiant brillant, prometteur et conscient de l’être, un trait constant de sa personnalité volontiers querelleuse. Le faux-pas ne tarde pourtant pas à venir car à la différence de Mauss, Duprat échoue à l’agrégation. De peu, certes. 4 Mais assez pour se voir condamné à être 25 ans durant un ambitieux Jean-sans- Terre qui jamais n’obtint le poste universitaire convoité. 5 Cet échec à l’agrégation de 1896 constitue le point de départ du positionnement de Duprat envers l’Allemagne, tout comme de son plaidoyer pour un néo-organicisme durkheimien fédérateur en sociologie. Ces deux postures connaîtront au fil des ans d’importantes inflexions. A considérer l’idéal républicain qui les sous-tend cependant, la continuité l’emporte. Le fédéralisme qu’avant-guerre Duprat voulait voir réalisé à l’échelle nationale, il voudra le stimuler dans l’entre-deux-guerres dans un cadre transnational et franco-allemand. Le contre-exemple allemand L’image initiale que Duprat se fit de l’Allemagne est celle d’un contre-exemple, ce qui ne l’empêcha ni de recenser ses collègues d’outre-Rhin, ni de publier tôt et avec zèle dans diverses revues allemandes - bien qu’en français. Ce regard engageait trois pans: la sociologie, qui permet „d’établir d’une façon quasi-scientifique la valeur d’une conception démocratique de la vie sociale“; la philosophie sociale ou morale, qui enjoint à réaliser la loi naturelle de la solidarité; enfin l’éducation politique, moyen principal d’une mobilisation performative de la sociologie (Duprat 1900: 27). De fait, le jeune Duprat ne s’en tint pas à regretter qu’on se désintéressât en Allemagne de ce qui se faisait en France. 6 A ses yeux, les sociologues allemands posaient mal le problème. Hormis peut-être Schaeffle, ni la Völkerpsychologie de Lazarus ou de Wundt, ni même la „volonté sociale“ d’un Tönnies ne le satisfaisaient. 7 Il fallait fixer la discipline autour des concepts issus du solidarisme et de l’organicisme français dont Durkheim, qui „parmi les sociologues français [fut] un initiateur, un maître“, a permis l’éclosion: ceux de „contrainte sociale“, de „conscience collective“ - ou de préférence, puisque c’était sa propre proposition, de „solidarité psychique“ (ibid.: i). Néanmoins, l’avènement conjoint de la solidarité et de la démocratie, „développement normal de la civilisation“ que la prévision sociologique permet d’établir, est comme artificiellement freiné. C’est qu’il manque à la nation, „forme sociale suprême en l’absence d’une organisation rationnelle de l’huma- 20 Dossier nité entière“, une décentralisation, une organisation garanties par une force morale rationnelle (ibid.: 227). A cet égard, Duprat approuve certes que l’Allemagne ait dès 1881 rétabli ses corporations, l’un des meilleurs outils de décentralisation et de représentation organique d’un pays qui soit. Mais son esprit reste aristocratique, monarchique, maintenant le peuple allemand à l’état d’une servitude douce tandis que „Nul pays n’est plus attaché que [la France] à la démocratie“ (ibid.: 2). En Allemagne, la philosophie sociale, qu’elle soit idéaliste ou matérialiste, reste en outre métaphysique. N’étant pas conceptualisée comme une „hypothèse ajoutée à la science afin de concevoir ce qui peut-être et de proposer, comme devant être, le meilleur des possibles, le plus conforme aux aspirations des peuples et aux exigences de la Raison“, la philosophie sociale allemande échoue à offrir à la sociologie l’inscription pratico-politique rationnelle, aux nations la morale socio-démocratique objective qui leur sont dues (ibid.: 113). Pour Duprat, le modèle à suivre ici n’était pas Marx - dont l’esprit est „individualiste“, le socialisme „allemand“ et l’internationalisme „du pangermanisme à peine déguisé“ - mais indéniablement Proudhon. 8 Toutefois, il faut plus que Proudhon, plus qu’une morale scientifique pour réaliser la solidarité organique et démocratique dont la sociologie arrête la nécessité. A la „démocratie intégrale“ correspond un „enseignement intégral“, universitaire comme élémentaire, scolaire comme para-scolaire. Or l’Allemagne et son système éducatif délaissent le citoyen: rien n’est fait pour le rendre apte à prendre part au gouvernement. Duprat déplorait d’ailleurs qu’on l’imite trop en France sur ce point, et voyait dans l’agrégation ou le baccalauréat des institutions sclérosées typiques du „péril que fait courir à l’éducation nationale une Université où tant de bons esprits perdent leur temps à imiter les pédants allemands“ (Duprat 1902a: 190). Partant, la réforme de l’ensemble du système éducatif français devenait sinon une croisade, du moins un étendard politique (Duprat 1912: 488-496). Cet idéal éducatif d’une édification sociocratique de la démocratie que Duprat défendait „avec la chaleur de l’apostolat et la vive conscience du devoir civique“ (RIS 1900: 131), fut intimement lié à la franc-maçonnerie, à laquelle il s’initie en 1897, peu après son échec à l’agrégation. Dans ce contexte, il se peut certes que ce soit „en sociologue qu’il aborda la Franc-Maçonnerie, convaincu que ‚la méthode maçonnique‘ était le parangon des modèles éducatifs qu’il cherchait à définir et qu’il exprimait encore en 1920“. 9 Mais c’est en franc-maçon proudhonien bien plus qu’en sociologue qu’il abordait le modèle éducatif, social et politique allemand. Le conflit en lui-même ne pousse pas Duprat à changer ses vues sur l’Allemagne. Dans ses recensions, il cautionne l’idée que l’Allemagne a „trompé, insulté, martyrisé“; que pour „en venir à ce point de folie homicide ou prédatrice“ il faut que ce „peuple soit tout entier malade, perverti intellectuellement et moralement, victime d’un égoïsme monstrueux et d’un mysticisme guerrier auprès duquel pâlit celui des plus sinistres orientaux“ (RIS 1916: 655, 594). Cet „état d’esprit collectif“ typiquement germanique, que Duprat souhaitait „analyser ultérieurement“, devait beaucoup à la vieille ritournelle du „pédantisme inintelligent“ des universitaires d’outre-Rhin (ibid.: 94, 655). Toujours haineux envers la métaphysique alle- 21 Dossier mande, l’Aufklärung et ses suites en prenaient pour leur grade: „Kant, essayant de passer de la morale théorique à la morale pratique, a été amené en définitive à faire l’apologie du pouvoir despotique de l’Etat; il a contribué […] à la diffusion des idées étatistes, qui sont aujourd’hui le fondement de l’obéissance passive de presque tous les Allemands à quiconque personnifie le pouvoir illimité, indiscutable, indivisible, de l’Etat“ (Duprat 1924a: 231sq.). Sans même parler de Nietzsche, tous, de Hegel à Herbart, avaient été les artisans de cet „esprit de discipline qu’une éducation essentiellement militariste et mégalomane […] maintient au profit d’une tendance à la domination universelle, d’un impérialisme pangermanique“ (ibid.: 189). La messe était dite. En revanche, Duprat était très inquiet des conséquences que ce conflit charriait dans son sillage. Outre les ruines, les morts et les traumatismes, la „torpeur morale“ règne partout en Europe. La guerre a renforcé cet „esprit nouveau, essentiellement individualiste“ issu de „l’industrialisme et de la démagogie“ - un esprit qui, tel la gangrène, „travaille sans relâche“ à la dissolution des agrégats sociaux (Duprat 1924a: 240, 206-210). Si cette crainte est ancienne dans sa pensée, elle trahit pourtant une importante rupture. Au-delà de la phobie de l’amputation, dont il se peut qu’elle ait été décuplée par l’expérience de la guerre durant laquelle Duprat est actif comme médecin, 10 l’esprit qu’il indexe va au-delà du marxisme et des révolutions russes ou allemandes. Il va même au-delà d’un capitalisme débridé que Duprat, la crise aidant, qualifiera volontiers de ploutocratique. Fait nouveau, c’est désormais la conception étroite du mot „nation“ qui est en cause. Duprat se voit contraint de constater que le patriotisme français n’a pas été un „amour éclairé“ mais aveugle, qu’il n’a pas été inspiré „par une connaissance de plus en plus précise des conditions [… et] des lois du devenir social“, mais par le profit et la crédulité (Duprat 1900: 288). Voilà ce qu’actualisait la subite occupation de la Ruhr en 1923: „après la guerre la plus effroyable“ qu’a connue l’Europe, le nationalisme et l’ignorance entre les peuples - „a fortiori entre Allemands et Français“ - débouche sur une une ingression dont, en dehors „des esprits simplistes, personne ne croit qu[’elle] puisse amener une solution“. 11 L’alternative qu’il fallait chercher à bref délai confortait son credo: face à la „désintégration sociale que la guerre mondiale n’a fait qu’accroître et accélérer“, tout ce qui tend „à l’intégration progressive des forces dues à la différenciation, à la division du travail social […] est un gain pour le progrès de l’humanité vers la solidarité organique, fin sociale par excellence“ (Duprat 1929: 562, 567sq.). Afin de lutter contre le fractionnement de la „grande civilisation“ européenne, le sociologue devait donc penser un transnationalisme dont les vertus intégratrices et contraignantes soient saines. Partant, le rapprochement des peuples, en particulier entre la France et l’Allemagne, n’était plus une rêverie littéraire, mais une impérieuse nécessité. 22 Dossier Entre méthode et politique: Duprat et le néo-organicisme durkheimien Après l’échec à l’agrégation, Duprat se rapproche de deux sociologues tenus d’ordinaire pour opposants de Durkheim: Gabriel Tarde et René Worms. Ce nonconformisme fut d’autant plus déroutant que Duprat a tôt argué n’être „pas un sociologue“, s’affichant au mieux comme un „disciple souvent infidèle“ de Durkheim (Duprat 1900: 1). Nul doute cependant que Duprat était alors „l’élève le plus zélé de Durkheim“, ainsi que le glissera insidieusement von Wiese. 12 Sa démarche, qui visait bien une réconciliation entre les figures les plus en vue de la sociologie, exprimait d’une part le désaveu de toute une génération plus jeune pour qui leurs polémiques constituaient un préjudice à tous égards. D’autre part, c’est en recourant aux arguments critiques de Durkheim que Duprat pensait, en les utilisant au sein même de pôles adverses, parvenir au but. Il le fit avec Tarde 13 et surtout avec Worms, de tout juste trois ans son aîné. L’intensive collaboration que Duprat lui offre dès 1898 au point de s’imposer comme le „workhorse reviewer“ de la Revue internationale de sociologie (RIS) n’avait pas seulement pour but de faire aussi bien que L’Année sociologique de Durkheim. 14 Il s’agissait encore de maîtriser depuis l’intérieur les excès de l’organicisme dont Worms s’était fait le chantre. A l’instar de Durkheim, dont les premiers écrits s’inscrivent d’ailleurs dans ce paradigme, 15 Duprat a clairement voulu réduire l’organicisme a minima en excluant l’existence de „prétendues races“ - terme qu’il conjugue au subjonctif et entre guillemets - puis en dénonçant l’abus de comparaisons bio-sociologiques (Duprat 1902b: 413; 1907: 10sq., 99). Mais bien que pris à corrections, l’organicisme restait un point de départ analytique auquel ni Duprat ni Durkheim n’entendaient renoncer. Epistémologiquement d’abord, la perspective organiciste semblait éviter l’écueil d’une conception ontologique de la société dans la mesure où elle fondait scientifiquement le fait social fondamental d’une solidarité organique dont il était possible d’induire des lois. L’organicisme permettait d’asseoir „l’existence par soi, naturelle, de la vie sociale“ - ou, et ici Duprat reprenait les termes de Durkheim, de la „contrainte“ (Duprat 1902b: 413). En revanche, c’était la solidarité, non l’idée d’organisme, qui constituait la finalité du discours sociologique. Ce terme de „finalité“ renvoie à un second ordre de raisons pour lesquelles l’organicisme restait un moment nécessaire pour Durkheim comme Duprat: il justifiait un réformisme politique qui se voulait positif. De même que Durkheim indexait non la loi de la division du travail mais les conditions externes anormales de „désintégration“ qui la „dénaturent“, 16 préservant sa finalité, de même Duprat avançait que si la société n’était pas un organisme biologique, elle n’en restait pas moins une organisation qui, si elle prenait des traits pathologiques, exigeait une réorganisation par rétablissement de la solidarité organique. Hormis le puissant correctif de la morale civique, Durkheim convoquait les groupes professionnels ou „corporations“ au chevet de „cette inorganisation que l’on qualifie à tort de démocratie“. 17 „Notre action politique consistera à créer ces organes secondaires“ revendiquait-il, ces „organes normaux du corps social“. 18 Or tandis que Durkheim ne s’engagea in fine jamais dans cette 23 Dossier voie, Duprat s’emploiera corps et âme à relayer le credo que ces groupes seraient à l’avenir la base de la représentation politique et sociale. La „conception politique correspondant à la sociologie est purement ‚sociocratique‘, c’est-à-dire exclusivement favorable à la représentation des ‚unités sociales‘“ incarnant les „divers intérêts essentiels du pays“, prêchait-il ainsi en 1913 (Duprat 1913: 682). Ni partis, ni classes, simples „caricatures“ de représentation nationale, Duprat songeait par là aux „collectivités constituées“: corporations professionnelles, syndicats, associations, loges, ligues et instituts divers, sortes de „circonscriptions morales ou catégories sociales“ (ibid.: 689). Ces vues qu’il jugeait „fort rapprochées“ de celles de Durkheim „en ce qui concerne le système électoral fondé sur la classification des citoyens en castes professionnelles“ (Duprat 1900: 306), Duprat tentera de les mettre en pratique en tant qu’éducateur, moraliste et franc-maçon proudhonien. L’équation entre Etat politique et nation sociale passerait ainsi par „l’artifice d’une fédération de petites démocraties“ (ibid.: 142) - fédérations sociocratique de cités, de corporations ou groupes d’intérêts sociaux et moraux déterminées par la fonction occupée au sein de la structure. C’est au service de cet idéal que Duprat développera son programme d’une morphologie sociale des faits sociaux „auquel il resta fidèle sa vie durant“. 19 Si fidèle qu’il se voudra plus durkheimien que Durkheim lorsque ce dernier, à la veille de la Grande Guerre, s’émancipera de ce schéma. A partir de 1912 en effet, Duprat commence à s’agacer du „sociologisme durkheimien“. Au début à voix basse et à mots couverts, puis à la fin de la guerre à voix haute, voire criarde. Durkheim était la cause de tous ses maux. Sa carrière personnelle d’abord, puisqu’il attribuait pour partie son échec à entrer dans l’Université française au mandarinat de Durkheim. 20 Le déni du maître face à l’apport des élèves ensuite, car Duprat espérait plausiblement se voir cité. 21 Enfin - et pour Duprat par conséquent - Durkheim était coupable du non-avancement, du piétinement sur place de la sociologie. Certes Duprat a pu refuser „la répudiation passionnée“ au nom de „l’examen impartial et serein“, rappelant que Durkheim eut „les qualités de ses défauts“ (Duprat 1922a: 340). Il y a bien une gradation dans la dénégation de Durkheim qui atteindra son apogée à la veille de 1939. Mais dès 1912, son attaque est déjà polémique. Elle exprime clairement un mécompte, le sentiment d’avoir été la dupe d’un programme que Durkheim abandonnait de plus en plus. D’où les deux critiques majeures que Duprat affinait au fil des ans. La première porte sur la relativisation progressive du finalisme de la solidarité organique chez Durkheim qui culmine en 1912 dans son ouvrage sur le totémisme australien, les Formes élémentaires de la vie religieuse. Or pour Duprat, la finalité constitutive de la solidarité n’est pas négociable car tout amoindrissement de sa force déterminante revient à saper les fondements mêmes d’un réformisme sociopolitique. Voilà l’amer constat qu’il formulait en 1932: „Durkheim n’a pas eu à un moindre degré que Comte l’ambition de faire servir la sociologie à une profonde réforme sociale. Mais tout en posant la santé comme fin éminemment souhaitable, il n’a pas su voir ce qu’est la maladie, et sa pathologie, radicalement viciée par des 24 Dossier conceptions de statisticien, a manqué de netteté. Du moment où le crime, le suicide, les délires collectifs [… sont] des ‚imperfections nécessaires‘, c’est que le consensus social, l’unité organique n’est qu’une fin ‚théorique‘“ - et non pratique (Duprat 1932a: 136). Sa stratégie consistera alors à inverser la perspective organiciste dans sa sociologie. Tandis qu’avant-guerre la „solidarité organique“ offrait une réflexion sur la possibilité de la discipline dans un contexte national - „La solidarité est donc, en définitive, la condition de l’existence et de la connaissance scientifique des phénomènes sociaux“ disait-il en 1907 (Duprat 1907: 162) - „la solidarité organique, fin sociale par excellence“ inaugurait au contraire après-guerre l’ère de la „finalité ‚hyper-organique‘“ d’une sociologie en acte au service de la réalisation de l’idéal de l’intégration fédéraliste et européen (Duprat 1929: 567sq.; 1924a: 117sq.). Corrélativement, Duprat fera tout pour déloger Durkheim de son panthéon personnel, quitte à verser dans le parricide. La manœuvre consistera à extirper de la „conspiration du silence“ les victimes du succès de Durkheim, telles Espinas par exemple. 22 Mais c’est avant tout un précurseur que Duprat s’échinera à trouver en Proudhon, Proudhon qui fut „un véritable sociologue“, et peut-être le premier en France car „il a admis (tout comme M. Durkheim, et bien avant que celui-ci formulât la même pensée avec l’intransigeance dogmatique que l’on sait), une ‚réalité sociale‘, différente de de la simple résultante des réalités individuelles“ (RIS 1912: 639). Durkheim ne se serait pas contenté de s’en inspirer, ajoutait Duprat: il lui „a emprunté, sans jamais le citer, presque toute la sociologie de sa ‚Division du Travail social‘“ (Duprat 1929: 528). Idem pour les Formes élémentaires, „ouvrage estimable“ dans la mesure où c’est Proudhon qui le premier a „formulé la théorie socio-religieuse qui paraît l’une des plus originales de M. Durkheim: les dieux sont l’apothéose de la force sociale“ (Duprat 1935b: 180; RIS 1912: 640). Pourquoi ne pas préférer l’original à la copie? Implicite, la question était pour Duprat d’autant plus aiguë que Durkheim n’aurait pas seulement „plagié“ Proudhon en le „dénigrant déloyalement“; il en aurait aussi biaisé l’interprétation politico-pratique (Duprat 1932a: 139, 262). Comme Proudhon, Durkheim était à deux doigts de „concevoir un socialisme épuré, tout proche de la ‚théorie de la société ou science sociale’“ - mais il l’a vidé de son idéal d’une „pleine unité organique“ (Duprat 1929: 528sq.). Car en considérant comme élémentaires „les formes les plus reculées“, Durkheim aboutit à un relativisme moral et politique où la loi clanique vaut autant sinon plus que d’autres (Duprat 1922b: 480). Face à ces „négations qui prétendent arrêter le progrès“, Duprat se veut catégorique: la différenciation sociale ne tend pas à réaliser „la conformité, comme l’avait pensé Durkheim“, mais „la constitution progressive d’une humanité, où le Droit, la Responsabilité, la Justice, la Fraternité ne seront pas de vains mots“ (ibid.: 481). La seconde critique adressée à Durkheim découle de ce premier grief et renoue en même temps avec le constat que Duprat portait sur le rapprochement francoallemand au lendemain de la guerre. La représentation politique nouvelle, prometteuse d’une „démocratie intégrale“, n’avait pas plus eu lieu en France qu’ailleurs, accentuant la dissolution des nations. Par contre, la guerre avait entraîné une plus 25 Dossier grande interdépendance entre elles. Dissolution volontaire versus intégration forcée. Comme Durkheim, Duprat continuait de penser que seule „une constitution démocratique des différents peuples est la condition préalable de la fédération des nations socialistes“ (Duprat 1926c: 15). En revanche, il ne partageait plus avec Durkheim le doute que l’humanité soit jamais organisée en société. En soi, c’était peut-être „en vain“ qu’on envisage une confédération européenne car elle serait en définitive une nation particulière, mais non l’humanité. Or dans cette conjoncture d’après-guerre, Duprat était d’avis que cette „vanité“ n’était pas inutile. A l’état de désintégration pathologique actuel des nations, „la politique internationale peut substituer un état pathologique opposé: celui d’une autorité internationale oppressive“ avant que par une „synthèse adaptative d’antithèses successivement prépondérantes“, on en vienne à l’émergence de démocraties nationales intégrales, réquisit d’un fédéralisme international spontané et libre (Duprat 1926c: 20). La précipitation du sort des démocraties dans l’entre-deux-guerres, les contradictions de la SdN et la montée du nazisme pousseront Duprat à décupler ses griefs à Durkheim, des griefs pour partie contradictoires et marqués par une déception exponentielle. Mais en 1922 la cohérence de son bilan - une révision négative de Durkheim d’une part, une disposition positive à une entente francoallemande de l’autre - en était encore exempte. Elle reposait sur un même mouvement d’ensemble de sa pensée: le terme „organique“, que Duprat appréhendait dans un sens plus normatif que jamais. 23 Duprat, la chaire de Genève et la reprise des échanges franco-allemands Après de longues tractations, Duprat monte sur la chaire de sociologie et d’économie sociale de l’Université de Genève en 1922. Le contexte d’hostilité relative au durkheimisme lui est propice et Duprat semble bien avoir été choisi pour s’opposer au „maître“. 24 Surtout, dès sa leçon inaugurale, il ne cache pas que ses espoirs sont grands: „Une chaire de sociologie à Genève, siège de la Société des nations, le centre de l’humanité nouvelle, si accueillante à tous, peut avoir un grand rayonnement“. 25 De même que les nations doivent apprendre à se comprendre et coopérer afin qu’un régime juridique commun paraisse „possible et désirable“, de même les éducations nationales doivent-elles cesser de dresser les générations les unes contre les autres (Duprat 1926c: 7, 11). Aussi Duprat traite-t-il de „l’esprit scientifique en sociologie politique et économique“ et met la dimension pratique de la discipline au service d’une „éducation politique des peuples“ que les sociologues, „prédécesseurs des hommes politiques“, pourraient, depuis Genève, définir et organiser afin d’éliminer toute nouvelle conflagration mondiale. Les sociologues, c’est-à-dire vu de Genève moins Halbwachs à Strasbourg que von Wiese à Cologne, Oppenheimer à Francfort, et dans cette droite ligne les membres de la Société allemande de Sociologie (DGS) qui vient juste de se reconstituer en prenant pour modèle les statuts de l’Institut International de Sociologie. 26 La coïnci- 26 Dossier dence est d’autant plus déterminante que dès 1921 von Wiese donne des comptes-rendus détaillés des organes de Worms et tente de convaincre le président de la DGS, Ferdinand Tönnies, de gagner des membres correspondants à l’étranger. Choqué de la discrimination de la science allemande, Tönnies freine des quatre fers, mais bien qu’épineuse, l’affaire suit son chemin. 27 Gooch et Russel pour l’Angleterre, Park en Amerique, Gini et Cosentini pour l’Italie, Steffen et Helander pour la Suède… En 1925, il y en aura 38 en tout - mais pas encore un seul Français. Il faudra attendre l’impact décisif de Gottfried Salomon pour que les choses prennent leur essor. De Gottfried Salomon à Leopold von Wiese 1925: un grand nom des échanges franco-allemands, Gottfried Salomon, invite divers savants français à publier dans son Jahrbuch für Soziologie pour „mettre un terme à l’isolement de la science allemande et rendre à nouveau possible une collaboration internationale telle qu’elle s’esquissait déjà dans les sciences naturelles, du fait de l’urgence et d’une meilleure organisation“. 28 Le terme de sciences naturelles est ici doublement décisif. En tant que modèle d’un transnationalisme viable et efficace d’une part, en tant qu’intérêt pour l’organicisme de l’autre, car, ayant été à selon lui rejeté pour les mauvaises raisons, il exigeait un bilan au même titre que le durkheimisme. C’est en ce sens que Salomon dirige la traduction allemande du dernier livre de Worms, parue en 1926, et qu’il contacte ses bras droits les plus influents: Gaston Richard, Achille Ouy, last but not least Duprat, l’un des plus prompts à lui répondre. Il signera dans le Jahrbuch „Soziale Typen oder soziale Klassen? “ - cum grano salis son premier et unique article en allemand. Cette invitation au bilan dans un esprit européen et francophile que Salomon, par ailleurs traducteur de Proudhon, lui propose, correspond exactement à son humeur et ses stratégies du moment. Il pense comme lui que la reprise des relations entre sociologues allemands et français doit obligatoirement prendre pour modèle celui des sciences naturelles. Parce qu’il permet l’évitement de querelles, 29 Duprat y voit la possibilité de rallier autour d’une nature sociale conjointement identifiée et poser les soubassements d’une „morphologie sociale à base éthologique“ (Duprat 1922b: 470ssq.). Mais il y trouve encore le moyen de remplacer la politique „vulgaire“ ayant jusqu’ici prévalu par une politique „noble“, une technique sociale efficace basée sur „une hygiène, une prophylaxie, une thérapeutique, qui ressemblent en tous points à celles qui reposent sur la biologie générale et spéciale“ (Duprat 1926b: 10). Le modèle organiciste est l’occasion de précipiter l’avènement d’une sociologie pure: non pas comme une sociographie ou une philosophie sociale plus ou moins ingénieuses, mais comme science „des formes typiques et des relations essentielles entre variations de formes génériques ou spécifiques“, seule capable d’entamer une „prévision“ de l’anormal, et donc d’éliminer les „vers rongeurs“ de la structure (ibid.; Duprat 1929: 521). Enfin pour Duprat, tout nouveau vice-président du Cercle international de Genève pour l’entente européenne, membre actif du Centre d’études et d’action sociales et du Groupement universitaire pour la S.d.N 27 Dossier de Genève, l’horizon de ce programme à la fois organiciste et formaliste d’aprèsguerre reste l’idéal fédéraliste et maçonnique hérité de Proudhon. La S.d.N., encore trop fragile, a besoin d’une clef de voûte idéale et sociologique afin de devenir une véritable „Ligue Universelle des Peuples“, respectée de tous parce qu’elle aura une „âme“ et non un simple „apparat diplomatique et des occasions de dépenses aussi vaines qu’énormes“ (Duprat 1924b: 16). Le formalisme pour agir. Les jalons de l’entente entre Duprat et von Wiese semblaient tout posés. Fin 1927, Duprat contacte von Wiese et Tönnies. Les raisons sont très prosaïques. La Société de Sociologie de Genève que Duprat a fondée en 1926 sur le modèle de Worms est „déjà florissante“ (AIIS 1928: 68). De plus, Worms vient de mourir et l’IIS est moribond. Craignant que la concurrence de l’Institut international de coopération intellectuelle ne lui porte l’ultime coup de grâce, Duprat tente un coup de poker et prend en charge la tenue du prochain congrès sur le thème „Les causes profondes des guerres et les conditions d’une paix durable“. Cette opération de sauvetage qui lui vaut d’être nommé vice-président de l’IIS lui permet de mettre en place une triple stratégie. D’abord, il a champ libre pour opérer une refonte fédéraliste de l’IIS dans l’espoir de mieux structurer la collaboration sociologique autour d’une méthode acceptée de tous. S’il y parvenait, il saisirait l’occasion de s’imposer comme le sociologue de l’heure. D’autre part, il s’agissait de contrôler l’apparition d’adeptes de la dictature au sein de l’Institut. 30 Enfin, si Duprat souhaitait en „revenir à l’état de collaboration internationale d’avant-guerre“, 31 c’est qu’il était convaincu que les initiatives prises par l’IIS seraient entendues par la SdN qui en profiterait pour se réformer et s’imposer. Or pour remplir ces objectifs, le concours de l’Allemagne était indispensable. Dès 1927, il le dit à von Wiese: „Le vœu de tous les Membres actuels de l’Institut est de voir les Sociologues allemands ou de langue allemande reprendre la place qu’ils occupaient autrefois et qui leur revient dans ces grandes assises du savoir sociologique“. 32 Wiese l’invite - tant que l’affaire n’est pas réglée, à titre de président de la Société de Sociologie de Genève - au Zürcher Soziologentag de 1928. Duprat ne s’y rend pas mais fait patte blanche, envoyant un mémoire sur la „physiologie des migrations“, quelques délégués, puis réitère sa demande. Assez pour dissiper les dernières réticences de Tönnies. En octobre 1928, l’affaire est jouée: „Tous les sociologues allemands qui faisaient partie de l’Institut avant 1914 ont été réintégrés comme Membres: MM. Goldscheid, Jaffé, C. Menger, W. Ostwald, Pikler, Sombart, Vierkandt, Warschauer, Wasserab, Stein, Tönnies entre autres“ tandis que von Wiese, Salomon, Oppenheimer et Pribram, si actif au BIT, sont nommés membres associés. Quitte à faire revivre des morts au passage, c’était déjà „un véritable enrichissement“ en termes d’effectifs. 33 En avril 1929, Duprat est nommé membre correspondant de la DGS, von Wiese et Tönnies devenant pour leur part „membres d’honneur“ de la Société de sociologie de Genève. Plus rien ne semble devoir arrêter l’échange de bons procédés. A cet égard, le Congrès de Genève de 1930 eut certes lieu „devant un public clairsemé“, mais l’Allemagne, „sympathique à [son] œuvre“, était „brillamment représentée“ grâce à von Wiese, „l’éminent sociologue de Cologne“. 34 C’est 28 Dossier un début qui permet à Duprat de reprendre la fonction capitale de secrétaire général - initialement jusqu’en 1943! -, tandis que von Wiese lui succède comme viceprésident, de 1930 à 1933. Ils avaient trois ans, jusqu’au prochain congrès de l’IIS, pour s’apprivoiser. La rupture de 1931 1931 semble avoir ouvert une brèche de taille dans cet élan. Tout d’abord, le projet de réforme de la représentativité nationale hérité de Durkheim bat de l’aile. Duprat peut bien affirmer que „Les expériences de corporatisme faites en Espagne et en Italie, sous le régime dictatorial, ont montré combien il est aisé pour l’Etat de se servir des organes de conciliation et de coordination pour subordonner toute l’activité syndicale aux fins d’une puissance que ni Proudhon ni Durkheim […] n’auraient admise“ (Duprat 1931c: 618). Il n’en reste pas moins qu’il est mis devant l’ambivalence d’un constat largement réitéré depuis: „l’organicisme peut soutenir à peu près toutes les options politiques“, se présentant „sous un jour ‚démocratique‘“ comme „sous un jour despotique, voire ‚totalitaire‘“. 35 Duprat oscille. D’un côté, il cherche à sauver sa valeur de contre-pouvoir et opère un glissement. Ce n’est plus la corporation, mais le syndicalisme qui, ayant „complètement modifié la conception de la démocratie […], est appelé à fournir une nouvelle base à toute l’organisation politique et économique“; inversement le corporatisme, simple „accident dans la civilisation occidentale contemporaine“, devient une „machine de guerre contre le syndicalisme“, un „facteur de trouble social“ au service „d’un pouvoir qui n’a plus la vitalité suffisante pour s’opposer longtemps aux inéluctables transformations de la vie sociale“ (Duprat 1931b: 3sq., 28). De l’autre côté et presque en contrepartie, Duprat donnait à sa critique de Durkheim toujours plus de volume. Il ne s’agit plus de lui reprocher un finalisme frileux. Duprat l’accuse désormais d’hypostasier la Société et d’être par conséquent un agent du nationalisme individualiste, cette conception nettement „anti-sociologique“ qui légitime l’omnipotence de l’Etat. Comme pour mieux les articuler, Duprat rattachait dès lors les deux facettes de ce discours à une seule et même cause, hautement sujette à caution dans ce contexte: le judaïsme. „Le nationalisme contemporain, surtout celui de l’Italie fasciste et de l’‚Action française‘ trouve sa justification chez Durkheim“, écrivait-il ainsi, car il n’a „pas conçu d’unité sociale plus haute que la nation, de sentiment social plus relevé que le patriotisme, car il n’a pas admis une entité telle que l’Humanité. […] Dans son livre fort belliqueux (comme le furent souvent ceux des non-combattants) ‚L’Allemagne au-dessus de tout‘, il s’est montré chauvin; il a attribué au génie allemand ‚une sauvagerie systématique‘. Ailleurs il s’est montré partisan d’une éducation nettement nationaliste. Il paraît de plus en plus certain que le fondateur du sociologisme ‚français‘ était pénétré comme beaucoup de ses coreligionnaires de la croyance à la légitimité d’une véritable tyrannie du groupe: la nation étant le groupe idéal à ses yeux devait avoir les pouvoirs les plus étendus“ (RIS 1932: 81sq.). 29 Dossier La seconde cassure qui devient nette à partir de 1931 concerne le scepticisme grandissant de Duprat quant aux marges de manœuvre de la S.d.N. et du B.I.T. qui lui paraissent „minimes par rapport aux nécessités d’intervention et de profonde transformation admises à la suite d’une étude sociologique approfondie“. 36 Quitte à s’attirer les foudres, il ne mâche pas ses mots contre les institutions genevoises mais consent à faire le poing dans sa poche: il est peut-être encore temps d’agir en Allemagne. C’est ainsi malgré tout sous la rubrique „Guerre mondiale et désarmement“ qu’est annoncée la conférence qu’il tint, sur invitation de von Wiese, le 3 juin 1931 à l’Université de Cologne. 37 Elle portait sur la sociologie de Comte et Durkheim et fut reproduite dans un volume collectif dirigé par Fritz Karl Mann: Gründer der Soziologie. Dans sa recension du livre, Borkenau n’a pas manqué de relever combien Duprat fut arbitraire en présentant Durkheim comme „Herold alles Falschen“. 38 Et pour cause. La mécanique sociale durkheimienne constitue une pure régression: „Comte avait du moins montré la voie; Durkheim en a détourné ceux qui, comme lui, s’étaient accoutumés à la dialectique, sans aucune culture scientifique“ (Duprat 1932a: 120, 139) - comme lui, c’est-à-dire comme „ses coreligionnaires, K. Marx, Bergson, Freud, Einstein“ - autant d’auteurs que Duprat abhorrait pour exercer une „véritable hégémonie“ mondiale (ibid.: 111). Le schème de la conspiration est d’autant plus tangible que c’est bien le juif Durkheim que Duprat incrimine ici. Durkheim a „dévié“ de la bonne trajectoire qu’il avait pourtant à ses débuts empruntée car „il a été porté par son esprit foncièrement ‚talmudique‘“(ibid.: 139, 262). Voilà pourquoi il „n’a nullement appliqué cette ‚méthode comparative‘ qu’il proclamait fondamentale“, renonçant au programme d’une morphologie comparée (ibid.: 123). Voilà pourquoi il n’a rien compris à Proudhon. 39 Et de conclure, non sans cynisme puisqu’il oubliait pour l’occasion ses propres écrits de guerre: „Nous ne voulons pas retenir ici l’opposition, affirmée par Durkheim en 1916, du génie français et de l’esprit allemand. Cependant, la ‚psychose de guerre‘ n’eût pas dû agir sur un sociologue“ (ibid.: 140). Qu’il fallait, une fois ceci posé, compter sur les „aptitudes complémentaires des principales nations qui sont à la tête de la civilisation occidentale“ pour régler le problème du consensus social dans sa forme actuelle - la conclusion était pour le moins expéditive. C’est paradoxalement sur cet argumentaire fragile et ambigu que Duprat entendait investir les échanges franco-allemands - méthodologiquement, dans le but de cimenter la sociologie au sein de l’IIS, comme politiquement, puisqu’il s’agissait de pousser ses collègues allemands à prendre une position plus marquée sur la politique internationale. Paradoxalement en effet, car Duprat utilisera bel et bien l’épouvantail du „talmudisme“ méthodologique de Durkheim afin de rallier von Wiese à sa démarche néo-durkheimienne dans l’espoir d’une dénonciation commune du nationalsocialisme. Le double paradoxe de l’indexation de la sociologie durkheimienne Suite à la visite de Duprat à Cologne, von Wiese sollicite son collègue à publier un article sur „Les faits sociaux“ dans ses Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie. In- 30 Dossier versement von Wiese est prié de donner une „Sociologie relationnelle“ à la Revue Internationale de Sociologie (RIS 1932: 27-56). La convergence n’était que de façade. Pour sa part, Duprat affirmait que la Beziehungslehre de von Wiese était „aussi une sociologie ‚fonctionelle‘“: reposant sur une conception qui „n’exclut nullement la finalité“, elle conduit „nécessairement […] à une sociologie de la structure et de comportements collectifs“ analogue à celle que Duprat appliquait aux problèmes politiques internationaux pour les anticiper et y répondre (Duprat 1932b: 280, 289). Von Wiese voit rouge. Il décide „exceptionnellement“ de publier le texte de son collègue en français, alléguant de „difficultés“, lors de ses „tentatives de traduction“, à rendre convenablement „certaines phrases“ en allemand (ibid.: 272). La Beziehungslehre ne s’annexerait pas à une sociologie néo-organiciste d’inspiration durkheimienne. Qu’en 1934 von Wiese avise Duprat „avec beaucoup de peine“ que son Institut de Cologne, suite aux consignes du régime, doit mettre la clef sous la porte, l’aveu ne change rien à la donne. Ce „malheur a seulement ceci de bon que je pourrai désormais prendre plus activement part“ aux travaux de l’IIS, ajoutait-il certes, mais il s’agissait surtout d’une bouteille à la mer, au cas où son collègue puisse „l’aider“ à obtenir une chaire en Suisse. 40 Leur dispute se poursuivra d’ailleurs au fil des congrès suivants de l’IIS, sans qu’aucun d’eux ne cède d’un pouce. Au XII e congrès de Bruxelles, en 1935, Duprat avait choisi pour thème, avec une explicite référence à Durkheim, „Les Formes élémentaires de la vie sociale“. Durant les discussions, il reproche à von Wiese de rester trop général et de s’attacher à des rapports sociaux abstraits n’étant pas déterminés par la structure où ils se déroulent. Von Wiese motivera quant à lui son refus de recourir au terme de structure en sociologie avant tout pour des raisons de méthode: „Les relations sociales et les distances sociales ne peuvent pas être prises pour des phénomènes sociaux élémentaires“ et „La société ne peut pas avoir de structure, parce qu’elle est immatérielle; elle n’est pas une ‚chose‘ composée d’autres choses“ - elle n’est pas l’ontologie qu’en a faite Durkheim (RIS 1935: 570, 454). On retrouve exactement la même opposition entre les deux hommes lors du XIII e congrès sur „Les équilibres sociaux“ en 1937, lors de l’exposition universelle de Paris. Duprat a beau se vouloir conciliant lorsqu’il précise à von Wiese défendre une vision plus fonctionnelle que structurale. Au final, il campe sur ses positions: „Nous maintenons au contraire qu’il n’y a pas de relations sociales indépendantes de la solidarité fonctionnelle“, clamait-il, regrettant que von Wiese „se méfie de la finalité“ propre aux organes de la vie sociale, bien que celle-ci puisse parfois s’avérer contrariée ou artificielle (RIS 1937: 149, 143). Duprat eut-il plus de succès en mobilisant son ambivalente rhétorique durkheimienne au niveau normatif et politique? Au XI e congrès de 1933 à Genève, l’Allemagne est sous les feux de la rampe. Symboliquement d’abord, car von Wiese est élu président pour 1934 et de nouveaux adhérents allemands s’y rallient en masse. 41 Bien que beaucoup „avaient dû renoncer à participer, soit par impécuniosité, soit par suite d’obstacles mis aux déplacements par la politique intérieure“, 13 Allemands y assistent tout de même: 31 Dossier Brinkmann, Elias, Mme Freudenthal, Horkheimer, Kahn, Kelsen, Mann, Mannheim, Pollock, Pribram, Sternheim, Sultan et von Wiese, „représentant de la Société allemande de Sociologie“ (RIS 1934: 3). A priori, la thématique des travaux, la prévision, peut sembler neutre, cautionnant le verdict de Stölting d’un silence relatif de l’IIS sur l’avènement du nazisme. 42 Pourtant, les „sociologues allemands ont pu prendre une part active au congrès, tant par leurs communications orales et écrites que par leur active intervention“ dans les débats, rapporte la RIS (RIS 1933: 595). Or si les discussions de „questions brûlantes“ et „litigieuses“ furent „souvent animées“, c’est que Duprat ne s’était pas limité au seul niveau épistémologique pour concilier l’inconciliable, von Wiese et Horkheimer (ibid.: 597sq.). Malgré le soin avec lequel il évitera de prononcer le nom de Hitler, il avait sciemment mis les pieds dans le plat en faisant de la question juive l’enjeu premier de la prévision sociologique: „ne faut-il pas prévoir de nouveaux conflits qui arrêteront l’expansion du judaïsme en Europe et même en Amérique? La question est d’importance capitale pour l’avenir prochain de la civilisation occidentale: si un ‚conatus‘ ethnique persistant parvient à triompher des résistances nationalistes et à placer un internationalisme juif au-dessus des Etats affaiblis par leurs rivalité, notre civilisation est appelée à prendre une orientation nouvelle. Ne pas le prévoir, s’il y a lieu de le faire, serait, pour des sociologues faire montre d’un singulière myopie intellectuelle“ - plus grave encore: „Un manque de prévoyance sur ce point serait susceptible de faire tourner en dérision, à bref délai, la sociologie elle-même“ (Duprat 1933: 235). Si (on notera l’imparfait) les „mouvements ‚racistes‘ pouvaient être prévus, grâce à une analyse des comportements et aspirations tant des persécutés que des persécuteurs“, dans son rapport c’est surtout à celle des persécutés que Duprat s’en tient (RIS 1934: 120). Au-delà des clichés - „Les Juifs ne se livrent pas“, ils sont portés vers „une véritable conquête du monde“, une „soif de domination mondiale“ qui se „dissimule pour aboutir en cas de succès à un autoritarisme“ (Duprat 1933: 230ssq.) -, la référence à Sombart est aussi récurrente. Bien que Duprat juge que son collègue fasse un type incomplet, se bornant aux marchands et délaissant les professions politiques et intellectuelles - donc oubliant Durkheim - il approuve sans retenue la „valeur objective“ de toutes „ces caractéristiques bien analysées par Sombart“ dans Les Juifs et la vie économique: l’utilitarisme, cette propension „à la discussion interminable“, le goût du luxe et de la puissance (ibid.: 243ssq.). Or c’est ici que Duprat opérait un premier renversement puisqu’il dénonce clairement l’„antisémitisme germanique [qui] s’est manifesté, ainsi que nous avions pu le supposer, comme une réaction socio-économique du nationalisme, déguisée en application d’un principe pseudo-scientifique et motivée en apparence par un souci de préservation de l’unité morale d’un peuple à régénérer“ (ibid.: 230). La „race“ est un délire qui masque l’aspiration de l’Allemagne à une hégémonie mondiale (ibid.: 237). En somme, le nazisme et le pangermanisme, analogues à „l’internationale juive“ qu’ils dénoncent, n’étaient à ses yeux qu’un sémitisme inversé, telles deux variantes de la même théorie du peuple élu (ibid.: 265). Tous deux posent le même problème moral, incarnent cette même „éthique 32 Dossier sans moralisme“ dont souffrent les sociétés européennes depuis 1918: celle d’un capitalisme échevelé, militariste et conquérant, incompatible avec l’idéal de justice proudhonien et de la solidarité organique qui doit - c’est une loi - se réaliser en Occident (ibid.: 248, 254). A l’enjeu de répondre à la crise du parlementarisme en Europe, Duprat greffait donc ouvertement l’impératif de freiner l’antisémitisme „méprisant“ des nazis comme celui de l’Action française qui en France s’opposait „aux ‚partis de gauche‘“ 43 (ibid.: 237). Les pogroms se conjuguent déjà au présent, d’où la nécessité de savoir comment éviter que ne se produisent d’„odieuses persécutions“, des „mouvements de fanatisme parfois sanguinaires“ (ibid.: 270, 258, 265). C’est précisément pour ces deux raisons que la fondation d’un Etat sioniste n’avait pas ses faveurs. Elle ne ferait que confirmer la double logique de ghetto, autant „retraite imposée aux Juifs par des persécuteurs“ que ségrégation voulue, générant de surcroît „la colère“ des Palestiniens (ibid.: 249sq., 269). Ce constat n’ôtait pourtant rien à l’urgente nécessité de fonder une „nation“ juive, sans frontières classiques, mais intégrée dans „un fédéralisme de ‚circonscriptions morales‘, n’ayant rien de géographique“ et disposant d’un centre et de ses juridictions (ibid.: 268). Cette nation de type nouveau mettrait seule un terme définitif à l’antisémitisme tout en participant à l’avènement d’un „fédéralisme croissant des Etats européens“, futurs „Etats-Unis d’Europe“ (ibid.: 241). Elle était la chance de passer organiquement d’un „internationalisme capitaliste ou bancaire ou ouvrier“, au service duquel „nombre de Juifs“ serviraient d’intermédiaires comme le „montre déjà leur activité prépondérante au sein de la bureaucratie internationale (S.D.N. et B.I.T.)“, vers un „fédéralisme européen“ (ibid.: 272). On retrouve ainsi en filigrane ses idées inspirées de Durkheim pour réformer la représentation socio-politique au moyen de „groupes constitués“, que Duprat étendait ici aux nations ellesmêmes. Malgré le nazisme et la guerre qu’il sentait proches, Duprat continuait donc, par le biais d’une attaque ambiguë des idées durkheimiennes, à plaider la cause d’un fédéralisme démocratique en nette opposition à l’antisémitisme et au populisme galopants. Juridiquement, la „politique internationale doit dépendre plus des peuples organisés que des gouvernements“ et créer pour „principal organe“ une „Cour suprême de justice internationale apte à valider les conventions entre Etats et à créer par sa jurisprudence, progressivement, un Code de relations entre peuples, en tenant compte des Comités consultatifs internationaux compétents en chaque ordre de relations“ (Duprat 1936b: 165sq.). Economiquement ensuite, le fédéralisme syndicaliste devait l’emporter sur les tentatives „de coopératisme autoritaire étatiste (Italie, Allemagne, Autriche)“ car cette forme pathologique de contrôle était vouée à l’échec. A cette „hypothèse artificialiste, les sociologues ont le devoir d’opposer, selon la pensée de Proudhon et de tous ceux qui voient dans la vie sociale l’effet de concours d’abord spontanés, à systématiser ensuite, une hypothèse naturaliste, on pourrait dire vitaliste, selon laquelle l’intervention des contraintes organisées par les plus hauts pouvoirs, privés ou publics, suppose, pour être normale, au moins un commencement d’organisation par la base“ (Duprat 1935a: 120sq.). Socialement enfin, le lien social idéal du nazisme - „Zusam- 33 Dossier men marschieren! “ - n’est pour Duprat qu’une façon d’aller „tout droit aux formes inférieures de la solidarité“ - celle de „groupes amorphes“ ou celle des „masses“ barbares (ibid.: 123). Celles que Durkheim aurait consacrées dans ses Formes élémentaires. Le sursis: 1934-1937 Le congrès de 1933 organisé par Duprat a pu prouver „la résurrection définitive“ et le „plein rajeunissement“ de l’IIS (RIS 1933: 599). Via le renouement avec l’Allemagne, Duprat avait en effet réussi à ourdir sa „révolution“: réorganiser l’Institut conformément à son modèle proudhonien en une „genuinely international Federation of all Associations having as their aim the study of social phenomena in a scientific manner according to the methods of positive sciences“ (Duprat 1936a: 450). Mais encore faut-il modérer ce succès. D’une part, l’entrée en bloc de la DGS dans la Fédération amenait de nouveaux membres au pedigree douteux, tels Freyer ou Schmitt, ce qui contrevenait au souhait qu’avait Duprat de juguler les partisans d’une dictature, quelle qu’en fût la nationalité. D’autre part, les statuts de la Fédération ne seront traduits en allemand par von Wiese qu’en février 1934, lorsqu’il est déjà en disgrâce. Or Freyer, s’arrogeant le contrôle de la société allemande, doute reprendre la fonction de président de l’IIS que von Wiese assumait jusque là. 44 Le ralliement des sociologues allemands à la Fédération ISIS, issus de la DGS ou de structures distinctes comme l’Institut für Sozialforschung, fut donc largement fictif et n’a pas débouché sur un transnationalisme concret. Si nous laisserons ici ouverte la question d’un faux-pas, l’hypothèse serait bienveillante, que Duprat aurait commis pour sensibiliser ses collègues allemands, un constat d’échec analogue s’impose quant à l’ambivalence de sa rhétorique anti-durkheimienne. Elle ne servit ni une quelconque convergence méthodologique, ni même une unanimité susceptible de trouver un écho auprès des instances genevoises de la politique internationale. Quel que soit le camp, l’entrelacs entre sa sociologie de la „structure ethnique“ juive, ses plaidoyers socialistes et ses exhortations réitérées à l’apaisement du militarisme pour contrer le nazisme suscitait remous et insatisfaction: Duprat donnait trop ou pas assez. Côté allemand typiquement, il ne convaincra ni von Wiese, ni les extrêmes de l’échiquier, que ce soit Horkheimer d’une part, 45 ou les autorités allemandes de l’autre, lesquelles ne souhaitent plus envoyer de délégation aux congrès de l’IIS. Côté français aussi, ses confrères, germanophiles ou non, se méfient de ses acrobaties. 46 Il est déjà question de l’évincer. Seulement, comment renoncer à cet organisateur hors-pair qui porte depuis sept ans le vieil Institut à bout de bras? Quant à Duprat enfin, ses convictions sont chancelantes. Il se dit dégoûté du „spectacle écœurant des platitudes, des mesquines discussions ou intrigues, des lamentables incompétences, des fantômes qui errent en grand nombre sur les bords du Lac Léman“: la SdN, „fille d’une idéologie anti-sociologique“, a échoué (RIS 1934: 81; 1933: 302). Il n’y aurait plus de congrès de l’IIS à Genève. Raison de plus pour tenir et défendre envers et contre tout les vertus d’une sociologie unifiée. 34 Dossier Dès 1934 néanmoins, les mauvaises nouvelles se succèdent et la position de Duprat n’en sort que plus fragilisée. Pour modérer ses éclats, Emile Lasbax est promu secrétaire général adjoint de la Fédération ISIS: Duprat n’étant plus seul aux commandes, il lui devient difficile de parler au nom de l’Institut. 47 De même, alors que l’heure de la succession de Gaston Richard à la tête de la RIS sonne, c’est encore Lasbax qui hérite de la direction de l’organe. Le coup est d’autant plus dur que la maison Giard et Brière, qui éditait jusqu’ici les actes des congrès de l’IIS, se retire par suite du fiasco commercial des précédents volumes. Duprat tente d’y pallier en fondant les éphémères Archives de Sociologie. Mais elles sont peu visibles et de médiocre facture. Le congrès de 1935 semble condamné au fiasco. Duprat a beau appeler le durkheimien Célestin Bouglé à la rescousse pour qu’il l’aide à faire contrepoids, l’artifice ne trompe pas: si Duprat se targue d’avoir réuni une centaine de sociologues, commentait la Revue de Métaphysique et de Morale, il „dirigeait presque à lui seul le Congrès“, mettant en lumière malgré lui une „totale absence d’inspiration sociologique commune“. 48 Enfin, après qu’il reçoit copie de la lettre „strictement confidentielle“ de Howard Becker à Freyer, dénonçant l’aryanisation et l’absorption de la DGS dans l’Akademie des Deutschen Rechtes de Schmitt, les défections s’accumulent. Malgré les invitations, rares sont les sociologues allemands autorisés à y participer. Hormis von Wiese qui envoie une communication écrite, seuls quatre exilés y participent: Freundenthal, Honigsheim, Salomon et Mann. L’échec du congrès de 1937 à Paris sera pour Duprat encore plus cuisant. Pour les Français, passe encore sa méthode. Mais on peine à cerner ses positions politiques, partagées entre un démocratisme aux teintes socialistes trop criantes et un esprit critique dont on doute qu’il soit encore à „gauche“. 49 Côté allemand, le ministère décide explicitement „de boycotter l’événement, malgré l’insistance de plusieurs professeurs réputés“ mais „jugés trop marqués par l’ancien régime, tandis que le principal conseiller du ministère en la matière, Gunter Ipsen, nazi convaincu et professeur à l’Université de Königsberg, déconseille fortement toute participation étant donné les thèmes retenus par l’IIS et l’impossibilité, pour une délégation allemande, de ‚marquer‘ le Congrès“. 50 Quant aux seuls Allemands à y participer, von Wiese et Salomon, ils récusent avec véhémence l’importation du concept d’équilibre en sociologie, qui plus est abordé psychologiquement, notamment parce que l’harmonie mécaniste et durkheimienne incluse dans la notion d’équilibre a „quelque chose qui correspond aux idéologies totalitaires de l’Etat“ (RIS 1938: 36). Cette polémique atteindra son pic avec Sorokin, qui avait succédé à von Wiese comme président de l’IIS. C’en est fini de l’autorité de Duprat. Lasbax, directeur de la RIS et secrétaire adjoint de l’Institut impose son style en conciliant leurs positions „antinomiques“ et dans son elliptique compte-rendu, il évitera sciemment les détails, ne préférant „qu’évoquer une atmosphère, l’atmosphère sereine d’un débat qui s’est maintenu jusqu’au bout sur le plan de la méthode scientifique et de la critique positive“ (RIS 1936: 532; 1937: 547). Dans ces conditions, il n’y a guère de surprise à ce que Lasbax reprit inopinément la tête de 35 Dossier l’Institut dès la fin du congrès, alors qu’il était initialement convenu que Duprat en assure la direction jusqu’en 1943. Il fut d’ailleurs peu ménagé pour l’occasion. Aucune allocution pour le remercier des ses dix années d’engagement, tout au plus l’expression d’un immense soulagement: „c’est une solution heureuse d’avoir réuni ainsi dans les mêmes mains la direction de la Revue et le secrétariat général de l’Institut“ (RIS 1937: 438). La refonte de l’IIS peut se poursuivre. L’Italien Corrado Gini en devient le viceprésident; René Maunier, futur habitué des salons de Epting à Paris, en assure la présidence en remplacement de Sorokin. Il est aussi question de démanteler le pacte fédéral de Duprat: „Un projet de statuts est à l’étude en ce qui concerne la Fédération, afin de mieux séparer celle-ci de l’Institut proprement dit. Ce projet sera discuté au Congrès de 1939“, annonce la Revue (RIS 1938: 577). Enfin, le thème général du futur congrès de Bucarest corrigeait clairement le tir des „formes élémentaires“ non conventionnelles naguère retenues par Duprat. Il ne s’agissait plus de traiter de groupes locaux, loges ou syndicats, mais des „unités sociales“ telles que le peuple, la nation ou la famille avec une insistance particulière sur le village. Quelques sociologues allemands le regretteront. Ce fut le cas de Stoltenberg, toujours secrétaire de la DGS en 1935 d’après von Wiese, qui recensera de façon très élogieuse l’Esquisse d’un Traité de Sociologie de Duprat encore en 1939. 51 Ce fut aussi celui de Salomon qui revenait en 1938 sur le „remarquable mémoire“ que Duprat avait soumis à l’IIS en 1930 au sujet des causes sociales des guerres. Sélectif, Salomon retenait en définitive de son collègue cette „inquiétude fondée“ face à la situation internationale: „Il peut se faire que l’ère des foules“, non celle de l’Europe, „succède à celle des grandes nations; que des masses imposantes par le nombre et disciplinées […] se forment sans tenir compte des frontières actuelles et amènent le monde civilisé à une nouvelle barbarie“. 52 Mais il s’agira de voix isolées. Dans l’ensemble, la batterie de choix pris pour remanier l’Institut fut assurément perçue comme un gage de bonne volonté par l’Allemagne. Dès 1938, Ipsen est ainsi chargé de préparer la délégation allemande. En juin 1939, à la veille du congrès, pour 62 invitations envoyées en Allemagne, 19 communications sont promises et 45 adhésions effectuées, ce qui en faisait, hormis la Roumanie, pays hôte, le pays le plus représenté - avant même la France et l’Italie. Cette „manifestation d’un éclat exceptionnel“ n’eut finalement pas lieu (RIS 1939: 2). D’abord ajournée à Pâques 1940, elle fut reportée sine die du fait des hostilités. Avec la guerre, les archives de l’IIS tomberont en mains italiennes et restent à ce jour hors d’accès. Les papiers de Duprat sont déposés depuis 1978 aux Archives départementales de la Gironde. Soigneusement triés par sa fille, ils laissent bien des questions ouvertes. 36 Dossier Conclusion Au vu des obstacles, les quatre ans d’existence de la Fédération internationale des Sociétés et Instituts de Sociologie, de 1933 à 1937, relèvent de la prouesse. Nul doute à cet égard que Duprat, véritable „pionnier de la coopération sociologique internationale“, eut le mérite d’esquisser des „projets du plus réel intérêt: rompre l’isolement des chercheurs pour permettre de vastes entreprises internationales d’investigation […], division internationale du travail entre les revues et les instituts, bibliographies internationales systématiques“, quand l’heure s’y prêtait peu. 53 De là à conclure que „Certaines de ces idées se sont partiellement réalisées depuis lors, par exemple sous les auspices de l’UNESCO“, le pas serait hâtif puisque l’International Sociological Association s’est précisément fondée contre l’IIS. Georges Gurvitch, jadis membre de l’Institut et adepte encore en 1946 du modèle de Duprat, a pu suggérer qu’il y eut „deux“ IIS, comme en écho à la thèse des deux Allemagnes. L’IIS d’après 1937, celui de Maunier et Gini, très impliqués dans le nazisme et le fascisme, puis l’IIS d’avant 1937, c’est-à-dire sous la direction de Duprat - dont Gurvitch tait pourtant le nom. 54 Amie de Gurvitch, Jeanne Duprat dressait un bilan analogue quant au projet socio-politique de son père: „On a souhaité souvent de parvenir à une Fédération européenne qui aurait peut-être été la base solide d’une véritable société des nations; le plus grand obstacle est venu de cette conception intransigeante de la souveraineté nationale (et aussi de la trop grande divergence des tempéraments collectifs pour arriver promptement à une certaine unité morale)“ - il aurait fallu „pour y parvenir vraiment qu’on ait à faire à des Etats démocratiques (ou à tendances démocratiques) et non à des puissances autoritaires“. 55 De fait, comme d’autres initiatives universitaires franco-allemandes de l’entre-deux-guerres, les plans fédéralistes de Duprat ne résisteront guère à „la politisation et l’instrumentalisation croissante“ auxquelles ils étaient soumis, 56 un processus qui augmentera toute la difficulté des acteurs et des organes du projet à faire preuve d’un véritable dépassement de leur ancrage national. Cependant Duprat, et lui plus que d’autres, semble en avoir joué à dessein, autant sujet qu’acteur, - quitte à se brûler les doigts en maniant les poncifs ambiants. Ici comme ailleurs, l’orientation personnelle de Duprat fut fortement déterminée par un effet de génération au sein de la sociologie française comme par „ce qu’il faut bien appeler l’illusion maçonnique“ -; ici comme ailleurs, à trop être „ambitieux de servir“, Duprat fut „un homme utile et qui se laisse utiliser“. 57 Sigles, articles et ouvrages de Duprat cités AIIS Annales de l’Institut International de Sociologie. AN Archives Nationales, Paris. (1900): Science sociale et démocratie. Essai de philosophie sociale. Paris: Giard & Brière. (1902a): „Fouillée. La réforme de l’enseignement par la philosophie“, in: Revue universelle, 2: 190. 37 Dossier (1902b): „La Sociologie“, in: Revue universelle, 2: 411-414. (1903): „Education sociale et solidarité“, in: RIS, 11: 922-931. (1907): La Solidarité sociale. Ses causes, son évolution, ses conséquences. Paris: O. Doin. (1912): „L’Université de France au point de vue sociologique“, in: RIS, 20: 484-496. (1913): „La représentation proportionnelle et la représentation nationale au point de vue sociologique“, RIS, 21: 681-689. (1922a/ b): „L’orientation actuelle de la sociologie en France“, in: RIS, 30: 337-355; 464-481. (1924a): Le lien familial: causes sociales de son relâchement. Paris: Alcan. (1924b): Les tâches sociales du Protestantisme contemporain. Labor: Genève. (1926a): „La Psycho-Sociologie en France“, in: Archiv für systematische Philosophie und Soziologie, 37: 133-160. (1926b): „L’esprit scientifique en politique et en économique“, in: RIS, 34: 1-12. (1926c): Esquisse d’un programme de politique internationale. Genève: Jent. (1929): „Physiologie du Socialisme“, in: RIS, 37: 520-568. (1930): Introduction à la sociologie. Genève: Jent. (1931a): „Pour la coopération sociologique internationale“, in: RIS, 39: 165-172. (1931b): Syndicalisme et Corporatisme. Genève: Imprimeries populaires. (1931c): „Coopératisme et syndicalisme“, in: RIS, 39: 581-630. (1932a): „Auguste Comte et Emile Durkheim“, G. L. Duprat, H. Freyer, A. Meusel, F. K. Mann, L. v. Wiese, M. Weber (Hrsg.): Gründer der Soziologie. Eine Vortragsreihe. Jena: Fischer, 109-140. (1932b): „Les faits sociaux“, in: Kölner Vierteljahrshefte für Soziologie, 11, 3/ 4: 272-289. (1933): „Prévision sociologique et structures ethniques. Judaïsme et nationalisme“, in: RIS, 41: 229-272. (1935a): „Formes élémentaires de l’économie sociale“, in: Archives de Sociologie, 2/ 4: 44-147. (1935b): „Réponse aux ‚Remarques‘ de M. le Professeur Sorokin“, in: Archives de Sociologie, 2/ 4: 180-181. (1936a): „The International Institute of Sociology“, in: American Sociological Review, 1, 3: 449-454. (1936b): Esquisse d’un Traité de Sociologie. Paris: Librairie Générale de Droit & de Jurisprudence. (1938): „Rôle de l’Institut International de sociologie dans la coopération intellectuelle internationale“, in: Les Convergences des Sciences sociales et l’esprit international. Paris, Paul Hartmann: 48-55. 1 Duprat a signé d’innombrables recensions. Pour alléger la lecture, celles-ci ne sont référencées qu’en fonction de la revue. Ses monographies et ses articles sont quant à eux indiqués en bibliographie. 2 Cf. Hans Manfred Bock: „Initiatives socio-culturelles et contraintes politiques dans les relations universitaires entre la France et l’Allemagne dans l’entre-deux-guerres“, in: Revue d’Allemagne et des Pays de langue allemande, 34, 2002, 307. 3 Pour les indications biographiques, cf. les dossiers Duprat aux Archives Nationales ainsi que les articles pionniers de Sapaly et de Le Blanc (André Sapaly: „Un sociologue Langonnais: Le professeur Guillaume Duprat (1872-1956)“, in: Les Cahiers du Bazadais, 39, 125, 1999, 29-62; François-Yves Le Blanc: „Guillaume-Léonce Duprat: sociologue, Franc-Maçon et républicain de progrès“, in: Actes du Chimas, 6, 2007, 35-57). 38 Dossier 4 Duprat était sûr d’avoir réussi (cf. Emile Durkheim: Lettres à Marcel Mauss, Paris, Puf, 1998, 46). Tout s’est joué à un cheveu. Sur 91 candidats inscrits, Duprat arrive 10 e pour 8 admis (AN - F17/ 23758). 5 Duprat s’évertuera à sublimer l’échec. „Sans doute j’ai été simplement admissible à l’agrégation“, écrivait-il au Ministre de l’Instruction publique, „mais quinze ouvrages dont plusieurs traduits en diverses langues et parvenus à une 2 e édition me donnent quelque autorité notamment en psychologie, sociologie et pédagogie“: „Mes titres sont surtout mes travaux“ (Lettre du 2.IV.1912, AN - F17/ 23758). Inspecteurs et proviseurs partageaient d’ailleurs d’autant plus son avis qu’ils ne voyaient pas d’un bon œil l’athéisme militant de Duprat dans des lycées de Province: „Peut-être serait-il mieux à sa place dans une Faculté“ lit-on souvent dans son dossier (Avis du 28.II.1903, ibid.). 6 Ainsi blâmait-il Ludwig Stein d’avoir occulté la philosophie française dans ses Philosophische Strömungen der Gegenwart (cf. RIS 1909: 70). 7 Sur la critique de Durkheim à la Völkerpsychologie que Duprat partageait, cf. RIS 1901: 392. Concernant Tönnies, Duprat lui reprochait de préférer „aux termes ‚conscience collective‘, ‚contrainte sociale‘, plus fréquemment employés par les sociologues français, le terme, plus ambigu à notre avis, Volonté sociale: les mœurs seraient les manifestations de cette volonté“ (Duprat: „Tönnies. Die Sitte“, in: Revue philosophique, 68, 1909, 663). 8 Cf. RIS 1916: 389. L’idée d’une préséance de l’humanitarisme (français) de Proudhon sur l’internationalisme (allemand) de Marx est une constante de son œuvre: „la France révolutionnaire a donné au socialisme contemporain plus encore que l’Allemagne marxiste“ (RIS 1904: 850; cf. aussi Duprat 1929: 558sq.). 9 Le Blanc, l. c., 51. Duprat se mit en sommeil de la maçonnerie en 1906, mais en restant fidèle à son esprit. L’affiliation de Proudhon à la maçonnerie participe assurément de l’admiration inconditionnelle qu’il lui vouera. 10 Du 2.VIII.1914 au 24.III.1918, Duprat effectue ce qu’il appellera sa „Campagne contre l’Allemagne“ (AN - F17/ 23758). Il sera au front à Nancy et Verdun durant 3 mois et demi Suite à des troubles cardiaques répétés, Duprat est déclaré inapte. Il quitte la 15 e ambulance du 15 e corps d’armée pour „rendre les services les plus signalés dans un grand hôpital d’évacuation“ à Marseille puis à Nice (cf. Le Blanc, l. c., 53). Il rejoint Aix en 1917, alternant entre ses cours et le Laboratoire de psychologie expérimentale qu’il y avait fondé fin 1908 et qu’il rattache à l’hôpital. 11 Tapuscrit intitulé „Pour la paix européenne“, s.d., Ms. fr. 4013, f. 30-32, Fonds Claparède, Bibliothèque publique et universitaire de la ville de Genève. 12 Leopold von Wiese: Soziologie. Geschichte und Hauptprobleme, Berlin: de Gruyter, 1947, 100. 13 Duprat a conduit sa psycho-sociologie programmatique dans un sens tout à fait durkheimien, affirmant „que Tarde a fait beaucoup moins qu’on ne le suppose généralement pour une véritable psycho-sociologie“ vu qu’il manque à sa théorie de l’imitation ce „principe de la vie collective“ de la solidarité, un principe qu’il faut - le terme est cinglant - „surajouter“ à ses thèses (Duprat, 1926a: 143; cf. aussi Duprat 1907: 19sq., 159; Roger L. Geiger: „René Worms, l’organicisme et l’organisation de la sociologie“, in: Revue française de sociologie, 22, 1981, 353). 14 L’expression est de Martin Staum: „‚Race‘ and Gender in Non-Dukheimian French Sociology, 1893-1914“, in: Canadian Journal of History, 42, 2007, 195. Selon les calculs de Clark, Duprat effectuera entre 1893 et 1914 à lui seul 26% des comptes-rendus de la RIS (Terry N. Clark: „Marginality, Eclectism and Innovation: René Worms and the Revue Internationale de Sociologie from 1893 to 1914“, in: RIS, 3, 1967, 21). Quant à la comparaison avec L’Année, Duprat l’insinuera en 1922: „La ‚Revue internationale de Sociolo- 39 Dossier gie‘, non éclectique, mais accueillante, vaut plus encore par les analyses d’ouvrages que nous nous efforçons de faire substantielles et objectives, documentaires et impartiales, que par les mémoires originaux, qui manquent fatalement d’unité. A ce point de vue l’‚Année sociologique‘, disparue depuis 1912, constituait […] un recueil d’analyses précieux“ (Duprat 1922a: 339). 15 Cf. Claude Blanckaert: La nature de la société. Organicisme et sciences sociales au XIX e siècle, Paris, L’Harmattan, 2004: 50ssq.; Dominique Guillo: „La place de la biologie dans les premiers textes de Durkheim: un paradigme oublié? “, in: Revue française de sociologie, 47, 2006, 516-528. 16 Emile Durkheim: De la division du travail social, Paris, Puf, 1994, 356, 348, 364. 17 Emile Durkheim: Leçons de sociologie, Paris, Puf, 1995: resp. 141, 136, 129. 18 Ibid., 135, 138, 141. 19 Massimo Borlandi: „Duprat, Guillaume Léonce, 1872-1956“, in: ibid. & alii (ed.), Dictionnaire de la pensée sociologique, Paris, Puf, 194. 20 Fait révélateur, certaines biographies présentent Duprat comme „professeur d’université en France de 1896 à 1922“ ou du moins comme chargé de cours „an der Univ. Aix-Marseille“, un poste qu’à son grand courroux il n’a jamais occupé (cf. N. N.: „In Memoriam. Guillaume Léonce Duprat“, in: Actes du XVII e Congrès International de Sociologie, vol. 2., 1958, Meisenheim: Hain, 787; Heinz Maus: „Duprat, G. L.“, in: Wilhelm Bernsdorf (ed.), Internationales Soziologenlexikon, Stuttgart: Enke Verlag, 1959, 129; André Sapaly, l. c., 38). C’est d’ailleurs par réaction que Duprat publie en 1912 „L’Université de France au point de vue sociologique“. Il faut „détruire notre mandarinat“, cette „soumission aux idées d’un maître, pontife du moment“ qui conduit regrettablement à exclure des facultés „tant de chercheurs à l’esprit original“ (Duprat 1912: 489ssq.). Le type du mandarin orgueilleux et sans esprit pratique que Duprat développera à partir de cette date s’inspirera toujours plus de la figure de Durkheim. 21 Lors d’une polémique comme il y en eut tant, un élève de Duprat, Eugène Dérobert, commentait: „Depuis plus de 40 ans, M. Duprat lutte contre les doctrines de Durkheim […] dont il a, à maintes reprises, démontré l’insuffisance. Ce qu’il reprochait à Durkheim, c’était sa conception trop mécaniste de la société. Il fut, en France, l’un de ses plus rudes adversaires, et si Durkheim a évolué jusqu’à admettre que ‚la société est le foyer d’une vie morale‘, peut-être faut-il chercher dans cette évolution l’influence de M. Duprat“ (Gazette de Lausanne, 14.VI.1930: 1). 22 Cf. Duprat 1903: 925; 1926a: 138; 1929: 538; 1932a: 110sq. 23 „Le besoin de sciences sociales positives, mais servant de base à des théories normatives“, écrivait-il en 1926, „se fait sentir d’autant plus vivement que la marasme de la société contemporaine est plus grand, que les anciennes méthodes des plus célèbres hommes d’Etat et pasteurs des peuples paraissent avoir fait faillite, que la vie matérielle et politique des grandes nations, devenues plus étroitement solidaires pose des problèmes nouveaux d’organisation ‚mondiale‘“ (Duprat 1926b: 1). 24 Les procès-verbaux de la faculté d’avant 1925 ayant disparu, on ignore à quand remontent les pourparlers et qui en furent les artisans. Au mieux sait-on que la succession de Louis-Théodore Wuarin, qui occupait la chaire de sociologie, d’économie sociale et de systèmes politiques depuis 1886 „fut difficile à régler“ (Paul-Edmond Martin: Histoire de l’Université de Genève, t. 4 (1914 à 1956), Genève, Georg & Cie, 1958, 67). Inaugurée en 1915, la Faculté de Sciences économiques et sociales genevoise était jeune, et les enjeux nombreux. Au début, on pensait „diviser la chaire en deux, Sociologie et Economie sociale“, mais des „divergences“ apparurent (ibid.: 67sq.), opposant semble-t-il Wua- 40 Dossier rin, qui souhaitait maintenir l’unité de sa chaire, et l’économiste Liebmann Hersch. Wuarin, membre de l’Institut International de Sociologie de la première heure, a-t-il cherché conseil auprès de Worms afin de désigner son successeur? La tournure que prirent les événements à partir du 21 octobre 1921, date où il atteignait la limite d’âge, est du moins intrigante. Presque un mois jour pour jour après son départ, Duprat est invité à tenir deux conférences publiques à la Faculté de Genève. Intitulées „la Sociologie d’après les travaux de Durckheim, Tarde, René Worms et Lévy-Bruhl“ puis „le Facteur psychologique en sociologie“ (Journal de Genève, 22 & 23.XI.1921: 6 & 5). Dire qu’il y annonçait la fin de l’Ecole durkheimienne est un truisme. Les „conclusions de la prétendue ‚science‘ des sociologistes ne s’imposent pas à nous“ concluait Duprat. „Le sociologisme de MM. Fauconnet, Bouglé, Halbwachs, Mauss, n’est pas […] l’unique et vraie sociologie. Nous avons le droit d’affirmer la possibilité et même l’existence d’une sociologie qui n’aboutit pas du tout aux mêmes conclusions en matière juridique, morale et politique“ (Duprat 1922b: 479sq.). Son discours fit mouche. Un mois plus tard, le 21 décembre 1921, un compromis fut trouvé et la succession de Wuarin réglée avant que la Faculté, entérinant l’option d’une seule chaire de sociologie et d’économie sociale, n’ouvre l’inscription en juin 1922. Duprat était nommé dès le 20 juillet. Côté français, l’administration ne fit aucune difficulté à mettre Duprat à la disposition du Ministre des Affaires étrangères pour occuper la chaire. Un ultime esclandre avec l’évêque d’Agen, où il enseignait depuis 1919, avait mis le Recteur dans une position délicate. Un déplacement - le 7 e en 25 ans - s’imposait de toutes façons. 25 Journal de Genève, 29.X.1922: 6. 26 Cf. Erhard Stölting: Akademische Soziologie in der Weimarer Republik, Berlin, Duncker & Humblot, 1986, 63, 66. 27 Cf. von Wiese à Tönnies, 3.XII.1923 & Tönnies à Cosentini, 3.VII.1921; Nachlaß Tönnies, SHLB Kiel. En ce qui concerne la France, l’hésitation de Tönnies sera d’autant plus grande que les relations entre la DGS et l’IIS avaient déjà une longue histoire assez tumultueuse (cf. Cécile Rol: „Die Soziologie, faute de mieux“, in: ibid. (ed.): Soziologie als Möglichkeit, Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2009, 367-400). 28 Gottfried Salomon: „Vorrede des Herausgebers“, in: Jahrbuch für Soziologie, 1, 1925, 1. 29 „Soyons donc pratiques“, s’exclamait Duprat. „Les Ecoles, les doctrines, les systèmes, nous divisent: ignorons-les. En biologie, les querelles acerbes entre vitalistes, animistes, organicistes, partisans et adversaires du finalisme, pourraient aisément renaître: on les élude, en réduisant au minimum la part faite aux théories générales dans la plupart des hypothèses et des observations. C’est la condition même d’une collaboration intellectuelle féconde. Nous ferons de même en sociologie […]“ (Duprat 1931a: 172). 30 Dans son compte-rendu du dernier congrès de 1927, Sée avait mis l’IIS en garde. „Certaines des communications ont été de purs plaidoyers politiques: par exemple de M. Francesco da Luca, pour le fascisme italien, et de M. Eduardo Sanz y Escartin, pour la dictature de Primo de Rivera“, déplorant que Gaston Richard „trouve naturelle cette incursion sur le terrain politique“ (Henri Sée: „L’autorité et la hiérarchie“, in: Revue historique, 160, 1929, 166). Il est certain que Duprat, qui s’était rapproché du christianisme social, partageait avec son „éminent ami“ Gaston Richard et l’inquiétude suscitée par les événements russes, et le souci de préserver une spécificité éthico-religieuse européenne. En revanche, jamais il n’avalisera comme le fit Richard les dictatures italienne ou espagnole au nom d’une „résistance à la révolution sociale“ menaçant l’avenir de „l’humanité civilisée“ (AIIS 1928: 349). Au contraire, Duprat en appelait à „un enthousiasme quasi-révolutionnaire“ capable de „briser la résistance des forces nationalistes actuelle- 41 Dossier ment prédominantes en bien des pays“ (Duprat 1924b: 16sq.). Pour une critique explicite du fascisme et de la dictature de de Rivera, cf. Duprat (Duprat 1931b: 21sq.). 31 Duprat à Tönnies, lettre du 15.X.1928, Nachlaß Tönnies, SHLB Kiel. 32 Duprat à Tönnies, lettre du 15.XII.1927, Nachlaß Tönnies, SHLB Kiel. 33 Duprat à von Wiese, lettres du 5.II.1929 et du 15.IV.1929, Nachlaß Tönnies, SHLB Kiel. 34 Resp. Journal de Genève, 14.X.1930: 4; RIS 1931: 5. 35 Blanckaert, op. cit., 64. Cf. aussi Duprat 1930: 24. 36 Jounal de Genève, 22.VI.1931: 3. 37 Journal de Genève, 2.VI.1931: 6. 38 Franz Borkenau: „Gründer der Soziologie“, in: Zeitschrift für Sozialforschung, 1, 412. 39 L’hiver 1930/ 31, étrangement lors de conférences faites à la Communauté israélite de Genève, Duprat critiquait la théorie sociale de Durkheim ainsi: „l’individualisme français, l’anarchisme proudhonien, sont quasi-inconcevables pour ceux qui n’ont pas perdu l’habitude d’identifier leur Dieu et son peuple“ (Duprat 1933: 229, 255, 269). 40 von Wiese à Duprat, lettres du 9.II.1934 et du 22.III.1934 - 4J/ 738, Archives Départementales de la Gironde. 41 Les listes de l’IIS sont opaques. En 1932, elles mentionnent 37 germanophones: J. Makarewicz, W. Ostwald; K. Breysig, E. Lederer, F. Oppenheimer, W. Sombart, F. Tönnies, A. Vierkandt, A. Weber, L. von Wiese; M. Adler, G. Briefs, C. Brinkmann, K. Dunkmann, C. Eckert, L. Elster, F. Eulenburg, H. Freyer, T. Geiger, F. von Gottl-Ottlilienfeld, C. Grünberg, A. Günther, H. Herkner, L. Heyde, G. Jahn, H. Kelsen, F. K. Mann, K. Mannheim, A. Meusel, K. Pribram, G. Salomon, C. Schmitt, H. L. Stoltenberg, W. Vleugels, H. Waentig, A. Walther, R. Wilbrandt (Duprat à Salomon, [fin 1932], G. Salomon-Delatour Papers, IISG Amsterdam). 42 Cf. Stölting, op. cit, 69. 43 L’hostilité de Duprat à ce mouvement fut de notoriété publique, et les jeunes de l’Action française le lui rendront bien. „N’a-t-il pas, très récemment, consacré un cours entier, d’une heure à vilipender l’Action française et à salir les anciens combattants? N’a-t-il pas osé, en pleine chaire, injurier grossièrement Léon Daudet, traiter les camelots du Roi et les Etudiants d’A. F. de ‚pauvres imbéciles‘ et les professeurs de la Faculté de droit de Paris de ‚pauvres idiots‘? “. L’auteur anonyme concluait menaçant: „on peut se revoir, n’est-ce pas...“ (XXX: „Mauvaise exportation“, in: L’Etudiant français. Organe mensuel de la Fédération nationale des étudiants d'Action française, 10.V.1934, 5). 44 von Wiese à Duprat, lettre du 3.I.1934, 4J/ 738 - Archives Départementales de la Gironde. 45 Suite au congrès de 1933, Duprat parlera de conclusions „adoptées à l’unanimité“, la position dominante allant à la relativité des prévisions sociologiques. Mais les débats furent tendus. Sur la critique de Horkheimer entre prévision et prédiction, cf. Max Horkheimer: Gesammelte Schriften. Bd. 3, hg. v. A. Schmidt. Frankfurt/ Main, Fischer, 151. 46 Lorsqu’elle publie l’article de Duprat sur le judaïsme, la RIS est ainsi très embarrassée, exhortant le lecteur à le lire „attentivement jusqu’au bout“ car „le libéralisme des conclusions ne peut déplaire à ceux que l’antisémitisme froisse et inquiète“ (Duprat 1933: 229). Elle ne fut pas la seule à pointer du doigt ces difficultés: il y eut aussi du grabuge à la faculté genevoise suite „au cours de M. Duprat et à sa brochure ‚Judaïsme et Nationalisme‘“. Outre les réprimandes de l’Instruction Publique, les procès-verbaux de la faculté évoquent „la plainte de deux Messieurs“ sans que celles-ci soient reproduites (fonds n° 1985/ 1/ 119: PV. de la faculté SES 1931-1941: 61 - Archives de l’Université de Genève). L’incident ne semblait toujours pas clos le 15 juillet 1935, et Duprat, s’estimant insuffi- 42 Dossier samment soutenu par sa hiérarchie, réagira en boycottant son service et les réunions de la faculté (ibid.: 99). 47 Cf. Dirk Käsler: Soziologische Abenteuer, Opladen, Westdeutscher Verlag, 1985, 132. 48 N. N.: „XII e Congrès international de sociologie“, in: Revue de Métaphysique et de Morale, 43, 1, 1936, 18sq. 49 Duprat le concèdera de manière elliptique à Bastide, „je tiens à vous rassurer quant à mon orientation personnelle qui ne peut guère être décelée par ce que j’ai écrit au point de vue sociologique en politique: je doute que vous puissiez être plus ‚à gauche‘ que moi; mais quand on est tenu de dépouiller tout parti-pris, on exagère parfois les critiques dirigées contre les formes auxquelles on est le plus attaché. Si nous avions l’occasion de causer un peu longuement, je crois que nous nous trouverions en parfait accord“ (Duprat à Bastide, 20.VI.1936, BST2. C2-01 - IMEC, St-Germain-la-Blanche-Herbe). 50 Peter Schöttler: „Marc Bloch et le XIV e Congrès international de sociologie, Bucarest, août 1939“, in: Genèses, 20, 1995, 145. 51 Hans Lorenz Stoltenberg: „Duprat. Esquisse d’un traité de sociologie“, in: Weltwirtschaftliches Archiv, 49, 1939, 49sq. 52 Gottfried Salomon: „A propos des sociologies de la guerre“, in: RIS, 46, 1938, 438sq. 53 Roger Girod: „Guillaume-Léonce Duprat (1872-1956)“, in: Histoire de l’Université de Genève, Annexes, Genève, Librairie de l’Université, 1959, 147. 54 Lorsque Gurvitch fonde sa revue en 1946, L’Année sociologique n’était pas un référent: „Pour trouver une analogie aux Cahiers Internationaux de Sociologie dans le passé, il faudrait penser à la Revue Internationale de Sociologie, fondée par René Worms en 1893, reprise par Gaston Richard en 1926, et disparue avant la seconde guerre mondiale“ (Paul Kahn: „Les Cahiers internationaux de sociologie“, in: Annales. Economies, Sociétés, Civilisations, 3, 1948, 376). Sur l’ambivalence de Gurvitch entre l’ISA et l’IIS cf. Christian Papilloud, Cécile Rol: „Rapport éditorial“, in: Georges Gurvitch, Ecrits allemands III. Sociologie, Paris, L’Harmattan, 136-143. 55 Jeanne Duprat: „L’autorité politique dans les démocraties“, in: Archives de Philosophie du Droit et de Sociologie juridique, 9, 1939, 174sq. 56 Bock, l. c., 298. 57 Resp. Le Blanc, l. c., 51; Remarques de l’Inspecteur d’académie du 16.III.1921, AN - F17/ 23758. Resümee: Cécile Rol, Guillaume-Léonce Duprat (1872-1956), l’Institut International de Sociologie et l’Allemagne dans l’entre-deux-guerres untersucht die Wiederaufnahme der deutsch-französischen Beziehungen in der Soziologie der Zwischenkriegszeit am Beispiel des Institut International de Sociologie und des von Duprat initiierten Programms einer Erneuerung soziologischer Kooperation. Die Fallstudie setzt sich zum Ziel, den erstrebten Transnationalismus in der Soziologie zu differenzieren und in zweierlei Hinsicht mit den intellektuellen Prägungen Duprats in Beziehung zu setzen. Zum einen sah er sich generationell vor die gleiche weitgehende Identität der Durkheimschen mit der „französischen“ Schule der Soziologie gestellt, wie dies bei von Wiese im Verhältnis zu Simmel und der deutschen formalen Soziologie der Fall war. Zum anderen verdient die gesellschaftliche Beziehungsebene analytische Beachtung. Seine aktiven oder ideellen Beziehungen zur Freimaurer-Bewegung erfordern mindestens die Aufmerksamkeit, die sonst meist nur den politischen, institutionellen und konfessionellen Faktoren zugeschrieben werden. 43 Dossier Hans Manfred Bock Raymond Aron und Deutschland. Aspekte einer intellektuellen Generationsanalyse Im Rückblick auf die soziokulturelle Interaktion zwischen Franzosen und Deutschen im 20. Jahrhundert zeichnet sich eine Generation in Frankreich ab, die wie keine andere in ihrer Entwicklung handelnd und erleidend mit Deutschland verbunden war. Dies ist die Generation der um 1905 geborenen Intellektuellen, die als Wissenschaftler und (bzw. oder) Publizisten eine Mittlerrolle zwischen den beiden Nationen ausübten, in der alle Aspekte des kulturellen Austauschs, des Transfers oder der Verflechtung bestimmend waren, die unter dem Stichwort der „histoire croisée“ diskutiert werden. Zu dieser Generation gehörten Raymond Aron und Jean-Paul Sartre, die als die Emblemgestalten und Stichwortgeber öffentlicher Sinndeutung der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte aufgefaßt werden. Im Folgenden soll nicht die Nachzeichnung der individuellen geistigen Vita von Raymond Aron unternommen werden (die in den großen Umrissen und im Detail von anderen bereits ausgeführt wurde 1 ), sondern es sollen die transnationalen Aspekte des Gebens und Nehmens in Arons Verhältnis zu Deutschland thematisiert werden, die für sein Denken und Handeln konstitutiv waren. Dabei wird die Argumentation vom Allgemeinen zum Besonderen, von der abstrahierenden Charakterisierung zur konkretisierenden Analyse der Deutschland-Perzeption, Rezeption und Transaktion im Werdegang des französischen Soziologen fortschreiten. 1. Umrisse einer Intellektuellen-Generation in der Krise Setzt man also bei der intellektuellengeschichtlichen Perspektive auf das Thema „Raymond Aron und Deutschland“ ein, 2 um zur fachgeschichtlichen Analyse zu gelangen, so muß man mit Jean-François Sirinellis Habilitationsschrift Génération intellectuelle. Khâgneux et normaliens dans l’entre-deux-guerres beginnen. 3 Diese bahnbrechende Studie, die eine soziologisch informierte Erneuerung der Ideengeschichte zum Ziel hat, stellt den Begriff der „génération intellectuelle“ in den Mittelpunkt der Argumentation. Sie weist akribisch und in dichter Beschreibung die gemeinsamen Merkmale der Alterskohorte nach, die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre die Elite-Hochschule Ecole Normale Supérieure (ENS) absolvierte und deren Mitglieder in der Dauerkrise der 1930er Jahre z.T. völlig gegensätzliche Wege ihrer politisch-intellektuellen Entwicklung einschlugen. In dieser Monographie gilt Raymond Aron und seinem Studienfreund Jean-Paul Sartre bereits zentrale Aufmerksamkeit und Sirinelli hat dann später eine Doppelbiographie der beiden normaliens nachgelegt. 4 Die erkenntnisleitenden Konzepte in dieser monumenta- 44 Dossier len Synthese sind neben dem Generationsbegriff die Kategorien des „itinéraire“ (des langfristigen Entwicklungsgangs), der „sociabilité“ (der Varianten informeller Vergesellschaftung) und des „éveilleur“ (der generationsprägenden Erwecker- und Leitgestalt). 5 Im Rahmen der französischen Intellektuellenforschung (die das Mannheimsche Generationen-Konzept erst sehr spät aufgenommen hat) wurde die Frage der Unterschiedlichkeit von Intellektuellen-Generationen gemäß politikgeschichtlicher Kriterien dann aufgenommen von Michel Winock. In einem Themenheft von Vingtième Siècle entwarf er Ende der achtziger Jahre ein Panorama der Abfolge von hegemonialen Intellektuellen-Generationen, die von den Revisionisten in der Dreyfus-Affäre bis zu den Post-68er Generationen reichte. 6 Die Generation, die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ins öffentliche Leben intellektuell zu intervenieren beginnt, nennt Winock die „génération de la crise“. Sie umfaßt die im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts geborenen publizistischen Wortführer, die in ihrer Zeit der Reife nach 1945 weithin das politisch-kulturelle Leben Frankreichs beherrschten und die in den dreißiger Jahren größtenteils zu den „nonconformistes“ gehörten. 7 Sie definierte sich in Opposition zur Generation der Väter, die den Krieg geführt hatten („génération du feu“), in Opposition zum Rechts-Links-Schema der Politik und durch die Kritik des Kapitalismus sowie des Parlamentarismus. Aufgrund ihrer vielfachen Infragestellungen der etablierten Ordnung und aufgrund der Vielfalt ihrer politischen und kulturellen Erneuerungsvorschläge steht Winock nicht an, sie als die exemplarische Intellektuellen-Generation des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen: „Elle est par excellence la grande génération du siècle.“ 8 Welches waren die Motive und Wege eines Teils dieser Krisen-Generation, die ihre Einlassung und Befassung mit Deutschland leiteten? Seit der Formulierung dieser Frage vor über zwanzig Jahren, die vor allem in Sirinellis Habilitationsschrift einen zentralen Platz einnimmt, sind zahlreiche sozial- und intellektuellengeschichtliche Studien veröffentlicht worden, die nicht allein erlauben, die Frage zu präzisieren, sondern auch berechtigen, begründete Antworten zu geben. Auf der Ebene allgemeiner Charakterisierung sind die Motive für die Deutschlandinteressen einer größeren Zahl von Elite-Studenten der ENS in den späteren zwanziger Jahren zu finden: in der kritischen Abwendung von der Vätergeneration im Laufe der Adoleszenzkrise, in der Prägewirkung der republikanisch-pazifistischen Philosophie Alains gerade auf die ENS-Studenten, in der politischen Perspektive, die durch den Völkerbund und durch die Locarno-Verträge eröffnet wurde, und schließlich in den Erfahrungen, die mit der Auflösung der „republikanischen Synthese“ der Dritten Republik (Stanley Hofmann) zusammenhingen und die legitimatorische Leitfunktion des Positivismus zunehmend außer Kraft setzten. Letztere hatte politisch im Lager der radicaux-socialistes und wissenschaftlich in der Comte-Nachfolge, wie in der Durkheim-Schule ihr Fundament gehabt. Mit Rekurs auf das Generationen-Konzept von Karl Mannheim kann man dies Faktorenbündel als die „Generationslagerung“ 9 der génération de la crise ansehen. Die spezifische „Generationseinheit“ hingegen wurde durch die besondere Sozialisationswirkung 45 Dossier gestiftet, die mit den hoch selektiven Rekrutierungsmechanismen der Elite-Schule ENS verbunden war und zur Folge hatte, daß die zukünftige intellektuelle Elite zumindest temporär weitgehend die selben Grundintentionen und Gestaltungsprinzipien teilte. Da es im hier vorgegebenem Rahmen nicht möglich ist, die gesamte Phalanx der ENS-Absolventen der späten 1920er Jahre Revue passieren zu lassen, soll ein Aspekt aus dem sozialisatorischen Umfeld von Raymond Aron herausgegriffen werden, der für seine Deutschland-Perzeption und die Motive seiner Rezeption deutschen Denkens aufschlußreich ist und bislang nicht eingehender dargestellt wurde. Die Grundlage für die folgende Kontextanalyse von Raymond Arons Deutschland-Interesse sind meine langjährigen Studien zu Pierre Bertaux (und seinem alter ego Pierre Viénot), mit dem ich zu Beginn der siebziger Jahre in Paris die Gelegenheit zu einer intensiven Zusammenarbeit hatte. Die enge „amitié normalienne“ zwischen Raymond Aron und Pierre Bertaux ist bekannt und vielfach belegt. So z. Bsp. durch die Grußadresse, die Bertaux aus Anlaß der kollektiven Hommage an Aron 1985, und diejenige, die Aron anläßlich des fünfundsiebzigsten Geburtstags von Bertaux verfaßte. 10 Die Briefe Arons an Bertaux aus den Jahren 1929 bis 1933 sind wertvolle (weil seltene) Belegstücke für ihre gemeinsamen Deutschlanderfahrungen in diesen Jahren. Obwohl Bertaux (1907- 1986) als Germanist und Pionier der Wiederaufnahme des akademischen Austauschs zwischen Paris und Berlin in Deutschlandfragen eine ungleich bedeutendere Rolle für Aron spielte als ihr gemeinsamer Studienkamerad Jean-Paul Sartre, 11 wurde dem in Berlin ab 1927 überaus erfolgreichen Junggermanisten bislang im Zusammenhang mit Arons Deutschland-Erfahrungen keine Aufmerksamkeit zugewandt, während die vergleichende Analyse der respektiven Deutschland-Aufenthalte von Aron und Sartre ein bereits viel beschriebenes Kapitel ihrer Biographie darstellt. 12 Wenn Aron Bertaux in seinen Memoiren auch nur beiläufig erwähnt und Bertaux mit Aron genauso verfährt, so belegt seine Biographie doch eine lebenslange Verbindung zwischen beiden. So geht aus den früheren Briefen Arons an Bertaux hervor, daß dieser ihn beraten hatte nach seiner Rückkehr aus Berlin 1928, bevor Aron seinerseits 1930 nach Köln aufbrach. 13 Der Tenor dieser Briefe Arons an Bertaux verdeutlicht, daß beide in einem sehr vertraulichen Verhältnis standen und einander ihre wissenschaftlichen und privaten Wünsche und Probleme mitteilten. In den Jahren 1930 bis 1933, als Bertaux’ Freund Viénot seine Berliner Tätigkeit als Leiter des Büros des Deutsch-Französischen Studienkomitees aufgegeben hatte und in Paris eine politische Karriere vorbereitete, 14 wurde an seiner Stelle Aron in seinen Berliner Jahren zum wichtigsten französischen Informanten und Kontaktmann in der Reichshauptstadt für Bertaux. Aron erinnert in seinem Gratulationstext für Bertaux an seine Besuche in der „Source“, dem Haus der Bertaux in Sèvres und Treffpunkt führender Literaten aus Frankreich und Deutschland, wo sie gemeinsam zeitgenössische Literatur lasen und diskutierten. 15 Nach den wiederholten Treffen beider in Berlin 1932/ 33, wo sie in der Staatsbibliothek für ihre Habilitationsschrift recherchierten, lud Bertaux den Freund im Sommer 1933 in die Pyrenäen nach Lescun ein, wo seine Eltern ein Landhaus 46 Dossier hatten und von wo aus die beiden normaliens ausgedehnte Wanderungen auf der spanischen Seite der Pyrenäen unternahmen. Diesen Ort, an dem Bertaux sich von den aufreibenden deutschen Erfahrungen zu erholen pflegte, behielt er seinen engsten Freunden und Bekannten vor. 16 Da der junge Germanist und normalien nach seiner Habilitation im Gefolge Viénots seine Tätigkeit in der Ministerial-Verwaltung begonnen hatte, vermochte er als Leiter des persönlichen Mitarbeiterstabes des Erziehungsministers der Volksfront Jean Zay 1937, dem ENS-Freund Aron zu seiner ersten Professur an der Universität Bordeaux zu verhelfen. Nach dem Zusammenbruch Frankreichs und seiner Besetzung durch das nationalsozialistische Deutschland gehörten beide junge Wissenschaftler zu den ersten Résistance-Vorkämpfern an verantwortlicher Stelle: Bertaux in der inneren Résistance in Toulouse, Aron in der äußeren Widerstandsbewegung bei De Gaulle in London. Nach 1945 beteiligte sich Aron am Wiederaufbau Frankreichs vor allem durch seine journalistische Aktivität (Combat und Figaro), Bertaux übernahm hohe Ämter in der Politik der Vierten Republik. Der eine fand 1955, der andere 1958 den Weg zurück an die Universität, der eine gründete 1961 das Centre de sociologie européenne, der andere 1969 das Institut d’Allemand d’Asnières. Diese zahlreichen Analogien des Entwicklungsganges (des „itinéraire“) ließen sich fortsetzen. Sie weisen nicht allein auf die aktive Rolle hin, die die beiden Repräsentanten der intellektuellen Elite in der nationalen Geschichte übernahmen. Sie sind auch das Ergebnis einer langfristig wirksamen, generationsspezifischen Sozialisation, die ein Zusammengehörigkeitsbewußtsein generierte, das unterschiedliche Überzeugungen und Handlungspräferenzen jedoch nicht ausschloß. 2. Krisenkonstellation und prüfende Hinwendung zu Deutschland Für die „Generationseinheit“, die sich in der Parallelbiographie von Aron und Bertaux abzeichnet, waren maßgeblich die intensive und nachhaltige Formung durch die ENS, die Abwendung von den tradierten Politikmustern (rechts-links) und die investigative Hinwendung zu Deutschland. Diese Merkmale finden sich in einer signifikanten Häufung und persönlichkeitsspezifischen Ausprägung auch bei vielen anderen normaliens der génération de la crise. Diese Aspekte müssen kurz erläutert werden. Die formative Wirkung der ENS war in den späteren zwanziger Jahren sehr stark, weil die Anstalt in der rue d’Ulm vor der Gründung der ENA für den geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich die Krönung des Ausleseverfahrens nach den Prinzipien des republikanischen Elitismus der Dritten Republik darstellte und ihre erfolgreiche Absolvierung die Option auf eine Spitzenposition in Kultur, Gesellschaft oder Politik eröffnete. 17 Sie erzeugte aufgrund verstärkter Binnenkommunikation einen esprit de corps, der in der Regel ein Leben lang aufrecht erhalten wurde und wechselseitige Begünstigungen förderte. Und sie ermöglichte eine hohe geistige Verarbeitungskapazität und Sensibilität für die Zivilisationsprobleme der Gegenwart, die oft eine dringlichere Priorität hatten als das engere Fach- 47 Dossier wissen. In dieser Alterskohorte der ENS-Studenten entstand erstmals in der französischen Mentatlitätsgeschichte (die ja keine Jugendbewegung nach deutschem Muster kannte) ein ausgeprägtes Generationenbewußtsein, in dem die materiellen und moralischen Nachkriegsgewißheiten an der Schwelle zu den 1930er Jahren fundamental in Frage gestellt wurden. 18 Dies Krisenbewußtsein, das inzwischen in allen Verästelungen erforscht wurde, wurzelte in ökonomischen Ursachen (Weltwirtschaftskrise), in innenpolitischen Blockaden (Niedergang des radicalisme) und außenpolitischen Aporien (Infragestellung der Versailler Nachkriegsordnung). Für die ENS-Studenten dieser Periode resultierte aus diesen Ursachen eine dominant sozialistisch-pazifistische Linksorientierung in der politischen Einstellung. Diese Grundeinstellung geriet in den Jahren 1930-1934 in eine Zerreißprobe. Sie wurde in einem selbstkritischen Befragungsprozeß eingeschmolzen und zugunsten einer Position des „ni gauche - ni droite“ verändert, die ihrerseits in den dreißiger Jahren zum Ausgangspunkt neuer politisch-ideologischer Standortbestimmungen wurde. In der Phase der politisch-moralischen Umstrukturierung, für die man die Bezeichnung des „nonkonformistischen Denkens“ eingeführt hat, 19 wurden die Begriffe der „inquiétude“ und der „incertitude“, der Unruhe und Ungewißheit, zu zeitdiagnostischen Kennwörtern. Vor dem Hintergrund eben dieser politischen und intellektuellen Entwicklung der Krisen-Generation an der ENS, die von einem sozialistischpazifistischen Konsens zum nonkonformistischen Denken verlief, hat man die generationsspezifischen Gründe für das wachsende Interesse dieser Absolventen- Jahrgänge an Deutschland zu sehen. Man findet in diesem Fall ein ungewöhnlich klar umrissenes Exempel für den generell konstatierbaren Antrieb transnationalen Kulturaustauschs, der darin besteht, daß man im anderen Land Antworten sucht auf Probleme, die im eigenen Land auf den Nägeln brennen. Am Beispiel von Raymond Aron und seinen frühesten französischen Wegbegleitern nach Deutschland vermag man, diesen Weg und dieses Interesse am Nachbarland detailliert nachzuzeichnen. Die frühesten Quellen-Spuren führen zu seiner Mitgliedschaft im 1923 von Robert Minder gegründeten Groupe d’information international an der ENS. Dort sammelte sich eine Gruppe von normaliens, die im Laufe der zwanziger Jahre zahlreiche deutsche und andere Intellektuelle zu Vorträgen einluden. Sie stand im Kontakt und unter dem Einfluß von Romain Rolland, der schon in den frühen zwanziger Jahren zur Hilfe für und zum Kontakt mit der deutschen Bevölkerung aufgerufen hatte. 20 Die ENS-Gruppe war sozialistisch-pazifistisch orientiert und definierte sich in Abgrenzung zum Nationalismus. Raymond Aron wurde 1925 ihr Mitglied und trat an die Stelle von Georges Friedmann, der zu philosophisch-industriesoziologischen Studien nach Berlin aufgebrochen war. 21 Aron berichtet in seinen autobiographischen Texten nicht von dieser Zugehörigkeit, wohl aber von seinem „engagement vaguement socialiste“. 22 Seine Biographen haben bislang eine andere Spur seines frühen Interesses an Deutschland nicht aufgenommen, auf die er selbst hinweist: Seine Einbeziehung in die Diskussionen der Intellektuellen-Vereinigung Union pour la vérité und in die Sommertreffen der Décades de Pontigny. An beiden Orten debattierten etablierte Wissenschaftler und 48 Dossier Schriftsteller, aber auch viele ENS-Studenten aus der rue d’Ulm und ENS-Studentinnen von Sèvres ethische, politische und ästhetische Kernfragen der aktuellen Gesellschafts- und Kulturentwicklung. In diesen Debatten der zwanziger und dreißiger Jahre bildete das Nachkriegsdeutschland im doppelten Sinne einen Brennpunkt: In der Pariser Union pour la vérité in der Form zweier ausgedehnter Experten-Diskussionen 1922 und 1931/ 32 23 und in Pontigny in der Form der maßgeblichen Einbeziehung deutscher Intellektueller in die Gestaltung der europäischen Sommermeetings im Département de l’Yonne (u.a. Friedrich Wilhelm Förster, Ernst Robert Curtius, Heinrich Mann, Max Scheler und Bernhard Groethuysen). 24 An beiden Orten wurden Verbindungen zwischen den Generationen- und den Nationenvertretern geknüpft. Aron datierte z. Bsp. auf ein Pontigny-Treffen den Beginn seiner Freundschaft mit André Malraux und er machte dort die Bekanntschaft mit seiner späteren Frau. 25 Mit ähnlich rückblickender Begeisterung wie über die formative Bedeutung der ENS schreibt er in seinen Memoiren über Pontigny: „J’aimai les décades; les entretiens en eux-mêmes ne manquaient pas d’intérêt et, au reste, ils ne prenaient que quelques heures par jour. Autour d’eux s’épanouissait une vie sociale faite de conversations indéfinies dont les commérages n’étaient pas absents: une cinquantaine d’intellectuels, plus ou moins grands, se trouvaient pour ainsi dire enfermés; comment ne se seraient-ils pas observés, loués, critiqués les uns les autres [...]“ 26 Für Aron war Pontigny die Gelegenheit, die führenden Intellektuellen seiner Zeit kennenzulernen. Er wurde erstmals kurz nach seiner Agrégation-Prüfung vom spiritus rector der internationalen Sommertreffen Paul Desjardins zu der Dekade „L’homme et le temps“ eingeladen und referierte über Proust. Er wurde wie zahlreiche andere ENS-Studenten ein Habitué dieses Umschlagplatzes europäischen Geisteslebens. Raymond Aron und Pierre Bertaux waren in den dreißiger Jahren so sehr mit dem inneren Kreis der Pontigny-Organisatoren verwachsen, daß sie beide als Gesprächsleiter für einzelne Dekaden im Gespräch waren. 27 Die gleichfalls von dem Philosophen Desjardins in Paris, in der rue Visconti, instituierten Libres entretiens waren der mehr auf Frankreich zentrierte Ort öffentlicher Debatte der sozialethischen Probleme der Republik, deren Klärung die Union pour la vérité sich zum Ziel gesetzt hatte. Aron lernte dort ein Für und Wider der Argumente und eine abwägende Urteilsbildung kennen, die seinen späteren intellektuellen Habitus kennzeichnen sollte. Er stritt in der rue Visconti mit seinem akademischen Lehrer Léon Brunschvicg über dessen Dissoziierung von Moral und politisch-gesellschaftlichem Leben. Was er in seinen Memoiren nicht erwähnt, ist seine aktive Teilnahme an der dritten Deutschland-Debatte in der Union pour la vérité im Jahre 1931, wo abermals die Frage nach dem richtigen Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Reflexion und politischer Aktion im Mittelpunkt stand. 28 Die These, daß Raymond Aron seine geschichtsphilosophischen Fragen in den Debatten der Union pour la vérité generiert und formuliert habe, auf die er dann im zeitgenössischen Denken in Deutschland die Antworten suchte und fand, ist zutreffend und wird gerade durch die generationelle Kontextanalyse bestätigt. 29 49 Dossier Aus seiner Altersgruppe der ENS-Absolventen gehörten zur Groupe d’information international neben Robert Minder, Raymond Aron u.a. die späteren Deutschland-Kenner Jean Prévost, Vladimir Jankélévitch und Jean Cavaillès. Namentlich im Falle des hochbegabten Jean Cavaillès kann man den Weg von der ENS über die rue Visconti und Pontigny nach Deutschland aufzeigen, wo er als Philosoph und Mathematikhistoriker auf neue Dimensionen der Beantwortung brennender Zeitfragen u.a. in der „dialektischen Theologie“ Karl Barths stieß und eine kritischempathische Einstellung zur deutschen Kultur einübte. 30 Der Gründer der ENS- Gruppe, der germanistische Literaturwissenschaftler elsässischer Herkunft Robert Minder, war auch Adept der Dekaden von Pontigny und wurde unter dem Einfluß von Albert Schweitzer zu einem französisch-deutschen Mittler und in der Auseinandersetzung mit der stammesgeschichtlichen Literaturinterpretation zu einem bedeutenden litertursoziologischen Komparatisten zwischen beiden Nationen. 31 Im engeren Umfeld von Aron folgten eben dieser Spur nach Deutschland vor allem jedoch Pierre Bertaux und dessen älterer Freund Pierre Viénot, die einander in Berlin kennengelernt hatten. Beide waren eifrige Teilnehmer an den Debatten in der Union pour la vérité und während der Dekaden von Pontigny. Viénot war dort eingeführt worden durch seinen Mentor, den französischen Generalresidenten in Marokko Hubert Lyautey (der einer der Gefolgsleute von Paul Desjardins in der Gründung der Union pour la vérité war). Bertaux fand Zugang zur rue Visconti und zu Pontigny über seinen Vater, den Literaturkritiker und Deutschland-Experten der Nouvelle Revue Française, Félix Bertaux. Sie waren die fast unumgänglichen Impresarii für den nach 1925 einsetzenden und schnell wachsenden französischen Besucherverkehr in Berlin mit ökonomischem und kulturellem Auftrag: Viénot ab 1926 als Leiter des dortigen Büros des Deutsch-Französischen Studienkomitees, Bertaux ab 1927 als Mitarbeiter am Romanischen Seminar der Universität, an dem bis zum Ende der Weimarer Republik ein langes Défilee von französischen Vortragsrednern auftrat. Aron kannte aus diesen Zusammenhängen nicht nur Félix Bertaux , auf den er sich gelegentlich berief, 32 sondern auch Viénot, und zwar über die Vermittlung seines Freundes Bertaux. Viénot (1898-1944) war weder normalien, noch gehörte er im engeren Sinne der Altersgruppe der im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Geborenen an. Mit seiner eindringlichen Deutschland- Erfahrung und -Reflexion, die ab 1925 in die Deutschland-Debatte der Union pour la vérité an markanter Stelle Eingang fand, 33 war er jedoch ein „nonconformiste avant la lettre“, der über Pierre Bertaux und über sein Buch Incertitudes allemandes. La crise de a civilisation bourgeoise en Allemagne (1931) unmittelbar auf die génération de la crise einwirkte. 34 Außer den hier schon skizzierten Begegnungsorten dieser normaliens mit Deutschen (Groupe d’information international in der rue d’Ulm, rue Visconti und Pontigny) gab es schließlich noch ein transnationales Kommunikationsnetz, das nur in den Jahren 1928 bis 1931 tätig war, aber einen nachweisbaren anhaltenden Sozialisationseffekt auf die jungen nonkonformistischen Intellektuellen ausübte. Nämlich die Internationalen Hochschulkurse im schweizerischen Kurort Davos, die maßgeblich von deutschen und französischen 50 Dossier Initiatoren ausgerichtet wurden und an denen zwischen 300 und 400 Hochschullehrer und Studierende (aus Frankreich vor allem die normaliens) drei bis vier Wochen lang teilnahmen. Dort war es - ähnlich wie in Pontigny - die temporäre Gemeinschaft von renommierten Intellektuellen und fortgeschrittenen Studierenden aus beiden Ländern, die zeitlich begrenzte, aber intensive Kommunikation zwischen Nationen und Generationen in einer Phase zunehmender Ungewißheit in den politischen Beziehungen beider Nationen, die sich im Gedächtnis festsetzte. Die legendäre Davoser Kontroverse zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger von 1929 wurde namentlich von den französischen normaliens als Sternstunde modernen Denkens aufgefaßt. 35 Jean Cavaillès schrieb einen preisgekrönten Bericht darüber und begann, nach Deutschland zu reisen. 36 Raymond Aron und Pierre Bertaux nahmen an diesen Davoser Hochschulkursen teil und Aron erinnert sich in seiner Grußadresse an Bertaux von 1982 noch an diese gemeinsame Erfahrung. 37 Es ist also hinreichend nachweisbar, daß für die génération de la crise die Kontaktnahme zu Deutschland und die Aufnahme der von dort ausgehenden philosophischen und wissenschaftstheoretischen Anregungen nicht allein eine modisch-konjunkturelle Regung, sondern eine intrinsische Reaktion auf ihre prekäre lebensweltliche Situation war. 3. Deutschland-Erfahrungen und Paradigmenwechsel in den Sciences humaines Was die französische Krisen-Generation als Orientierungspunkte in Deutschland für die eigene geistige Perspektivensuche gegen Ende der zwanziger Jahre interessierte, das waren die von der Jugendbewegung ausgelösten Wandlungen der soziokulturellen Verhaltensmuster (Wertewandel am Beispiel des Verhältnisses zum Geld und zur Sexualität) und vor allem das „neue Denken“ in der Nachfolge von Dilthey und Husserl. Vertieft man die Betrachtung dieses zweiten Aspekts, so bieten sich wiederum zahlreiche Beispiele für den philosophischen Theorientransfer an, der von den nonkonformistischen normaliens in die Wege geleitet wurde. Am Ende der dreißiger Jahre faßte der Freund Bertaux’ und Bekannte Arons, der Autor der Incertitudes allemandes, Pierre Viénot die Aspekte philosophischen Denkens zusammen, die zu Beginn der dreißiger Jahre die Krisen-Generation fasziniert hatten: „Alle Probleme der modernen Welt und der modernen Menschen sind dort gestellt worden. Mit zähem Eifer arbeitete man von allen Seiten in jedem Sinne an ihrer Lösung. Die Bemühungen Nachkriegsdeutschlands waren von ungeheurem Ausmaß und unermüdlich. Sie bezogen sich auf jedes Gebiet des öffentlichen und privaten Lebens. Mit einer Kühnheit, die in der Geschichte ohne Beispiel ist, vermischte man sogar die Grenzen dieser beiden Bezirke des Menschlichen und stellte das Problem einer neuen Gemeinschaft in seiner ganzen Breite und Tiefe, einer Gemeinschaft, in deren Schoß das Individuum endlich die Möglichkeit vollster Entfaltung finden sollte im glücklichen Bewußtsein, zu der Um- 51 Dossier und Außenwelt in einer richtig ausgewogenen Beziehung zu stehen. Alle, die in dieser Zeit am inneren Leben Deutschlands teilnahmen, fühlten sich diesem Streben tief verbunden. Sie waren sich bewußt, daß ihre eigene Existenz mit auf dem Spiel stand“. 38 Die von Viénot gehegte Hoffnung, die deutsche Krise des bürgerlichen Denkens berge ein umfassendes Erneuerungspotential auch für die Gesellschaft und Kultur Frankreichs, wurde allen Anzeichen nach in der Tat von vielen jungen Intellektuellen seines Landes geteilt. Diese Prädisposition war die Grundlage für die Rezeption verschiedener Autoren geisteswissenschaftlich-phänomenologischen und philosophisch-anthropologischen Denkens im zeitgenössischen Deutschland. Die Vermittlungswege dieses Denkens, die von einem Land ins andere führten, können anhand des Wirkens von Bernhard Groethuysen und Paul Ludwig Landsberg exemplarisch nachgezeichnet werden. Groethuysen, der direkte Schüler Diltheys und Freund des NRF-Herausgebers Jean Paulhan führte eine in der Zwischenkriegszeit ungewöhnliche Existenz zwischen Berlin und Paris und genoß in den international offenen Kreisen in Paris hohes Ansehen. Aus seinen Studien zur Geschichte des französischen Bürgertums, die er in Paris durchführte, zweigte er für seine Freunde eine Überblicksdarstellung der zeitgenössischen Geisteswissenschaften und ihrer Philosophie ab. Er trug sie in der rue Visconti 1926 zuerst in kleinem Kreise vor und veröffentlichte sie unter dem Titel Introduction à la pensée philosophique allemande depuis Nietzsche (1926). 39 Mehr noch als seine diskursive Darstellung des Denkens von Dilthey bis Husserl wirkte Groethuysen durch seine extemporierten Beiträge in den Dekaden von Pontigny auf die dort zahlreich vertretenen normaliens ein, in denen er ab 1924 einen wachsenden Einfluß ausübte. Aus dem Kontext geisteswissenschaftlich-phänomenologischen Denkens in Deutschland spielte in Pontigny ab 1924 Max Scheler eine wahrscheinlich noch größere Rolle. Groethuysen hatte Scheler dort als Übersetzer gedient und dessen Teilnahme an den burgundischen Sommergesprächen förderte nachweislich seine Präsenz in der französischen philosophischen Fachliteratur. 40 Edmund Husserl schließlich kam 1929 zu einem Vortrag an die Sorbonne, in dem er die Grundideen der transzendentalen Phänomenologie darstellte. Dieser von deutscher Seite direkt ausgehende Rezeptionsimpuls zugunsten des phänomenologischen Denkansatzes wurde auch durch Paul Ludwig Landsberg ab Beginn der dreißiger Jahre verstärkt. Er war als Scheler-Schüler ähnlich gut eingeführt und integriert in die maßgeblichen Intellektuellenkreise in Paris wie Groethuysen und wirkte wie er nachhaltig in Pontigny. 41 Diese philosophiegeschichtlich in Umrissen seit längerem nachgezeichneten Rezeptionswege der Phänomenologie von Deutschland nach Frankreich 42 wären dort jedoch zu Sackgassen geworden, wenn nicht im Aufnahmeland im Übergang von den zwanziger zu den dreißiger Jahren eine Prädisposition für ihre Fragestellungen in der génération de la crise vorhanden gewesen wäre. Sie ist fallweise nachgewiesen worden in der Aufnahme und Bedeutung Max Schelers durch Raymond Arons ENS-Kameraden Emmanuel Mounier, in der Aneignung und Verarbeitung Husserls durch Jean-Paul Sartre und in der intensiven 52 Dossier Einlassung von Jean Cavaillès, des Vorgängers Arons am Pariser Centre de documentation sociale, auf die phänomenologische Diskussion in Deutschland. 43 Im unmittelbaren soziokulturellen Umfeld von Raymond Aron sind die Ursachen, Motive und Zwecksetzungen der Hinwendung dieser Intellektuellen-Generation zum „neuen Denken“ in Deutschland etwas detaillierter und sinnfälliger darstellbar im Vergleich seiner eigenen Entwicklung während der ersten Hälfte der 1930er Jahre mit dem parallelen Werdegangs seines Freundes Bertaux. In diesem Zeitabschnitt vollzog sich im wesentlichen die Rezeption der deutschen Kultursoziologie und Phänomenologie der ENS-Generation, der beide angehörten. Aron und Sartre setzten zwischen 1930 und 1934 ihre Studien in Deutschland fort als Stipendiaten an der Maison académique française in Berlin, Bertaux fand als Stipendiat der Fondation Thiers sein Lebensthema Hölderlin. Gemäß der von ihrem Habilitationsthema geforderten Spezialisierung wandte sich Aron der Soziologie und Geschichtsphilosophie im gegenwärtigen Deutschland zu. 44 Bertaux arbeitete sich als Philologe in das Werk Hölderlins ein, das nicht zuletzt unter dem Einfluß der Jugendbewegung wiederentdeckt worden war, und vertiefte sich in die von Dilthey ausgehende geisteswissenschaftliche Deutung des Dichters. 45 Beide habilitierten sich mit diesen Arbeiten 1936 bzw. 1938 und trafen bei ihren Prüfern auf deutliche Vorbehalte gegenüber ihrer methodologischen Vorgehensweise. 46 Aron, der seine thèse principale den führenden Vertretern der Sorbonne- Philosophie Léon Brunschvicg und dem Protagonisten der Durkheim-Schule Célestin Bouglé widmete, war in seinen wissenschaftstheoretischen Überlegungen darum bemüht, den kritischen Rationalismus bzw. die positivistischen Grundlagen seiner Lehrer zu überwinden. Bertaux verfuhr in seiner thèse principale Hölderlin, biographie intérieure methodisch ganz ähnlich wie Aron im Widerspruch zu den ausgeprägt positivistischen Prämissen seines Lehrers Henri Lichtenberger, der wesentlich von Hippolyte Taine geprägt war. 47 Es ist nicht zu verkennen, daß beide Habilitanden mit ihren epistemologischen Neuerungen auch ihren akademischen Originalitätsanspruch begründeten und im übrigen als normaliens mit der wohlwollenden Toleranz ihrer Lehrer rechnen konnten. In jedem Fall stießen hier tradierte Paradigmen (der philosophische „kantisme“ und der soziologische und philologische Positivismus der Sorbonne) auf neue wissenschaftstheoretische Prämissen, die die beiden Kandidaten in Deutschland kennengelernt hatten. Für beide normaliens war charakteristisch, daß sie sich ihre Wissensgrundlage durch intensive Lektüre aneigneten und weniger durch den persönlichen Kontakt mit Autoren, über die sie arbeiteten. Von Aron ist bekannt, daß er sporadisch Kontakt zu Karl Mannheim und zu Norbert Elias in Frankfurt hatte, 48 von Bertaux, daß er über seinen Chef am Romanischen Seminar (Eduard Wechssler) Bernhard Groethuysen kannte. In Arons thèse sécondaire, die das geschichtsphilosophische Denken von Dilthey, Rickert, Simmel und Max Weber zum Gegenstand hatte, verfuhr er - ähnlich wie Bertaux in seiner „biographie intérieure“ Hölderlins - in der Form einer immanenten Rekonstruktion ihrer Thesen. Aron rechtfertigte dies Verfahren (das von seinen positivistischen Kritikern mit Unverständnis aufgenommen 53 Dossier wurde) mit der These: „Mais à partir du moment où l’on décide d’étudier à travers quatre philosophes, un problème actuel et nécessaire, le souci historique doit disparaître au profit de l’effort de compréhension interne.“ 49 Beide Autoren neigten in ihren Qualifikationsarbeiten dazu, die geisteswissenschaftliche Methode zu radikalisieren. Eine Überschwänglichkeit, die sie später korrigierten, indem namentlich Bertaux in den 1960er Jahren Hölderlin als Jakobiner interpretierte und damit dessen radikale Dekontextualisierung revidierte. 50 Die beiden Habilschriften brüskierten die Sorbonne-Autoritäten, 51 fanden jedoch frühe Zustimmung bei deutschen Rezensenten. Bernhard Groethuysen veröffentlichte eine nuancierte Zustimmung zu Arons Buch über die Geschichtsphilosophie der vier Geisteswissenschaftler 52 und Golo Mann publizierte in der Schweiz eine positive Rezension von Bertaux’ Hölderlin-Buch. 53 Schon in den frühen dreißiger Jahren hatten die beiden jungen Franzosen die politische Entwicklung Deutschlands mit wachen Sinnen verfolgt. Für Aron wurden die drei Jahre von 1930 bis 1933 der Anlass zur Revision seiner pazifistischen Überzeugungen, in der seine späteren Arbeiten über Krieg und Frieden seinen Ursprung hatten. 54 Bertaux und Viénot glaubten beharrlich an die Konfliktlösungs-Möglichkeit im deutsch-französischen Verhältnis, wurden dann aber frühe Warner vor Hitler-Deutschland und aktive Helfer für die vom Hitler-Regime ins Exil verwiesenen deutschen Freunde aus der Weimarer Republik. 55 Beide Liebhaber der lebendigen geisteswissenschaftlichen Denkanstrengungen in Deutschland und Kritiker des Nationalsozialismus schrieben über ihre Erfahrungen mit dem Nachbarland in der Zeitschrift Esprit, die ab 1932 von ihrem ENS-Kameraden Emmanuel Mounier herausgegeben wurde und zum Sammelplatz nahezu aller nonconformistes dieser Zeit wurde: Ein weiterer Beleg für die „Generationseinheit“ dieser Altersgruppe der ENS-Absolventen. Im Falle von Aron und Bertaux trennten sich die Wege in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. Der erste hielt sich unter Berufung auf sein Vorbild Max Weber von der operativen Politik fern und nahm seine Rolle als „spectateur engagé“ ein. Der zweite folgte Viénot in die Volksfront-Regierung und blieb dann rund zwei Jahrzehnte überwiegend in der Politik. Aus ihrer Einlassung auf und ihrer Parteinahme für das (von Viénot so bündig beschrieben) philosophische „neue Denken“ im Deutschland der Weimarer Republik folgte für die meisten Vertreter dieser vormaligen Krisen-Generation ihre Sympathie mit den Hitler-Flüchtlingen vor 1939 und ihr Festhalten an den neuen antipositivistisch-geisteswissenschaftlichen Grundlagen, die sie ab Mitte der 1930er Jahre selbständig verarbeiteten und weiterentwickelten. Viele von ihnen gingen in den Widerstand gegen die deutsche Besatzung Frankreichs und nahmen Exil oder Gefängnis in Kauf (Aron und Bertaux) oder bezahlten (wie Cavaillès) mit ihrem Leben. Ab 1945 gehörten sie zu den ersten Intellektuellen, die sich gegen die dauerhafte Ächtung des Nachbarlandes und für die Wiederaufnahme des geistigen Dialoges mit den Deutschen einsetzten. Sartres Reise nach Berlin, Mouniers Deutschland-Reisen der ersten Nachkriegsjahre sind Beispiele dafür. 56 Raymond Aron trat 1948 in Frankfurt auf mit einem Vortrag über das Thema Hat Europa noch Aufbaukräfte? . Er sprach auf Einladung des Fo- 54 Dossier rum Academicum, das sich zum Ziel gesetzt hatte, „einem möglichst breiten Hörerkreis Vorträge international anerkannter Vertreter des geistigen Lebens über die brennenden Fragen der Zeit zu vermitteln“. 57 Aron plädierte für die Wiedereinbeziehung des aufzubauenden Deutschland in Europa. Er gehörte im selben Jahr zu den Gründungsmitgliedern des von Emmanuel Mounier ins Leben gerufenen Comité français d’échange avec l’Allemagne nouvelle, das bis 1967 unter der Leitung von Alfred Grosser wesentlich beitrug zum Wiederaufbau der soziokulturellen Beziehungen zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland. Als an der Schwelle der fünfziger Jahre der junge Literat und Soziologe Nicolaus Sombart nach Paris ging, wurde er dort von zwei maßgeblichen Repräsentanten der ENS- Generation der Krise in Obhut genommen, nämlich von Raymond Aron und Pierre Bertaux. 58 Der Zyklus: Krise des Denkens und Handelns, investigative Einlassung auf die wissenschaftlichen und intellektuellen Problemlösungsangebote des Nachbarlandes und selbständige Weiterverarbeitung dieser Impulse begann zwischen Deutschen und Franzosen von neuem und nunmehr mit umgekehrten Rollen des Gebens und Nehmens. 1 Nicolas Baverez: Raymond Aron. Un moraliste au temps des idéologies, Paris, Flammarion, 1993. Robert Colquhoun: Raymond Aron. The Philosopher in History 1905-1955, London, Sage Publications, 1986, 2 Bde. Joachim Stark: Das unvollendete Abenteuer. Geschichte, Gesellschaft und Politik im Werk von Raymond Aron, Würzburg, Könighausen und Neumann, 1986. 2 Cf. dazu jüngst Olivier de Lapparent: Raymond Aron et l’Europe. Itinénaire d’un Européen dans le siècle, Bern, Peter Lang, 2010. Matthias Oppermann: Raymond Aron und Deutschland. Die Verteidigung der Freiheit und das Problem des Totalitarismus, Ostfilde, Thorbeke, 2008. 3 Jean-François Sirinelli: Génération intellectuelle. Khâgneux et normaliens dans l’entredeux-guerres, Paris, Fayard, 1988. 4 Jean-François Sirinelli: Deux intellectuels dans le siècle. Sartre et Aron, Paris, Fayard, 1995. 5 Cf. dazu die Beiträge zur Klärung dieser Leitbegriffe in Nicole Racine, Michel Trebitsch (eds.): Sociabilités intellectuelles. Lieux, milieux, résaux, Paris, IHTP, 1992. Jean-François Sirinelli (ed.): Générations intellectuelles. Effets d’âge et phénomène de génération dans le milieu intellectuel français, Paris, IHTP, 1987. 6 Michel Winock: „Les générations intellectuelles”, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire, 1989, Nr. 22, 17-38. 7 Cf. Jean-Louis Loubet del Bayle: Les non-conformistes des années 30. Une tentative de renouvellement de la pensée politique française, Paris, Seuil, 1969 (2001 2 ). Jean Touchard: „L’esprit des années trente”, in: Tendances politiques dans la vie française depuis 1789, Paris, FNSP, 1960. 8 Michel Winock, loc.cit., 29. 9 Karl Mannheim: „Das Problem der Generationen“, in: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, Neuwied, Luchterhand, 1964, 509-565. 10 „Témoignages“, in: Pierre Bertaux: Mémoires interrompus, Paris/ Asnières, PIA, 2000, 289-291. 55 Dossier 11 Cf. Hans Manfred Bock: „Die ‘wilden Jahre’ von Berlin (1927-1933). Pierre Bertaux’ deutsche Freunde und Erfahrungen“, in: Ders.: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen , Narr, 2005, 333-361. 12 Cf. neben der allgemeinen Aron-Literatur dazu: Marie-Christine Granjon: „L’Allemagne de Raymond Aron et de Jean-Paul Sartre“, in: Hans Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (eds.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Paris, Edition CNRS, 1993, 463-479. 13 Cf. Raymond Aron: „Lettres d’Allemagne à Pierre Bertaux (1930-1933)“, in: Commentaire, 1985, 281-283. 14 Gaby Sonnabend: Pierre Viénot (1897-1944). Ein Intellektueller in der Politik, München, Oldenbourg 2005, 293-366. 15 Cf. dazu Hans Manfred Bock: „‘Réapprendre l’Allemagne’. Felix Bertaux als Freund André Gides und der zeitgenössischen deutschen Literatur“, in: Ders.: Kulturelle Wegbereiter, op.cit., 309-332. 16 Hans Manfred Bock: „Lescun lieu de mémoire franco-allemand“, in: Hans Hartje (ed.): Heinrich Mann. Le Roman d’Henri IV et les relations d’amitié avec Félix Bertaux, Paris, Edition Petra, 2010, 111-126. 17 Diese Funktion wird umfassend erörtert in Jean-François Sirinelli: Génération intellectuelle, op.cit., 117-164. 18 Die Strömung der non-conformistes war breiter als die Absolventengruppe der ENS, letztere verarbeitete jedoch deren Einfluß zu einem eigenen Generationsbewußtsein. Cf. Pascal Balmand: „Les jeunes intellectuels de l’„Esprit des années trente“. Un phénomène de génération? “, in: Jean-François Sirinelli: Générations intellectuelles, op.cit., 49-63. 19 Cf. dazu auch Gilbert Merlio (ed.): Ni gauche, ni droîte. Les chassés-croisés idéologiques des intellectuels français et allemands dans l’Entre-deux-guerres, Talence, Edition MSHA, 1995. 20 Cf. erstmals die Darstellung Anne Kwaschik: Auf der Suche nach der deutschen Mentalität. Der Kulturhistoriker und Essayist Robert Minder, Göttingen, Wallstein, 2008, 39-46. 21 Zu den internationalen Kontakten Friedmanns cf. jetzt auch Pierre Grémion, Françoise Piotet (eds.): Georges Friedmann. Un sociologue dans le siècle 1902-1977, Paris, Edition CNRS, 2004. 22 Raymond Aron: Mémoires. 50 ans de réflexion politique, Paris, Julliard, 1986. 23 Hans Manfred Bock: „Europa als republikanisches Projekt. Die Libres entretiens in der rue Visconti/ Paris und die Decaden von Pontigny als Orte französisch-deutscher Begegnung”, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France. Vergleichende Frankreichforschung, 1995, Nr. 78/ 79, 122-156. Als Standardwerk zur Union pour la vérité cf. François Beilecke: Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer Intellektuellenassoziation 1892-1939, Frankfurt/ M., Campus, 2003. 24 Klaus Große Kracht: „Les intellectuels allemands à Pontigny autour de Ernst Robert Curtius, Heinrich Mann et Bernhard Groethuysen“, in: S.I.E.C.L.E. (ed.): Colloque de Cerisy. 100 ans de rencontres intellectuelles de Pontigny à Cerisy, Caen, Publications de Cerisy, 2005, 107-116. Als Standardwerk zu Pontigny cf. François Chaubet: Paul Desjardins et les décades de Pontigny, Villeneuve-d’Ascq, 2000. 25 Raymond Aron: Mémoires, op.cit., 105. 26 Ibid., 104. 56 Dossier 27 Cf. den Brief von Paul Desjardins (13.2.1935), in: François Chaubet, op.cit., 210. Schon vorher hatten die drei „ulmiens“ Protokollantenfunktion in Pontigny ausgeübt: Sartre 1926, Aron 1928 und Pierre Bertaux 1929; cf. ibid., 164. 28 „Problèmes franco-allemands d’après-guerre“, in: Bulletin de l’Union pour la vérité, 1932, 241. 29 So völlig richtig und zuerst vertreten von Joachim Stark: „Zwischen Devoir présent und Incertitudes allemandes. Raymond Aron in den Jahren 1928 bis 1932“, in: Lendemains, 1992, Nr. 66, 49-58. 30 Cf. Alya Aglan, Jean-Pierre Azéma (eds.): Jean Cavaillès résistant. Ou la Pensée en actes, Paris, Flammarion, 2002, dort: 13-78. Nicole Racine: „Les années d’apprentissage“, cf. auch Henri Sinaceur: „Cavaillès et l’école mathématique de Göttingen“, in: Michel Espagne (ed.): L’Ecole normale supérieur et l’Allemagne, Leipzig, Leipziger Universitätsverlag, 1995, 1-9, und: Gerhard Heinzmann: „Jean Cavaillès und seine Beziehungen zu Deutschland“, in: Hans Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (eds.): Entre Locarno et Vichy, op.cit., 405-416. 31 Albrecht Betz, Richard Faber (eds.): Kultur, Literatur und Wissenschaft in Deutschland und Frankreich. Zum 100. Geburtstag von Robert Minder, Würzburg, Königshausen und Neumann, 2004. 32 „Problèmes franco-allemands d’après-guerre“, loc.cit., 124. 33 In dem Sonderheft der Correspondance. Union pour la vérité Jg. 1925, das der Wiederaufnahme der französisch-deutschen Beziehungen gewidmet war, wurden die Briefe Viénots aus Deutschland anonym abgedruckt. Cf. Gaby Sonnabend: Pierre Viénot, op.cit., 68-73 und meine Darstellung in: Hans Manfred Bock: „Der Weg Pierre Viénots von Lyautey zu de Gaulle. Biographische Stationen eines nonkonformistischen Intellektuellen und Deutschland-Kenners“, in: Ders.: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung, Tübingen, Narr, 2005, 249-283. 34 Pierre Viénot: Ungewisses Deutschland. Zur Krise seiner bürgerlichen Kultur. Neu herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Hans Manfred Bock, Bonn, Bouvier, 1994. 35 Cf. Ina Belitz: „Grenzgänger zwischen Wissenschaften, Generationen und Nationen. Gottfried Salomon-Delatour“, in: Lendemains, 1997, Nr. 86/ 87, 49-75. Cf. Jean-François Sirinelli: Génération intellectuelle, op.cit., 539-561. 36 Jean Cavaillès: „Les Deuxièmes Cours Universitaires de Davos“, in: Die II. Davoser Hochschulkurse. Les II es Cours Universitaires de Davos. 17 mars-6 avril 1929, Davos, Heinz, 1929, 65-81. 37 Pierre Bertaux: Mémoires interrompus, op.cit., 290 sq. 38 Pierre Viénot: „Um Frankreich zu retten - und Deutschland mit ihm“, in: Die Zukunft. Ein neues Deutschland, ein neues Europa, vom 28.4.1939. 39 Bernhard Groethuysen: Introduction à la pensée philosophique en Allemagne depuis Nietzsche, Paris 1926. Dazu Klaus Große Kracht: Zwischen Berlin und Paris. Bernhard Groethuysen (1880-1946). Eine intellektuelle Biographie, Tübingen, Niemeyer, 2002, 162 sq. 40 Cf. Bernhard Waldenfels: Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1983, 36 sq. 41 François Chaubet: Paul Desjardins, op.cit, 229 sq; dort zu seiner Mitwirkung in Pontigny ab 1936. Thomas Keller: „Médiateurs personnalistes entre générations non-conformistes en Allemagne et en France“, in: Gilbert Merlio (ed.): Ni gauche, ni droîte, op.cit., 257-273; dort zu seiner Mitarbeit an Emmanuel Mouniers Zeitschrift Esprit. 57 Dossier 42 Bernhard Waldenfels: Phänomenologie in Frankreich, op.cit. Thomas Keller: Deutschfranzösische Dritte-Weg-Diskurse. Personalistische Intellektuellendebatten der Zwischenkriegszeit, München, Fink, 2001. 43 Cf. Gerhard Heinzmann: „Jean Cavaillès”, loc.cit., bes. 413 sq. Gérard Lurol: Emmanuel Mounier. Le lieu de la personne, Paris, L’Harmattan, 2000, 119-153: „Max Scheler”. 44 Raymond Aron: Mémoires, op.cit, 66-108: „Découverte de l’Allemagne“. Cf. auch Joachim Stark (ed.): Raymond Aron: Über Deutschland und den Nationalsozialismus. Frühe politische Schriften 1930-1939, Opladen, Leske und Budrich, 1993. 45 Pierre Bertaux: Mémoires interrompus, op.cit., 61-125: „Les anées d’apprentissage“. Cf. auch Pierre Bertaux: Un normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes 1927-1933, Paris/ Asnières, PIA, 2001, 284 sq., dort mehrere Bezugnahmen auf Dilthey. 46 Cf. Nicolas Baverez: Raymond Aron, op.cit, 129-136; Jean-Christophe Marcel: Le durkheimisme dans l’entre-deux-guerres, Paris, PUF, 2001, 236 sq. Marc Joly, Quentin Deluermoz: „Un échange de lettres entre Raymond Aron et Norbert Elias (juillet 1939)“, in: Vingtième Siècle, 2010, Nr. 106, 97-102. Zu Bertaux’ soutenance de thèse und auf der Grundlage ihres Protokolls cf. Hans Manfred Bock: „Deutsch-französischer Soziologietransfer im Generationenkontext. Zu Raymond Arons Rezeption deutscher Soziologie in den 1930er Jahren“, in: Stephan Moebius, Gerhard Schäfer (eds.): Soziologie als Gesellschaftskritik, Hamburg, VSA, 2006, bes. 166-171. In den soutenances von Aron und Bertaux war Edouard Vermeil Mitglied der Jury. Zu ihm cf. Katja Marmetschke: Feindbeobachtung und Verständigung. Der Germanist Edmond Vermeil in den deutsch-französischen Beziehungen, Köln, Böhlan, 2008. 47 Hans Manfred Bock: „Henri Lichtenberger - Begründer der französischen Germanistik und Mittler zwischen Frankreich und Deutschland“, in: Ders.: Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung, op.cit., 217-231. 48 Jean-Christophe Marcel: Le durkheimisme dans l’entre-deux-guerres, op.cit., 236. Robert Colquhoun, op.cit., 99-117: „Max Weber and German Sociology“. 49 Raymond Aron: La philosophie critique de l’histoire. Essai sur une théorie allemande de l’histoire, Paris, Vrin, 1950, 11. 50 Cf. Chryssoula Kambas: „Im Zeichen Hölderlins. Pierre Bertaux’ inkonoklastische Geramistik für ein deutsch-französisches Europa“, in: CACHACA. Fragmente zur Geschichte von Politik und Imagination, Berlin 1996, 180-184. 51 Raymond Aron: Introduction à la philosophie de l’histoire. Essai sur les limites de l’objectivité historique, Paris, Gallimard, 1938. Pierre Bertaux: Hölderlin. Essai de biographie intérieure, Paris, Hachette, 1936. 52 Bernhard Groethuysen: „Une philosophie critique de l’histoire“, in: Nouvelle Revue Française, 1939, Nr. 313, 625-629. 53 Golo Mann: „Ein französisches Buch über Hölderlin“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 26.2.1937. 54 Matthias Oppermann: Raymond Aron, op.cit., 37-68. Olivier de Lapparent: Raymond Aron, op.cit., 17-25. Joachim Stark: Das unvollendete Abenteuer, op.cit. 12-19. Robert Colquhoun: Raymond Aron, op.cit., 99-117. 55 Gaby Sonnabend: Pierre Viénot, op.cit., 293-366, bes. 339-344. Pierre Bertaux: Mémoires interrompus, op.cit., 88-124. 56 Cf. dazu (allerdings ohne Kenntnisnahme der gemeinsamen Prägungen und Motive der ENS-Generation der Krise der 1930er Jahre) Martin Strickmann: L’Allemagne nouvelle contre l’Allemagne éternelle. Die französischen Intellektuellen und die deutsch-französische Verständigung 1944-1950, Bern, Peter Lang, 2004. Dort zu Emmanuel Mounier, in 58 Dossier dessen Zeitschrift Esprit Aron und Bertaux veröffentlicht hatten, das Kapitel 202-220. Cf. ergänzend Christiane Falbisaner: „Emmanuel Mounier et l’Allemagne“, in: Revue d’Allemagne, 1989, 257-279. 57 Raymond Aron: Hat Europa noch Aufbaukräfte? , Frankfurt/ M., Schulte-Bumke, 1948. Wenig später erschien die deutsche Übersetzung seines Erstlingswerks von 1935 über die deutsche Soziologie, das nun den deutschen Lesern die Wiederaneignung ihrer eigenen Soziologiegeschichte ermöglichte. Raymond Aron: Die deutsche Soziologie der Gegenwart. Systematische Einführung in das soziologische Denken. Übersetzt und bearbeitet von Iring Fetscher, Stuttgart, Kröner, 1950. 58 Cf. Nicolaus Sombart: Pariser Lehrjahre 1951-1954. Leçons de sociologie, Frankfurt/ M., Hoffmann und Campe, 1996, 86-121. Résumé: Hans Manfred Bock: Raymond Aron et l’Allemagne. Aspects d’analyse de génération intellectuelle se propose d’approfondir la connaissance des raisons ayant poussé Raymond Aron à s’intéresser à l’Allemagne, en le situant dans son contexte générationnel qui était celui de la „génération de la crise“. Son „amitié normalienne“ avec Pierre Bertaux, l’un des pionniers de la reprise de contacts universitaires avec l’Allemagne, est le point de départ de l’analyse des motifs de s’intéresser au pays voisin que l’on trouve dans une large partie de la génération normalienne d’Aron. L’„esprit de Locrano“ aidant, ces normaliens cherchaient des réponses en Allemagne à des problèmes dont ils étaient les témoins dans leur propre pays. Leur receptivité relative à la „nouvelle pensée“ contemporaine en Allemagne, surtout celle de la phénoménologie et de l’anthropologie philosophique, au seuil des années 1930, s’explique en grande partie par cette disposition mentale. Elle était la force motrice pour Raymond Aron à se plonger dans la sociologie et la philosophie de l’histoire de l’Allemagne contemporaine. 59 Dossier Katja Marmetschke Transdisziplinäre und transnationale Wissenschaftskommunikation zwischen Soziologen und Germanisten in der Zwischenkriegszeit: Das Beispiel Edmond Vermeils (1878-1964) Es ist inzwischen gut belegt, daß - von wenigen Ausnahmen abgesehen - die transnationalen Kommunikations- und Rezeptionsprozesse zwischen deutschen und französischen Soziologen in der Zwischenkriegszeit nur relativ schwach ausgeprägt waren. Zurückführen läßt sich dies auf zwei wesentliche Faktoren: Zum einen auf die nachhaltig destruktive Wirkung, die die einstmalige Kriegsbegeisterung französischer und deutscher Sozialwissenschaftler auf den Wiederaufbau transnationaler Wissenschaftskontakte nach 1918 ausübte; zum anderen auf die unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen in beiden Fächern. 1 Im Anschluß an diese Feststellung kann man die Frage formulieren, ob sich das fehlende Interesse französischer Soziologen für die Arbeiten ihrer deutschen Kollegen auch auf ein Fach erstreckte, das aufgrund seines Selbstverständnisses in der Zwischenkriegszeit eigentlich ein großes Interesse an dem soziologischen Forschungsstand im Nachbarland bekundet haben müßte, nämlich die französische Germanistik. Im Gegensatz zu ihrer deutschen Schwesterdisziplin hatte sie sich nie auf die Erforschung der deutschen Sprache und Literatur beschränkt, sondern die Gründerväter des Faches hatten am Anfang des 20. Jahrhunderts ganz bewußt den Zweig der civilisation gegenüber dem klassischen Bereich der langue et littérature in den Vordergrund gerückt. Erklärtes Ziel der Pioniergeneration war es, die wissenschaftliche Deutschlandkompetenz in einer Disziplin zu bündeln und unter Einbeziehung von Erkenntnissen und Methoden aus den Nachbardisziplinen über die historische, gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Situation im Nachbarland zu forschen. 2 Bevorzugte Ansprechpartner der noch jungen Disziplin, deren Interesse sich hauptsächlich auf das Deutschland der Gegenwart richtete, waren die Geschichtswissenschaft, die Geographie, die Wirtschaftswissenschaften, die Philosophie und auch die sich seit der Jahrhundertwende als eigenständige Disziplinen in Frankreich konstituierende Soziologie und Ethnologie. 3 Neben dem interdisziplinären Forschungsanspruch sowie der konsequenten Gegenwartsorientierung erleichterte zudem die Sprachkompetenz der Germanisten die mögliche Rezeption sozialwissenschaftlicher Schriften aus dem Nachbarland. Inwiefern läßt sich aber nun ein Prozeß intellektueller Beeinflussung französischer Germanisten durch die Vertreter der deutschen Soziologie nachweisen? Und in welchem Umfang hat die transdisziplinäre Offenheit der Disziplin zu einer konkreten institutio- 60 Dossier nellen Zusammenarbeit mit den in Frankreich tonangebenden Soziologen und deren Methodenrepertoire geführt? Diesen Fragen soll am Beispiel des französischen Germanisten Edmond Vermeil (1878-1964) nachgegangen werden, der in der Zwischenkriegszeit zu den führenden Vertretern seines Faches gehörte und zunächst an der Universität in Straßburg (1919-1934) und später an der Sorbonne (1934-1940, 1944-1951) lehrte. 4 Im Gegensatz zu vielen Deutschlandexperten der Zwischenkriegszeit, die zwar einen soliden deutschlandwissenschaftlichen Schwerpunkt vorweisen konnten oder mit Deutschlandstudien ihren akademischen Lebensweg begonnen hatten, dann aber in einer der Nachbardisziplinen Karriere machten (wie z.B. der Ethnologe Lucien Lévy-Bruhl 5 ), blieb Edmond Vermeil zeit seines Lebens institutionell und intellektuell fest in der Germanistik verankert. Zu seinen Lehrern gehörten Charles Andler (1866-1933) und Henri Lichtenberger (1864-1941), und von beiden übernahm er wichtige forschungsstrategische und verständigungspolitische Postulate, die grundlegend das Selbstverständnis der Germanistik in der Zwischenkriegszeit prägten, wie den Anspruch auf Interdisziplinarität und das Streben nach Versöhnung zwischen beiden Nationen. Sein umfangreiches Werk soll nachfolgend unter zwei Aspekten beleuchtet werden. Erstens: Wo unternimmt Vermeil intellektuelle Anleihen bei Vertretern der deutschen Soziologie und welchen Stellenwert haben diese Bezugnahmen in seinen Erklärungsversuchen des Nachbarlandes? Zweitens: Innerhalb welcher Institutionen und Netzwerke arbeitete er mit Fachvertretern der französischen Soziologie zusammen? Auf der Suche nach Erklärungen des Nachbarlandes: Vermeils intellektuelle Anleihen bei deutschen Soziologen und Sozialwissenschaftlern Die Zwischenkriegszeit bildete die Blütephase in Vermeils intellektuellem Schaffen, von der zahlreiche Schriften Zeugnis ablegen. Kurz nach seiner Berufung auf den Straßburger Germanistik-Lehrstuhl (mit dem Schwerpunkt civilisation allemande) legte er 1922 die erste französischsprachige Studie über den Religionssoziologen Ernst Troeltsch vor. 1923 verfaßte er eine vielbeachtete Untersuchung über die Weimarer Verfassung und 1925 eine gegenwartsorientierte Überblicksdarstellung über die politische, wirtschaftliche und soziale Lage in Deutschland. 1938 trat er schließlich mit einer Spektralanalyse des Schriftguts konservativer Denker in der Weimarer Republik hervor. 6 Ergänzt wurden diese monographischen Arbeiten durch eine Myriade von Aufsätzen über das aktuelle Geschehen im Nachbarland, die mehrheitlich in Zeitschriften des protestantisch-linksrepublikanischen Intellektuellenmilieus erschienen. Eine Durchsicht dieses umfangreichen publizistischen Werks nach Verweisen auf deutsche Soziologen oder Sozialwissenschaftler fördert zunächst ein ernüchterndes Ergebnis zutage. Mit Ausnahme der Troeltsch-Studie finden sich bei Vermeil fast keine Bezugnahmen auf soziologische Arbeiten aus dem Nachbarland. 7 Für Vermeil waren die wichtigsten intellektuellen Stichwortge- 61 Dossier ber der 1920er und 1930er Jahre Thomas Mann, Oswald Spengler, Hermann Keyserling und Walther Rathenau, die er als die Protagonisten der kulturellen Erneuerungs- und Identitätsdebatte jenseits des Rheins identifiziert hatte und mit deren Schriften er sich kenntnisreich in seinem Buch über die Doctrinaires de la Révolution allemande auseinandersetzte. 8 Ebenso wenig finden sich Hinweise auf soziologische Autoren in seinem Buch über das Deutschland der Gegenwart, das aufgrund seines populärwissenschaftlich-essayistischen Zuschnitts sogar ohne Literaturhinweise und Fußnoten auskommt. In dem weitaus besser dokumentierten Werk über die Weimarer Verfassung finden sich zwar systematische Hinweise auf die wissenschaftlichen Arbeiten des Staatsrechtlers Hugo Preuss, des Historikers Karl Lamprecht und auf den heute kaum noch bekannten Nationalökonomen Moritz Julius Bonn, 9 aber - und dies dürfte in der Themenwahl begründet liegen - kaum Hinweise auf soziologische Werke. Überhaupt galt das Interesse vieler französischer Germanisten weniger den neueren sozialwissenschaftlichen Diskussionen in Deutschland, sondern vielmehr den zeitgenössischen philosophisch-kulturellen Identitätsdebatten sowie der Erforschung übergreifender historisch-politischer Entwicklungslinien im Nachbarland. Umso interessanter ist deshalb die Frage, aus welchen Motiven und in welchen Zusammenhängen Vermeil zur Verdeutlichung der Geschehnisse im Nachbarland zwei Mal explizit auf die Schriften deutscher Soziologen zurückgriff: Auffällig ist zum einen sein beständiger Bezug auf Ernst Troeltsch, dessen Name sich vom Ende des Ersten Weltkrieges bis in die zweite Nachkriegszeit wie ein roter Faden durch Vermeils Werk zieht. Zum anderen greift er in den 1930er Jahren mehrfach das soziale Schichtungsmodell des deutschen Soziologen Theodor Geiger auf, um die gesellschaftlichen Ursachen des Nationalsozialismus zu erklären. Sowohl der systematische Bezug auf Troeltsch als auch der eher sporadische auf Geiger lassen Rückschlüsse zu auf die Bedingungsfaktoren, die auf die Steuerung grenzüberschreitender Rezeptionsvorgänge einwirken: Vermeils intensive Auseinandersetzung mit Troeltsch, die sich auf dessen religionshistorische und kulturphilosophische Schriften erstreckt, läßt sich vor allem auf ein individuelles und biographisch-sozialisatorisch geprägtes Erkenntnisinteresse zurückführen. Der Germanist wuchs in einer strenggläubigen Methodistenfamilie auf und lernte bereits während seiner Jugend in den französischen Cevennen die Vielfalt protestantischer Glaubensrichtungen samt ihrer Auswirkungen auf das dörfliche Miteinander kennen. In Ernst Troeltschs Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Gesammelte Werk, Bd. 1, 1912) fand er eine einleuchtende Erklärung für die jeweilige Ausformung des Calvinismus und Lutheranismus in Deutschland und damit einen Schlüssel, um die verschiedenen Erscheinungsformen des Protestantismus jenseits des Rheins besser einordnen und hinsichtlich ihrer langfristigen politisch-gesellschaftlichen Prägekraft beurteilen zu können. Die Annahme, daß die Herausbildung moderner Gesellschaften in entscheidender Weise von Glaubensfragen bestimmt wurde, bildete eine Grundüberzeugung Vermeils: Für ihn war ein Verständnis des Nachbarlandes ohne eine tiefgreifende Analyse der Reformation mit ihren politischen, gesellschaftlichen und 62 Dossier wirtschaftlichen Konsequenzen nicht denkbar. 10 Innerhalb der germanistischen Fachwelt stießen seine religionshistorischen Studien, zu denen auch seine Doktorarbeit über die Katholische Tübinger Schule und deren Einfluß auf den Modernismus-Streit in Frankreich zählte, 11 indes auf ein schwaches Echo. So wurde seine Troeltsch-Studie zwar in den einschlägigen deutschen und französischen theologischen und religionshistorischen Zeitschriften einmütig gelobt, 12 aber im Kreis seiner Kollegen fanden die kenntnisreichen und bis in die feinsten Verästelungen hineinreichen Ausführungen zur Geschichte des Protestantismus kaum Beachtung. Über lange Jahre hinweg blieb Vermeils Studie die einzig verfügbare französischsprachige Arbeit über Troeltsch, deren wissenschaftliche Bedeutung 1990 mit einer Neuauflage unterstrichen wurde. 13 Obgleich der gelegentliche Bezug auf den Soziologen Theodor Geiger (1891- 1952) in Vermeils Schriften längst nicht den gleichen Stellenwert einnimmt wie die kontinuierlich erfolgenden Troeltsch-Verweise, lassen sich auch aus diesen Referenzen Erkenntnisse über die verschiedenen Einflußfaktoren transnationaler Rezeptionsprozesse gewinnen. Der deutsche Soziologe hatte 1932 eine Studie über Die soziale Schichtung des deutschen Volkes publiziert 14 und darin eine Einteilung der deutschen Gesellschaft in fünf verschiedene Schichten vorgenommen, da ihm das rein auf Eigentumsverhältnissen basierende Dreiklassenmodell als zu grobmaschig erschien, um daraus gesicherte Rückschlüsse auf das Bewußtsein bestimmter Bevölkerungsgruppen ableiten zu können. Vor allem hinsichtlich der Kategorie der „Mittelklasse“ nahm er eine wichtige Differenzierung vor: Während die „alte“ Mittelklasse lediglich die kleinen und mittleren Unternehmer sowie die selbständigen Tagearbeiter umfaßte, setze sich die „neue Mittelklasse“ aus qualifizierten Arbeitnehmern (wie Beamten, Angestellten und Vertretern liberaler Berufe) zusammen. Gerade diese „neue Mittelklasse“, so argumentiert Geiger, sei von der wirtschaftlichen Krise der Weimarer Republik besonders hart getroffen worden und daher ausgesprochen empfänglich für den Nationalsozialismus. Geigers Schichtungsmodell, in dem objektive sozio-ökonomische Merkmale mit bestimmten subjektiven Verhaltens- und Einstellungsmustern kombiniert werden (Geiger selbst spricht von „Mentalitäten“), diente Vermeil als eine wichtige Quelle zur Deutung des Nationalsozialismus, auf die er während der 1930er Jahre gleich in mehreren Aufsätzen zurückgriff. 15 Daß der französische Germanist für seine Ursachenanalyse des „Dritten Reiches“ wiederholt auf die Arbeiten eines deutschen Soziologen verwies, scheint auf den ersten Blick nicht in das Bild zu passen, das bis heute von ihm in den Geschichtswissenschaften vorherrscht. Dort gilt er als einer der Hauptvertreter der sogenannten Kontinuitätsthese, der zufolge sich die deutsche Geschichte als eine unheilvolle Entwicklungsreihe darstellt, die unausweichlich in der Katastrophe enden mußte. 16 Zwar finden sich in Vermeils Hauptwerk Allemagne. Essai d’explication, einer Monographie, die 1940 kurz vor Kriegsausbruch unter großem politischen Druck und in kämpferischer Absicht verfaßt wurde, zahlreiche Belege für diese deterministische Sichtweise, 17 aber es wäre verkürzt, seine Deutung des Nationalsozialismus darauf zu reduzieren. In der Tat war es gerade die 63 Dossier Bereitschaft zur interdisziplinären Zusammenarbeit und zum intellektuellen Engagement, die dem Germanisten eine facettenreiche Betrachtung des Nationalsozialismus ermöglichte: Zusammen mit den Intellektuellen im Comité de vigilance des intellectuels antifascistes warnte er frühzeitig vor der aggressiv-expansiven und damit ganz Europa bedrohenden Dimension des deutschen Faschismus. Er gründete gemeinsam mit Ethnologen aus dem Institut de d’Ethnologie de l’Université de Paris und dem Musée de l’Homme im Herbst 1936 die Gruppe Races et Racismes, um die öffentliche Aufmerksamkeit auf die in Frankreich zum damaligen Zeitpunkt kaum beachtete rassistische Herrschaftsideologie des „Dritten Reiches“ zu lenken. Er arbeitete mit Juristen wie dem bekannten Straßburger Staatsrechtler (und späteren Widerstandskämpfer) René Capitant zusammen, um die internen Herrschaftsstrukturen des Hitlerregimes und die Auflösung des demokratischen Rechtsstaats zu untersuchen. Zudem befaßte er sich aufgrund seiner Tätigkeit im Commissariat Général à l’Information ausführlich mit den Mechanismen der Goebbelschen Propaganda. 18 Gerade die transdisziplinäre, im Zeichen des Widerstandes entstandene Kooperation lieferte Vermeil also Elemente zur Erklärung des Nationalsozialismus, die aus heutiger Sicht stichhaltiger und wissenschaftlich überzeugender erscheinen als die zum damaligen Zeitpunkt für ihn zentrale Deutung des nationalsozialistischen Terrorregimes als ein Produkt geistesgeschichtlicher Verkettungen. Akademische Foren der Zusammenarbeit zwischen französischen Soziologen und Germanisten in der Zwischenkriegszeit Wo sind aber nun im Rahmen dieser disziplinübergreifenden Zusammenarbeit konkrete Schnittstellen zur französischen Soziologie erkennbar? In welchem Kontext fand z.B. Vermeils Befassung mit Geiger statt? In der Tat lassen sich für die Zwischenkriegszeit einige institutionelle Foren benennen, die französische Wissenschaftler beider Fächer miteinander in Kontakt brachten und in denen Vermeil präsent war. An erster Stelle ist hierbei das 1921 in Mainz gegründete Centre d’Etudes Germaniques zu nennen, eine Institution, die auf die Initiative des französischen Hochkommissars im Rheinland hin gegründet wurde und französischen Studierenden sowie Offizieren der rheinischen Armee und Angestellten der Besatzungsverwaltung offenstand. Das Zentrum ist zu Recht als eine der ersten interdisziplinären Ausbildungsstätten in Frankreich überhaupt bezeichnet worden, 19 wovon das Vorlesungsverzeichnis ein beredtes Zeugnis ablegt. Allgemeine Überblicksdarstellungen über die deutsche Geschichte, Sprache und Literatur (wie sie zum damaligen Zeitpunkt mehrheitlich an den französischen Universitäten angeboten wurden) bildeten die Ausnahme im Curriculum. Vielmehr konzentrierten sich die Lehrenden auf konkrete Themenfelder, die das Deutschland der Gegenwart betrafen und daher von unmittelbarem Interesse für die Ausbildung der jungen Offiziere waren. 64 Dossier Das Angebot reichte hierbei von der Analyse des zeitgenössischen Parteienspektrums über Darstellungen fiskalpolitischer, außenwirtschaftlicher und juristischer Zusammenhänge bis hin zur deutschen Musikgeschichte. 20 Die Lehrenden waren zumeist renommierte Professoren aus verschiedenen Straßburger Fakultäten, die regelmäßig nach Mainz kamen, um ihre Kurse abzuhalten. Neben Germanisten (wie Edmond Vermeil und Edouard Spenlé, dem Direktor des Centre) waren unter ihnen Historiker (z.B. die späteren Annales-Gründer Marc Bloch und Lucien Febvre) und vor allem Juristen (z.B. der bekannte Verfassungsrechtler Robert Redslob) vertreten, aber auch einige Wirtschaftswissenschaftler und Soziologen. Seit September 1922 unterrichtete Maurice Halbwachs regelmäßig im militärischen Ausbildungszweig des Centre, und zwar zunächst über die industriepolitische Reorganisation der Weimarer Republik und von 1926/ 27 an über die wichtigsten Vertreter der deutschen Soziologie seit 1870, einen Kurs, den nach seiner Berufung an die Sorbonne 1934/ 35 sein Straßburger Nachfolger Georges Gurvitch übernahm. 21 Obwohl man im Zusammenhang des CEG von keiner etablierten Forschungsinstitution sprechen kann, so fällt doch auf, daß erstens alle Dozenten ein ausgeprägtes Interesse an Deutschland verband, für das ihnen ihre Tätigkeit am CEG Freiräume eröffnete, den die Universität mit ihren strengen curricularen Vorgaben nicht bieten konnte. Zweitens fällt auf, daß die Professoren trotz ihrer unterschiedlichen Fächerzugehörigkeit fast alle zu den Vertretern ihrer Disziplin zählten, die an die Notwendigkeit interdisziplinärer Öffnung glaubten und diese programmatisch in ihrer Forschung umsetzten, wie z.B. Lucien Febvre und Marc Bloch durch den Brückenschlag der Annales-Schule zur Geographie und Ökonomie. 22 Das Zentrum bot den Lehrenden einen Ort des interdisziplinären, deutschlandbezogenen Austausches, der in dieser Form innerhalb der damaligen akademischen Landschaft einmalig war und auch die langjährige Verbundenheit vieler Dozenten mit der Institution zu erklären vermag. Das zweite institutionelle Netzwerk, in das Vermeil eingebunden war und an dem Soziologen und Germanisten gemeinsam über Deutschland arbeiteten, war das Centre de Documentation Sociale an der Ecole Normale Supérieure. 23 Dieses war 1920 dank der finanziellen Unterstützung des Wissenschaftsmäzens und Bankiers Albert Kahn 24 in den Räumlichkeiten der Pariser Elitehochschule eingerichtet worden und bestand zunächst lediglich aus einer Bibliothek und einem Zeitschriftensaal. Erst in den 1930er Jahren entwickelte es sich unter der Leitung von Célestin Bouglé (1870-1940) zu einem international bekannten Forschungs- und Dokumentationszentrum. Bouglé trieb zum einen den Aufbau der Bibliothek voran; zum anderen gelang es ihm, nach dem Bankrott Kahns im Jahr 1929 die Rockefeller-Stiftung als Förderin des Zentrums zu gewinnen, das fortan mit Hilfe der amerikanischen Stiftung jährlich zwei Stipendien an normaliens vergeben konnte. 25 Zur Internationalisierung der Forschungstätigkeit trug entscheidend bei, daß die Stipendiaten diese Mittel häufig zu Reisen ins Ausland nutzten und Bouglé seine Assistenten überdies ausdrücklich ermunterte, einen Blick über die Grenzen zu werfen. So verfaßte Raymond Aron auf Drängen Bouglés (und mit der Aussicht auf 65 Dossier eine Assistentenstelle am Dokumentationszentrum) sein berühmtes Buch über La sociologie allemande contemporaine (1935). 26 Ein anderes, weniger bekanntes Beispiel ist das des Philosophen, Mathematikers und späteren Widerstandskämpfers Jean Cavaillès (1903-1944), der Ende der 1920er Jahre Assistent am Centre de Documentation Sociale war und für das Studienjahr 1930/ 31 ein einjähriges Reisestipendium der Rockefeller-Stiftung erhielt, um im Nachbarland an seiner Dissertation und einer Studie über die deutsche Jugendbewegung zu arbeiten. 27 Zur internationalen Ausrichtung des Zentrums trug aber nicht nur die rege Reise- und Forschungstätigkeit der jungen Stipendiaten bei, sondern auch die von Bouglé vor Ort organisierten Studiengruppen und Veranstaltungsreihen, in deren Zusammenhang Vermeils Publikation über die classes moyennes einzuordnen ist. Von 1936 bis 1939 gab Bouglé am Zentrum die dreibändige Reihe Inventaires heraus, deren dritter Band sich aus internationaler Perspektive mit dem Problem der Mittelschicht befaßte. 28 Die Einleitungsbeiträge über das Konzept der Klasse und die Charakteristika der Mittelklasse stammten aus der Feder von Raymond Aron bzw. Maurice Halbwachs, daran schlosssen sich Artikel an über die Spezifika der Mittelschicht in verschiedenen Ländern, die für das deutsche Beispiel von Edmond Vermeil erläutert wurden. 29 Daß Vermeil (ebenso wie andere Germanisten) gerade über Célestin Bouglé mit der französischen Soziologie in Kontakt kamen, ist nicht erstaunlich. Bouglé selbst hatte sich in seinem Studium schon frühzeitig Deutschland zugewandt 30 und war in zahlreichen linksrepublikanischen Intellektuellennetzwerken präsent, die von den Germanisten der Zwischenkriegszeit frequentiert und als Plattform zur Verbreitung ihrer Deutschlandanalysen genutzt wurden, wie z.B. die Union pour la Vérité, zu deren Mitgliedern Charles Andler, Henri Lichtenberger und Edmond Vermeil zählten. 31 Den transdisziplinären und transnationalen Brückenschlag erleichterte nicht zuletzt Bouglés Sonderstellung innerhalb der Durkheim-Schule. 32 Obgleich er sich zeit seines Lebens als Durkheim-Anhänger verstand, war er stärker als andere Schüler der Überzeugung, daß der soziologische Ansatz seines Lehrers durch andere Lehren komplettiert und ergänzt werden müßte. Insbesondere setzte er sich für eine Öffnung zur Philosophie ein, zu der er als Herausgeber der angesehenen Revue de Métaphysique et de Morale eine wichtige Vermittlerrolle übernahm. Zudem hatte er zahlreiche intellektuelle und persönliche Bindungen zur neo-kantianischen Philosophie, die zum damaligen Zeitpunkt das universitäre Hochschulmilieu dominierte (u.a. innerhalb der gerade erwähnten Union pour la Vérité), und die ihn in seiner Auffassung bestärkten, daß das streng-wissenschaftlich positivistische Vorgehen Durkheims allein zur Erklärung sozialer Tatbestände nicht ausreiche. 33 Daß sich das Centre de Documentation Sociale an der ENS zu einer Kommunikationsplattform junger Soziologen entwickeln konnte, die jenseits der dominierenden Durkheim-Schule eigenständige und von den Entwicklungen im Ausland inspirierte Ansätze entwickelten, war jedoch nicht nur Bouglé als intellektuellem Impulsgeber und Mentor zu verdanken. Es ist vielmehr auch einem „externen“ Faktor ge- 66 Dossier schuldet, nämlich der finanziellen Förderung durch die Rockefeller-Stiftung, die in der Zwischenkriegszeit bewußt induktiv-empirisch angelegte und gegenwartsorientierte sozialwissenschaftliche Forschung förderte. 34 Die thematischen Schwerpunkte waren nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 vor allem die Analyse aktualitätsbezogener sozio-ökonomischer Problemlagen (wie sie etwa in der Inventaires- Reihe Bouglés behandelt wurden), für welche die Stiftung eine Vielzahl von Institutsgründungen initiierte und unterstützte. 35 Das zweite wichtige Instrument der Förderpolitik war die Vergabe individueller Stipendien, die seit Ende der 1920er Jahre auch vermehrt Sozialwissenschaftlern zugute kamen. 36 Zielland des Aufenthalts war häufig die USA, aber auch Deutschland. Es ist sicherlich kein Zufall, daß sich neben den gerade erwähnten Studierenden aus dem ENS-Umfeld unter den Stipendiaten eine ganze Reihe Straßburger Wissenschaftler befand, die als Dozenten am Centre d’Etudes Germaniques tätig waren, unter ihnen der Widerstandskämpfer und Verfassungsrechtler René Capitant (einjähriger Deutschlandaufenthalt 1933-34), der Jurist Henry Laufenburger (sechsmonatiger Deutschlandaufenthalt 1935) und schließlich Edmond Vermeil, der von Januar bis April 1933 eine enquête sociale in Deutschland durchführte und Augenzeuge der nationalsozialistischen Machtübernahme wurde. 37 Wie sehr die Soziologie Durkheimianischer Prägung Anziehungs- und Faszinationskraft auf die wissenschaftlichen Nachbardisziplinen ausübte, läßt sich Fall Edmond Vermeils noch an einem weiteren Beispiel ablesen, nämlich an der Gründung der vierteljährlichen Zeitschrift L’Année Politique française et étrangère, deren erste Ausgabe 1925/ 26 erschien. 38 Gemeinsam mit dem Durkheim-Schüler und Pädagogikexperten René Hubert (1885-1954) und Bernhard Lavergne (1884- 1975), einem Juristen und ausgezeichneten Kenner der Genossenschaftsbewegung, verfaßte Edmond Vermeil das Editorial der ersten Ausgabe, in dem sie die programmatische Zielsetzung der Zeitschrift festlegten. Ausgehend von der ernüchternden Feststellung, daß die Berufung auf den traditionellen republikanischen Wertekanon nicht mehr ausreiche, um adäquate Antworten auf zeitgenössische Probleme des Parlamentarismus, der wirtschaftlichen Reorganisation und der internationalen Beziehungen zu geben, fordern sie die kritische Revision der bisherigen politischen Normen und die Ausarbeitung einer „neuen politischen Philosophie“. 39 Der von den Herausgebern formulierte Ruf nach Reformen im politischen Bereich entsprang einer bekennend-patriotischen Grundeinstellung: Da Frankreich bisher zu den führenden Nationen Europas gehört habe, dürfe man es nicht zulassen, daß es nun den Anschluß an die in vielen Ländern kontrovers diskutierten Erneuerungsmöglichkeiten politischer Mitbestimmung verliere und sich lediglich auf die Reaktualisierung jahrhundertealter Werte zurückziehe. 40 Hinter dieser Überlegung stand auch das Bemühen, ein überkommenes Politikverständnis der Dritten Republik zu überwinden und das öffentliche Nachdenken über die res publica zu verwissenschaftlichen. Zwar leugnete das Herausgeberteam nicht den „leidenschaftlichen Charakter“ der Politik, 41 aber in der Zeitschrift selbst sollten das wissenschaftliche Abwägen und die exakte Analyse im Vordergrund ste- 67 Dossier hen. Politik als „science“ und nicht als „passion“ - diesen Anspruch, gepaart mit erzieherisch-pädagogischen Intentionen, verfolgte die Année Politique. Es ging in diesem Zusammenhang auch um die Konsolidierung der Politikwissenschaft, die zu diesem Zeitpunkt noch ein junges Fach war, als eine ernsthafte, um Objektivität bemühte Wissenschaft. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, daß das Herausgeberteam die Année Sociologique Emile Durkheims als praktisches Vorbild für ihr Projekt nennen: „Dans la composition de l’Année Politique, nous nous inspirons, on le voit, de l’admirable exemple scientifique que, frayant des voies nouvelles, l’Année Sociologique a fourni naguère, sous la direction du maître éminent que fut Emile Durkheim.“ 42 Nicht nur der ähnlich lautende Titel verdeutlichte die Parallelen, sondern auch der Heftaufbau orientierte sich an der Gliederung der 1898 gegründeten soziologischen Fachzeitschrift. Die Année Politique française et étrangère bildete damit einen politikwissenschaftlichen Ableger der französischen Soziologie, eine „Metamorphose“ des durkheimisme in der Zwischenkriegszeit, die vor allem von dem Wunsch gekennzeichnet war, die eigene Stellung zu behaupten und den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu unterstreichen. 43 Neben diesen institutionell-akademischen Foren, die französische Soziologen und Germanisten im Rahmen einer gegenwartsorientierten Befassung mit dem Nachbarland zusammenbrachten, sind für die Zwischenkriegszeit noch mindestens zwei weitere Begegnungsplattformen transdisziplinären und transnationalen Austausches zu nennen: Dies sind erstens informelle Netzwerke, die sich in den 1920er und 1930er Jahren um verschiedene Intellektuellengruppierungen und Fach- oder Kulturzeitschriften bildeten. Die akademische Zusammenarbeit zwischen der Soziologie und ihren Nachbarfächern wurde nicht zuletzt dadurch erleichtert, daß die Vertreter der Durkheim-Schule bewußt die transdisziplinäre Öffnung anstrebten und sowohl die Autoren für ihre Publikationsorgane (die Année sociologique (1925-1926) und von 1934-1942 die Annales sociologiques) als auch die Mitglieder des 1924 gegründeten Institut français de sociologie aus fachfremden Reihen rekrutierten. 44 Eine bedeutende Rolle für die deutsch-französische Kommunikation zwischen Soziologen und Vertretern anderer Disziplinen spielten zweitens die zivilgesellschaftlichen Verständigungsinitiativen der Locarno-Ära, die - wie im Fall des Frankreich-Engagements des Frankfurter Soziologen Gottfried Salomon-Delatour - auf die Initiative von Privatpersonen zurückzuführen sind, aber eine herausragende Wirkung auf den Aufbau grenzüberschreitender Kommunikationsstrukturen ausübten. Bestes Beispiel hierfür sind die von Salomon-Delatour organisierten Davoser Hochschulkurse (1928-1931), in denen französische Wissenschaftler (unter ihnen die Soziologen Marcel Mauss, Célestin Bouglé, Lucien Lévy-Bruhl, Maurice Halbwachs, der Germanist Henri Lichtenberger und der Philosoph Jean Cavaillès) mit Fachkollegen aus Deutschland und der Schweiz zusammentrafen und vor einem internationalen Studentenpublikum ihre Standpunkte austauschten. Damit durchbrach das Davoser Experiment sogar gleich drei Schranken: die zwischen Nationen und Disziplinen sowie diejenige zwischen Lehrenden und Lernenden. Allerdings zeigt sich in der kurzen Existenzphase der 68 Dossier Kurse auch die relative Fragilität zivilgesellschaftlicher Verständigungsagenturen und deren Abhängigkeit von Änderungen im außenpolitischen Konstellationsmodus zwischen zwei Nationen. Die für das Jahr 1932 geplanten Kurse kamen aufgrund finanzieller Schwierigkeiten nicht zustande, und nach der „Machtergreifung“ Hitlers hatte sich der politische Spielraum für private deutsch-französische Austauschforen bereits soweit verengt, daß an eine Fortführung nicht mehr zu denken war. 45 Das vorläufige Ende des Dialogs: Zum Verhältnis zwischen Sozialwissenschaften und Germanistik nach 1945 Nach dem Zweiten Weltkrieg durchlief die französische Germanistik einen Prozeß der Spezialisierung, Professionalisierung und Ausdifferenzierung. Der universale Erklärungsanspruch der Disziplin, das Bemühen, unter einem Fach die gesamte Deutschlandkompetenz zu bündeln, hatte seine Grenzen nicht zuletzt in den umfassenden Erklärungsversuchen Edmond Vermeils gezeigt, aus der deutschen Geschichte bestimmte Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Nach 1945 konzentrierten sich die Germanisten vornehmlich auf philologische und linguistische Fragen, und die ehemals im Zweig der civilisation angesiedelte Befassung mit dem Deutschland der Gegenwart wurde schrittweise ausgelagert an andere Disziplinen, wie z.B. die Politikwissenschaft, in der der ehemalige Germanist und Vermeil-Schüler Alfred Grosser einen klaren Deutschlandschwerpunkt entwickelte. Der Rückzug der französischen Germanisten auf das vermeintlich sichere Terrain der Philologie und Sprachwissenschaft erleichterte zwar die Kommunikation mit der deutschen Schwesterdisziplin, aber die Selbstverständlich- und Nachhaltigkeit, mit der sich die Gründergeneration der Zwischenkriegszeit um einen transdisziplinären Dialog bemüht hatte, ging in den 1950er und 1960er Jahren weitestgehend verloren. Die institutionellen Berührungspunkte zwischen Germanisten und Sozialwissenschaftlern waren punktuell und zeugen eher von einem Nebendenn von einem Miteinander in der Zusammenarbeit: Im Centre d’Etudes Germaniques zum Beispiel konzentrierten sich die Germanisten in der Nachkriegszeit auf Veranstaltungen zur Ideen- und Geistesgeschichte, die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Deutschland lag fast ausschließlich in den Händen von Juristen und Ökonomen. 46 Erst unter dem Einfluß der Universitätsrevolte vollzog die französische Germanistik Ende der 1960er Jahre einen Richtungswechsel und öffnete sich wieder stärker dem Deutschland der Gegenwart unter sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Ein impulsgebendes Beispiel für die Wiederbelebung des transdisziplinären Dialogs war etwa die Gründung des Institut d’Allemand d’Asnières im Jahr 1969, das sich unter der Leitung von Pierre Bertaux deutlich von der geistesgeschichtlichen Germanistikauffassung der Nachkriegsjahre distanzierte und eine zeitgemäße Reaktualisierung der civilisation-Komponente in Lehre und Forschung umsetzte. 47 Seit den 1980er Jahren entstand schließlich durch die (häufig von gouvernementa- 69 ler Seite angeregte) Schaffung deutsch-französischer Forschungsinstitutionen eine völlig neue Infrastruktur zur Verbesserung und Verdichtung der bilateralen Wissenschaftskommunikation: Mit der Gründung des Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine (1982), des Centre Marc Bloch (1992), der Deutsch-Französischen Hochschule (1997) und des Centre interdisciplinaire d’études et de recherches sur l’Allemagne (2001) wurden Institutionen ins Leben gerufen, in welchen der fächer- und grenzüberschreitende (bisweilen sogar den deutsch-französischen Bilateralismus überwindende) Dialog gefördert wird, und zwar insbesondere für die Adressatengruppe der Studierenden und des wissenschaftlichen Nachwuchses. Für die französische Germanistik bringt die institutionelle Ausdifferenzierung der Deutschlandforschung sowie die Schaffung deutschfranzösischer Fachstudiengänge indes die Notwendigkeit mit sich, ihre Stellung zu behaupten und vor allem ihr Verständnis von Pluridisziplinarität neu zu definieren. Zumindest in der Zwischenkriegszeit war letzteres nie allein vom Wunsch nach pragmatisch-projektorientierter Zusammenarbeit, sondern vom umfassend-integrierenden Anspruch des Faches und politischen Verständigungswillen seiner Repräsentanten geleitet. 1 Cf. die Einleitung von Lothar Peter zu diesem Dossier. 2 Eine kritische Aufarbeitung der Geschichte der französischen Germanistik steht noch aus. Cf. aber die inzwischen ältere Arbeit von Michel Espagne, Michael Werner (eds.): Les études germaniques en France (1900-1970), Paris, CNRS Ed., 1994. 3 Cf. Michel Espagne: „Die Germanistik im europäischen universitären Umfeld. Das Beispiel Frankreichs“, in: Christoph König, Eberhard Lämmert (eds.): Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt/ M., Fischer, 1999, 149-160. 4 Cf. zu Vermeil Katja Marmetschke: Feindbeobachtung und Verständigung. Der Germanist Edmond Vermeil (1878-1964) in den deutsch-französischen Beziehungen, Köln et. al., Böhlau, 2008. 5 Cf. Pascale Gruson: „Lucien Lévy-Bruhl (1857-1939)“, in: François Beilecke, Katja Marmetschke (eds.): Der Intellektuelle und der Mandarin, Kassel, Kassel University Press, 2005, 315-338 sowie Michel Espagne: „Lucien Lévy-Bruhl et les études germaniques“, in: Peter Schöttler, Patrice Veit, Michael Werner (eds.): Plurales Deutschland - Allemagne plurielle. Festschrift für Etienne François, Göttingen, Wallstein, 2000, 258-267. 6 Edmond Vermeil: La pensée religieuse de Troeltsch, Straßburg/ Paris, Istra, 1922; Id., La Constitution de Weimar et le principe de la démocratie allemande, essai d’histoire et de psychologie politiques, Straßburg/ Paris, Istra, 1923; Id., L’Allemagne contemporaine (1919- 1924), sa structure et son évolution politiques, économiques et sociales, Paris, Alcan, 1925; Id., Les Doctrinaires de la Révolution allemande (1918-1938), Paris, Sorlot, 1938. 7 Zwar wird 1925 auf der Umschlagseite des Bandes L’Allemagne contemporaine ein in Vorbereitung befindliches Werk über La Pensée allemande contemporaine von Vermeil angekündigt, in dem auch auf Max Webers Schriften Bezug genommen werden soll. In dem schließlich 1938 veröffentlichten Werk über die konservativen Denker der Weimarer Republik findet der deutsche Soziologe aber keine Erwähnung. Dossier 70 8 Cf. Marmetschke, op. cit., 293-308. 9 Moritz Julius Bonn (1873-1965) gehörte zu den führenden Nationalökonomen der Weimarer Republik und war parallel zu seiner Wissenschaftskarriere auch als einflußreicher Publizist, Sachverständiger und politischer Berater tätig, u.a. als Vertreter der deutschen Delegation auf der Versailler Friedenskonferenz. 10 So bekräftigte er 1934 in seinem Bewerbungsschreiben für seine (fehlgeschlagene) Kandidatur am Collège de France: „Sans une étude approfondie de la Réforme luthérienne, toute véritable intelligence de l’Allemagne, même moderne et contemporaine, demeure impossible.“ Edmond Vermeil, Lettre sur ses travaux et projets à l’occasion de sa candidature à la chaire de langues et de littératures germaniques du Collège de France, [1934], Bibliothèque Nationale de France, 8 M pièce 7516, 1. 11 Edmond Vermeil: Jean Adam Möhler et l’école catholique de Tubingue (1815-1840). Etude sur la théologie romantique en Wurtemberg et les origines germaniques du modernisme, Paris, Colin, 1913. 12 Cf. die Einleitung von Hartmut Ruddies zu der Neuausgabe von Edmond Vermeil: La pensée religieuse de Troeltsch, Genf, Labor et Fides, 1990, 7-19, 9. 13 Cf. ibid. Zu dem in den 1990er Jahren neu erwachten Interesse an Troeltsch cf. Trutz Rendtorff: „L’actuel renouveau d’intérêt pour l’œuvre de Troeltsch“, in: Revue de l’Histoire des Religions, 214 (1997), No. 2, 133-152. 14 Theodor Geiger, Die soziale Schichtung des deutschen Volkes: ein soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage, Geleitwort v. Bernhard Schäfers, Stuttgart, Enke, 1987 (Faksimile der 1. Aus. 1932). Cf. auch Rainer Geißler: „Die Schichtungssoziologie von Theodor Geiger. Zur Aktualität eines fast vergessenen Klassikers“, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 37 (1985), No. 3, 387-410. 15 Z.B. in Edmond Vermeil: „Essai sur les origines sociales de la révolution hitlérienne“, in: L’Année Politique française et étrangère, 10 (1935), 41-78 oder in „Les classes moyennes dans l’Allemagne contemporaine“, in: Inventaires III - Classes Moyennes, Publications du Centre de documentation sociale de l’Ecole Normale Supérieure, Paris, Alcan, 1939, 53-77. Auch andere französische Deutschlandexperten griffen in den 1930er Jahren auf die Arbeit Geigers zurück, cf. Pierre Ayçoberry: La question nazie. Les interprétations du national-socialisme 1922-1975, Paris, Seuil, 1979, 103-107. 16 Eine solche Einschätzung findet sich z.B. bei Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie, Frankfurt/ M., Propyläen, 1973, 515sq. oder bei Klaus Hildebrand: Das Dritte Reich, 6. neubearb. Aufl., München, Oldenbourg, 309sq. 17 Cf. Marmetschke, op. cit., 413-430. 18 Ibid., 373-409. 19 Cf. Corine Defrance (avec la collaboration de Christiane Falbisaner-Weeda): Sentinelle ou pont sur le Rhin? Le Centre d’Etudes Germaniques et l’apprentissage de l’Allemagne en France 1921-2001, Paris, CNRS Ed., 2008, 9. 20 Ibid., 56sq. 21 Ibid., 56, 91. 22 Cf. ibid., 10. 23 Cf. zur Entwicklung des Zentrums Johan Heilbron: „Les métamorphoses du durkheimisme, 1920-1940“, in: Revue française de sociologie, 26 (1983), No. 2, 203-237, 231-235. Dossier 71 24 Albert Kahn förderte neben dem Centre auch zahlreiche andere Wissenschaftsprojekte, cf. den Ausstellungsband Albert Kahn (1860-1940). Réalités d’une utopie, Musée départemental Albert Kahn, 1995. 25 Zur Fördertätigkeit der Rockefeller-Stiftung cf. Brigitte Mazon: „La Fondation Rockefeller et les sciences sociales en France, 1925-1940“, in: Revue française de sociologie, 26 (1985), No. 2, 311-342, 329sq. 26 Cf. Raymond Aron: Erkenntnis und Verantwortung. Lebenserinnerungen, München, Piper, 1985, 96. 27 Cf. Gerhard Heinzmann: „Jean Cavaillès und seine Beziehungen zu Deutschland“, in: Hans Manfred Bock, Reinhart Meyer-Kalkus, Michel Trebitsch (eds.): Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, Bd. 1, Paris, CNRS Ed., 1993, 405-416. 28 Inventaires I. La crise sociale et les idéologies nationales, Paris, Alcan, 1936 (u.a. mit Beiträgen von E. Halévy, R. Aron, G. Friedmann und C. Bouglé); Inventaires II. L’économique et le politique, Paris, Alcan, 1937 (u.a. mit Beiträgen von R. Aron, P. Vaucher, G. Lefranc, L. Rosenstock-Franck); Inventaires III. Classes moyennes, Paris, Alcan, 1939. 29 Cf. zur zeitgenössischen Diskussion über die classes moyennes in Frankreich auch Klaus-Peter Sick: „Le concept des classes moyennes. Notion sociologique ou slogan politique? “, in: Vingtième Siècle. Revue d’histoire (1993), No. 37, 13-34, insb. 22, 31. 30 Célestin Bouglé reiste 1893 im Anschluß an seine agrégation de philosophie nach Deutschland und hörte dort den Soziologen Georg Simmel und Moritz Lazarus. Seine Eindrücke veröffentlichte er unter dem Pseudonym Jean Breton: Notes d’un étudiant français en Allemagne. Heidelberg-Berlin-Leipzig-München, Paris, Calmann-Lévy, 1895. Ein Jahr später kam das Buch unter seinem eigenen Namen mit dem Titel Les sciences sociales en Allemagne. Les méthodes actuelles, Paris, Alcan, 1896 heraus. 31 Cf. François Beilecke: Französische Intellektuelle und die Dritte Republik. Das Beispiel einer Intellektuellenassoziation 1892-1939, Frankfurt, Campus, 2003, der auch auf die besondere Rolle Bouglés (156-160) eingeht. 32 Cf. W. Paul Voigt: „Un durkheimisme ambivalent: Célestin Bouglé 1870-1940“, in: Revue française de sociologie, 20 (1979), No. 1, 123-139; Christian Gülich: Die Durkheim Schule und der französische Solidarismus, Wiesbaden, DUV, 1991; Jean-Christophe Marcel: Le durkheimisme dans l’entre-deux-guerres, Paris, PUF, 2001, 219sqq. 33 Cf. Voigt, loc. cit., 124-126. 34 Cf. Heilbron, loc. cit., 233. 35 Cf. Mazon, loc. cit. 36 Cf. Ludovic Tournès : „Les élites françaises et l’américanisation: le réseau des boursiers de la Fondation Rockefeller (1917-1970)“, in: Relations internationales, (2003), No. 116, 501-513. 37 Cf. Marmetschke, op. cit., 330-342. 38 Cf. Heilbron, loc. cit., 208-219. 39 René Hubert, Bernard Lavergne, Edmond Vermeil: „Notre programme“, in: L’Année Politique française et étrangère, 1 (1925/ 1926), No. 1, 1-13, hier 1. 40 Ibid., 1sq. 41 Ibid., 5. 42 Ibid., 13. 43 Cf. Heilbron, loc. cit. 209sq. Dossier 72 Dossier 44 Ibid., 206sq. 45 Bisher liegt noch keine einschlägige Monographie zu Gottfried Salomon-Delatour vor. Cf. aber Ina Belitz: Grenzgänger zwischen Wissenschaften, Nationen und Generationen: Gottfried Salomon-Delatour, in: Lendemains, 22 (1997), No. 86/ 87, 49-75. Das in der Soziologie erwachte Interesse an Salomon-Delatour behandelt dessen verständigungspolitisches Engagement eher am Rande. Cf. z.B. Christoph Henning: „Der übernationale Gedanke der geistigen Einheit: Gottfried Salomon(-Delatour), der vergessene Soziologe der Verständigung“, in: Amalia Barboza, Christoph Henning. (eds.): Deutsch-jüdische Wissenschaftsschicksale. Studien über Identitätskonstruktionen in den Sozialwissenschaften, Bielefeld, Transcript-Verlag, 2006, 48-100. 46 Cf. Defrance, op. cit., 135-160. 47 Cf. Hans Manfred Bock: „Universitätsrevolte und Reform des französischen Germanistikstudiums. Erinnerung und Dokumentation zur Gründung des Institut d’Allemand d’Asnières 1968-1972“, in: Id., Topographie deutscher Kulturvertretung im Paris des 20. Jahrhunderts, Tübingen, Narr, 2010, 339-364. Résumé: Katja Marmetschke, Communication transdisciplinaire et transnationale entre sociologues et germanistes dans l’entre-deux-guerres: L’exemple d’Edmond Vermeil (1878-1964) étudie d’une part l’influence que la sociologie allemande contemporaine a exercée sur les écrits du germaniste français Edmond Vermeil. D’autre part, l’article donne un aperçu des forums académiques qui ont promu le dialogue transdisciplinaire entre germanistes et sociologues français de l’époque. En suivant les traces d’Edmond Vermeil, on peut constater que notamment le Centre d’études germaniques à Mayence et le Centre de Documentation Sociale à l’Ecole Normale Supérieure ont joué un rôle pivot pour encourager la communication entre les deux disciplines. La position dominante de la sociologie durkheimienne a même incité Edmond Vermeil et deux collaborateurs à fonder une revue scientifique à l’instar de l’Année Sociologique. Pourtant, ce dialogue fructueux n’a pas trouvé de suite après 1945 quand la germanistique française s’est repliée sur des question philologiques et linguistiques. 73 Dossier Lothar Peter Soziologie der Kritik oder Sozialkritik? Zum Werk Luc Boltanskis und dessen deutscher Rezeption Während der beiden letzten Jahrzehnte konzentrierte sich das deutsche Interesse an der französischen Soziologie vor allem auf das Werk von Pierre Bourdieu, das dem soziologischen Diskurs und empirischen Forschungen auf vielen Gebieten fruchtbare Impulse gegeben hat. Neben Bourdieu sind aber weitere französische Soziologen wie Bruno Latour, Jean-Claude Kaufmann und Robert Castel zu nennen, die ebenfalls in Deutschland Beachtung finden. 1 Bruno Latour sieht sich in der Tradition des großen klassischen Gegenspielers von Emile Durkheim, nämlich Gabriel Tarde und seiner Theorie der Nachahmung. Er vertritt eine radikal-konstruktivistische Aktor-Netzwerk-Theorie, die er inzwischen um die Idee einer Hybridisierung von Natur und Gesellschaft erweitert hat. Vom symbolischen Interaktionismus beeinflusst, hat sich Jean-Claude Kaufmann, einer quasi-ethnologischen Methode folgend, mit mikrosozialen Problemen des Alltagslebens wie etwa dem Umgang von Paaren mit der gebrauchten Wäsche beschäftigt. Robert Castel stammt aus dem wissenschaftlichen Umfeld von Bourdieu und ist vor allem durch sein Hauptwerk Die Metamorphosen der sozialen Frage hervorgetreten, in dem er die sozialstaatliche Regulierung und Institutionalisierung von Lohnarbeit als gegenwärtig bedrohte zivilisatorische Errungenschaft ersten Ranges würdigt. Auf die Arbeiten der genannten Autoren, von denen zahlreiche deutsche Übersetzungen erschienen sind, ist in unterschiedlichen Zusammenhängen und mit unterschiedlichen Bewertungsakzenten in der deutschen Soziologie Bezug genommen worden. 1. Luc Boltanski: Biografische Hinweise Seit der Wende zum 21. Jahrhundert hat nun besonders ein französischer Soziologe die Aufmerksamkeit der deutschen Fachgemeinschaft auf sich gezogen, der nichts Geringeres zu tun beabsichtigt, als den Prozess einer neuen Denkweise in den Sozialwissenschaften anzustoßen. Es handelt sich um Luc Boltanski, der 1940 als Sohn einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters in Paris geboren wurde. Seit 1962 arbeitete er am Centre d’Etudes sociologiques (CES) und nach 1968 an dem von Raymond Aron und Pierre Bourdieu gegründeten Centre de Sociologie européenne (CSE). Seine von Raymond Aron angeleitete Thèse de troisième cycle beschäftigte sich mit dem Thema Prime éducation et morale de classe und wurde 1968 veröffentlicht. Als maître-assistant an der EHESS arbeitete er 74 Dossier nach eigenem Bekunden zwischen 1970 und 1976 fast täglich mit Pierre Bourdieu zusammen, mit dem gemeinsam er 1976 die Studie La production de l’idéologie verfasste. Aber allmählich lockerte sich die enge Arbeitsbeziehung zu Bourdieu, so dass nicht dieser, sondern Pierre Ansart, der sich als Autor von Untersuchungen über die Geschichte der Soziologie einen Namen gemacht hatte, an der Universität Paris VII-Jussieu seine Thèse de doctorat d’Etat de Sociologie betreute. Mit dieser Arbeit über Führungskräfte, die er 1981 abschloss und die dann unter dem Titel Les cadres, la formation d’un groupe social 1982 bei den Editions de Minuit erschien, wurde Boltanski über die Grenzen des Heimatlandes hinaus bekannt. 2 Theoretisch noch teilweise an das Bourdieusche Paradigma anknüpfend, verlagerte Boltanski in dieser Arbeit seine Aufmerksamkeit bereits sehr deutlich auf die Dimension der Akteure und ihres Handelns. Eindrucksvoll zeigte er, wie sich die „cadres“ durch ihre eigene Repräsentationsarbeit, ihre Institutionalisierungsanstrengungen und ihre symbolische Performanz als Schlüsselgruppe technischer und organisatorischer Modernisierung gleichsam selbst geschaffen haben. Seit Ende der siebziger Jahre begann Boltanski, sich vom epistemologischen und forschungspraktischen Kontext der Bourdieu-Gruppe zu entfernen. Es war offensichtlich vor allem die Berührung mit der hermeneutischen phänomenologischen Philosophie von Paul Ricoeur, die Boltanski für die Relevanz subjektiver Wahrnehmung, Erfahrung von Körperlichkeit und moralischer Identität sensibilisierte. Indem er sich von Bourdieus Denken und den praktischen Bindungen an dessen Forschungsgruppe löste, begann er selbst eine Vorstellung vom Sozialen zu entwickeln, die sich durch die Anerkennung von Handlungspluralismus, Kontingenz und moralischer Legitimierbarkeit auszeichnete. 3 Das führte zu einer Annäherung an Alain Desrosières und Laurent Thévenot, mit denen gemeinsam er am Nationalen Amt für Statistik (INSEE) Zusammenhänge zwischen sozialen Klassifikationen und dem Umgang der Akteure mit diesen Klassifikationen untersuchte. Aus der Kooperation mit Thévenot und anderen entstand 1984 der bis heute existierende Groupe de sociologie politique et morale (GSPM) an der EHESS in Paris. Das im Rahmen des GSPM Konturen gewinnende wissenschaftliche Selbstverständnis der Gruppe grenzte sich von der Bourdieuschen Lesart strukturdominierten sozialen Handelns ab, um mit dem eigenen Konzept einer „pragmatischen Soziologie“ die situative Offenheit und Autonomie des Handelns als soziale und moralische Kompetenz in den Mittelpunkt zu stellen. 2. Das deutsche Interesse an Boltanski Wie lässt sich nun erklären, dass gerade die manchmal ziemlich sperrige Soziologie Boltanskis auch in Deutschland Resonanz findet? Eine Antwort auf diese Frage berührt mehrere, die sozialwissenschaftliche Entwicklung beider (und anderer westlicher) Länder gleichermaßen betreffende Aspekte: 75 Dossier Ähnlich wie in Frankreich nimmt erstens auch in der deutschen Soziologie das Bedürfnis zu, sich einerseits von systemischen und strukturalistischen Sozialtheorien, andererseits vom Modellplatonismus individualistischer Konzepte wie den diversen Rational-Choice-Konstruktionen abzusetzen. Die Ursache dafür liegt offensichtlich in der Wahrnehmung, dass sich moderne Gesellschaften heute nicht mehr als Totalität, System oder Struktur begreifen lassen, sondern in ein von institutioneller Erosion geprägtes Ensemble fraktionierter, pluraler Sozialbeziehungen und Handlungsformen transformiert worden sind. Zweitens verlangen sowohl der Wandel traditioneller tayloristischer und fordistischer Formen des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses als auch die Entstehung neuer intermediärer Arbeits- und Interaktionsbeziehungen mit ihrer Pluralität von Netzwerken nach soziologischen Erklärungen, für die konventionelle sozialwissenschaftliche Wissensbestände nicht mehr ausreichen. Boltanski scheint diesem Erfordernis insofern in besonderem Maße Rechnung zu tragen, als er, wie noch genauer dargestellt werden soll, der „konnexionistischen Welt“ der Netzwerkökonomie einen zentralen Stellenwert einräumt. Drittens sieht sich die Soziologie veranlasst, sich der Probleme anzunehmen, die mit den wachsenden Anforderungen an die Selbsttätigkeit und Selbstverantwortlichkeit der Individuen verbunden sind und ihnen höhere Leistungen bei der Bewältigung von Situationen und Aufgaben abverlangen. Es gehört deshalb zu den wichtigsten Zielen der Soziologie Boltanskis, Bedingungen zu ermitteln und zu identifizieren, unter denen Akteure in von Konflikten, Ungleichheit und Konkurrenz bestimmten Situationen und Institutionen so handeln, dass divergierende Ansprüche kompatibel gemacht und Ungerechtigkeiten verringert werden können. Diese und weitere Gründe (zum Beispiel die soziologische Affinität zur sozialen Alltagspraxis) mögen dazu beigetragen haben, dass die Soziologie Boltanskis in Deutschland so intensiv rezipiert wird. Das soll im Folgenden am Beispiel von drei seiner wichtigsten Publikationen gezeigt werden. 4 3. Die Idee der Rechtfertigung Fand Boltanskis Die Führungskräfte vor allem in der deutschen Wirtschafts-, Arbeits- und Organisationssoziologie Beachtung, so rief die gemeinsam mit Laurent Thévenot 1991 verfasste Studie Über die Rechtfertigung 5 ein über die Grenzen der erwähnten „Bindestrich“-Soziologien weit hinausgehendes Echo hervor, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die Autoren mit ihrer Studie nicht weniger beanspruchten, als die Voraussetzungen für eine neue Denkweise in den Sozialwissenschaften zu schaffen. Worum ging es dabei? Über die Rechtfertigung entstand als der Versuch, die Hegemonie sowohl des strukturalistischen Paradigmas als auch des vor allem von Raymond Boudon repräsentierten individualistischen Paradigmas des „actionisme“ über den Diskurs der französischen Soziologie aufzubrechen. 6 Ausgehend von der Annahme, dass sich soziale Beziehungen und Handlungen in der heutigen Moderne zunehmend durch Kontingenz und Pluralität auszeichnen, 76 Dossier stellten sich Boltanski und Thévenot die Aufgabe, die Bedingungen und Chancen von Gerechtigkeitsansprüchen in von Konflikten bestimmten Situationen zu untersuchen und Verfahrensweisen vorzuschlagen, wie Gerechtigkeitsansprüche geprüft und geltend gemacht werden können. Statt die Makroebene gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen und Zwänge in den Blick zu nehmen, richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf Situationen der Mikroebene, in denen konkrete Akteure anfangen, explizit anerkannte oder latent wirksame „Rechtfertigungsordnungen“ der Kritik zu unterwerfen und in Frage zu stellen. Dabei ist Rechtfertigung als eine soziale Praxis zu verstehen, die sich auf in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen und Situationen relevante und anerkannte Wertigkeiten („grandeurs“) beruft, um bei Konflikten und Divergenzen zu einer tragfähigen Einigung zu gelangen. Als besonders wichtig erachten die Autoren die Tatsache, dass verglichen mit traditionalen Gesellschaften heute gegebene Handlungskontexte mehreren unterschiedlichen, unter Umständen sogar miteinander konkurrierenden Rechtfertigungsordnungen gleichzeitig unterworfen sein können, was die Möglichkeiten ihrer Koordination und Kompromissbildung erschwert. Um zu den damit verbundenen Problemen analytisch einen Zugang zu finden, entwickeln sie ein Modell unterschiedlicher gesellschaftlicher „Welten“(„mondes“), denen jeweils bestimmte Wertvorstellungen („grandeurs“) und Rechtfertigungsregime oder -ordnungen („cités“) entsprechen, auf die sich die Akteure berufen, wenn sie konfligierende Ansprüche mit einander harmonisieren wollen. Dabei greifen die Autoren auf Werke der klassischen politischen Philosophie als einer „Grammatik politischer Ordnung“ zurück, mit deren Hilfe sie sechs unterschiedliche „Welten“ und Rechtfertigungsregime beschreiben, von denen sie unterstellen, dass sie potentiell alle konkreten Handlungssituationen umfassen. 7 Es geht dabei um die Welt der Inspiration („monde inspiré“), der Häuslichkeit („monde domestique“), der (öffentlichen) Meinung („monde d’opinion“), des Staatsbürgerlich-Politischen („monde civique“), des Marktes („monde marchand“) und der Industrie („monde industriel“). Um zu verdeutlichen, was damit gemeint ist, seien einige Beispiele gegeben: In der „Welt der Inspiration“ etwa dominiert eine Wertvorstellung oder „Größe“, die sich durch geistige und seelische, keiner äußeren Anerkennung oder Unterstützung bedürftige Unabhängigkeit auszeichnet; in der „Welt des Marktes“ dagegen herrscht das Prinzip der Konkurrenz um knappe Güter, das die Individuen dazu motiviert, sich in deren Besitz zu bringen. Dem entspricht in der „cité marchande“ die „grandeur“ des erfolgreichen, Reichtum akkumulierenden Marktakteurs. Die den unterschiedlichen Welten jeweils adäquaten Rechtfertigungsregime bilden die Grundlage dafür, in gegebenen ambivalenten, „hybriden“ und interpretationsbedürftigen Situationen, wie sie für die Moderne immer typischer werden, die jeweils vorgebrachten Wertvorstellungen über „Objekte“ (Artefakte, Handlungen, Ordnungen/ Institutionen) einem Prüfverfahren („épreuve“) zu unterziehen, um Kompromisse und Übereinkünfte zu ermöglichen, die sowohl auf die jeweilige konkrete Situation zugeschnitten als auch für Gemeinwohlorientierungen anschlussfähig sind. 77 Dossier Über die Rechtfertigung schreibt sich so in das Forschungsprogramm einer gleichermaßen „pragmatischen“ als auch prozedural moralbezogenen (also nicht normativen) Soziologie ein, die gewisse Parallelen zur Diskursethik von Jürgen Habermas aufweist, aber sich in ihrer nicht-vernunftzentrierten Perspektive wiederum von dieser unterscheidet. Indem die „pragmatische Soziologie“ die Analyse wertgestützter Handlungsregister in Kontexten der Ungewissheit und Unbestimmtheit in den Mittelpunkt stellt, verwirft sie bisherige soziologische Antworten auf die Frage nach den Bestandsvoraussetzungen sozialer Ordnungen als obsolet. 4. Über die Rechtfertigung in der deutschen Rezeption In der deutschen Soziologie ist Über die Rechtfertigung überwiegend zustimmend aufgenommen worden. Es war vor allem Peter Wagner, der schon relativ früh, als der GSPM in Deutschland noch ziemlich unbekannt war, auf die Bedeutung der von Boltanski und anderen vollzogenen Wende zu einer neuen „theoretischen Perspektive der Sozialwissenschaften“ aufmerksam gemacht hat. 8 Dabei hob er nicht nur hervor, dass sich die Vertreter dieser Perspektive vom angeblichen Determinismus des Bourdieuschen Denkens zu befreien strebten, sondern auch den Weg zu einer interdisziplinären „Reformulierung von Grundfragen“ der Sozialwissenschaften gebahnt hätten. Diese Leistung sieht Wagner vor allem dadurch erbracht, dass das Programm der „pragmatischen Wende“ Institutionen und Ordnungen nicht als gegeben voraussetze, sondern die Praxen der Situationsbestimmung und -deutung zum Gegenstand der Analyse mache, da diese Praxen überhaupt erst dazu führten, Institutionen als Einheiten sozialer Interaktion zu konstituieren und ihnen eine gewisse Stabilität zu verleihen. Später ist Wagner noch ausführlicher auf die argumentative Struktur von Über die Rechtfertigung eingegangen und hat sich dabei auch mit einigen gegen Boltanski und Thévenot erhobenen Einwänden auseinandergesetzt. 9 Insbesondere wandte er sich gegen das Missverständnis, die beiden französischen Soziologen hätten die Handlungsfähigkeit der Individuen überbewertet, ein „zu harmonisches Bild der sozialen Welt“ entworfen und sich einer Tendenz zum Individualismus angeschlossen. Dem widerspricht Wagner, denn Boltanski und Thévenot gehe es weder in erster Linie um eine allgemeine Harmonie makrosozialer Ordnungen noch um den Sinn individuellen Handelns. Vielmehr fragten sie danach, wie durch die Analyse der Rechtfertigungsregime und Wertigkeitsprüfungen Handlungsprozesse erklärt werden können, die materielle und kognitive Dispositive für Übereinkünfte in konkreten sozialen Situationen zu erstellen vermögen. Auch die Vermutung, Boltanski und Thévenot wollten eine „alternative normative politische Theorie“ begründen, weist Wagner zurück, da es nicht ihre Absicht sei, eine materiale Theorie vorzulegen, sondern die „Rekonstruktion eines soziologischen Projekts“ zu sondieren. 10 In der deutschen Rezeption wurden auch andere Arbeiten von Boltanski zur Kenntnis genommen, die entweder auf Über die Rechtfertigung hinführten oder es 78 Dossier nachträglich ergänzten und vertieften. So wies Jörg Potthast darauf hin, dass Boltanski in L’amour et la justice comme compétences (1990) versucht habe, das Problem, wie Situationen der Rechtfertigungen beginnen und zu einem Abschluss gebracht werden, als „Übergänge“ zwischen unterschiedlichen Handlungsregimen zu interpretieren. 11 Tanja Bogusz stellt ihrerseits fest, dass L’amour et la justice comme compétences den schon vor Über die Rechtfertigung mit Laurent Thévenot zusammen entwickelten Handlungsregimen ein weiteres Regime, nämlich das der Liebe und der Gewalt, hinzugefügt habe, das ohne Äquivalenzbildungen (der Gleichwertigkeit und Angemessenheit) auskomme. 12 Damit habe Boltanski offensichtlich auf jene Kritik reagiert, welche den bisher von ihm und Thévenot vorgeschlagenen Handlungsregimen eine Tendenz zur Harmonisierung unterstellt hatten. Ähnliches gelte, so Tanja Bogusz, auch für La souffrance à distance. Morale humanitaire, médias et politique von Luc Boltanski (1993), wo er der Frage nachgehe, wie der zeitgenössische Journalismus das „Spannungsverhältnis“ zwischen objektiver Berichterstattung und humanitärer Intervention aufzulösen versuche. 5. Der neue Geist des Kapitalismus Mit der großen Untersuchung über den Nouvel esprit du capitalisme, 13 die Boltanski gemeinsam mit Eve Chiapello 14 durchführte und 1999 bei Gallimard veröffentlichte, erregten Autor und Autorin nicht nur in der französischen, sondern auch der internationalen Fachöffentlichkeit und darüber hinaus ebenso in Medien und Politik Aufsehen. Deutschland war davon nicht ausgenommen. Die breite Resonanz des Buches war gewiss nicht zuletzt der Attraktivität des Titels geschuldet, der eine wieder zunehmende soziale und intellektuelle Sensibilität für die Krisen und Pathologien des modernen Kapitalismus ansprach und auf Erwartungen eines Publikums reagierte, das sich neue Erkenntnisse über die Funktionsweise des gegenwärtigen Kapitalismus erhoffte. Was macht nun das Besondere von Der neue Geist des Kapitalismus aus? Warum trifft er auf kollektive Akzeptanz? Welche zukünftigen Szenarien lassen sich an ihm ablesen? Eine Antwort darauf setzt voraus, sich die Hauptgesichtspunkte und -ziele der Untersuchung kurz vor Augen zu führen. Erstens wollen Boltanski und Chiapello die spezifisch neuen Erscheinungsformen des heutigen Kapitalismus herausarbeiten und bewusst machen, welche sozialen Kompetenzen Akteure brauchen, um die Komplexität von Handlungskontexten zu bewältigen. Zweitens sehen Boltanski und Chiapello im Kapitalismus ein gesellschaftliches System, das ohne moralische Legitimation nicht entwicklungsfähig ist. Dabei unterscheiden sie zwischen zwei (weiter unten erklärten) Grundformen von Kritik, nämlich der „Sozialkritik“ („critique sociale“) und der „Künstlerkritik“ („critique artiste“), die der Kapitalismus je nach den sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen der Akkumulation in Antriebskräfte seiner eigenen Entwicklung und Anpassung verwandelt. Drittens geht es ihnen um die Darstellung neuer „Gerechtigkeitsstrukturen“, welche die spezifi- 79 Dossier schen Bedingungen der „konnexionistischen Welt“, also der Netzwerkförmigkeit moderner, mit Unvorhersehbarkeit, Flexibilität und Mobilität konfrontierter Arbeitsprozesse widerspiegeln. Da den bisherigen Untersuchungen Boltanskis gelegentlich ein Bias der Geschichtslosigkeit vorgeworfen worden war, versuchen er und Eve Chiapello, die geschichtliche Dimension des Kapitalismus zu berücksichtigen, indem sie eine Periodisierung seiner Entwicklung vornehmen. Dem liegt allerdings die allgemeine Idee zugrunde, dass der Kapitalismus unabhängig von seinen jeweiligen konkreten historischen Entwicklungsstufen immer unbedingt einer moralischen Rechtfertigung bedürfe, um nicht an den von ihm selbst hervorgebrachten Widersprüchen zu zerbrechen. Der Kapitalismus könne nur dann akkumulieren und seine Produktivität steigern, wenn es ihm gelinge, die Subjekte moralisch an sich zu binden und seine wirtschaftliche Logik an Prinzipien des Gemeinwohls anzupassen. Mit dieser Idee knüpfen die beiden Autoren ausdrücklich an Max Webers Protestantische Ethik an, um allerdings die bei Weber auf den sozialen Sinn individuellen Handelns beschränkte Sichtweise einzelner Protagonisten durch eine allgemeine ethische Ideologie des Kapitalismus zu erweitern: „ Der Geist des Kapitalismus verkörpert nun gerade eine solche Gesamtheit von Glaubenssätzen, die mit der kapitalistischen Ordnung verbunden sind und zur Rechtfertigung dieser Ordnung, zur Legitimation und mithin zur Förderung der damit zusammenhängenden Handlungsweisen und Dispositionen beitragen. Ob diese Rechtfertigungen nun allgemeiner oder praktischer, lokaler oder globaler Natur sind, ob sie in Begriffen von Tugend oder von Gerechtigkeit gefasst werden, sie begünstigen die Erfüllung von mehr oder weniger unangenehmen Aufgaben, und in einem allgemeineren Sinne befördern sie die Akzeptanz einer Lebensführung, wie sie der kapitalistischen Ordnung entgegenkommt. In dieser Hinsicht lässt sich durchaus von einer dominanten Ideologie sprechen, vorausgesetzt allerdings, man sieht darin nicht unbedingt eine Ablenkungsstrategie der Herrschenden, die sich das Einverständnis der Unterdrückten sichern wollen.“ 15 Nach Boltanski und Chiapello hat der „Geist des Kapitalismus“ bisher drei wesentlich unterschiedene Phasen durchlaufen. 16 Der „erste Geist“ drückte den Paternalismus eines lokal begrenzten Unternehmerkapitalismus aus (und dauerte bis etwa zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert). Der „zweite Geist“ reflektierte die von der Dominanz industrieller Massenproduktion und bürokratisierter Großunternehmen ausgehende Handlungslogik, die jene Periode beherrschte, die man heute im Allgemeinen als „Fordismus“ (1930-1970) bezeichnet. Seit Anfang der achtziger Jahre entstand nach Auffassung der beiden Autoren jener „dritte“ oder „neue Geist“, für den die immer mehr Flexibilität, Mobilität, Selbstverantwortung und Kreativität erfordernden Bedingungen moderner Projekt- und Netzwerkarbeit charakteristisch sind. Es ist dieser „neue Geist“, der im Zentrum des Buches steht. Seine Konstituierung wird sowohl historisch als auch soziologisch-empirisch, nämlich auf der Basis einer Inhaltsanalyse zeitgenössischer Management- und Ratgeberliteratur, untersucht. Eine methodische Schlüsselfunktion erfüllt dabei der Begriff 80 Dossier der Kritik, der als Leitdifferenz von „Sozialkritik“ und sogenannter „Künstlerkritik“ operationalisiert wird. 17 Dabei deckt sich „Sozialkritik“ im Wesentlichen mit dem üblichen Begriffsverständnis, wohingegen „Künstlerkritik“ jene Haltungen, Forderungen, Intentionen und Ziele meint, in denen sich subjektive expressive Bedürfnisse nach Identität, Autonomie, Kreativität usw. artikulieren. Die daran anschließende auf die beiden Formen von Kritik bezogene Argumentation lässt sich wie folgt zusammenfassen: Mit der Studentenrevolte von 1968 wurde die traditionelle Sozialkritik der Arbeiterbewegung und politischen Linken durch jenen Typ von „Künstlerkritik“ überholt, der eine Priorität für Bedürfnisse nach „Selbstverwirklichung“, Entmachtung von Autoritäten und ein Ende jeder bevormundenden Reglementierung durch gesellschaftliche Institutionen forderte. Diese ursprünglich gegen ihn gerichtete „Künstlerkritik“ habe der Kapitalismus, so der Gedanke der beiden Autoren, seinerseits adaptiert und in eine Potenz der Eigendynamik verwandelt. Aus der Verbindung von technologisch unterbauter Netzwerkökonomie und kapitalistisch instrumentalisierter „Künstlerkritik“ sei der „neue Geist“ und mit ihm ein neues Rechtfertigungsregime hervorgegangen, das als „projektbasierte Polis“ („cité par projets“) bezeichnet wird. 18 (Auch sie ergänzt die sechs Rechtfertigungsregime in Über die Rechtfertigung). Die der kapitalistischen Netzwerkökonomie inhärenten Formen der Ausbeutung verlangen von den betroffenen Akteuren, die an einem konkreten Netzwerk beteiligt sind, die Ausarbeitung von Gerechtigkeitsstandards, die in der „projektbasierten Polis“ verankert werden müssen. Diese Gerechtigkeitsstandards greifen einerseits auf Elemente der „Künstlerkritik“, andererseits aber auch auf eine Reaktualisierung der Sozialkritik zurück, welche die gegenwärtige Vertiefung sozialer Spaltung und Ungleichheit wieder auf die Tagesordnung gesetzt hat: „Der Sozialkritik neue Kraft zu verleihen und nach einer Verringerung der Ungleichheiten und der Ausbeutung in einer vernetzten Welt zu streben, ist zweifellos von grundlegender Bedeutung. Allerdings sollte die Künstlerkritik nicht unter dem Vorwand ihrer Verirrung - insofern sie in den letzten zwanzig Jahren dem Kapitalismus in die Hände gespielt habe - und angesichts der Dringlichkeit des sozialen Kampfes zu Grabe getragen werden. Die Themen der Künstlerkritik sind ebenso grundlegend wie aktuell. Wie anderthalb Jahrhunderte Kapitalismuskritik gezeigt haben, widersprechen die beiden Formen der Sozial- und der Künstlerkritik einander in vielen Punkten. Andererseits sind sie aber auch untrennbar miteinander verbunden, insofern sie unterschiedliche Aspekte der Lebenswirklichkeit betonen und sie dadurch ausgleichen und wechselseitig beschränken“. 19 6. Kontroverse Urteile über den Neuen Geist des Kapitalismus Von allen Publikationen Boltanskis ist Der neue Geist des Kapitalismus zweifellos diejenige, die in Deutschland am breitesten, intensivsten und auch am meisten kontrovers rezipiert und diskutiert worden ist. Aus der großen Zahl an Rezensio- 81 Dossier nen, Kommentaren und Kritiken seien einige Beispiele soziologischer Provenienz herausgegriffen, um die Vielfalt der Rezeption sichtbar zu machen. Schon bevor die deutsche Übersetzung von Le nouvel esprit du capitalisme erschienen war, wurde das Buch mit Lob bedacht. Jörg Potthast macht daran mehrere Vorzüge aus, welche die erstarrten Formen der Kapitalismuskritik in Bewegung gesetzt und dieser Kritik neue Impulse gegeben hätten. 20 Potthast würdigt Boltanski und Chiapello als „Berater der Kapitalismuskritik“, deren besonderes Verdienst darin bestehe, in Praktiken der Vernetzung Elemente entdeckt zu haben, die kein Resultat kapitalistischer Marktlogik seien, sondern im Gegenteil „marktfremde Mechanismen“ freisetzten, weil Projekt- und Netzwerkarbeit auf einem sich den anonymen Transaktionen des Kapitals entziehenden Vertrauen basierten. Auch stimmt Potthast der von Boltanski und Chiapello vertretenen These zu, dass der moderne Kapitalismus einer Identifikation seiner Akteure mit ihm umso mehr bedürfe, je weniger hierarchische Kontrollsysteme der Komplexität seiner Aufgaben und Funktionen gerecht werden könnten. Der „diagnostische Wert“ der Untersuchung zeige sich vor allem darin, dass nicht nur zwischen alten und neuen Rechtfertigungsregimen unterschieden werde, sondern auch gerade solche Probleme thematisiert würden, die dann aufträten, wenn Akteure in mehreren Projekten gleichzeitig engagiert seien. Diese innovativen Aspekte veranlassen Potthast, dem Buch die Qualität eines neuen Standardwerks der Wirtschaftssoziologie zu bescheinigen: „Die große Ambition, den Nachweis zu erbringen, dass die Ökonomie nicht eine autonome Sphäre ist, die nach positiven Gesetzen zu beschreiben wäre, wird auch in dramaturgischer Hinsicht so geschickt umgesetzt, dass NEC (gemeint ist Le nouvel esprit du capitalisme, L.P.) zu einem Standardwerk der Wirtschaftssoziologie werden könnte.“ 21 Auch andere deutsche Rezipienten unterstreichen die Verdienste von Boltanski und Chiapello, obwohl sich gleichzeitig zahlreiche kritische Anmerkungen in die anerkennenden Kommentare mischen. So würdigt Friedhelm Hengsbach, prominenter Vertreter der katholischen Soziallehre, zwar die „dynamische Verbindung“ zwischen Realität des Kapitalismus und seiner Kritik, kritisiert aber auch, dass unklar bleibe, „wessen Geist Boltanski/ Chiapello eigentlich im Blick haben - den kapitalistischen Geist asymmetrischer Machtverhältnisse und abhängiger Arbeit oder den Geist der Polis ( also der „cité“, L.P.), nämlich der Gerechtigkeit und der Menschenrechte“. 22 Markus Pohlmann vergleicht die in Harvard ihr Zentrum findende „neue wirtschaftsethische Kulturtheorie“ sowohl mit Max Weber als auch dem „neuen Geist des Kapitalismus“. 23 Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Ansatz von Boltanski und Chiapello geeignet sei, jene Engführungen zu vermeiden, durch welche die „neue wirtschaftsethische Kulturtheorie“ die Relevanz von Kultur auf ein die individuelle Lebensführung bestimmendes „Set an religiösen Werten“ reduziere. Indem Boltanski und Chiapello kulturellen Werten weder eine den Kapitalismus einseitig hemmende noch fördernde Funktion zuschrieben, sondern als „dialektisches Spannungsverhältnis“ interpretierten, sei ihre Deutung für vergleichende Untersuchun- 82 Dossier gen eine fruchtbare Ergänzung und Korrektur des kulturalistischen Harvard-Konzepts. Zahlreiche Einwände gegen den Neuen Geist des Kapitalismus sind in einer von der Marxschen Theorie und kritischen Gesellschaftstheorie inspirierten Perspektive vorgebracht worden. So bemängelt Christoph Deutschmann, dass bei Boltanski und Chiapello zwischen der ökonomischen „Kernstruktur“ des Kapitalismus und den ihn rechtfertigenden Ideologien ein methodischer Bruch entstehe, so dass der These einer „Notwendigkeit der Rechtfertigung“ eine überzeugende Begründung fehle. 24 Des weiteren moniert Deutschmann, dass die beiden französischen Soziologen die Funktion des Geldes als Medium der Integration der Lohnarbeiter in die Dynamik des Kapitalismus ausblenden. Außerdem beschränke sich die symbolische Strukturierung im Kapitalismus nicht nur auf das Management der Netzwerkökonomie, sondern erfasse auch so heterogene Bereiche wie die der Technik und des Konsums, so dass die von Boltanski und Chiapello behauptete Tendenz zur Vereinheitlichung in einem einzigen „kapitalistischen Esprit“ ständig konterkariert werde. Schließlich widerspricht Deutschmann der These, dass mit dem „neuen Geist des Kapitalismus“ wirklich ein neuer Mythos geschaffen worden sei; denn die Mobilisierung neuer Potentiale des Arbeitsvermögens durch Managementrhetorik lasse eher auf eine „abnehmende Kraft des Kapitalismus“ schließen, weshalb das Kapital vor allem versuche, die Beschäftigten durch Strategien zu binden, die auf eine Entgrenzung von Lohnarbeit (Deregulierung, verlängerte Arbeitszeiten, Verfügbarkeit der Arbeitskraft) hinauslaufe. Dass es sich bei der heutigen Managementphilosophie eher um ein Schwäche und Unsicherheit verratendes Phänomen statt um eine Revitalisierung des Kapitalismus handle, sieht Deutschmann auch durch die Tatsache längerfristig sinkender Wachstumsraten des Weltsozialprodukts bestätigt. Ebenfalls kritisch fällt die Bilanz meiner eigenen Anmerkungen zu Der neue Geist des Kapitalismus aus. 25 Obwohl Boltanski und Chiapello ausgetretene Pfade der Kapitalismuskritik verlassen und eine Reihe neuer, anregender Gedanken über die Zusammenhänge von objektiven und subjektiven Erfordernissen des modernen Kapitalismus ins Spiel gebracht haben, fallen doch in ihrer Argumentation mehrere Defizite auf. So beinhaltet der Begriff des „neuen Geistes des Kapitalismus“ eine Verkürzung kapitalistischer Widersprüche auf jene Facetten des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses, in denen sich, wie in der Netzwerkökonomie, gewisse Möglichkeiten der Subjektvierung von Arbeit ergeben. Die darin angelegte Idealisierung setzt sich in der von Boltanski und Chiapello verwendeten „Netzmetapher“ insofern fort, als sie die Antagonismen zwischen den unerbittlichen Imperativen kapitalistischer Konzentration und Zentralisation zum einen und einer auf Vertrauen beruhenden dezentralen Kooperation in Projekten zum anderen weitgehend ausklammert. Die Neigung zur idealisierenden Deutung reproduziert sich auch in der Überbewertung der Effekte von Kritik, zumal der sogenannten „Künstlerkritik“, und in der Unterschätzung der „harten“ ökonomischen und technischen Faktoren der Kapitalverwertung. Dementsprechend gehen die konkreten Vorstellungen von 83 Dossier Boltanski und Chiapello über die seit langem von den französischen Gewerkschaften und ihren Betriebsdelegierten erhobenen, sehr moderaten Forderungen kaum hinaus. Mit anderen diskurstheoretischen Modellen sozialen Handelns wie dem von Jürgen Habermas, aber auch der Idee „reflexiver“ Reformen bei Anthony Giddens teilt das Konzept der „cité par projets“ eine gewisse Naivität hinsichtlich der faktischen, durch das Prinzip der Profitabilität diktierten Machtverhältnisse auch in der Netzwerkökonomie. Indem Boltanski und Chiapello schließlich den „neuen Geist“ des Kapitalismus sowohl als moralische Triebkraft als auch als Schranke exzessiver kapitalistischer Akkumulation interpretieren, schreiben sie diesem Geist die paradoxe Funktion zu, die dem Kapitalismus innewohnenden Krisen und Widersprüche gleichzeitig zu verursachen und zu überwinden. Unter den zahlreichen Besprechungen und Kommentaren des Buches, die bis in die Tagespresse reichten, verdient auch ein Beitrag von Ursula Holtgrewe ausdrücklich Berücksichtigung, weil er sowohl in einer feministischen Perspektive verfasst ist und das Buch auf einen möglichen Bias geschlechtsneutraler Argumentation überprüft als es auch mit Ergebnissen empirischer Forschung konfrontiert. 26 Zunächst stellt Holtgrewe fest, dass die beiden Formen der „Sozial“- und „Künstlerkritik“ zwar durchaus bestimmte „Grenzen und Dynamiken sozialer Bewegungen“ aufgezeigt hätten, es der Frauenbewegung aber gelungen sei, ihre Absorption durch den „neuen Geist“ des Kapitalismus zu verhindern und das „Thema der Gleichheit“, das bei Boltanski und Chiapello nur eine untergeordnete Rolle spiele, unvermindert auf der Tagesordnung zu halten. Wie eine kritische, sowohl die materielle soziale als auch die symbolische Ebene von Ungleichheit verknüpfende soziologische Intervention aussehen könnte, weist Holtgrewe am Beispiel der Zusammenhänge von Geschlecht, Arbeit und Organisation nach, indem sie der „geschlechtsneutralen Selbstbeschreibung“ der „Projektpolis“, also der „cité par projets“, deren tatsächliche „vergeschlechtlichte Substruktur“ gegenüberstellt. Den hier geltenden Wertigkeitsgrößen wie Aktivität, Mobilität und Vernetzungsfähigkeit sei ein geschlechtsneutraler bzw. männlicher Subtext unterlegt, was dazu führe, dass selbst dann, wenn Frauen und Männer in der Netzwerkarbeit tatsächlich das Gleiche tun, dies nicht als gleich anerkannt werde. Wie die Bewertungskriterien und Rechtfertigungsregime zustande kommen, bedürfe deshalb auch selbst einer Analyse und damit einer Analyse von Handlungsbedingungen der Akteure, die den konkreten Situationen im Netzwerk vorausgehen. In einem weiteren Schritt referiert Holtgrewe Ergebnisse empirischer Untersuchungen und stellt fest, dass die Befunde zwar im Selbstverständnis von Netzwerken unmittelbar keine „vergeschlechtlichte Substruktur“ erkennen lassen, diese aber sehr klar zutage trete, wo es um die Verfügbarkeit der Akteure im Netzwerk und um die Entgrenzung im Verhältnis von Netzwerkarbeit und privater Lebensführung gehe: “ Unter der Perspektive der Verfügbarkeit also ist es nicht die Entwicklung einer Polis, die Frauen und Männer ungleich positioniert, sondern die Persistenz ungleich verteilter Verantwortlichkeiten und Relevanzen in der Reproduktions- und Familiensphäre, die von all den modernen Rechtfertigungsordnungen ausgeblendet wird.“ 27 84 Dossier 7. Kritische Soziologie und Soziologie der Kritik Seine wachsende Reputation und sein Projekt einer Soziologie, die sich weder den Prämissen holistischer Gesellschafts- und Herrschaftskritik unterwerfen will noch vom Paradigma individualistischer Handlungsrationalität leiten lässt, aber auch nicht auf eine kritische Haltung zu den von ihr bearbeiteten Gegenständen verzichten möchte, trugen dazu bei, dass Boltanski gerade auch bei jener soziologischen Institution in Deutschland auf Interesse stieß, die sich seit ihrer Gründung programmatisch der Idee der Gesellschaftskritik verpflichtet fühlt, nämlich dem Institut für Sozialforschung in Frankfurt. Daraus folgte 2008 die Einladung Boltanskis zu einer Adorno-Vorlesungsreihe, in der er dann seinem deutschen Publikum den Übergang von einer „kritischen Soziologie“ im Sinne Bourdieus zu einer akteursbezogenen „pragmatischen Soziologie“ erläuterte. Diese Vorlesungen sind 2009 bei Gallimard und schon 2010 unter dem Titel Soziologie und Sozialkritik in einer deutschen Fassung bei Suhrkamp erschienen. 28 Soziologie und Sozialkritik schreibt sich in jene bereits weiter oben skizzierte Strömung der gegenwärtigen französischen Sozialwissenschaften ein, die sich den Erfahrungen sozialer Akteure in institutionellen Kontexten zuwendet und das Forschungsinteresse primär auf die dabei erforderlichen Handlungskompetenzen richtet. Eine soziologische Untersuchung sei dann erfolgreich, so Boltanski, „wenn sie ein zufriedenstellendes Bild der sozialen Kompetenzen der Akteure erstellt“. 29 Für Boltanski unterscheiden sich die so ins Zentrum gerückten Akteure („acteurs“) von den in der bisherigen kritischen Soziologie bevorzugten Handlungsträgern („agents“), die dazu verurteilt seien, Herrschaft unbewusst und passiv zu erleiden. Indem diese „kritische“ bzw. „metakritische“, weil von den konkreten Lebensbedingungen abstrahierende Soziologie die realen sozialen Asymmetrien auf nur eine einzige Grundasymmetrie, sei es die der Klasse, des Geschlechts oder der Ethnie, reduziere, verfehle sie die tatsächliche Pluralität der „zeitgenössisch demokratischkapitalistischen Gesellschaften“ 30 und damit aber auch die Möglichkeiten von Akteuren, Ambivalenzen und Widersprüche zu bewältigen. Der Gedanke, dass eine Soziologie der Kritik sich an der gesellschaftlichen Realität von Ungewissheit und Offenheit bewähren müsse, anstatt sich mit der Festschreibung einer totalisierenden Herrschaftslogik zu begnügen, wird in den folgenden Schritten seiner Vorlesung am Beispiel von Institutionen und der ihnen immanenten „hermeneutischen Widersprüche“ entfaltet. Unter „hermeneutischem Widerspruch“ ist dort das spannungsvolle Verhältnis zwischen dem notwendigen Vertrauen auf die stabilitätssichernde Funktion von Institutionen einerseits und der skeptischen Einstellung gegenüber ihren Herrschaftsfunktionen andererseits zu verstehen. Dabei setzt sich Boltanski sowohl durchgängig mit Bourdieu als auch spezifisch mit dem „radikal-pragmatistischen“ Standpunkt der Ethnomethodologie auseinander, die von einer Selbstverständlichkeit und Quasi-Natürlichkeit gegebener sozialer Situationen und des sie bestätigenden common sense ausgehe und damit dem „Problem der Ungewissheit“ ausweiche. Demgegenüber fordert er, „Kritik und 85 Dossier Übereinkunft im Rahmen des Problems der Ungewissheit neu zu erörtern“, 31 indem er die Konzeptualisierung von „Handlungsregistern“ vorschlägt, die sowohl durch Pragmatik als auch Reflexivität bestimmt sein können. Daran anschließend wird die Notwendigkeit von Kritik an der „Macht der Institutionen als Manifestation symbolischer Gewalt“ 32 erläutert, woraus hervorgeht, dass Boltanski einen definitiven Bruch mit der „kritischen Soziologie“ durchaus zu vermeiden sucht. Im Blick auf Institutionen sieht er die Aufgabe einer „Soziologie der Kritik“ vor allem darin, institutionelle Gewalt kritisierbar zu machen. Dabei bedient er sich eines Instrumentariums, das er bereits in seinen früheren Untersuchungen entwickelt hatte. Erneut verwendet er also Begriffe wie „Größe“, „Qualifizierung“, „Wertigkeit“ und „Prüfung“. Letzterer wird ausführlich expliziert, indem er drei Formen von „Prüfung“ gegebener sozialer Situationen unterscheidet: 33 Realitätsprüfungen, Wahrheitsprüfungen und existentielle Prüfungen. Während Realitätsprüfungen institutionelle Ordnungen bestätigen oder in Frage stellen können, bestätigen Wahrheitsprüfungen immer bestehende Ordnungen insofern, als sie sie als gegeben und somit faktisch „wahr“ verifizieren. Dagegen operieren existentielle Prüfungen mit moralischer Betroffenheit und seelischem Leid, die als Handlungsmotive im Konflikt um institutionelle Arrangements von Akteuren geltend gemacht werden können. Im letzten Kapitel stellt Boltanski die Frage, womit und wie eine „pragmatische Soziologie“ zu einer „Sozialkritik der Herrschaft“ beitragen könne und plädiert zunächst für eine „reflexive Rückwendung zum hermeneutischen Widerspruch“, 34 was etwa soviel heißt wie dass die aus dieser „Rückwendung“ entspringende Kritik weder Institutionen als „Quelle der Autorität“ aufwerten noch die Idee der notwendigen sozialen Funktionen von Institutionen aufgeben will. Statt dessen komme es darauf an, das Verhältnis zwischen Institutionen und Kritik grundlegend zu revidieren. Dies könne etwa geschehen, wenn jene „Ausbeutungsprozesse“ problematisiert würden, die zu „ungleicher Verteilung von Eigentum“ führen, wobei unter letzterem nicht nur materielle Objekte, sondern etwa auch Rechtsansprüche aufgrund hierarchischer Statuspositionen gemeint sind. Das Ergebnis eines solchen kritischdiskursiven Prozesses könne, wie Boltanski hofft, in einer „besseren Verteilung von Handlungsmöglichkeiten“ bestehen, also darin, die praktisch zu übende Kritik der Akteure zu stärken. Überlegungen dieser Art münden schließlich in eine Perspektive, welche gewisse Sympathien für anarchistisches Denken nicht ganz verheimlicht. So spricht Boltanski von der Unabdingbarkeit des „ewigen Weges der Revolte“ und empfiehlt ein „Desinteresse am Staat“, ohne den ja der Kapitalismus nicht lebensfähig sei. Durch die kritische Dekonstruktion des Staates werde auch der Charakter des Kapitalismus bloßgelegt. 35 Eine „pragmatische Soziologie“, die zugleich kritische Soziologie sei, habe die Aufgabe, die Akteure in ihren alltäglichen Anstrengungen zu unterstützen, eine Verfestigung des Herrschaftscharakters der Institutionen zu verhindern und mit Hilfe der von der Soziologie bereitgestellten Grammatik von Gerechtigkeitskriterien um jenen „Zustand fortwährenden Ungleichgewichts“ (als unaufhebbare Spannung zwischen Gemeinschaft und Bin- 86 Dossier dungslosigkeit) zu kämpfen, ohne den „die Herrschaft tatsächlich alles verschlingen würde“. 36 8. Deutsche Kommentare Obwohl sich Soziologie und Sozialkritik auch für ein sozialwissenschaftlich versiertes Publikum teilweise ziemlich schwierig liest, hat es in Deutschland eine Resonanz gefunden, die bis in die großen Tageszeitungen reicht. Mit seiner Rezension in der Süddeutschen Zeitung erinnert Martin Bauer 37 nicht nur an den Rekurs Boltanskis auf Emile Durkheims Verständnis von Gesellschaft als moralische Ordnung, sondern geht auch darauf ein, dass Boltanskis an konkreten Konflikten des Alltags- und Arbeitslebens interessierte Soziologie mit dem totalitätsbezogenen Zuschnitt der Gesellschaftskritik der Frankfurter Schule nicht ohne weiteres vereinbar sei. Dagegen beobachtet Tanja Bogusz in ihrer überaus informativen und sachkundigen Einführung in das Werk Boltanskis, dass sich Soziologie und Sozialkritik eher von den ursprünglichen Prämissen des GSPM entfernt und der „kritischen Theorie“ Bourdieus wieder angenähert habe. 38 Obwohl sie positiv anmerkt, dass diese Studie der „Selbstreflexion der Sozialwissenschaften“ wichtige Anregungen gebe, macht sie auch auf Defizite aufmerksam. So stellt sie einen Widerspruch zwischen der beträchtlichen epistemologischen Abstraktheit der Frankfurter Vorlesungen Boltanskis zum einen und den Versicherungen der pragmatischen Soziologie zum anderen fest, sich primär der Alltagspraxis von Konfliktbewältigung in der Perspektive der Akteure zu widmen. Damit drohe Soziologie und Sozialkritik gerade jene empirische Bodenhaftung und Akteursnähe einzubüßen, die sie selbst gegenüber dem Totalitätsverständnis der Frankfurter Schule und noch mehr gegenüber Bourdieus strukturalistischer Theorie eingefordert habe. Von einem an der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule orientierten Standpunkt aus hat sich Robin Celikates, seinerzeit Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, mit der pragmatistischen Wende im Denken Boltanskis auseinandergesetzt. 39 Dabei ist er auf mehrere Dissonanzen in dessen Argumentation gestoßen. Indem Boltanski, den Vorgaben der Ethnomethodologie folgend, die Akteure zur einzigen Autorität reflexiver Praxis erkläre, verwerfe er jede Möglichkeit einer jenseits der Akteure situierten theoretischen Kritik; 40 denn wenn man, so wendet Celikates ein, nur die in konkreten Handlungskontexten auftretenden Praxen der Rechtfertigung und Kritik als Gegenstand soziologischer Untersuchung zulasse, könne man nicht hinreichend erklären, welche Rolle die eine Handlungssituation überhaupt erst konstituierenden gesellschaftlichen Bedingungen für die reflexiven Fähigkeiten der Akteure spielen. Da offensichtlich reflexive Fähigkeiten und die Kompetenzen, sie anzuwenden, empirisch sehr unterschiedlich verteilt seien, müsse gefragt werden, wie diese Verteilung gesellschaftlich entstanden sei. Celikates schlägt deshalb vor, diejenigen gesellschaftlichen Bedingungen, die sowohl die Entstehung als auch die praktische Anwendung entsprechender Fähigkei- 87 Dossier ten der Rechtfertigung und Kritik einschränken und blockieren, als „Pathologien zweiter Ordnung“, 41 nämlich als dem konkreten Handeln vorausgesetztes „strukturelles Reflexivitätsdefizit“ zu bezeichnen. Nur sofern Soziologie in der Lage sei, „Pathologien zweiter Ordnung“ zu diagnostizieren, könne sie auch dazu beitragen, die Zwänge und Hemmnisse des Handelns in konkreten Situationen bewusst zu machen. Damit schließt Celikates an jenen Grundgedanken der Kritischen Theorie an, die Selbstverständlichkeit und Legitimität sozialer Prozesse nicht fraglos anzuerkennen, sondern kritisch als ideologischen Schein der gesellschaftlichen Verhältnisse zu enthüllen. Im Zusammenhang mit der deutschen Rezeption von Soziologie und Sozialkritik soll abschließend jene Diskussion erwähnt werden, die Luc Boltanski, moderiert von Robin Celikates, mit Axel Honneth, dem früheren Habermas-Schüler und gegenwärtigen Direktor des Instituts für Sozialforschung, 2008 in Frankfurt am Main geführt hat. 42 Da Boltanski während der letzten Jahre um eine Rückgewinnung der gesellschaftskritischen Dimension und ihrer Integration in seine Konzeption von Soziologie bemüht ist, fallen die Unterschiede zu Axel Honneths Verständnis von Kritischer Theorie weniger schroff aus, als man vielleicht zunächst vermutet hätte. Honneth interpretiert die „neue Konzeption von Metakritik“ bei Boltanski als dessen Versuch, auf eine inzwischen eingetretene Enttäuschung über die deskriptive Selbstgenügsamkeit der früheren „pragmatischen Soziologie“ zu reagieren. Um diese von Honneth behauptete Wende zu präzisieren, unterscheidet er zwischen zwei „Optionen“ von Metakritik. 43 Bei der ersten, welche die Beschränkungen kritischer Fähigkeiten der Akteure in einer gesellschaftlichen „metakritischen“ Perspektive analysiert, entdeckt er durchaus „Überschneidungen mit der Kritischen Theorie“. Die zweite Option besteht nach Honneth dagegen in einer nicht-normativen Kritik der Funktionsstörungen und Pathologien im Verhältnis zwischen Institutionen und „Welt“. Damit ist gemeint, dass sich Institutionen gegen die Komplexität und Veränderungen der sie umgebenden „Welt“ abschotten und zu erstarren drohen. Im Blick auf diese zweite Option von Metakritik hält Honneth wiederum zwei Formen von Kritik für möglich, eine „reformistische“, die das Funktionieren von Institutionen verbessert, und eine „radikale“. Diese radikale Form würde sich von der „pragmatischen Soziologie“ entfernen und sich einer gesellschaftskritischen Perspektive annähern, wie sie, so darf man Honneth hier wohl verstehen, von der von ihm vertretenen Kritischen Theorie reklamiert wird. 9. Schlussbemerkung Das Verdienst Luc Boltanskis, das sich auch in der Diskussion seiner Arbeiten in Deutschland widerspiegelt, besteht gewiss vor allem darin, soziale Akteure nicht auf ihre Funktion als bewusstlose Exekutoren struktureller Ordnungen zu reduzieren, sondern als kompetente, kritikfähige und verantwortlich Handelnde anzuerkennen. Inwieweit sein sich jetzt abzeichnendes Konzept einer Versöhnung von 88 Dossier Soziologie und Sozialkritik allerdings in der Lage ist, Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Strukturen und konkretem Handeln überzeugend zu analysieren, bleibt vorerst offen. Ob es ihm gelingt, mit der Wiederannäherung an bestimmte Postulate der Sozialkritik neue Wege zu beschreiten, die über den in der Soziologie notorischen Antagonismus zwischen Gesellschaft und Akteur bzw. Struktur und Handlung hinausführen, wird sich erst dann genauer beantworten lassen, wenn der sich ankündigenden programmatischen Wende empirisch überprüfbare Untersuchungen folgen. 1 Stephan Moebius, Lothar Peter (eds.): Französische Soziologie der Gegenwart, Konstanz, UVK, 2004. 2 Luc Boltanski: Les cadres, la formation d’un groupe social, Paris, Minuit, 1982 (dt.: Die Führungskräfte. Die Entstehung einer sozialen Gruppe, Frankfurt/ New York, Campus, 1990). 3 Cf. Rainer Diaz-Bone, Laurent Thévenot: „Die Soziologie der Konventionen als ein zentraler Bestandteil der neuen französischen Sozialwissenschaften“, in: Trivium. Revue franco-allemande de sciences humaines et sociales - Deutsch-französische Zeitschrift für Geistes- und Sozialwissenschaften, 5, 2010, 1-18. 4 Neben einer Reihe von Einzelbeiträgen in deutschen sozialwissenschaftlichen Zeitschriften und Sammelbänden ist auch Boltankis umfangreiche „Soziologie der Abtreibung. Zur Lage des fötalen Lebens“ 2007 in einer deutschen Übersetzung bei Suhrkamp in Frankfurt am Main erschienen. 5 Luc Boltanski, Laurent Thévenot: Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg, Hamburger Edition, 2007 (frz.: De la justification. Les économies de la grandeur, Paris, Gallimard, 1991). 6 Zum Paradigma des „actionisme“ cf. Andrea Maurer, Michael Schmid: „Ein Vertreter der erklärenden Soziologie: Raymond Boudon“, in: Stephan Moebius, Lothar Peter, op.cit, 111-137. 7 Cf. im Folgenden Luc Boltanski, Laurent Thévenot, op.cit, 222sqq. 8 Peter Wagner: „Die Soziologie der Genese sozialer Institutionen - Theoretische Perspektiven der ‘neuen Sozialwissenschaften’ in Frankreich“, in: Zeitschrift für Soziologie, 6, 1993, 464-476. 9 Peter Wagner: „Soziologie der kritischen Urteilskraft und der Rechtfertigung. Die Politik- und Moralsoziologie“, in: Stephan Moebius, Lothar Peter, op. cit., 417-448. 10 Peter Wagner, op. cit., 439. 11 Jörg Potthast: „Der Kapitalismus ist kritisierbar. Le nouvel esprit du capitalisme und das Forschungsprogramm der ‘Soziologie der Kritik’“, in: Berliner Journal für Soziologie, 4, 2001, 551-562, 554sq. 12 Cf. Tanja Bogusz: Zur Aktualität von Luc Boltanski. Einleitung in sein Werk, Wiesbaden, VS, 2010, 58sq. 13 Luc Boltanski, Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz, UVK, 2003 (frz.: Le nouvel esprit du capitalisme, Paris, Gallimard, 1999). 14 Eve Chiapello, geb. 1965, ist Professorin im „département comptabilité et contrôle de gestion au groupe“ an der „Ecole des hautes études commerciales“ (HEC). Sie hat sich besonders auf dem Gebiet der Soziologie des Managements wissenschaftlich profiliert. Ihre empirische Untersuchung über das Verhältnis von Kulturmanagement und Künstlern 89 Dossier (Artistes versus management. Le management culturel face à la critique artiste, Paris, Métailié, 1998) spielt für „Der Neue Geist des Kapitalismus“ eine wichtige Rolle. 15 Luc Boltanski, Eve Chiapello, op.cit., 46. 16 Ibid., 55sq. 17 Ibid., 215sq. Der Begriff der „Künstlerkritik“ („critique artiste“) leitet sich aus der unter Fußnote 14 genannten Untersuchung von Eve Chiapello über Kulturmanagement und Künstlerkritik her. 18 Ibid., 147-88. 19 Ibid., 574, 575. 20 Cf. Jörg Potthast, op. cit. 21 Ibid., 560, 561. 22 Friedhelm Hengsbach: „Kapitalismus als Religion? “, in: Gabriele Wagner, Philipp Hessinger (eds.): Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien und Ambivalenzen der Netzwerkökonomie, Wiesbaden, VS, 2006, 145-191, 185. 23 Markus Pohlmann: „Die neue Kulturindustrie und der ‘Geist des Kapitalismus’ - Max Weber und beyond“, in: Gabriele Wagner, Philipp Hessinger, op. cit., 103-126. 24 Christoph Deutschmann: „‘Kapitalismus’ und ‘Geist des Kapitalismus’ - Anmerkungen zum theoretischen Ansatz Boltanski/ Chiapello, in: Gabriele Wagner, Philipp Hessinger, op. cit., 127-143. 25 Lothar Peter: „‘Der neue Geist des Kapitalismus’. Stärken und Schwächen eines Erklärungsversuchs“, in: Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung, 62, 2005, 7-24. 26 Ursula Holtgrewe: Die Organisation der Ausbeutung: Der „neue Geist des Kapitalismus“ und die Geschlechterverhältnisse, Wien, FORBA Schriftenreihe 1, 2005. 27 Ibid., 22. 28 Luc Boltanski: Soziologie und Sozialkritik. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2008, Berlin, Suhrkamp, 2010 (frz.: De la critique. Précis de sociologie de l’émancipation, Paris, Gallimard, 2009). 29 Ibid., 48. 30 Ibid., 81. 31 Ibid., 97. 32 Ibid., 130. 33 Ibid., 150-170. 34 Ibid., 221. 35 Ibid., 226. 36 Ibid., 228. 37 Martin Bauer: „Man kritisiert den Chef anders als den betrügerischen Händler“, in: Süddeutsche Zeitung, 28.12.2010. 38 Tanja Bogusz, op. cit., 143sqq. 39 Robin Celikates: Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie, Frankfurt/ New York, Campus, 2009. 40 Ibid., 167. 41 Ibid., 168. 42 Luc Boltanski, Axel Honneth: „Soziologie der Kritik oder Kritische Theorie? Ein Gespräch mit Robin Celikates“, in: Rahel Jaeggi, Tilo Wesche (eds.): Was ist Kritik? , Frankfurt am Main, Suhrkamp, 2009, 81-114. 43 Rahel Jaeggi, Tilo Wesche, op. cit., 105sq. 90 Dossier Résumé: Lothar Peter: Sociologie de la critique ou critique sociale? A propos de l’œuvre de Luc Boltanski et de sa réception en Allemagne. La sociologie de Luc Boltanski, un ancien collaborateur de Pierre Bourdieu, à trouvé des résonances remarquables en Allemagne. Une des raisons principales de cet écho est dûe à la tentative de Boltanski de réunir en une nouvelle synthèse la critique sociologique portant sur l’ensemble des structures sociales („sociologie critique“) et la sociologie des acteurs agissant d’une manière compétente („sociologie pragmatique“), dans laquelle les acteurs sociaux ne sont pas seulement perçus comme des marionnettes et des victimes des conditions structurelles. L’étude présente montre, à partir de trois ouvrages représentatifs de Boltanski, quelles sont les caractéristiques de sa „sociologie pragmatique“ et de quelle façon celles-ci ont été reçues et interprétées par les sciences sociales en Allemagne. Au centre de ce discours allemand se trouvent les rapports difficiles entre l’influence des contraintes sociales, d’un côté, et, d’autre côté, de l’idée et da la pratique des acteurs sociaux basées sur le principe de la justice. 12: 50: 59 91 Discussion Hartmut Stenzel Identität als politische Strategie und als ‘Plastikwort’: Zur französischen Diskussion um die „identité nationale“ I. Im März 2010 äußerte sich Gérard Longuet, langjähriger Abgeordneter, Minister und derzeit Vorsitzender der Fraktion der UMP im Senat, in einem Rundfunkinterview zu dem in den Medien zirkulierenden Gerücht, nach dem der von algerischen Eltern abstammende Sozialist Malek Boutih an die Spitze der Halde, einer Behörde mit dem pathetisch wirkenden, so wohl nur in Frankreich denkbaren Namen Haute Autorité de lutte contre les discriminations et pour l’égalité, berufen werden solle. Boutih hatte sich als Mitinitiator der Marche pour l’égalité von 1983 wie als Vorsitzender von SOS-Racisme einen Namen im Kampf gegen ethnische Diskriminierung in Frankreich gemacht. Longuet kommentierte die mögliche Berufung, die dann nicht zustande kam, folgendermaßen: Malek Boutih est un homme de grande qualité mais ce n’est pas le bon personnage parce que la Halde, cela veut dire que c’est la France qui s’ouvre aux populations nouvelles. […] Il vaut mieux que ce soit le corps français traditionnel qui se sente responsable de l’accueil de tous nos compatriotes. […] Schweitzer [der scheidende Präsident der Behörde], c’est parfait. Un vieux protestant, la vieille bourgeoisie protestante, parfait. […] Si vous mettez quelqu’un de symbolique, extérieur, vous risquez de rater l’opération. (Le Monde, 12.3.2010) Das unmittelbare Motiv für diese Kritik war sicherlich der in den Mehrheitsfraktionen der Parlamente verbreitete Unmut über die Politik des Präsidenten Sarkozy, die aus politischem Kalkül Parteigrenzen bei der Besetzung mancher Ämter und Funktionen außer Acht gelassen hatte. Zugleich ist jedoch offensichtlich, dass der politische Routinier mit den seine Kritik begründenden Wertungen auf die Vorurteile einer konservativ orientierten Wählerschaft abzielt, die ja, wie die unmittelbar danach stattfindenden Regionalwahlen zeigen sollten, der Regierung Sarkozy zur Zeit in Scharen die Gefolgschaft aufkündigt. In dieser Hinsicht kann man die Kritik Longuets als nachträgliche Intervention in der groß angelegten, kurz zuvor fürs erste abgeschlossenen Diskussion über nationale Identität verstehen, die Eric Besson, seines Zeichens Minister „de l’immigration, de l’intégration, de l’identité nationale et du développement solidaire“ Anfang November 2009 initiiert hatte. 1 Longuet greift auf eine traditionelle Identitätskonstruktion zurück, die mit einer selbstverständlich erscheinenden Ordnung nationaler Identität und einer daraus abgeleiteten Hierarchie der Zugehörigkeit zur französischen Nation arbeitet. Boutih ist zwar französischer Staatsbürger, aber für Longuet zugleich „extérieur“, Bestand- 92 Discussion teil der „populations nouvelles“, denen Frankreich sich zwar öffnen soll, denen Longuet aber keine institutionelle Macht zuerkennen mag. Die Metaphorik des ‘Außen’ und damit implizit eines ‘Innen’ operiert mit klaren Grenzziehungen zwischen ‘neuen’ Franzosen wie Boutih und den ‘alten’, die der bisherige Präsident der Halde als Repräsentant der „vieille bourgeoisie protestante“ verkörpere (immerhin protestantisch und nicht katholisch, aber das zumindest ist ja eine etablierte Tradition der politischen Eliten der Republik 2 ). Dieser erscheint Longuet als vollkommener Repräsentant des „corps français traditionnel“, der für den „accueil de tous nos compatriotes“ zuständig sei. Boutih hingegen versteht er als Symbol für eine Relativierung der traditionellen Identitätshierarchie („quelqu’un de symbolique, extérieur“), die für diesen Prozess der Assimilation ungeeignet sei, ihn geradezu gefährde („vous risquez de rater l’opération“). Longuets etwas gewundene Erklärungen übertragen die Hierarchien der kolonialen Vergangenheit Frankreichs auf die identitäre Ordnung der postkolonialen Gesellschaft. Noch in der politisch ‘korrekten’ Integration der Abkömmlinge der Immigration in die Nation („nos compatriotes“) grenzt er diese zugleich aus. In dieser nicht explizit formulierten Identitätskonstruktion ist der Begriff des „corps français traditionel“ zentral. Er fungiert als Bezeichnung der republikanischen Elite, bringt zugleich aber assoziativ eine ethnisch verschiedene Körperlichkeit ins Spiel, die die Ausgrenzung des Franzosen algerischer Abstammung unausgesprochen rassistisch begründen würde. Es ist offensichtlich, dass mit dieser Implikation ein weit verbreitetes Unbehagen bedient werden soll, die Verunsicherung angesichts der ethnischen und kulturellen Diversifizierung der französischen Gesellschaft, auf die auch die Identitätsdiskussion berechnet ist. II. Longuets Äußerung zeigt, dass die kaum aufgearbeitete koloniale Vergangenheit Frankreichs in dieser Diskussion eine wichtige Rolle spielt. 3 Die öffentlichkeitswirksame Konjunktur des Begriffs „identité nationale“ selbst beginnt mit dem Erstarken des Front national in den 1980er Jahren und er impliziert auch da, wo er nicht die politischen Ziele der extremen Rechten verkörpert, eine Abwertung kultureller Alterität innerhalb der Nation, die von kolonialem Hierarchiedenken bestimmt wird. 4 In ihrer Uneindeutigkeit hat Longuets Abgrenzung der gesellschaftlichen Elite letztlich ähnliche Implikationen wie der in den letzten Jahrzehnten gängig gewordene Begriff „Français de souche“, der ja auch ‘neue’ und ‘alte’ Franzosen voneinander abgrenzen soll und der, indem er die Abstammung als Kriterium nationaler Zugehörigkeit ansetzt, eine rassistische Konnotation beinhaltet, die nicht offen artikuliert wird. Deutlicher als der zugleich auf eine funktionale Ordnung verweisende Begriff des „corps français traditionnel“ macht dieser Begriff den ethnischen Zusammenhang zu einem Selektionskriterium. Er steht damit in der Tradition eines kolonialen 93 Discussion Denkens, mit der gewissermaßen nationale Identität erster und zweiter Klasse begründet wird. Die Konjunktur des Begriffs „Français de souche“, der es mittlerweile zu einer eigenen Internetseite (http: / / www.fdesouche.com) wie zu Internetforen auf Facebook und bei Yahoo gebracht hat, 5 ist eines der vielen Anzeichen für die Identitätskrise oder zumindest die identitäre Verunsicherung, die von der zunehmend multikulturellen Realität der französischen Gesellschaft seit den 1980er Jahren ausgelöst worden ist. Frankreich ist schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer ein Einwanderungsland gewesen, doch hat sich diese Entwicklung nach der Auflösung des Kolonialreichs und durch die Immigration in der Zeit der „trente glorieuses“ intensiviert - mit gesellschaftlichen und kulturellen Folgen, die erst nach und nach deutlich werden. Wenn man bedenkt, dass nach den von Borel/ Simon (2006) zusammengestellten bzw. hochgerechneten Zahlen um die Jahrtausendwende fast ein Sechstel der französischen Staatsbürger der ersten oder zweiten Generation von Immigranten angehört und etwa ein Viertel zumindest von einem immigrierten Großelternteil abstammt, so wird deutlich, dass die ethnische und kulturelle Diversifizierung der französischen Gesellschaft eine langzeitliche Entwicklung ist, deren Konsequenzen für das nationale Identitätsbewusstsein erst allmählich spürbar wurden und werden. 6 In dieser Entwicklung ist der Begriff „Français de souche“ einer der vielen Versuche, Orientierung in der multikulturellen Gesellschaft durch die Affirmation des ‘Eigenen’ zu ermöglichen. Er steht im Kontext ähnlicher ethnischer und kultureller Abgrenzungsversuche, etwa der schon seit den 1990er Jahren geführten Schleierdiskussion, 7 die ihren jüngsten Höhepunkt in der Kontroverse um die Burka gefunden hat. Diese sei, wie es in einem Resolutionsentwurf der Nationalversammlung heißt, „contraire aux valeurs de la République“ (Le Monde, 20.1.2010). Gerade die Wertordnung der Republik bildet, wie diese Formulierung, aber auch die gesamte Schleierdiskussion zeigt, eine der Grundlagen für die Begründung einer ‘eigene’ Traditionen sichernden Identitätskonstruktion. Diese ermöglicht es, die - im Falle der Burka höchst marginale - kulturelle Alterität der der Immigration entstammenden Franzosen zu delegitimieren. Zudem bietet der Rekurs auf den republikanischen Universalismus - anders als implizit oder explizit ethnische Konstruktionen nationaler Identität - den Vorteil, nicht des Rassismus verdächtig zu sein. Auch seine Affirmation soll der tief gehenden Verunsicherung angesichts des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels und der Erosion lange selbstverständlich präsenter identitärer Orientierungsmöglichkeiten entgegenwirken. Der von der Regierung Sarkozys betriebene „grand débat sur l’identité nationale“ wird von seinen Initiatoren mit eben diesem Verlust eindeutiger Ordnungen legitimiert, die nationale Identität begründen sollen. Mit der sarkastischen Bemerkung des Sozialpsychologen Horst-Eberhard Richter könnte man über diese Diskussion sagen: „Wer von Identität redet, zeigt, dass er keine hat.“ 8 Die mediale Inszenierung der Diskussion über nationale Identität soll Orientierung anbieten in einer Gesellschaft, deren Pluralität nicht in einer kohärenten identitären Ordnung 94 Discussion aufgeht. Man kann diese Diskussion als politische Antwort auf die bereits angesprochene Entwicklung verstehen, in der die multikulturelle Vielfalt nationaler Identität, die unterschiedlichen Identitäten sozialer und ethnischer Gruppierungen französischer Staatsbürger immer deutlicher hervortreten. Die Identitätsdiskussion folgt einer politischen Strategie, die aus dem Angebot identitärer Geborgenheit im nationalen Zusammenhalt Kapital schlagen und das Identitätsbewusstsein als imaginären Garanten nationaler Kohärenz gegen die disparat erscheinenden kollektiven Identitäten setzen will. Sichtbar ist diese Entwicklung einer Pluralisierung der Identitäten insbesondere in den marginalisierten Bereichen der Gesellschaft, für die exemplarisch die Banlieueproblematik steht. 9 Eine Konsequenz dieser Marginalisierung ist nämlich - insbesondere in den dort bestimmenden Gruppierungen Jugendlicher - die Ausbildung einer partikularen Identität, die sich auf die Lebenswelt der Banlieue bezieht und sich in Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft konstituiert. 10 Die aufsehenerregenden Unruhen vom November 2005 sind gerade in Hinblick auf ihre Bedeutung für die republikanische Ordnung und die auf sie gegründete Identität breit diskutiert und teilweise als Absage an die nationale Identität bewertet worden - so etwa durch einen der intellektuellen Stars der aktuellen Medienszene, Alain Finkielkraut, dem zufolge es unmöglich sei „[…] d’intégrer des gens qui ont tendance à ne pas aimer la France dans une France qui ne s’aime pas, ou qui s’aime de moins en moins.“ 11 Diese bei Finkielkraut ethnisch und religiös begründete Deutung der Unruhen - als Ausgrenzung des Fremden, für das vor allem der Islam steht, aus der identitären Ordnung der Nation - zeigt exemplarisch, welche Abwehrreaktionen die manifeste Präsenz konkurrierender identitärer Orientierungen auslöst und wie das daraus resultierende Bedürfnis nach der Festigung und Sicherung einer ‘eigenen’ Identität Bedeutung gewinnt. Im offiziellen Identitätsdiskurs wird der Gegensatz zwischen solchen partikularen Identitäten und dem Angebot nationaler Identität gerne mit dem Begriff des „communautarisme“ gedeutet. Die Denunziation des „communautarisme“ wird zu einem wesentlichen Bestandteil der oben angesprochenen politischen Strategie. Die eben erwähnte Burka-Affäre etwa erscheint auf dem Internet-Portal der Identitätsdiskussion ausdrücklich als ein Beispiel für die Probleme des „communautarisme“, die eine Diskussion über nationale Identität nötig gemacht hätten: „Ce débat répond aux préoccupations soulevées par la résurgence de certains communautarismes, dont l’affaire de la Burqa est l’une des illustrations“. 12 Der an sich neutrale soziologische Begriff wird in den politischen Diskursen über nationale Identität in den letzten Jahren zunehmend zu einer Allzweckwaffe, die - in ihrer Funktion durchaus dem Begriff des „Français de souche“ vergleichbar - kollektive Orientierungen oder Beziehungsmuster diskreditieren soll, die in die Traditionen der Konstruktion nationaler Identität nicht integrierbar erscheinen und nicht den Normen republikanischer Wertvorstellungen entsprechen. De facto bezeichnet der Begriff vor allem die kulturellen und religiösen Traditionen der Immigranten, die in Schleier wie Burka besonders sichtbar werden (während seine politische Verwendung etwa die 95 Discussion Alterität regionaler Traditionen und Disparitäten innerhalb des Hexagons nicht mit einbezieht 13 ). Da in diesen beiden Elementen kultureller Alterität die geschlechtsspezifische Diskriminierung evident ist, können sie besonders gut dazu funktionalisiert werden, kulturelle Alterität im Namen einer hegemonialen nationalen Identität als „communautarisme“ aus dem Konsens der Nation auszugrenzen. 14 In einem Beitrag für Le Monde (9.12.2009) setzt Sarkozy selbst diesen Begriff exemplarisch zur Rechtfertigung der Identitätsdebatte ein. Er postuliert dort einen durch Globalisierung und multikulturelle Realität ausgelösten „besoin d’ancrage et de repères“, auf den der „communautarisme“ durch eine Spaltung der Nation reagiere („le communautarisme c’est le choix de vivre séparément“). Auf die Suche nach Orientierung gebe die Diskussion über nationale Identität hingegen die ‘richtige’ Antwort: Ce besoin d’appartenance, on peut y répondre par la tribu ou par la nation, par le communautarisme ou par la République. L’identité nationale, c’est l’antidote au tribalisme et au communautarisme. C’est pour cela que j’ai souhaité un grand débat sur l’identité nationale. Die metaphorische Gleichsetzung „tribu-communautarisme“ (die als ‘falsches’ Identitätsmuster dem ‘richtigen’ Begriffspaar „nation-République“ entgegen gesetzt wird) gibt den mit diesem Sammelbegriff höchst pauschal bezeichneten, auf eine partikulare Identitätsfindung jenseits des Kollektivs der Nation ausgerichteten Orientierungen den Anschein vormoderner Verhaltensweisen. Sie transportiert kolonialistische Konnotationen („tribu“ bezeichnet dem Robert zufolge Gruppenbildungen „chez les peuples à organisation primitive“) und diskreditiert den „communautarisme“ so zugleich als überholt und als ‘unzivilisiert’. Diese Bezeichnung wird damit zum Inbegriff einer fehlgeleiteten partikularen Identität, die die ‘richtige’, nationale gefährde. 15 Wie andere Elemente der Identitätsdiskussion verdeutlicht ihre Verwendung, dass kolonialistische Verstehensmuster in das Selbstverständnis der Nation involviert sind und es legitimieren. Diese werden zwar nicht offen artikuliert, aber das hierarchisierende Selbstverständnis der kolonialen Vergangenheit beeinflusst doch die Wertungen, die die Identitätsdiskussion strukturieren und begründen sollen. Der Konsens der Nation über ihre Identität gilt in der offiziellen Begründung der Identitätsdiskussion als unabdingbar. Die Frage, ob ein solcher Konsens möglich, ob er gar sinnvoll und wünschenswert ist, wird gar nicht erst aufgeworfen. Er wird in der Darstellung der Ziele nicht als offenes Problem verhandelt, sondern als notwendig vorausgesetzt: Ce débat doit tout d’abord favoriser la construction d’une vision mieux partagée de ce qu’est l’identité nationale aujourd’hui. Il doit aussi faire émerger, à partir de propositions mises en débat par les différents participants, des actions permettant de conforter notre identité nationale, et de réaffirmer les valeurs républicaines et la fierté d’être Français.16 96 Discussion Es geht also um die Herstellung einer Gemeinsamkeit in der Konstruktion nationaler Identität („une vision mieux partagée“), deren Inhalt (die „valeurs républicaines“) jedoch bereits vorgegeben ist und nur der Erneuerung und Bekräftigung bedürfe („conforter“, „réaffirmer“). Im Grunde wird in dieser ‘regierungsamtlichen’ Perspektive nationale Identität als eine immer schon vorhandene Evidenz hingestellt, die es nur in Erinnerung zu rufen und zu intensivieren gelte, um ihre Einheit stiftende und stabilisierende Funktion für das Kollektiv (die „fierté d’être Français“) zu garantieren. Bereits die Anlage der Diskussion impliziert somit einen Zirkelschluss, in dem ihre Ziele bereits feststehen und durch das Diskussionsforum lediglich eine öffentlichkeitswirksame Legitimität erhalten sollen. Es liegt zunächst nahe, aus den Konturen dieses an den Traditionen der Republik (zu denen eben auch der verdrängte Kolonialismus gehört) orientierten Identitätsdiskurses Rückschlüsse auf die politische Funktion der Diskussion zu ziehen. Dass Sarkozy das Problemfeld der nationalen Identität 2007 zu einem Kernthema seines Wahlkampfs gemacht hat und mit dem Angebot einer stabilen identitären Orientierung auf Stimmenfang gegangen ist, 17 belegt die Bedeutung, die er dieser Thematik für die Bindung seiner Wähler zuschreibt. Zweifellos folgten der Präsident und seine Berater auch bei der Einrichtung eines Ministeriums, das zugleich für die Integration der Immigranten und die nationale Identität zuständig sein soll, diesem zunächst erfolgreichen, bei den jüngsten Regionalwahlen angesichts des neuerlichen Erstarkens des Front National dann allerdings gescheiterten wahltaktischen Kalkül, Diskursfelder und Begriffe des rechten politischen Spektrums zu besetzen. Die Verbindung der Aufgabenfelder des Ministeriums, die im Mai 2007 heftige Proteste ausgelöst hat, soll programmatisch verdeutlichen, dass nationale Identität und Immigration nicht nur politische Prioritäten darstellen, sondern dass sie einander bedingen, mehr noch, dass die Immigration ein zentrales Problem für die nationale Identität der Franzosen darstelle. 18 Damit wird eine Sicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufgegriffen, die über den Kern der Wähler des Front National (mit seinem Slogan von der „préférence nationale“, der ja die Priorität der „Français de souche“ meint) hinaus in Frankreich verbreitet ist und die zweifellos aus der schon mehrfach angesprochenen identitären Verunsicherung durch den wachsenden Anteil an Immigranten mit französischer Staatsbürgerschaft zu erklären ist. 19 Wenn in einer Umfrage 49% der Befragten der Ansicht zustimmten, die Identitätsdiskussion „tourne essentiellement autour de la question de L’Islam“ (während nur 40% sie nützlich finden 20 ), so zeigt dies, dass in der öffentlichen Meinung die wahltaktischen Motive die Wahrnehmung dominieren. Noch deutlicher zeigt sich dieser Zusammenhang in der Position eines Provinzpolitikers der regierenden UMP, der am Rande einer der von den Präfekturen zur Unterstützung der Identitätsdiskussion organisierten Veranstaltungen in Verdun einem Reporter von France 2 den Sinn der Identitätsdiskussion knapp und bündig erklärte: „Je pense […] qu’il est temps qu’on réagisse, parce qu’on va se faire bouffer“ und auf Rückfrage erläuterte: „Par qui? […] Y en a déjà dix millions. Dix millions que l’on paie à ne rien foutre“. 21 Die politische Funktion 97 Discussion der Identitätsdiskussion, die Kanalisierung sozialer Ängste, die auf kulturelle und ethnische Alterität projiziert werden können, wird daran schlaglichtartig deutlich. Dieser Funktion liegt eine Strategie zugrunde, die dem schwindenden Konsens mit der Politik der Regierung Sarkozys dadurch begegnen will, dass sie ein Diskussionsfeld besetzt, in dem die Fiktion nationaler Einheit ihr neue Legitimität verleihen soll. III. Dennoch geht die Bedeutung der von Besson und seinem Ministerium im Herbst 2009 in Gang gebrachten Identitätsdiskussion über solche wahltaktischen Zusammenhänge hinaus. Sie bietet Aufschluss über die politische Funktion und gesellschaftliche Relevanz eines Begriffs, der in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion ebenso wie in seinem politischen Gebrauch häufig mit selbstverständlicher Evidenz verwendet wird. Darüber hinaus kann man in ihr auch die fortdauernde Wirksamkeit einer kulturellen Tradition erkennen, in der die Frage des Nationalbewusstseins seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich ihre besondere Ausprägung und Funktion erhalten hat. Im Gefolge der Instrumentalisierung des Begriffs „identité nationale“ in den Ansprachen des Präsidentschaftskandidaten wie des Präsidenten Sarkozy sind in Frankreich eine Reihe von Büchern erschienen, die aus verschiedenen Perspektiven seine historische, kulturelle und wissenschaftliche Bedeutung behandeln. 22 Diese Publikationen umreißen unter anderem eine historische Perspektivierung der Diskussionen um nationale Identität im Horizont einer Geschichte der Immigration. Die Entstehung des „roman national“, der mythischen Geschichtserzählung, die seit der Festigung der Dritten Republik für das kulturelle Gedächtnis Frankreichs grundlegend wird, steht in engem Zusammenhang mit dem Strukturwandel des Landes und den Legitimationsproblemen der jungen Republik. 23 Der Identitätsdiskurs antwortet schon um die Wende zum 20. Jahrhundert auf die Auflösung tradierter identitätssichernder Strukturen und legitimiert die Republik mit dem Identitätsangebot, das er zu deren Kompensation bereitstellt. Zugespitzt könnte man sagen, dass die moderne Begründung eines Nationalbewusstseins in Frankreich als Gegenerzählung gegen die traumatischen Erfahrungen der ersten Jahrzehnte der Dritten Republik entsteht. Dazu gehört natürlich die Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg und die Begründung des Revanchegedankens, aber auch die beginnende Auflösung der traditionellen Sozialstrukturen des ländlichen Frankreich durch Landflucht und Urbanisierung sowie durch die erste große Welle von Arbeitsimmigranten im Zuge der Industrialisierung. 24 Das nationale Selbstverständnis, das die Republik als Ziel einer Geschichte der französischen Nation begreift und darauf eine kohärente nationale Identität begründet, hat so schon in seiner Entstehung eine kompensatorische Funktion. Es steht zugleich aber auch in einer Erinnerungskonkurrenz mit national-konservati- 98 Discussion ven Deutungen der Geschichte, die ein antirepublikanisches Nationalbewusstsein begründen sollen. Schon die Zeitgenossen haben diesen Konflikt mit dem Deutungsmuster der „deux France“ erfasst, das sich in der Folge der Dreyfus-Affäre etabliert. 25 Die aus diesem Konflikt resultierenden konkurrierenden Entwürfe nationaler Identität divergieren vor allem in der Frage der Bedeutung der historischen Tradition, die die traditionalistische Rechte als unabdingbare Grundlage einer Identifikation mit der Nation ansieht (der Begriff „identité nationale“ spielt Ende des 19. Jahrhunderts natürlich noch keine Rolle). Die Positionen von Ernest Renan und Maurice Barrès kann man trotz mancher Gemeinsamkeiten als repräsentativ für die gegensätzlichen Konstruktionen eines Nationalbewusstseins in den ersten Jahrzehnten der Dritten Republik ansehen. Der Konflikt der „deux France“ wie der der konkurrierenden Konstruktionen nationaler Identität durchzieht die gesamte Geschichte der Dritten Republik und findet seinen letzten Höhepunkt mit der Vichy- Regierung. 26 Barrès geht von einem historischen Determinismus aus, der die Zugehörigkeit zur Nation begründe und den er in der berühmten Formel „la terre et les morts“ fasst. Aus dieser Annahme folgt seine Definition: „Nationalisme est acceptation d’un déterminisme.“ 27 Nationalbewusstsein wäre demnach eine Art Einsicht in die Notwendigkeit, in die Unterordnung des Individuums unter sein historisch vorgegebenes Schicksal (durch das man dann Energie zum Handeln für die Nation gewinnt, wie der Titel von Barrès’ berühmter Romantrilogie indiziert). Damit wird eine Abgrenzung begründet, in der die Nation alles ‘Fremde’ aus ihrem Zusammenhang ausschließen und durch Rückzug auf das ‘Eigene’ zu sich selbst finden muss. Die Sicherung des ‘Eigenen’ als historisch begründete Exklusivität ermöglicht so eine imaginäre Abschottung gegen die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche der Jahrhundertwende. Renan hingegen verbindet in seiner Bestimmung der Nation Vergangenheit und Gegenwart durch die Notwendigkeit eines „consentement actuel“, weshalb er die Zugehörigkeit zu einer Nation von einem „plébiscite de tous les jours“ abhängig macht und auch die Existenz der Nationen selbst in ihrer historischen Relativität denken kann. 28 Das Nationalbewusstsein ist damit nicht ein dem Individuum vorgegebener Zusammenhang, in den es sich einzufügen hätte, sondern Resultat seiner - mehr oder weniger - bewussten Wahl, die dann auch die eines historischen Traditionszusammenhangs ist („la volonté de continuer à faire valoir l’héritage qu’on a reçu“ 29 ). An die Stelle der historischen Schicksalsgemeinschaft tritt damit die im Prinzip freie Entscheidung für (oder auch gegen) die Zugehörigkeit zur Nation. Daraus lässt sich ein Nationalbewusstsein begründen, das den Umbrüchen der Jahrhundertwende durch die Integration des ‘Fremden’ begegnet. 30 Die Nation wird damit nicht nur als offenes, sondern auch als historisch wandelbares Projekt gedacht, das keinem Determinismus unterliegt. Die Idee von der Zugehörigkeit zur Nation kraft freier Willensäußerung ist für das republikanische Nationalbewusstsein in Frankreich grundlegend geblieben. Das hat allerdings die Republik gerade in der Auseinandersetzung mit den sukzes- 99 Discussion siven Phasen der Immigration im 20. Jahrhundert keineswegs daran gehindert, nationale Identität als ein Verfahren der Ausgrenzung und Ausschließung einzusetzen. 31 Auch die gegenwärtige Diskussion bleibt gespalten zwischen der Öffnung auf das ‘Fremde’ und dessen Ausgrenzung, in einer Tradition, deren Gegensätze sich letztlich auf die Konstruktionen der Nation bei Barrès und Renan zurückführen lassen. Diese Tradition der Konflikte um die Grundlagen von Nation und Nationalbewusstsein wird allerdings in der politischen Legitimation der Identitätsdiskussion nirgendwo auch nur angedeutet; jeder Anschein eines im Begriff der „identité nationale“ möglicherweise enthaltenen Konfliktpotentials wird sorgfältig vermieden. Dass es konkurrierende Auffassungen von nationaler Identität geben könnte, ideologische, soziale oder kulturelle Gegensätze, die sich nicht ohne weiteres oder gar überhaupt nicht in einheitliches Bewusstsein der Nation von sich selbst zusammenführen lassen (ganz davon abgesehen, ob ein solches überhaupt möglich und erstrebenswert ist), liegt jenseits der die Identitätsdiskussion strukturierenden Vorgaben. Angesichts dieser Verdrängung des Konfliktpotentials der Diskussion um nationale Identität könnte man sagen, dass die Affirmation ihres Pluralismus eine Fassade darstellt, hinter der die Zwangsjacke einer vereinheitlichenden nationalen Identität zum Vorschein kommt. Diese Logik kann man etwa in der Rede Sarkozys zum Gedenken an die Widerstandskämpfer des Vercors beobachten, die in weiten Passagen eine Rechtfertigung der Identitätsdebatte darstellt (und die Opfer der deutschen Barbarei in befremdlicher Weise zu Kronzeugen seiner Auffassung von nationaler Identität macht). Dort sagt er unter anderem: La France, c’est l’un des pays les plus divers au monde. […] Cette diversité est une richesse. Chaque culture, chaque tradition, chaque langue a une valeur infinie. […] Rien n’est plus étranger au génie de notre peuple que l’uniformité, l’embrigadement. Mais une culture millénaire, par des voies mystérieuses, imprègne tout.32 Hier wird noch in der vordergründigen Anerkennung kultureller Vielfalt zugleich deren Unterordnung unter die ‘eigene’ Kulturtradition deutlich, deren ‘wundersame Wege’ das Fremde zum Verschwinden bringen sollen. Dass die Affirmation einer einheitlichen und konfliktfreien nationalen Tradition das eigentliche Ziel der Identitätsdiskussion ist, zeigt in wünschenswerter Deutlichkeit eine an herausragender Stelle auf dem Internetportal platzierte Stellungnahme von Sarkozys Premierminister Fillon: Nous sommes les héritiers d’une Histoire exceptionnelle dont nous n’avons pas à rougir. Nous sommes les dépositaires d’une culture brillante, dont le rayonnement international doit être fermement défendu. [….] C’est cette longue trajectoire avec nous-mêmes, c’est ce roman national, que nous devons prolonger et actualiser.33 Den Begriff des „roman national“, diese kritisch-ironisch gemeinte Bezeichnung des traditionellen Geschichtsmythos verwendet Fillon in vollkommen ernsthafter Weise, um das Ziel der Identitätsdiskussion zu charakterisieren: die Fortführung 100 Discussion einer Heldengeschichte vom Glanz Frankreichs. Nicht nur die ‘dunklen’ Seiten dieser Geschichte (insbesondere natürlich der Kolonialismus) verschwinden in diesen pathetischen Worten, sondern vor allem auch ihre inneren Konflikte, der Konflikt der „deux France“, der sich mutatis mutandis in den Banlieues fortsetzt. Hauptsache, der „roman national“ produziert das Bewusstsein einer nationalen Identität, einer imaginären Gemeinsamkeit, die die Nation stabilisiert. Damit steht die Regierung Sarkozys allerdings in einer etablierten französischen Tradition, nämlich der der Geschichtslegende von der Einheit der Nation, deren Figurationen von der Konstruktion einer Nationalgeschichte in der Dritten Republik („nos ancêtres les gaulois“) zumindest bis hin zum gaullistisch-kommunistischen Résistancemythos reichen. 34 Das Erinnerungsmarketing in den Reden Sarkozys steht - anders als so manches seiner politischen Ziele - ganz im Horizont dieser Tradition. In diesem Eklektizismus lehrt dann die gesamte französische Geschichte, dass die Diskussion über nationale Identität nichts anderes ist als die konsequente Vollendung des „Roman national“ in der Gegenwart. 35 Mit der prägnanten Formulierung von Paul Valéry wäre zu kommentieren: „L’histoire justifie ce que l’on veut. Elle n’enseigne rigoureusement rien, car elle contient tout, et donne des exemples de tout.“ 36 IV. Aus der identitären Verunsicherung der gegenwärtigen Gesellschaft wie aus der besonderen Bedeutung des Nationalbewusstseins in der französischen Kultur erklärt sich der Umstand, dass die Identitätsdiskussion ein mediales Echo und eine Beteiligung hervorgerufen hat, die bemerkenswert und wohl kaum in einem anderen europäischen Land vorstellbar sind. Dies zeigt ein offensichtliches Bedürfnis an Orientierung und Verständigung über Fragen nationaler Identität. 37 Nicht nur Politiker, Intellektuelle und Journalisten haben sich an der drei Monate andauernden Debatte beteiligt, sondern ein relativ breites Spektrum der Bevölkerung. Die rege und - wie schon Stichproben zeigen - sehr kontroverse Beteiligung auf dem dafür eingerichteten Internetforum ebenso wie die von allen Präfekturen organisierten Diskussionsveranstaltungen lassen die Debatte geradezu zu einem kulturwissenschaftlichen Großversuch werden, in dem der ja zumeist in höchst vager Allgemeinheit verwendete Identitätsbegriff deskriptiv fassbar wird. Es gibt zwar keine Informationen darüber, wie repräsentativ die Beteiligten sind, über ihre Motive und die - bei summarischer Durchsicht einzelner Foren offensichtliche - Mehrfachbeteiligung von (vermutlich besonders engagierten) Teilnehmern. Doch angesichts der Anzahl der Beiträge und Beiträger (trotz dieser Probleme wohl mehr als 1% der erwachsenen französischen Bevölkerung) kann man zumindest festhalten, dass der Mobilisierungseffekt der Identitätsdiskussion beachtlich ist. Das offensichtlich vorhandene (oder durch die mediale Inszenierung erzeugte) kollektive Bedürfnis, sich über das eigene Nationalbewusstsein zu verständigen, 101 Discussion wird allerdings auf dem Internetportal dadurch gelenkt, dass die Bedeutungsmöglichkeiten des Begriffs „identité nationale“ wie schon angedeutet stark vorstrukturiert sind. Bereits durch das Angebot von „textes de référence“ 38 und herausgehobene Stellungnahmen von - mehr oder weniger - prominenten Persönlichkeiten („Ils prennent position“) werden die Beiträge der Nutzer kanalisiert und gelenkt. Die vorgegebenen Rubriken für diese Beiträge setzen nicht nur den zu diskutierenden Begriff wie selbstverständlich als allgemeinverbindlich gegeben voraus („notre identité nationale“), sondern schränken auch die mögliche Bandbreite seiner kritischen Problematisierung ein. 39 Ein als „Les grands thèmes du débat“ bezeichnetes, recht einseitiges Begriffsspektrum, das den Benutzern zur Orientierung angeboten wird, privilegiert die Wertordnung der Republik, 40 nimmt damit das Ergebnis der Diskussion vorweg oder neutralisiert zumindest abweichende Meinungsäußerungen. Die Lenkung durch die vorgegebenen Strukturelemente verweist auf die bereits mehrfach angesprochene Bestätigungsfunktion der Diskussion. Deren Zirkelschluss leistet der politischen Intention Vorschub, die Existenz wie die wesentlichen Inhalte des Identitätsbewusstseins vorzugeben. Der Begriff der „identité nationale“, weist damit - zumindest so, wie er in der Diskussion gebraucht wird - alle Charakteristika auf, die der Historiker Lutz Niethammer im Anschluss an Uwe Pörksen mit der Qualifizierung des Identitätsbegriffs als „Plastikwort“ zusammengefasst hat. 41 So zeigen Struktur und Inhalte des Internetportals, dass dem Identitätsbegriff hier die selbstverständliche Evidenz zugeschrieben wird, die für Stereotype charakteristisch ist (obwohl oder gerade weil er der Wissenschaftssprache entstammt), und wichtiger noch, dass er einen umfassenden Geltungsanspruch hat, die Vielfalt der Phänomene, die er erfasst, jedoch zugleich extrem reduziert. Wenn es eine der gängigsten Überzeugungen der wissenschaftlichen Diskussion über den Identitätsbegriff ist, dass dieser nur in einer „durchgehenden Entontologisierung und Entessentialisierung“ sinnvoll verwendet werden kann, 42 dass es nicht Identitäten gibt, sondern nur Prozesse und Strategien der Aushandlung, Bildung und Auflösung von Identitäten, 43 dann läuft die Anlage der französischen Identitätsdiskussion solchen Einsichten direkt zuwider. Sie ist auf die Fixierung einer Substanz ausgerichtet, die der Nation als kollektive Orientierung angeboten werden kann. Das „Plastikwort“ Identität soll in ihr gesellschaftlich virulente Affekte und Ängste kanalisieren und bündeln, die von der Disparität der Mitglieder des imaginären Kollektivs Nation, von den gesellschaftlichen und kulturellen Widersprüchen ausgelöst werden, die ihr zu Grunde liegen. Letztlich geht es wohl gar nicht so sehr um das Aushandeln gemeinsamer Inhalte (die ja ohnehin schon mehr oder weniger vorgegeben sind), sondern um die Propagierung der Notwendigkeit eines Identitätsbewusstseins als solches. Welche Inhalte es dann begründet, ist letztlich egal, wenn man nur seine Existenz behaupten kann. Die Problematik einer Vereinheitlichung der in der Identitätsdiskussion präsenten Positionen wird in den sie begleitenden Meinungsumfragen und Analysen deutlich. Eine am 4. Januar 2010 vorgelegte quantitative und qualitative Analyse der 102 Discussion bis Anfang Dezember 2009 eingegangenen Beiträge durch das Meinungsforschungsinstitut TNS-SOFRES verdeutlicht die Heterogenität der darin präsenten Positionen, deren wichtigste Schwerpunkte die Legitimität der Diskussion selbst (29% des „discours global“) und die Immigrationsthematik (27%) sind. 44 Die Inhalte, die nationale Identität begründen sollen, liegen quantitativ deutlich dahinter und sind im übrigen, wie schon das Spektrum der meistverwendeten Wörter zeigt, 45 eher auf der Ebene von Allgemeinplätzen angesiedelt: „respecter des normes“ (19%), „adhérer à des valeurs“ (16%) und „partager un même patrimoine“ (9%). Die Beispiele, die für Beiträge zu diesen Themenfeldern angeführt werden, verdeutlichen die undifferenzierte Normativität der Identitätskonzeptionen, die viele Diskussionsbeiträge leiten. So werden etwa für das Themenfeld „respecter des normes“ Äußerungen wie „adhérer pleinement aux us et coutumes de France“ oder die Forderung nach Verehrung von Trikolore und Marseillaise als Illustration angeführt (16/ 17). Noch deutlicher wird diese normative Tendenz in den Beispielen zu dem Themenfeld „partager un même patrimoine“, in denen mehrfach eine ethnische Begründung nationaler Identität explizit postuliert wird, die „composition ethnique quasi inchangée jusqu’au début des années 1970“ (21) oder gar die „race blanche“, die zugleich mit der „civilisation européenne“ identifiziert wird (22). Wenn aber solchen Stellungnahmen andere gegenüberstehen, die auf die Unmöglichkeit hinweisen, angesichts der kulturellen und ethnischen Pluralität des heutigen Frankreich und seiner sozialen Probleme nationale Identität mit dem Rekurs auf tradierte kulturelle und historische Kontinuitäten zu begründen, 46 liegt die Schlussfolgerung nahe, dass in der Debatte Konstruktionen nationaler Identität verhandelt werden, die ebenso heterogen sind wie die gesellschaftliche und kulturelle Realität Frankreichs selbst. Dies konzediert das Meinungsforschungsinstitut implizit, indem es in seiner qualitativen Analyse der Beiträge (25 ff.) deren inhaltliche Bandbreite darstellt, die von einem „repli sur soi“ und damit einem rigiden Ausschluss der „nouveaux arrivants“ aus der Nation (26) bis zu einer „identité supranationale“ und einem Selbstverständnis der Beiträger als „citoyen du monde“ (29) reiche. Dennoch konstruiert es aus dieser Bandbreite ohne klare quantitative Gewichtung einen „socle commun“ nationaler Identität, dessen Kern - kaum überraschend - aus den Werten der Republik (insbesondere ihrer Devise und der Menschenrechtserklärung) und den sie verkörpernden Symbolen bestehe. Hinzu komme die gemeinsame Sprache und die Gemeinsamkeit eines - nur ganz vage umschriebenen - „héritage patrimonial“ (31 ff.). Wie diese beiden Befunde aus der quantitativen Analyse (etwa der verwendeten Begriffe) abgeleitet werden, wird ebenso wenig näher dargestellt wie die Verfahren, mit denen aus der oben angeführten Disparität der Konstruktionen nationaler Identität der „socle commun“ abgeleitet werden kann. Probater scheint in dieser Hinsicht eine repräsentative Meinungsumfrage zu sein, die von demselben Institut Ende Januar mit einem Fragebogen durchgeführt wurde, der zugleich auch von den Besuchern des Internetportals beantwortet wer- 103 Discussion den konnte. 47 Deren Ergebnisse konnte Besson zum Abschluss der Diskussion mit stolzgeschwellter Brust zusammenfassen: „Il existe bien une identité nationale; […] Elle se définit en premier lieu par l’adhésion à des valeurs.“ 48 Auch wenn zwei Drittel der Befragten der Meinung sind, diese Identität werde derzeit schwächer, versteht Besson dieses Ergebnis als Legitimation seines Unternehmens, denn jeweils drei Viertel der Befragten erklärten in unterschiedlichen Nuancen der Antwort, die nationale Identität existiere und sie seien stolz darauf, Franzosen zu sein. Ob die Aussage, dass eine nationale Identität existiert auch bedeutet, dass und wie die Befragten sich selbst mit ihr identifizieren, ob und inwieweit zudem beide Aussagen miteinander zusammenhängen, wird allerdings nicht weiter erörtert. Besson wie die TNS-SOFRES gehen auch nicht auf den offensichtlichen Widerspruch ein, der dadurch entsteht, dass der Umfrage zufolge der Inhalt dieser nationalen Identität - ganz anders als in der oben zitierten Analyse des Internetportals - nicht vorrangig aus den republikanischen Werten und Symbolen (20% der Befragten), sondern aus kulturellen (30%) geographischen (28%) und historischen (24%) Bestandteilen besteht (bei möglichen Mehrfachantworten). Letztlich aber kommt es aus der Perspektive des Politikers auf solche inhaltlichen ‘Details’ gar nicht an, sondern darauf, dass er sein Projekt medial verkaufen und rechtfertigen kann. Ein Element der Umfrage allerdings hätte ihn vielleicht doch nachdenklich stimmen können, die Antworten auf die Frage nämlich „quand vous vous définissez, que mettez vous en priorité en évidence? “ Bei drei möglichen Antworten auf diese Frage nämlich rangiert die „nationalité“ nur an dritter Stelle (30%), weit abgeschlagen hinter „vos convictions, vos valeurs“ (49%) und „vos passions, vos centres d’intérêts“ (39%) und gleichauf mit „là où vous vivez“ (30%), „votre travail“ (29%) sowie „vos origines familiales“ (29%). Dieses Ergebnis verweist auf eine Pluralisierung und Individualisierung der Identitätsfindung sowie auf die bereits seit langem schwindende Bedeutung kollektiver Orientierungen für Selbstverständnis und Verhalten der Individuen insgesamt. Beide Tendenzen sind in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung verschiedentlich herausgearbeitet worden, 49 und im Grunde liefert auch die großangelegte französische Diskussion einen weiteren Beleg für die Schwächung und Banalisierung des kollektiven Gedächtnisses in der Gegenwart. Die Inhalte, die in dieser Diskussion verhandelt werden, bleiben so vage, dass sie jedenfalls nicht als Beleg für die Gemeinsamkeit eines Nationalbewusstseins in Frankreich oder für dessen Erneuerung taugen. Wohl aber können aus der französischen Diskussion Folgerungen für sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen der Bedeutung kollektiver Identitäten und Identitätsbildungsprozesse in der Gegenwart abgeleitet werden. Wenn Jan Assmann, einer der Begründer solcher Forschungen, kollektive Identität als „das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich ihre Mitglieder identifizieren“, als „reflexiv gewordene gesellschaftliche Zugehörigkeit“ fassen will, 50 so impliziert diese Bestimmung, dass er die Identifikation der Subjekte mit kollektiven Sinnsetzungen für selbstverständlich und auch für notwendig hält. Dass aber eine sol- 104 Discussion che Identifikation, wenn sie denn stattfindet, zumindest in der Gegenwart zunehmend instabil werden, dass sie unterlaufen, spielerisch verwendet, pluralisiert oder fragmentarisiert werden kann, spielt für die Konstruktion des Althistorikers keine Rolle. 51 Sinnvoll aber kann man mit dem Begriff „nationale Identität“ jedenfalls in der Gegenwart keine stabilen Orientierungen des Einzelnen oder seine fraglose Unterordnung unter kollektive Deutungsmuster fassen, sondern allenfalls einen Prozess, ein Patchwork aus unterschiedlichen kollektiven oder individualisierten Sinn- und Identitätsangeboten, deren provisorische Resultate immer wieder in Bewegung kommen und revidiert werden können. Nationale Identität, das zeigt die französische Debatte, ist ein Deutungsmuster, das in Frankreich offenbar seine Faszinationskraft nicht eingebüßt hat. Zugleich zeigt die Debatte aber auch, dass dieses Deutungsmuster ebenso heterogene wie umstrittene kollektive Gedächtnisinhalte und Beziehungen aufruft, so dass es beliebig bleibt und keine praktisch wirksame Gemeinsamkeit für die Angehörigen der Nation zu begründen vermag. Mit Claude Lévi-Strauss könnte man bilanzieren: L’identité est une sorte de foyer virtuel auquel il nous est indispensable de nous référer pour expliquer un certain nombre de choses, mais sans qu’il ait jamais d’existence réelle. Son existence est purement théorique.52 1 Am 8. Februar fand eine Sitzung des Ministerrats statt, die eine erste Bilanz der Diskussion ziehen sollte und die nach einem Bericht des Canard enchaîné (10.2.2010) höchst vergnüglich verlaufen sein soll (man könnte auch sagen, dass sie zumindest nach den Informationen des Canard enchaîné kaum das Niveau von Stammtischgesprächen über nationale Identität überboten hat). 2 Zur Bedeutung des Protestantismus für das republikanische Denken und die Eliten der Dritten Republik vgl. Patrick Cabanel, Le Dieu de la République. Aux sources protestantes de la laïcité, Rennes 2003. 3 Vgl. dazu Pascal Blanchard u. a. (eds.), La fracture coloniale. La société française au prisme de l’héritage colonial, Paris 2005 sowie zur Diskussion um den „rôle positif de la présence française outre-mer“, der einem ein Jahr später suspendierten Artikel eines Gesetzes vom 23.2.2005 zufolge im Geschichtsunterricht gewürdigt werden sollte Romain Bertrand, Mémoires d’empire. La controverse autour du fait colonial, Paris 2006 und Benjamin Stora, La guerre des mémoires. La France face à son passé colonial, Paris 2007, 18 ff. 4 Zu den Anfängen der politischen Verwendung des Begriffs der „identité nationale“ in den 1970er Jahren vgl. Gérard Noiriel, A quoi sert l’identité nationale? , Marseille 2007, 70 ff. 5 Auf Facebook findet sich die Seite „Mémorial des Français de souche“ (http: / / www.facebook.com/ pages/ Memorial-des-francais-de-souche/ 304077015279, 22.3.2010), die den lebhaft befolgten Aufruf veröffentlicht: „Nous sommes encore nombreux à posséder de vieilles photos de famille. A l’heure où notre identité est insultée par les uns, niée par d’autres, il nous semble salutaire de participer au travail de conservation de notre héritage populaire.“ Bei Yahoo (http: / / fr.answers.yahoo.com/ question/ index? qid=20070323012727AAtnHvd, 23.3.2010) findet sich unter anderem eine Diskussion zu der Frage „Qu’est-ce qu’un Français de souche? “ (darin die zu erwartende Ant- 105 Discussion wort „nous avons des ‘racines’ profondément ancrées dans notre terre de France, aussi loin que l’on puisse remonter dans les siècles précédents“ wie die ironische Reaktion „ya des cons de souche et des cons immigrés“). 6 Vgl. dazu die grundlegende Darstellung von Gérard Noiriel, Le creuset français, Paris 1988 sowie aus der Fülle der jüngsten einschlägigen Untersuchungen etwa Patrick Weil, La France et ses étrangers, Paris 2004; Catherine Borel/ Patrick Simon, Histoires de famille, histoires familiales, Paris 2006; Evelyne Ribert, Liberté, égalité, carte d’identité. Les jeunes issues de l’immigration et l’appartenance nationale, Paris 2006. 7 Deren Genese und Konfliktlinien analysiert ausführlich Pierre Bouretz, La République et l’universel, Paris 2000, 163 ff. 8 Zit. nach Lutz Niethammer, Kollektive Identität: heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbeck 2000, 36. 9 Vgl. dazu die Beiträge in Hugues Lagrange/ Marco Oberti (eds.), Émeutes urbaines et protestations, Paris 2006; insbesondere Nathalie Kapko, „Communauté d’expériences et diversité des trajectoires“ (81-104). 10 Vgl. dazu etwa Daniel Lepoutre: Cœur de banlieue. Codes, rites et langages, Paris 2001; Stéphane Beaud/ Michel Pialoux: Violences urbaines, violences sociales. Genèse des nouvelles classes dangereuses, Paris 2003. 11 Diese Äußerung entstammt einer der von ihm auf France Culture geleiteten Diskussionsrunden, die er unter dem programmatischen Titel Qu’est-ce que la France? herausgegeben hat (Paris 2007, 58). Vgl. zum Kontext der Diskussion um die Banlieue-Unruhen meinen Beitrag „Gewalt ohne Transzendenz? Die französischen Intellektuellen und die Banlieue-Unruhen vom November 2005“ in Isabella von Treskow/ Susanne Hartwig (eds.), Bruders Hüter - Bruders Mörder. Intellektuelle und innergesellschaftliche Gewalt, Tübingen 2010, 163-182. 12 http: / / www.debatidentitenationale.fr/ organisation/ les-objectifs-du-debat.html, 22.3.2010. 13 Die sind nämlich letztendlich alle in der Gemeinsamkeit guter Nachbarn und Kollegen überwindbar, wie uns der unsägliche Film Bienvenue chez les Ch’tis (2008) lehrt. 14 Die Burka ist denn auch eines der meistdiskutierten und kontroversesten Themen des Diskussionsforums. Vgl. etwa die zahlreichen Stellungnahmen unter: http: / / contributions.debatidentitenationale.fr/ identite-et-burka sowie http: / / contributions.debatidentitenationale.fr/ contre-le-port-de-la-burka, (30.3.2010). 15 Dies gilt auch angesichts der entsprechenden Instrumentalisierung dieses Begriffs in den Reden Sarkozys. Vgl. dazu Laurence de Cock u.a. (eds.), Comment Nicolas Sarkozy écrit l’histoire de France, Marseille 2008, 54 ff. 16 http: / / www.debatidentitenationale.fr/ organisation/ les-objectifs-du-debat.html, 22.3.2010. 17 So entwirft er in einer Rede in Rouen (24.4.2007) nach dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen ein ebenso breites wie heterogenes Panorama identifikationsstiftender Figuren und Wertvorstellungen aus der französischen Geschichte, um dann zu erklären: „ La France de toujours, la vraie France, celle qui s’inscrit dans une longue histoire, celle qui est la somme de tous ces destins individuels, ne peut pas mourir parce que chacun d’entre nous veut qu’elle vive. [...] J’ai voulu remettre la France au cœur de la politique parce que la crise de l’identité française devenait préoccupante. J’ai voulu remettre la France à l’honneur dans la politique française, parce qu’on ne peut intégrer personne quand on ne sait plus qui on est. On ne peut pas faire aimer aux autres ce qu’on n’a pas appris à aimer soi-même.“ (http: / / sites.univ-provence.fr/ veronis/ Discours2007/ transcript.php? n=Sarkozy&p=2007-04-24, 20.3.2010). 106 Discussion 18 Acht Historiker, die aus Protest gegen die Einrichtung dieses neuen Ministeriums aus dem historischen Beirat der Cité nationale de l’histoire de l’immigration zurücktraten, erklärten in ihrer Rücktrittsbegründung u. a.: „Associer ‘immigration’ et ‘identité nationale’ dans un ministère […] c’est, par un acte fondateur de cette présidence, inscrire l’immigration comme ‘problème’ pour la France et les Français dans leur être même.“ (http: / / www.ldh-toulon.net/ spip.php? article2047, 22. 3. 2010). 19 In einer Umfrage Anfang Januar 2010 bejahten 44% aller Befragten die Aussage „Il y a trop d’immigrés en France“, und 37% stimmten dem Satz zu „On ne se sent vraiment plus chez soi en France“ (Le Monde, 15.1. 2010). 20 Le Monde, 15.1.2010. 21 Le Monde, 4.12.2009 22 So etwa Gérard Noiriel, A quoi sert l’identité nationale? , Marseille 2007; Patrick Weil, Liberté, égalité, discriminations. L’identité nationale au regard de l’histoire, Paris 2008; Daniel Lefeuvre/ Michel Renard, Fautil avoir honte de l’identité nationale? , Paris 2008; Jean Viard, Fragments d’identité française, La Tour d’Aigues 2010. Auch Mona Ozoufs autobiographische Reflexionen in La Composition française, Paris 2009 umkreisen schon mit der Doppeldeutigkeit des Titels den Prozess der lebensgeschichtlichen Genese eines nationalen Identitätsbewusstseins im Lichte der aktuellen Diskussion. 23 Vgl. dazu auch Gérard Noiriel, Population, immigration et identité nationale en France (XIX e -XX e siècle), Paris 1992. 24 Vgl. dazu Noiriel, A quoi sert l’identité nationale? , 23 ff. und Viard, Kap. 3. 25 Vgl. Paul Seippel: Les deux France et leurs origines historiques, Paris 1905. - Der Begriff findet sich bereits in Chateaubriands Deutung der Revolution in den Mémoires d’outretombe, wird aber erst um 1900 zu einer gängig gebrauchten Bezeichnung für die beiden Lager der Dreyfus-Affäre und allgemein für den Gegensatz zwischen republikanischen und antirepublikanischen Kräften. 26 Vgl. dazu Henry Rousso, Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours, Paris 2 1990, 14 f. 27 Scènes et doctrines du nationalisme (1902), in: L’œuvre de Maurice Barrès, hrsg. von Philippe Barrès, Paris 1966, Bd. V, 17-466, hier: 23-25. 28 Œuvres complètes de Ernest Renan, hrsg. von Henriette Psichari, Paris 1947, Bd. 1, 903 f., vgl. auch 905: „Les nations ne sont pas quelque chose d’éternel. Elles ont commencé, elles finiront.“ 29 Ebd., 903 f. 30 Es liegt dabei auf der Hand, dass Renan zugleich, ohne explizit darauf einzugehen, auch gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen argumentiert und gegen das damals im Deutschen Reich vorherrschende, der Barrèsschen Konzeption eng verwandte rassische Nationalbewusstsein. Das ‘Plebiszit’, das er als Begründung der Nation ansetzt, verweist auf die von Frankreich geforderte und von Bismarck abgelehnte Volksabstimmung in den annektierten Gebieten. Dieser Zusammenhang kann hier nicht weiter verfolgt werden. 31 Dieser Zusammenhang wird in der gegenwärtigen Diskussion an einer Reihe von Beispielen dargestellt von Patrick Weil, Liberté, égalité, discriminations. L’identité nationale au regard de l’histoire. Vgl. dazu ausführlich auch ders., Qu’est-ce qu’un Français, Histoire de la nationalité française depuis la Révolution, Paris 2002 sowie La France et ses étrangers, Paris 2 2004. 32 „Discours de M. le Président de la République française, La Chapelle-en-Vercors (Drôme) - Jeudi 12 novembre 2009“ (http: / / www.elysee.fr/ president/ les-actualites/ discours/ 2009/ discours-de-m-le-president-de-la-republique.1678.html, 13.5.2010). 33 http: / / www.debatidentitenationale.fr/ actualites/ contribution-du-jour-francois.html, 17.5.2010. 107 Discussion 34 Diese Traditionslinie, aus der sich auch Sarkozy in seinen Reden in bedenkenlosem Eklektizismus bedient, ist denn auch in vielen Beiträgen auf dem Internetportal präsent. Dort heißt es etwa in dem Beitrag „l’identité nationale: c’est notre histoire„: „[la France] c’est avant tout l’histoire du peuple de gaule, de Clovis, de Jeanne D’arc, de Charles Martel, louis 14, De Gaulle, notre drapeau“ (http: / / contributions.debatidentitenationale.fr/ lidentite-nationale-cest-notre-histoire, 17.5.2010). Viele ähnliche Stellungnahmen wären zu zitieren. 35 Vgl. dazu die Beiträge in Laurence de Cock u.a. (eds.), Comment Nicolas Sarkozy écrit l’histoire de France sowie Nicolas Offenstadt, L’histoire bling-bling. Le retour du roman national, Paris 2009. - Für diesen Umgang mit der Geschichte ist es auch bezeichnend, dass zwei Apologeten von Sarkozys Identitätsdiskurs nichts besseres zu tun haben, als zu seiner Rechtfertigung diese Geschichtslegende von den Anfängen bis zur Gegenwart in einem ganzen Buch noch einmal zu erzählen - mit der These, ein Nationalbewusstsein präge die französische Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, weshalb sie dann das Streben nach oder die Verwirklichung nationaler Identität zur eigentlichen Triebfeder der französischen Geschichte erklären (Daniel Lefeuvre/ Michel Renard, Fautil avoir honte de l’identité nationale? , Paris 2008). 36 Regards sur le monde actuel (1931); Paris 1966, 40f. 37 Besson zählt in seiner vorläufigen Bilanz am 8. Februar 2010 neben 350 Diskussionsveranstaltungen in allen Départements vor allem die Frequentation des Diskussionsforums in dem Internetportal www.debatidentitenationale.fr auf, die 760000 Besuche verzeichne und auf der 56000 Beiträge eingestellt worden seien (http: / / www.immigration.gouv.fr/ spip.php? page=discours2&id_rubrique=307&id_article=2 096, 17.3.2010). 38 Dort werden unter der Rubrik „Auteurs classiques“ Textauszüge aller üblichen Verdächtigen der romantisch-nationalen und republikanischen Geschichtsschreibung und -deutung von Victor Hugo über Michelet bis hin zu Jules Ferry und Ernest Renan angeboten (vgl. http: / / www.debatidentitenationale.fr/ bibliotheque/ les-auteurs-classiques/ ; 30.3.2010). Unter den „Auteurs contemporains“ (http: / / www.debatidentitenationale.fr/ bibliotheque/ lesauteurs-contemporains/ , 30.3.2010) findet sich eine deutlich Konzentration auf Texte gaullistischer Provenienz, von dem General selbst, der mit drei unverhältnismäßig langen Textauszügen vertreten ist bis hin zu Max Gallo oder - ebenfalls mit einem sehr langen Textauszug - Daniel Lefeuvre und Michel Renard, deren Apologie von Sarkozys Identitätsdiskurs oben bereits angeführt wurde. 39 Es gibt nur die folgenden Rubriken: „Ce qui fait/ Ce qui interroge/ Ce qui conforte notre identité nationale“ sowie „Vos témoignages sur l’identité nationale“. Alle anderen Beiträge lassen sich nur in der Rubrik „Autre“ einordnen. 40 Nämlich: „Assimilation, Cohésion, Citoyen, Carte d’identité, Burqa, Communautarisme, Culture, De Gaulle, Démocratie, Discrimination, Diversité, Drapeau, Droits/ Devoirs, Ecole, Education, Egalité, Etat, Etranger, Europe, Européen, Famille, Fierté, Force, Fraternité, Gouvernement, Hymne, Immigration, Impôts, Intégration, Laïcité, Langue, Liberté, Marseillaise, Monde, Musulmans, Nation, Patrie, Religion, Républicain, République, Rêve, Sang, Territoire, Tradition, Travail, Valeurs“ (http: / / www.debatidentitenationale.fr/ organisation/ les-objectifs-du-debat.html, 22.3.2010). Dieses Begriffskonglomerat verweist in über der Hälfte der Fälle auf die Republik, ihre Devise, ihre Werte und Symbole (die Nationalhymne erscheint gleich zweimal), bezieht aber auch eine historisch-ethnische Identitätskonstruktion bzw. deren Grenzziehungen teilweise ein (Burqua, Immigration, Musulmans, Religion, Sang, Territoire, Tradition). Die koloniale Tradition der Republik ist 108 Discussion hier wie in den weiter unten aufgeführten Analysen und Umfragen ‘natürlich’ völlig ausgeblendet; sie spielt daher auch in den Beiträgen zur Diskussion zumindest nach einer Analyse von Stichproben kaum eine Rolle. 41 Niethammer, Kollektive Identität: heimliche Quellen einer unheimlichen Kultur, 33 ff. 42 So Peter Wagner, „Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität“, in: Aleida Assmann/ Heidrun Friese (eds.), Identitäten, Frankfurt 1998, 68. 43 Vgl. Jean-François Bayart, L’illusion identitaire, Paris 1996, 10: „Il n’y a pas d’identité naturelle qui s’impose à nous par la force des choses. […] Il n’y a que des stratégies identitaires.“ 44 http: / / www.debatidentitenationale.fr/ IMG/ pdf/ 100104_-_Debat_Identite_Nationale_-_Analyse_TNS_Sofres.pdf, 5, 13.4.2010). 45 Zwischen 5- und 7000mal werden verwendet: Droit, Culture, Débat, Ègalité, Histoire, Langue, Liberté und Vivre, 4-5000mal Aimer, Fier, Fraternité, Homme, Loi, Monde, Nation, Parler, République, Respect (4). Den einzigen Schwerpunkt in diesem heterogenen Spektrum bildet die Devise der Republik; allerdings ist ein Vergleich mit den oben (Anm. 22) angeführten Leitbegriffen aufschlussreich, die die Diskussion strukturieren sollen und die de facto die meisten inhaltlich bedeutsamen Begriffe vorgeben. 46 Vgl. etwa http: / / contributions.debatidentitenationale.fr/ francais-francais-francais-francaisdorigine oder die in der TNS-SOFRES-Studie zitierten Äußerungen, 13 f. 47 http: / / www.debatidentitenationale.fr/ IMG/ pdf/ 100205_-_Debat_Identite_Nationale_-_Etude_TNS_Sofres.pdf (22.4.2010). - Bei diesen beiden Quellen der Umfrage wird allerdings die Frage nicht erörtert, in welcher Weise ihre Ergebnisse gewichtet und zusammengeführt worden sind. 48 http: / / www.immigration.gouv.fr/ spip.php? page=discours2&id_rubrique=307&id_article=2096, 17.3.2010 (Erklärung Bessons vom 5.2.2010). 49 Vgl. die Darstellung von Günter Oesterle, „Kontroversen und Perspektiven in der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung“, in: Judith Klinger/ Gerhard Wolf (eds.), Gedächtnis und kultureller Wandel, Tübingen 2009, 11 ff. 50 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 132 und 134. 51 Vgl. dazu etwa die Überlegungen von Douglas Kellner zur Instabilität und dem Spielcharakter moderner und postmoderner Identitätskonstruktionen: „Populäre Kultur und die Konstruktion postmoderner Identitäten“, in: Andreas Kuhlmann (ed.), Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt 1994, 214-216. 52 Claude Lévi-Strauss (ed.), L’identité, Paris, 2 1987, 332. 109 Entretien Urs Urban „La résistance est première - Penser contre les pouvoirs, contre les conformismes, contre les évidences.“ Entretien avec Didier Eribon Didier Eribon, auteur d’une célèbre biographie sur Michel Foucault ainsi que de nombreux ouvrages sur l’histoire des intellectuels en France, compte parmi les philosophes et sociologues les plus renommés et les plus intéressants de la France contemporaine. Avec ses Réflexions sur la question gay et son livre sur Jean Genet il est l’un des premiers à avoir défriché en France les gender et queer studies pour les mettre au service de la pensée critique. En 2009 paraît Retour à Reims, un livre très personnel dans lequel Eribon raconte l’histoire de sa propre subjectivation en tant qu’homosexuel dans un milieu prolétaire - d’une manière qui rappelle à bien des égards l’Esquisse pour une auto-analyse de Pierre Bourdieu et les récits socio-biographiques d’Annie Ernaux. Ce livre a connu un grand succès en France. Les écrits d’Eribon se caractérisent par une précision analytique présentée dans un style exigeant. Eribon est - ou était - très proche des théoriciens qu’il évoque dans ses travaux - Foucault bien sûr, Derrida, Bourdieu qui devint de plus en plus important, Judith Butler. Eribon est professeur de sociologie à l’Université de Picardie Jules Verne à Amiens. Son œuvre a été traduite dans de nombreuses langues - en allemand cependant est disponible uniquement sa biographie de Foucault. Dans notre entretien il parle de son dernier livre, de l’importance de s’engager, de la signification littéraire et politique de Jean Genet - qui a fêté en 2010 son centième anniversaire sans qu’on s’en soit rendu compte en Allemagne - de Derrida, de l’Allemagne et des livres qu’il est en train de lire. Didier Eribon, Autor einer berühmten Biographie über Michel Foucault sowie zahlreicher weiterer Werke zur Geschichte der Intellektuellen in Frankreich, ist einer der profiliertesten und interessantesten französischen Philosophen und Soziologen der Gegenwart. Mit seinen Réflexions sur la question gay und seinem Buch über Jean Genet hat er als einer der ersten in Frankreich die gender und queer studies für die kritische Theorie produktiv gemacht. 2009 erschien sein persönlichstes Buch, Retour à Reims, in dem er die Geschichte der eigenen Subjektivierung als Homosexueller im proletarischen Milieu erzählt - in einer Weise, die an Pierre Bourdieus Essai d’auto-analyse und die Soziobiographien von Annie Ernaux erinnert. Das Buch fand in Frankeich eine große Leserschaft. Eribons Schriften zeichnen sich durch eine Genauigkeit der Analyse aus, die er in stilistisch anspruchsvoller Weise vorträgt. Eribon kannte und kennt zudem viele der Theoretiker, auf die er sich in seinen Arbeiten bezieht, persönlich - Foucault natürlich, Derrida, Bourdieu, der zunehmend wichtig für ihn wurde, Judith Butler. Eribon ist Professor für Soziologie an der Universität von Amiens. Sein Werk ist in zahlreiche Sprachen übersetzt - auf Deutsch ist allerdings nur seine Foucault-Biographie erhältlich. In unserer Unterhaltung spricht er über sein letztes Buch, über die literarische und politische Bedeutung Jean Genets - der im Jahr 2010, was in Deutschland kaum bemerkt wurde, hundert Jahre alt geworden wäre - über Derrida, Deutschland und seine aktuelle Lektüre. 110 Entretien Dans votre dernier livre, Retour à Reims, vous reprenez l’analyse de la violence sociale que vous pratiquez déjà dans vos livres précédents - en partant cette fois-ci de votre propre biographie. 1 L’exemple biographique vous sert comme point de départ pour une analyse sociologique, autrement dit: Vous déduisez la description théorique de la situation personnelle et donc des conditions sociales ayant produit la subjectivité de celui qui écrit - en l’occurrence: la vôtre. Quel rôle joue l’expérience vécue de l’auteur, sa subjectivité, pour ce qu’il écrit? Qu’importe qui parle? En fait, ce livre est né d’un sentiment de nécessité: à la mort de mon père, en regardant avec ma mère des paquets de vieilles photos qu’elle avait sorties d’une armoire, je me suis revu dans mon passé, dans mon enfance, dans mon adolescence, et j’ai été frappé de voir à quel point la marque de la classe sociale était imprimée dans les corps, les décors, les vêtements, les attitudes… Et j’ai voulu restituer l’histoire de ma famille, c’est-à-dire l’histoire d’une famille ouvrière dans le nord de la France, et ma propre histoire, c’est-à-dire celle d’un enfant de la classe ouvrière qui vit une ascension scolaire et sociale qui l’éloigne de son milieu d’origine. Je n’avais pas l’intention d’écrire une autobiographie: mais plutôt de proposer une analyse du monde social et une réflexion théorique en l’ancrant dans l’expérience personnelle. Et donc on peut dire que l’analyse théorique naît de l’expérience personnelle ou en tout cas s’appuie sur elle. Mais on pourrait aussi bien affirmer que c’est le regard théorique qui m’a permis de donner forme et signification à cette expérience vécue. Ici, l’auteur est à la fois le sujet et l’objet de l’analyse, et je crois que le geste que j’ai voulu accomplir était rendu possible à la fois par ma familiarité avec le monde dont je parle et par la distance qui me séparait de lui. C’est un livre qui part de moi, de ma subjectivité (et d’une tentative de restitution et d’explication de celle-ci) pour aller vers une analyse des déterminismes collectifs et des grandes structures sociales qui les perpétuent. C’est un livre sur le monde social, sa dureté, sa terrible violence, et sur le fait que c’est une dureté, une violence qui font partie de la vie quotidienne au point qu’on n’y prête guère attention. Plus encore que dans vos livres précédents, dans Retour à Reims vous cédez au plaisir de l’écriture ce qui en fait un livre „hybride“ que l’on lit avec un grand plaisir - un livre situé entre théorie et littérature, entre l’auto-analyse de Pierre Bourdieu et la „socio-biographie“, si l’on peut dire, d’Annie Ernaux. La littérature, qui a toujours joué un rôle crucial dans vos analyses, devient ainsi le médium privilégié pour l’expression de votre propre souci théorique. Que peut la littérature? Je ne sais pas si c’est un livre littéraire! Ce que je sais, c’est que le travail d’écriture m’a coûté beaucoup de peine. Mais je ne suis pas un écrivain, je suis plutôt un théoricien. Encore que j’aie peut-être eu dans l’idée de chercher à brouiller les frontières. Car vous avez raison, l’Esquisse pour une auto-analyse de Pierre Bourdieu et les livres d’Annie Ernaux, comme La Place, Une femme, La Honte... ont été deux des mes références principales lorsque je me suis lancé dans ce projet. Et donc la théorie et la littérature mêlées l’une à l’autre. Et j’ai accroché mon récit et mes analyses théoriques à d’autres auteurs qui sont des écrivains: James Baldwin, John Edgar Wideman, Paul Nizan, Raymond Williams (qui n’était pas seulement un sociologue mais aussi un romancier très prolifique et très talentueux). Tous ces livres, et notamment tous les textes littéraires que j’ai mobilisés pour pouvoir penser ce qu’il me fallait penser et exprimer ce qu’il me fallait exprimer contiennent de magnifiques descriptions mais aussi de 111 Entretien grandes analyses de la question de l’enfance, du rapport à la famille, du rôle du système scolaire, de l’ascension sociale et de la „trahison“ sociale des enfants qui font des études par rapport à leurs parents qui n’en ont pas fait. Autant que la sociologie ou les ouvrages les plus théoriques, la littérature constitue un trésor inépuisable pour comprendre le monde social et les expériences individuelles et collectives qui s’y déploient. J’ajouterai que lorsque l’on a rompu avec son milieu d’origine, où la „haute culture“, ou disons même la culture tout court était totalement absente, on ne peut y revenir que grâce aux instruments qu’offre cette culture, et donc, on ne peut retrouver ce avec quoi on a rompu que par l’intermédiaire de ce que l’on a acquis en rompant. La culture savante aide à se réapproprier le monde que l’on a renié pour acquérir la culture savante. Elle permet le „retour“ après avoir été l’une des raisons de la distance, l’un des vecteurs de la mise à distance. Déjà votre lecture de Genet part de l’analyse implicite que celui-ci fait des distinctions qui constituent l’ordre social; dans le livre que vous lui avez consacré vous écrivez: „Genet analyse la coupure, les partages institués par l’ordre social: Il les désigne comme tels, et assume la place qui lui est faite dans cet espace hiérarchisé.“ 2 La place que l’on a réservée à Jean Genet en est une que celui-ci ne peut habiter qu’avec un sentiment de honte profonde. Vous en déduisez toute une „hontologie“ que vous reprenez dans Retour à Reims - parlant maintenant de la honte de l’origine sociale: Il ne semble en aucune façon possible de l’assumer, il faut absolument la surmonter, l’oublier et la faire oublier pour pouvoir réussir son projet personnel et professionnel - avant peut-être un jour de pouvoir y retourner comme vous venez de le dire. D’où vient ce souci de rendre invisible l’origine sociale? Dans Une morale du minoritaire, je m’appuie sur les textes de Genet, mais aussi d’autres écrivains, pour essayer d’analyser la manière dont l’ordre social - en l’occurrence l’ordre sexuel - inscrit les hiérarchies dans la tête des individus et voue certains d’entre eux - parce qu’ils contreviennent à la norme - à la honte et au silence. Je crois qu’on n’échappe jamais - et Genet a des pages magnifiques sur ce point - à la honte gravée dans le corps et l’esprit des „déviants“ et qui devient constitutive de leur être même. On ne peut effacer ce processus de socialisation qui est en même temps un processus d’apprentissage des valeurs et des normes. On peut simplement opérer un travail de soi sur soi à partir de ce qui a ainsi été produit dans le passé individuel et collectif. C’est pourquoi, je pouvais écrire en reprenant une formule d’Eve Kosofsky Sedgwick, que la honte est une „énergie transformatrice“. La honte est un affect qui à la fois réduit au silence et pousse à la prise de parole, qui contraint à une soumission à l’ordre et qui provoque l’écart par rapport à cet ordre: elle est productrice de crainte et de rébellion. Mais il est plus ou moins facile de se rebeller: un certain nombre de conditions sont nécessaires. Et les catégories contemporaines de la politique, aujourd’hui, permettent beaucoup plus de réfléchir sur les mécanismes de la honte sexuelle et donc d’entreprendre de leur résister que de réfléchir sur ceux de la honte sociale: la quasi-disparition du marxisme dans le paysage politique et intellectuel dans les années 1980 et 1990 a contribué à couper l’expérience du transfuge de classe de la possibilité de revendiquer comme sien ce dont l’accès à un autre monde lui a donné plus ou moins honte. C’est pourquoi ce chemin-là a été plus long à accomplir pour moi. Il a fallu la mort de mon père pour que je me demande (ou que j’accepte enfin de me demander): pourquoi ai-je tant détesté ma famille? Pourquoi ai-je eu honte d’eux? Pourquoi ai-je perçu mon passé comme celui d’un enfant gay ou d’un 112 Entretien adolescent gay confronté à l’homophobie sociale et aux mécanismes de l’infériorisation sexuelle plutôt que comme un fils d’ouvrier cherchant à échapper aux mécanismes de l’infériorisation sociale. Au fond, l’enfant que l’on a été est produit par les cadres politiques de la société dans laquelle on vit: l’enfance est en grande partie une production performative du discours politique qui façonne la perception du passé. Mon enfance a donc été produite rétrospectivement par la force du mouvement gay, et par la quasi-disparition du „mouvement ouvrier“ et de la notion de classe sociale. C’est tout cela que j’ai voulu affronter dans Retour à Reims. N’est-ce pas aussi le très grand nombre de distinctions structurant la société bourgeoise qui contribue à cette invisibilité de la notion de classe? En venant d’un autre pays il est frappant de voir à quel point en France un système complexe de distinctions règle la vie quotidienne et l’ascension professionnelle et donc sociale. Ce système rend difficile tout mouvement social ce qui produit un sentiment de frustration qui détermine, me semble-t-il, plus que des considérations proprement politiques le comportement électoral. Peut-on parler d’un déficit de démocratie en France? Il y a un déficit de démocratie en France, c’est certain, car les hiérarchies de classe (comme en Angleterre, également) y sont particulièrement marquées et figées. Mais je crois que cela existe aussi partout ailleurs en Europe. Et, en fait, il y a eu en France un très fort mouvement ouvrier, depuis le XIX e siècle (pensez à tous les textes de Marx sur les grands moments du mouvement ouvrier français) et tout au long du XX e siècle. Pendant très longtemps, la notion de classes sociales a constitué un élément très important de la vie politique et sociale en France. Le discours marxiste, par exemple, qui mettait en avant l’idée de „lutte des classes“ était encore très présent dans la France des années 1950, 1960, 1970. Je ne dis pas qu’il faudrait revenir à ce type de discours, ou à ces modes de pensée, contrairement à ce qu’essaient de faire aujourd’hui un certain nombre d’intellectuels, qui tentent de réactiver de vieux dogmes figés et de vieilles catégories obsolètes et dangereuses, mais, malgré tout, que ce n’est pas parce qu’on cherche à ne plus penser en termes de „Luttes des classes“ (entité mythique à majuscules! ) avec comme aboutissement de celle-ci la société communiste idéale, ou parce qu’on essaie de libérer la pensée politique de l’„hypothèse communiste“ ou plutôt de „l’hypothèque communiste“, etc., que l’on doit se débarrasser aussi de toute perception de la société en termes d’antagonismes sociaux. C’est d’ailleurs là toute la difficulté: comment penser la conflictualité sociale sans revenir au marxisme dont il a été si important de se défaire pour penser la politique d’après mai 1968. Dès lors que vous renoncez à parler des classes et que vous opposez à cela, comme l’a fait le discours néoconservateur qui a prospéré dans la gauche française dans les années 1980 et 1990, l’idée d’une „République“ composée simplement d’individus „égaux en droit“ où chacun doit s’efforcer de „vivre ensemble“ avec les autres, dès lors que vous opposez à tout mouvement social, à toute revendication, la nécessité de préserver le „lien social“, il va de soi que vous renvoyez ceux qui se sentent négligés et rejetés par une telle vision politique dans la frustration, la colère et... que vous les poussez vers le vote pour l’extrême-droite (qui a su capter cette colère en la dirigeant contre les immigrés alors qu’autrefois elle s’exprimait contre les „puissants“, les „patrons“, et contre la société capitaliste et l’oppression sociale). Il convient donc de replacer l’accent sur la conflictualité sociale et sur les mouvements sociaux comme facteurs structurants de la vie politique et de la pensée politi- 113 Entretien que et c’est en insistant sur la conflictualité que l’on peut imaginer aujourd’hui un renouveau de la vie politique et de la pensée politique. Dans votre livre, vous proposez justement une analyse du comportement électoral qui montre que celui-ci résulte moins d’une décision politique visant à exprimer les intérêts d’un groupe social déterminé que de la recherche d’une identité culturelle. Ainsi le Sarkozysme semble promettre avant tout de pouvoir se repositionner dans une société qui reste marquée par des différences de classe mais n’offre plus la possibilité de se définir en tant que représentant d’une classe. Le discours sur l’identité nationale, déjà si important dans la campagne électorale, n’en est que la conséquence logique. Assistons-nous aujourd’hui à un nouvel essor d’une politique de l’identité? Que devient, face à cette identité, la „morale du minoritaire“? Plus exactement, en essayant d’analyser comment les classes qui votaient pour le Parti communiste se sont mises à voter pour le Front national, je vois que la perception et l’expression de leur intérêt de classe se sont transformées au point que l’opposition entre „eux“ et „nous“ qui structurait leur rapport à la politique hier - les bourgeois et les ouvriers - a été remplacé par un „eux“ et „nous“ qui désignent les étrangers et les Français. Voter, c’est toujours - et c’est le cas des classes populaires - essayer de peser en tant que groupe et d’instaurer un rapport de force. Dès lors que le discours de la gauche au pouvoir a travaillé à défaire le groupe „ouvrier“ en répétant qu’il n’y avait pas de „classes“ mais seulement des individus - c’est ce qu’ils appelaient „moderniser la gauche“ -, et dès lors que le Parti communiste a presque totalement été effacé de la vie politique (notamment en raison de sa participation aux gouvernements socialistes et à la politique de ces derniers), ceux que l’on a voulu priver d’un pouvoir collectif, d’une force collective, ont reconstitué cette force en votant pour un autre parti, le Front national, qui a offert un discours qui est venu donner un sens - non plus de classe mais d’appartenance nationale - à l’expérience vécue des milieux populaires. Et quand ce vote a été si important que Jean-Marie Le Pen s’est retrouvé au deuxième tour de l’élection présidentielle de 2002, la droite classique - l’horrible Sarkozy - a compris qu’elle pouvait capter ce vote en tenant un discours sur l’identité nationale et en essayant de renforcer l’idée d’une identité nationale menacée et qu’il conviendrait de défendre contre les „étrangers“ et contre ce qui a été constitué comme le symbole de cette „extranéité“: la religion musulmane. Dans ce contexte, se battre pour les droits des minorités (par exemple, résister au racisme antimusulman qui prospère aujourd’hui en France, dans des versions de plus en plus explicites et encouragées par les instances gouvernementales) est l’une des exigences de l’heure. Mais je crois que seule une dynamique des mouvements sociaux pourra contrecarrer la force des passions mauvaises que les discours de la droite s’efforcent de susciter ou de flatter. En effet, la lutte politique contre la discrimination et pour la reconnaissance des minorités n’est pas gagnée. Le racisme, le sexisme, le machisme, l’homophobie déterminent toujours la façon de penser et de parler d’une grande partie de la population - d’autant plus que „eux“, comme vous venez de le montrer, ce sont désormais ceux qui sont considérés comme ne pas appartenant à la communauté nationale. Comment mener cette lutte sans reproduire la logique du discours hégémonique qui définit ce que c’est qu’une minorité et qui en fait partie? La reconnaissance - en tant que quoi, 114 Entretien en tant que qui? Ne faut-il pas plutôt ou en même temps combattre cette logique ellemême? La lutte contre les discriminations et pour les droits des minorités ne peut pas, ne doit pas nous ramener à des discours identitaires fermés sur eux-mêmes ou à des prétentions hégémoniques sur le droit de définir qui appartient à une minorité ou pas ou qui constitue une minorité ou pas. Les processus politiques se renouvellent sans cesse, de nouveaux mouvements surgissent, avec de nouvelles revendications, et c’est cette instabilité fondamentale que nous devons guetter, encourager, accompagner... avec toujours, bien sûr, un regard critique sur ce qui se passe. Cela provoque d’ailleurs des tensions inévitables entre les différents mouvements, et je ne crois pas trop à ce qu’on appelle en France la „convergence des luttes“ ou „l’articulation des luttes“. Chaque mouvement, chaque lutte a sa temporalité propre, son mode d’existence spécifique et les rencontres ou croisements entre différents mouvements sont assez rares et ne peuvent être que conjoncturels. Il faut penser la multiplicité des luttes plutôt que fantasmer sur leur „unité“ qui n’est guère possible, ni même peut-être souhaitable (car cela se fait toujours au détriment de telle ou telle parole). Mais chacun de nous peut participer à plusieurs mouvements, être le sujet de plusieurs politiques (en même temps, ou selon des moments différents). Je voudrais parler de façon un peu plus générale de votre travail. Depuis votre célèbre biographie de Michel Foucault 3 - excusez-moi d’en parler encore - votre travail vous mène vers une sorte d’archéologie de la vie intellectuelle contemporaine. Ce travail consiste à rendre visibles les conditions de possibilité de la pensé critique afin d’aboutir à une description de la société qui permet de mieux comprendre les effets de pouvoir et d’en tirer les conséquences pratiques - i.e. politiques. Puisque vous avez connu beaucoup des auteurs que vous étudiez dans vos propres livres c’est, depuis le début, un travail éminemment personnel, basé souvent sur la communication directe - qui s’exprime de façon concrète dans vos livres d’entretiens. Quelle est pour vous la valeur du dialogue? Mon travail a évidemment évolué entre mes premiers livres, à la fin des années 1980 et aujourd’hui: au départ, j’avais plutôt l’ambition de construire une histoire de la vie intellectuelle, et j’ai donc publié deux livres d’entretien, avec Georges Dumézil d’abord, avec Claude Lévi-Strauss ensuite (en 1986 et 1988). 4 Dans la même optique, mais cette fois avec une approche plus personnelle et plus engagée, j’ai écrit deux livres sur Foucault: une biographie en 1989 et Michel Foucault et ses contemporains en 1994. 5 C’était à un moment où se menait une vaste offensive politico-intellectuelle lancée par des cénacles idéologiques néoconservateurs et largement relayée dans tous les médias contre tout ce qui pouvait incarner ou représenter la pensée critique, et notamment contre les œuvres de Foucault, Derrida, Bourdieu, Deleuze, et plus largement, tout l’héritage des années 1960 et 1970. Et donc ces deux ouvrages sur Foucault se voulaient non seulement des investigations historiques, des lectures de l’œuvre, des éléments d’analyse théorique, mais aussi des actes de résistance au déferlement néoconservateur dans la vie intellectuelle française. J’ai analysé cette période dans un livre récent, D’une révolution conservatrice et de ses effets sur la gauche française. 6 Ensuite, j’ai publié en 1999 - dix ans après ma biographie de Foucault - un gros livre intitulé Réflexions sur la question gay, 7 dont le point de départ a été une tentative pour réinterpréter la démarche de Foucault et ses évolutions en les an- 115 Entretien crant dans leur rapport à la manière dont Foucault avait vécu et perçu l’homosexualité à différentes époques de sa vie, et donc à la politique sexuelle en France (et aussi, bien sûr, aux Etats-Unis, à partir d’une certaine date). Donc cela me venait bien sûr beaucoup du fait que j’avais bien connu Foucault, beaucoup parlé de ces questions avec lui, et aussi d’une sorte d’intuition profonde de ce qu’il avait été que me donnait cette proximité que j’avais eue avec lui. C’est ce qui constitue la troisième partie de ce livre: il y a presque 150 pages! Une autre biographie de Foucault! La première partie qui propose une approche sociologique ou, disons, anthropologique, de l’expérience se déploie sur l’horizon de références théoriques qui ont marqué tout mon travail: Sartre, et surtout, bien sûr, Bourdieu. C’est un livre sur l’incorporation du social, des structures sociales sous formes de structures cognitives ou d’habitus, et je réfléchis beaucoup sur les phénomènes de l’injure et de la honte. Et là aussi, mon amitié étroite avec Bourdieu (qui a lu plusieurs versions de ce livre quand je l’écrivais et m’a fait beaucoup de remarques et commentaires fort utiles) aura été un élément déterminant de mon écriture. On peut dire que ce que j’ai écrit est hanté par quelques figures qui sont celles de Foucault, de Bourdieu, et donc mon écriture est un dialogue avec eux, même s’il s’agit parfois - souvent même - d’un dialogue critique. L’histoire de la „vie intellectuelle“ que vous avez entrepris à reconstruire, et à laquelle vous avez participé de par vos relations personnelles, remonte dans les années 1960 et 1970. Ses protagonistes sont des théoriciens - Michel Foucault, Roland Barthes, Gilles Deleuze et d’autres, vous venez de les nommer - qui ont eu un succès énorme - et parfois douteux - dans le monde anglophone et en Allemagne. En France cependant, il me semble que ces penseurs ont plutôt suscité des réactions de refus, pas seulement dans un contexte politique mais aussi dans le monde universitaire. Quelle est - pour vous et pour tant d’autres - la fascination de ces penseurs et comment pourrait-on décrire l’enjeu critique qui inspire cette fascination - ou bien, chez d’autres, ce malaise? On ne peut pas dire que les noms que vous citez n’ont pas eu de succès en France! Au contraire. Et qu’ils aient suscité des résistances, parfois haineuses, hystériques - comme c’est le cas de Bourdieu, encore aujourd’hui - constitue l’un des signes les plus manifestes de ce succès. Ce que j’aime chez eux? C’est ce que j’appellerai l’exercice de la pensée et donc l’attitude critique qui caractérise leurs démarches: penser contre les pouvoirs, contre les conformismes, contre les évidences. C’est pourquoi, d’ailleurs, malgré tout ce qui les sépare, on peut les faire fonctionner ensemble dans une démarche intellectuelle critique. J’ajouterais d’ailleurs à votre liste le nom de Derrida. Ce qu’ils ont tenté de mettre en place a toujours été - de manière plus ou moins nette, plus ou moins consciente - lié à la politique, à une politique qui se donnait pour tâche de déranger l’ordre établi, contre la violence des normes, contre celles des mécanismes sociaux. C’est cette volonté de rupture avec l’ordre, cette énergie dans l’activité de déstabilisation, qui explique d’un côté l’écho immense qu’ils ont rencontré et qui ne s’estompe pas, et de l’autre la fureur crispée et hargneuse des défenseurs de l’ordre établi. On ne peut pas créer du nouveau (dans la pensée comme dans l’art ou la littérature) sans provoquer des réactions de défense. 116 Entretien Est-ce que vous avez connu Derrida aussi personnellement? Il est moins présent dans votre œuvre que Foucault ou Bourdieu - n’est-ce pas aussi parce qu’il se laisse moins facilement „opérationnaliser“, je veux dire: „utiliser“ pour la description et l’analyse des faits culturels? Oui, je l’ai connu. Ainsi que Deleuze. Et je l’ai beaucoup lu. En fait, il est très présent dans ce que j’ai écrit (la deuxième partie de Réflexions sur la question gay s’appelle „Spectres de Wilde“, en référence, bien sûr, à son Spectres de Marx: quelle est la place des spectres du passé dans notre présent, et donc de notre présent comme rattaché à ce passé par l’intermédiaire de quelques grandes figures et de la trace qu’elles ont laissée). Je le cite peut-être moins que Bourdieu, c’est vrai, mais, malgré tout, il n’est jamais très loin! J’ai même donné une conférence sur la psychanalyse, qui est construite comme un hommage que je voulais lui rendre (c’était peu de temps après sa mort), en discutant de manière critique son livre Résistances - De la psychanalyse. Je ne l’ai pas encore publiée. Il faudrait que je la mette au point. Mais le temps manque! Au cours du semestre qui vient de se terminer, j’ai donné un cours sur „L’Evénement historique“, et j’ai étudié, dans la dernière séance, le texte de Derrida sur le 11 septembre 2001 („Le ‚concept‘ du 11 septembre“). 8 Et je peux vous dire que ça a été un moment très intense. Comment était-il - personnellement? Il était chaleureux, tourmenté, inquiet. Cela pourra vous paraître bizarre, mais on le sentait vulnérable. Mais c’était le cas également de Foucault et de Bourdieu. Comme si la force intellectuelle était inséparable d’une certaine fragilité. C’est peut-être ce que Deleuze cherchait à décrire quand il parlait de la santé fragile des créateurs, d’un certain état de „faiblesse“ (il percevait et décrivait Foucault de cette manière, et c’est très juste, je crois). Le fil rouge que l’on retrouve dans toutes vos approches de l’histoire intellectuelle me paraît être la réflexion sur la ou bien les sexualités: Vous même, en citant Barthes, insistez sur le fait que „chacun, dans ce qu’il écrit, dit sa sexualité“. Cette valorisation du désir - tant intellectuel que sexuel, et peut-être ce sont là deux manifestations d’un même ‚élan vital‘ - fait de vous, à mes yeux, le seul représentant d’envergure de la théorie queer en France. 9 Tout comme, par exemple, Eve Kosofsky Sedgwick et Judith Butler, que vous avez connues aux Etats Unis, vous analysez les stratégies culturelles dont se sert une société pour construire des identités de genre afin de rendre visibles les procédés rhétoriques de naturalisation. Quel rôle joue pour vous la notion d’identité? Est-ce seulement - mais nécessairement - une position stratégique dans le discours politique ou est-ce lié à des facteurs d’ordre naturel, métaphysique ou social qui nous précèdent? Où vous situez-vous entre gay and lesbian studies et queer studies? Oui, la question de la sexualité constitue l’un des fils directeurs de mon travail. Et là, bien sûr, mon rapport à la littérature a été très important, puisque mon livre qui s’intitule Une morale du minoritaire a pour sous-titre Variations sur un thème de Jean Genet et que j’y prends en effet certains textes de Genet comme point d’appui d’une réflexion théorique sur l’injure et sur la honte comme affect constitutif des vies minoritaires, sur les processus individuels et collectifs de subjectivation, sur la politique de la 117 Entretien subjectivité, et, bien sûr, comme point d’appui d’une tentative pour offrir une théorie non-psychanalytique de la subjectivation. Quand j’ai commencé à écrire sur tous ces thèmes, j’ai rencontré - très tôt: dès le milieu des années 1990, c’est-à-dire à une époque où ils étaient totalement inconnues en France - les travaux historiques de Georges Chauncey ou théoriques de Eve Kosofsky Sedgwick et de Judith Butler. J’ai invité Chauncey et Sedgwick à Paris en 1997 (j’ai aussi invité Butler mais elle ne pouvait pas venir à la date prévue) et le colloque que j’ai organisé au Centre Pompidou (il y avait aussi Monique Wittig, Leo Bersani...) a été une sorte d’explosion dans la routine intellectuelle française au point que Le Monde a publié un article grotesque en première page pour dire qu’un tel colloque allait conduire à la mort de l’université, de la pensée, de la culture, etc. Vous voyez le genre! En fait, c’était quelque chose de neuf qui était en train de surgir et dont on a vu l’incroyable fécondité depuis lors. J’ai revu Eve Sedgwick en quelques occasions par la suite (je l’ai notamment invitée à donner une conférence à une époque où j’enseignais à Berkeley et à cette occasion nous avons eu une discussion publique... dont je garde un souvenir ému... Nous nous sommes revus en Espagne où nous participions tous les deux à un colloque sur les „Récits dissidents“, elle avait parlé de Proust, moi de Genet). Mais c’est surtout avec George Chauncey et Judith Butler que j’ai développé des liens d’amitié très étroits. Il va de soi que mon travail a été très marqué par la rencontre, à la fois personnelle et intellectuelle, avec ces auteurs, et avec quelques autres bien sûr. J’ai la plus haute estime pour le travail que mène Judith Butler, pour son audace intellectuelle, pour sa manière, si belle et si puissante, de ne jamais dissocier l’activité philosophique des préoccupations concrètes concernant la vie réelle des gens (elle ne commente pas Hegel pour commenter Hegel, mais pour réfléchir sur les politiques de la reconnaissance, sur les vies gays et lesbiennes, sur les transsexuels, sur la Palestine...). Cela ne veut pas dire que je suis d’accord avec tout ce qu’elle écrit. Par exemple, me sépare d’elle l’inscription de toute sa pensée dans un cadre psychanalytique, qu’il me semble au contraire nécessaire de refuser et de défaire. Mon livre Echapper à la psychanalyse (qui est une version très développée d’une conférence prononcée à Berkeley et dont Judith Butler était la discutante) a précisément pour objectif de détacher la pensée radicale de son ancrage dans la doctrine - je devrais dire: l’idéologie - psychanalytique. 10 D’où les critiques que j’adresse à la fin de cet ouvrage à Judith Butler et à Léo Bersani et quelques autres dont le psychanalysme me semble être un obstacle à une radicalisation critique de la pensée critique et radicale. Dans Réflexions sur la question gay, je critique également l’idée butlérienne d’une „mélancolie du genre“ - idée trop psychanalytique à mes yeux et donc inopérante - pour réutiliser la notion de mélancolie dans un sens plus anthropologique: l’affect produit par l’écart et la distance à la famille ou par la difficulté de s’insérer harmonieusement dans le monde social quand on est gay ou lesbienne... Maintenant, pour répondre à votre question sur le point de savoir comment je me situe entre études gays et lesbiennes et théorie queer, je dois vous avouer que je ne me pose pas trop ces questions de définitions ou de catégorisations: ces distinctions sont souvent artificielles et n’ont pas grand intérêt. En revanche, ce que je puis souligner aussi, c’est que la théorie queer a produit un terrible catéchisme international où tout le monde répète inlassablement la même chose, avec un tout petit répertoire d’idées qui sont devenues des dogmes figés. Judith Butler a récemment déploré ce qu’elle appelle ce „rabâchage“. Ce qui est triste, c’est que ce qui avait été novateur et créateur est devenu stérilisant: chaque fois que vous essayez de penser, il y a quelqu’un qui se lève pour vous rappeler à l’ordre et vous psalmodier un des articles 118 Entretien de la foi queer... Ce qui était une incitation à penser s’est quasiment transformé en une interdiction de penser. Mais il ne faut pas se laisser intimider par l’injonction à réciter les Evangiles (souvent mal compris, d’ailleurs, et lus de manière simpliste). La pensée critique doit rester ouverte à l’innovation, à la discussion permanente. Sinon, elle est morte. Et d’une certaine manière, l’institutionnalisation de la théorie queer aujourd’hui est plutôt un signe alarmant. C’est pourquoi j’ai commencé tout récemment ma conférence inaugurale de la Queer Week à l’Institut d’études politiques de Paris en disant: „Il est temps de recommencer: recommencer la théorie, recommencer la politique, et donc refaire le lien entre la théorie et la politique“. Ce qui intéresse surtout les représentants de la théorie queer et notamment Judith Butler, ce sont les pratiques de subjectivation telles que Michel Foucault les a décrites dans ses derniers écrits: Le sujet est en même temps le produit d’un ou des dispositifs de pouvoir et, en tant que tel, le ‚producteur‘ de ses actions. Tandis que dans ses premiers écrits Butler insiste sur la Nachträglichkeit du sujet - le fait qu’il ne se constitue qu’après avoir été assujetti: „There is no doer behind the doing.“ - dans ses livres plus récents la question de la possibilité d’agir qu’a ce sujet et donc la paradoxie des processus de subjectivation deviennent de plus en plus importants. Or, ce mécanisme paradoxal me semble être au cœur même de l’œuvre de Jean Genet. Quel lien, théorique et historique, y a-t-il, dans cette perspective, entre Genet et Foucault? Je ne crois pas qu’on puisse vraiment résumer la pensée de Foucault de la manière dont vous venez de le faire et il faut peut-être éviter d’isoler ses derniers écrits du reste de son œuvre, où les perspectives sont à la fois plus complexes et en perpétuelle transformation. Et je crois surtout, si vous me permettez, qu’il faut éviter de tomber dans des discussions scolastiques (cela passionne peut-être les étudiants sur tous les campus du monde, mais cela ne produit pas grand chose d’intéressant). On peut très bien insister tantôt sur la manière dont le sujet est produit par les mécanismes d’assujettissement et tantôt sur comment il déploie sa capacité d’action. Il n’y a pas de contradiction. Il y a changement d’inflexion ou d’accentuation à un moment ou à un autre de la réflexion. Ce sont d’ailleurs des problèmes que Sartre lui-même n’avait cessé de se poser et il serait intéressant de voir comment, après avoir érigé la liberté en principe absolu, il est arrivé à penser en terme de „prédestination“ et par conséquent, comment il lui a fallu réélaborer sa théorie de la liberté pour qu’elle puisse prendre place dans le cadre défini par cette idée de la „prédestination“ sociale et historique. De son côté, Bourdieu, dans les années 1960 et 1970 a essayé de dépasser l’opposition entre subjectivisme et objectivisme - c’est-à-dire, au fond, entre théorie de la liberté et théorie du déterminisme, entre phénoménologie et structuralisme - pour penser à la fois l’incorporation du social dans le corps et le cerveau sous forme d’habitus, et la possibilité d’agir dans les champs sociaux dans lesquels l’habitus se trouve placé. Et vous avez raison: ce sont des questions qui sont au cœur de l’œuvre de Genet. Il décrit comment, précisément, on ne reformule son identité que par un travail de soi sur soi - collectif, souvent, comme le montre le défilé des „Carolines“, les travestis barcelonais, dans Journal du voleur - où la manière dont on a été produit par l’ordre social devient le matériau même et l’opérateur de la transformation. C’est pourquoi on ne peut penser l’action que comme liée au pouvoir contre lequel elle se manifeste et qu’elle entend combattre. Et ce pouvoir ne s’efface pas: il se rappelle toujours aux dominés, et ses effets se reproduisent toujours. Donc, d’une certaine manière, la norme assujettissante est première. Mais elle n’apparaît comme telle que lorsqu’une 119 Entretien résistance vient s’opposer à elle. Il m’est donc arrivé de dire, en ce sens, que la résistance était première. En ce sens, la résistance précède le pouvoir qui vient s’opposer à elle autant qu’elle vient s’opposer à lui. La question qui m’intéresse serait alors la suivante: quelles sont les conditions pour qu’une parole hérétique apparaisse, pour qu’une résistance se fasse jour. Quelles sont les conditions de l’action. Et là encore, les analyses de Sartre sur la constitution des „groupes“ ou celles de Bourdieu sur les antinomies de l’action collective me semblent parmi les plus fécondes qui soient. Excusez-moi, mais je ne „résume“ pas l'œuvre de Foucault, ni ne vois de „contradiction“ - je dis plutôt le contraire... - Vous revenez toujours dans vos écrits à Jean Genet, notamment dans le livre que vous lui avez consacré en 2001 dans lequel vous esquissez ce que vous appelez une „morale du minoritaire“. 11 Quelle est, pour vous, l’actualité politique de Jean Genet? Je me suis beaucoup intéressé à Genet, en effet, ou à un autre écrivain français, Marcel Jouhandeau - qui a d’ailleurs eu beaucoup d’influence sur Genet, notamment à travers son livre De l’abjection, que je commente longuement… Ce qui me semble capital dans leur démarche, c’est qu’ils nous offrent une théorie absolument non-psychologique de la subjectivation. En les lisant, on voit comment il est possible de penser le sujet, la subjectivité, la subjectivation en termes sociaux, et donc radicalement non-psychanalytiques. C’est pourquoi dans Une morale du minoritaire, j’oppose la manière dont Genet et Jouhandeau pensent le sujet à la manière dont Freud ou Lacan le pensent (et je montre que l’œuvre de Lacan s’enracine dans l’antiféminisme et l’homophobie qui étaient caractéristiques de la psychiatrie française et qu’il exprime brutalement, crûment dans ses textes des années 1930 et que cet antiféminisme et cette homophobie animent fondamentalement son œuvre jusqu’à la fin, comme mille citations peuvent le prouver). Genet nous offre le moyen de résister à la psychanalyse et d’en finir avec Lacan. C’est une tâche politique et théorique de toute première importance! Surtout aujourd’hui où le lacanisme semble revenir en force sous la double forme d’un lacanisme vraiment réactionnaire et très autoritaire d’un côté, et de l’autre d’un lacanisme pseudo-révolutionnaire (le lacano-stalinisme ou le lacano-maoïsme qui prospèrent aujourd’hui). Dans les deux cas, c’est une stérilisation de la théorie et de la politique. Par votre revalorisation du minoritaire vous me semblez rejoindre Judith Butler qui dans le livre issu de ses cours à Francfort oppose une morale des „formes de vie“ à ce qu’elle appelle la „violence de l’éthique“. 12 Est-ce là la motivation morale et politique de la réflexion théorique qui se trouve au centre de votre travail à tous les deux? J’essaie d’analyser les formes et les modalités de la domination et les mécanismes de l’assujettissement, c’est-à-dire, au fond, de réfléchir à la manière dont les subjectivités sont constituées par l’ordre social et sexuel. Et il s’agit bien sûr d’essayer de défaire ou de déjouer la violence contenue dans les processus de formation des sujets. Par conséquent, mon travail s’appuie sur des préoccupations qui sont indissociablement morales et politiques, et il s’inscrit sur l’horizon d’une théorie et d’une pratique de la démocratique radicale. En ce sens, Judith Butler et moi-même sommes, bien sûr, très proches l’un de l’autre, intellectuellement et politiquement, comme nous avons eu l’occasion de le constater lors de plusieurs débats publics où nous avons dialogué ensemble, notamment celui qui s’est tenu à la Sorbonne en 2008, sur le thème Refaire 120 Entretien la gauche, et au cours duquel Achille Mbembe, Judith Butler et moi-même avons essayé de proposer des perspectives pour repenser la politique dans la situation mondiale actuelle. Dans son livre sur Genet, Jean-Paul Sartre insiste sur la valeur du choix que fait Genet - choix quelque peu contradictoire puisqu’il consiste à choisir ce que les autres ont fait de lui. Il se réfère au passage célèbre du Journal du voleur où Genet écrit: „Je me reconnaissais le lâche, le traître, le voleur, le pédé qu’on voyait en moi. (...) Je devins abject.“ 13 Vous m’avez dit que l’importance de la trahison chez Genet vous répugne. La trahison me semble pourtant être plus que seulement l’acte social le plus abject, l’acte permettant même de dénoncer le contrat social: C’est aussi toute une théorie - théorie implicite - de la performativité. Car pour Genet c’est en même temps l’ultime moyen de ne pas être ce qu’il paraît être. Il devient ce qu’on voit en lui - un traître; mais en tant que traître, il n’est déjà plus - et par là il est plus que - ce qu’on voit en lui: En trahissant il démontre - de manière certes violente - qu’on s’est trompé en lui, qu’il est autre, qu’il échappe aux dispositifs d’identification. Ce qui est répugnant du point de vue éthique peut ainsi être compris comme une stratégie de se concevoir soi-même comme un autre - la ‚technique de soi‘ peut-être la plus achevée. Qu’en dites-vous? Ce qui m’a intéressé chez Genet, c’est toute sa réflexion théorique sur la honte et sur l’abjection, et donc sur la manière dont les sujets „minoritaires“ sont infériorisés par les mécanismes de l’ordre social, de la stigmatisation, de l’injure, etc. Toute sa réflexion aussi sur l’enfance. Ce n’est donc pas le thème de la „trahison“ qui m’intéresse, mais l’idée que l’on ne peut pas s’inventer soi-même - personnellement, politiquement - à partir de rien, et que l’on ne peut que se reformuler à partir de ce que l’ordre social a fait de nous. D’où l’importance de la honte, ou de l’abjection, comme point de départ d’une ascèse. Sartre a très bien vu tout cela et l’a analysé dans des pages magistrales. Alors, bien sûr, à partir du moment où on accepte ce que l’ordre social a fait de nous, et qu’on reformule cette identité produite en la revendiquant, il est bien évident que l’identité n’est plus la même, qu’elle se transforme elle-même, et qu’elle change le monde autour d’elle. D’une certaine manière, on devient le traître que l’on était, et en le devenant, on trahit l’assignation. Et comme l’assignation se reproduit sans cesse - sous de multiples formes -, trahir est un geste qui n’a jamais de fin. En ce sens, l’idée de „trahison“ est importante. Elle indique la tension entre la nécessaire identification de soi à soi, et la tout aussi nécessaire désidentification de soi avec soi. Cela vaut pour la politique: lorsque par exemple, Genet écrit qu’il soutient la lutte des Palestiniens, mais que lorsqu’ils auront un Etat, il les trahira. Le jeu entre le soutien apporté à une lutte et le refus - affirmé par avance et donc agissant aussitôt qu’énoncé - des institutionnalisations qui en découleront me semble une idée très forte. Mais il y a d’autres aspects de cette notion de „trahison“ chez Genet que je trouve assez déplaisants (la trahison conçue comme une éthique personnelle, comme un mode privilégié du rapport aux autres... Je peux même dire que je déteste tout cela). On a récemment insisté sur l’antisémitisme de Jean Genet - d’abord en France et puis aussi en Allemagne où l’on a réagi avec une joie un peu malsaine sur les écrits d’Eric Marty et d’Ivan Jablonka. 14 Que pensez-vous de cette discussion? N’est-ce pas aussi le plus récent et peut-être le plus efficace essai d’exclure Jean Genet de l’histoire culturelle, de l’incriminer encore, de se débarrasser de ce voleur, de cet 121 Entretien homosexuel, de ce terroriste? Ce n’est peut-être pas par hasard qu’en même temps qu’on le publie dans la Pléiade, on entreprend aussi de le ranger à nouveau parmi les „hommes infâmes“ ou bien, pour reprendre une formule d’Hadrien Laroche, parmi les „derniers“ des hommes. 15 Ce qu’a écrit Eric Marty contre Genet est absolument répugnant. Pas tellement parce qu’il dit que Genet était antisémite (j’avais moi-même évoqué, bien avant lui, cette question de l’antisémitisme de Genet, qui n’est donc pas une question „tabou“ comme l’affirme Marty pour mettre en scène son attaque en vantant son propre courage) mais parce que, en bon idéologue lacanien, il psychanalyse Genet pour conclure que si Genet ne peut pas accéder au Bien, c’est parce qu’il a raté la Castration, la bonne Castration, celle qui conduit à la „différence des sexes“. Ces absurdités signifient donc que, pour lui, Genet aurait été pro-nazi - dit-il - parce qu’il était pédé. Voilà l’équation: Pédé = Nazi! Il parle à propos de Genet d’un „antisémitisme halluciné“. Mais il fait preuve, lui, d’une homophobie hallucinante. Et que ce genre de discours puisse être tenu en France sans susciter l’indignation générale montre à la fois quels sont les effets du lacanisme dans la vie intellectuelle française - je pourrais prendre d’autres exemples, tout aussi incroyables - et comment l’homophobie sociale autorise l’existence de ce genre d’élucubrations discursives qui sont considérées comme des analyses et comme des contributions au débat. Pour ce qui me concerne, cela ne me gêne pas du tout qu’on montre que Genet était antisémite: c’est sans doute vrai. Et d’ailleurs il en va de même pour Jouhandeau, qui a écrit un livre magnifique sur la façon dont l’ordre social „abjecte“ ceux qui contreviennent aux normes sexuelles mais qui a publié, à peu près à la même époque, à la fin des année 1930, un livre qui a pour titre Le péril juif. J’ai consacré un long essai à cette difficile question („L’abjecté abjecteur“) que j’ai repris dans mon recueil qui s’appelle Hérésies, en 2003. Le problème étant celui-ci: pourquoi des gens qui analysent de manière aussi extraordinaire un type de processus d’abjection peuventils le reproduire sur une autre catégorie de la population? Pourquoi leur fallait-il, pour constituer leur réflexion sur une minorité à laquelle ils appartiennent s’attaquer en même temps à une autre minorité? Je vais reprendre cette question au mois de novembre lors du grand colloque sur Genet qui se tient au théâtre de l’Odéon 16 et j’essaierai d’élargir le problème: car cela permet de réfléchir aux politiques minoritaires sans tomber dans l’illusion ou l’utopie d’une alliance des minorités, d’une convergence des luttes, etc. On voit bien que les combats minoritaires peuvent être opposés les uns aux autres, hostiles les uns aux autres, et que leur „convergence“ est sinon impossible, impensable, du moins très difficile à imaginer et à mettre en pratique. Il faut donc penser que chaque lutte a sa temporalité propre, son espace propre, ses préoccupations propres, et que la „convergence“ est toujours aléatoire, partielle, fragile. Il faut plutôt penser en termes de multiplicité des domaines de luttes et d’analyses qu’en termes d’unité. Dans les années 1960 Genet se tourne de façon plus explicite vers la politique. Ce qui dans ses romans était stratégie morale et esthétique - la valorisation de ce qui est considéré comme abject par „vous“ - devient alors programme politique - un programme qui me semble poser problème. Comment expliquer par exemple son engagement en faveur de la bande à Baader? Des études récentes nous montrent que les membres de la RAF étaient animés par un esprit autoritaire et par l’amour de la transgression plus que par un engagement sérieux pour les damnés de la terre - une atti- 122 Entretien tude qui les rapproche de la génération de leurs pères avec laquelle ils voulaient pourtant rompre à tout prix. 17 Comment peut-on prendre au sérieux le Genet politique de l’œuvre tardive? Je ne suis pas du tout un spécialiste de Genet! Je ne me suis intéressé qu’à quelques aspects de son œuvre, mais je ne l’ai jamais considéré comme un modèle, ni même comme une référence intellectuelle ou politique! J’ai trouvé chez lui des analyses remarquables mais je ne suis pas allé y chercher des réponses globales! Et il m’est donc difficile de répondre à votre question. Je crois que Genet, comme d’autres à cette époque, entendait soutenir tous les mouvements qui entraient en dissidence contre l’ordre social et économique du monde capitaliste. Ce qui l’a, comme d’autres, conduit à s’inscrire dans des combats très différents les uns des autres, dont il voyait probablement l’unité ou la cohérence, mais que nous percevons différemment aujourd’hui: il pouvait se trouver un jour aux côtés des travailleurs immigrés en France (on le voit sur une série de photos avec Foucault lors de manifestations), un autre jour se retrouver auprès des Black Panthers aux Etats-Unis (on trouve de très belles pages sur ce moment dans Un Captif amoureux), ou encore se rapprocher de gens qui dérivaient en Allemagne vers la violence et le terrorisme. Il convient de regarder tout cela avec un regard scrupuleusement critique! On n’est pas obligé de prendre tout dans un auteur. Nous devons filtrer ces héritages politiques. Et les réinventer. Question de pure curiosité: Quand vous parlez du projet de Foucault de „faire l’archéologie d’un silence“ vous mentionnez un cours qu’il a fait à Uppsala sur „Les conceptions de l’amour dans la littérature française du marquis de Sade à Jean Genet“. C’est d’ailleurs Georges Dumézil qui vous en parle dans l’entretien que vous avez fait avec lui. Que reste-t-il de ce cours? J’ai retrouvé l’annonce de cours dans les programmes de l’université d’Uppsala en 1956 et je l’ai mentionné dans la biographie que j’ai consacrée à Foucault en 1989. Je ne pense pas qu’il en reste des traces écrites mais seulement quelques souvenirs dans la mémoire de ceux qui l’ont entendu. Foucault s’est sans doute beaucoup intéressé à Genet dans les années 1950. Mais cet admiration n’a pas duré: je me souviens que, au début des années 1980, il disait beaucoup de mal de l’œuvre de Genet, aussi bien du théâtre que des romans. Même chose pour Sade d’ailleurs: dans les années 1950 et 1960, il fait l’éloge de Sade, mais dans La Volonté de savoir, en 1976, il présente la transgression à la manière de Sade et Bataille comme participant du dispositif de la sexualité, c’est-à-dire du pouvoir. Dans ma thèse je me suis proposé de regarder de près ce que l’on pourrait appeler, avec Gaston Bachelard, la „poétique de l’espace“ de Jean Genet. 18 J’ai trouvé qu’il y a des analogies directes entre les procédés de subjectivation et l’ordre spatial: C’est le dispositif carcéral qui achève l’assujettissement du protagoniste, tout comme Foucault le décrira plus tard quand il fera de la prison l’allégorie théorique du fonctionnement du pouvoir disciplinaire. Croyez-vous qu’une science de l’espace, telle que Foucault l’a initiée en postulant une „hétérotopologie“, peut nous aider à mieux comprendre la microphysique du pouvoir qui structure nos sociétés et notre culture? En Allemagne - et en France aussi, je ne rappelle que le livre de Bertrand Westphal sur la géocritique 19 - il y a, depuis quelques années un très grand intérêt pour des „questions d’espace“… 123 Entretien A quelque niveau qu’on se situe, il est impossible d’aborder les questions politiques sans se poser le problème de l’espace. Pensez à toutes les questions de frontières, de territoires, de murs, de colonisations qu’implique par exemple le conflit entre Israël et les Palestiniens. Pensez, d’une manière plus générale, aux guerres, aux déplacements de populations... Pensez aussi à la question mondialisée de l’immigration et de l’accueil fait aux immigrés qui nous renvoie évidemment aux questions de frontières entre les nations, et au franchissement de ces frontières, mais aussi aux questions de ségrégation urbaine dans les pays où les migrants s’installent. Avez-vous suivi la polémique qui est née en France, pendant l’été 2010, après les déclarations de Nicolas Sarkozy et de membres de son gouvernement sur les „Roms“, les „Tziganes“ et les „Gens du voyage“? Par delà le caractère révoltant et écœurant de toutes ces déclarations - comment pouvons-nous encore tolérer d’avoir des gens comme ceux-ci à la tête de notre pays! Nous devons tout faire pour les en chasser dès la prochaine élection -, c’est bien une question d’espace, de géographie (en même temps que de l’histoire d’un peuple) qui s’est trouvée au cœur de l’actualité française. Je pourrais encore mentionner, dans un autre registre, la question de la géographie sociale (je veux dire: la distribution géographique des classes sociales) dans les pays européens (entre autres! ). Ou bien la manière dont les dissidents de l’ordre sexuel ont su créer dans les villes un monde à eux, ce que George Chauncey a décrit comme un „monde gay“ à l’intérieur des villes 20 (on peut à cet égard relire Notre-Dame-des-Fleurs comme un livre de géographie sexuelle: le Paris des déviants! ) On voit que toute politique est liée à l’espace et que tout espace est politique. D’après vous, pour tout projet de subjectivation émancipatoire il importe, avant tout, d’échapper à la psychanalyse 21 - qui vise à normaliser des sujets considérés comme ‚anormaux‘, telle l’expression qu’utilise Foucault dans son cours au Collège de France, et donc à exclure toute possibilité d’être autre. Or, nous vivons dans des sociétés fortement marquées par ce que l’on pourrait appeler la „psychanalysation“ et, plus généralement, la contrainte de se dire, et de se situer dans des contextes narratifs cohérents. Comment passer du malaise de se dire (de dire ce que l’on est, qui l’on est) au projet de s’inventer, de se faire? La psychanalyse est une discipline normalisante, normativante: ce n’est pas seulement Foucault et moi qui le disons, c’est Lacan lui-même, qui n’a cessé d’affirmer cette dimension normativante et d’insister sur les fonctions de normalisation et de défense de l’ordre masculin et hétérosexuel que devait selon lui remplir la psychanalyse. Tout cet appareil notionnel - Œdipe, le Phallus, la Castration etc. - ne constitue pas un ensemble de connaissances ou d’outils de connaissance, mais un dispositif de pouvoir. On l’a bien vu dans les débats en France autour du Pacs, du mariage homosexuel, de la reconnaissance des familles homoparentales: l’institution psychanalytique s’est montrée telle qu’elle était et a toujours été, c’est-à-dire une instance d’interdiction et de limitation du social. La violence que la psychanalyse a exercée dans tous ces débats est à peine imaginable. Le problème, c’est que, évidemment, la psychanalyse est devenue une doxa si largement répandue que tout le monde s’y réfère comme s’il s’agissait de vérités établies et incontestables et qu’il est donc quasiment impossible de se situer en dehors d’elle. Et cela correspond aussi au narcissisme des intellectuels, qui aiment à scruter leur intériorité et qui, pour le faire, ont besoin d’adhérer - de croire, car c’est une croyance - à la doctrine psychanalytique. Dans Retour à Reims, j’ai souligné à quel point une approche psychanalytique des 124 Entretien processus que je décris dans ce livre reviendrait à les désocialiser et à les dépolitiser. Annie Ernaux remarque dans plusieurs de ses textes qu’elle n’a pas besoin de la psychanalyse qui lui apporterait des réponses toutes prêtes et trop simples, qui ne rendraient pas compte des phénomènes plus profonds qu’elle essaie de restituer. Or l’analyse sociale qu’elle propose est évidemment plus difficile à affronter: il ne s’agit pas du rapport au père, à la mère, mais des modes de vie des classes sociales, de ce que sont les individus dans la classe sociale qu’elle dépeint. L’interprétation en termes psychanalytiques est trop facile, jouée d’avance: le père, la mère, l’œdipe, bla, bla, bla... Réfléchir en termes sociaux et politiques permet de rendre aux phénomènes une dimension plus profonde et moins rassurante. Je serais tenté de dire: plus noire. Mais pour répondre à votre question: il n’est pas du tout nouveau, comme le croient certains auteurs de livres un peu légers et sans ancrage historique, que l’on exige des individus qu’ils s’inscrivent dans le cadre d’un récit cohérent, qu’on essaie de les y faire entrer de force. La question me semble plutôt être celle-ci: comment produire son propre récit, qui échappe aux instances et aux institutions normalisatrices et oppressives. Les mouvements politiques qui se veulent émancipateurs le permettent, d’une certaine manière. Mais on voit alors - c’est le problème que j’essaie d’aborder dans Retour à Reims - que les catégories politiques peuvent changer et vous donner des „récits“ de vous-mêmes divergents et des „cohérences“ rétrospectives différentes: fils d’ouvrier, enfant gay... Comment penser la multiplicité des points de vue - politiques - que l’on peut prendre sur soi? Est-ce possible? Ce qui débouche sur une autre interrogation: peut-on être à la fois le sujet de plusieurs politiques, à un même moment, ou dans des moments différents? Vous avez une réponse à la question que vous posez? Si la réponse est positive - si on peut donc être le sujet de plusieurs politiques - que cela veut-il dire pour le récit que l’on fait de l’histoire de sa propre subjectivation? Est-ce qu’il en résulte un récit polyphonique? Ou un récit contradictoire - comme dans le cas de Genet et de Jouhandeau, dont nous parlions, un récit à la fois émancipatoire et, en l’occurrence, antisémite? Une réponse? Je ne suis pas certain de pouvoir vous en proposer une. Pas pour l’instant du moins. Je suis en train de travailler sur ce problème. Maurice Halbwachs insistait sur ce qu’il appelait les cadres sociaux de la mémoire, et sur la mémoire collective: la mémoire individuelle est toujours liée à celle d’un groupe d’appartenance. Mais il soulignait lui-même que nous appartenons nécessairement à plusieurs groupes. Dans ce cas, comment cohabitent les mémoires qui nous viennent de ces appartenances multiples? Et comment pouvons-nous nous penser à partir d’elles? Bourdieu a fait remarquer que les classes sociales étaient une production performative des discours politiques. C’est ce qu’il appelle l’effet de théorie: il y a des classes parce que Marx a dit qu’il y avait des classes. Mais on peut très bien voir le monde différemment (et c’est pourquoi la notion de classes peut apparaître comme évidente aux uns, et complètement fausse aux autres). Il en va de même avec tous les découpages du monde par la perception politique; par exemple, une femme noire ouvrière pourra se penser avant tout comme ouvrière et penser à la division de la société en classes, une autre se pensera comme femme, une autre comme noire... Et la notion d’intersection avancée par Kimberley Crenshaw, dans de très beaux et très importants articles, ne suffit pas à résoudre la difficulté, car cette notion présuppose que des identifiés multiples sont données et que la singularité individuelle ou collective se situe à 125 Entretien l’intersection et dans la combinaison de ces identités multiples. Or il me semble que les identités sont produites à des moments donnés comme des perceptions qui s’imposent à nous et qui nous conduisent à nous regarder nous-mêmes différemment: vous vous souvenez peut-être de la phrase de Fanon, qui dit que les Martiniquais ne se sont pas pensés comme noirs, jusqu’à ce que Césaire vienne parler de négritude. C’est pourquoi il me semble qu’il est difficile de penser en termes de coalition ou de convergences des luttes (c’était le thème du débat que j’ai eu avec Judith Butler à la Sorbonne: elle insistait sur les coalitions possibles, les alliances nécessaires entre minorités sexuelles et minorités religieuses, et moi je me demandais au contraire si de telles convergences sont pensables à grande échelle (je veux dire: en dehors de petits groupes éphémères, dont je ne néglige pas l’importance d’ailleurs) ou bien s’il ne fallait pas plutôt imaginer des mouvements qui ont chacun leur domaine propre, leur temporalité propre, et dont nous devons admettre, peut-être, le caractère irréductiblement irréconciliable, ce qui ne nous empêche pas de participer aux uns et aux autres. Mais il me faudrait beaucoup de temps et d’espace pour développer ce point, car ici, je suis obligé de simplifier assez grossièrement. Je vous ai rencontré deux fois en Allemagne. Dans Retour à Reims vous écrivez que dans votre enfance l’Allemagne était le pays des ennemis, une vision des choses que vous avez dû partager avec beaucoup d’autres Français surtout dans le nord-est de la France. Est-ce que l’Allemagne contemporaine vous intéresse - du point de vue politique, ou intellectuel, ou autre - ou est-ce que l’animosité a cédé tout simplement à l’indifférence? En effet, quand j’étais enfant, l’Allemagne était considérée, dans ma famille, dans ma région, avec beaucoup d’hostilité et même avec de la haine, comme le pays des ennemis. Et quand j’ai été adolescent, j’ai gardé en moi quelque chose de ce sentiment: rien ne m’attirait dans l’Allemagne et je me tournais plutôt vers l’Espagne, ou l’Italie. Et ensuite vers l’Angleterre. Et quand j’ai lu Nietzsche, ses propos très durs contre les Allemands, son éloge du „Sud“ et du soleil, cela m’a conforté dans mes réactions immédiates. Aujourd’hui, bien sûr, c’est différent: j’ai donné des conférences à Hambourg, Berlin, Düsseldorf, j’ai participé à des colloques... Et je m’intéresse bien sûr à la vie politique allemande - et notamment à l'importance que revêt en Allemagne la culture alternative, beaucoup plus forte et plus disséminée qu’en France -, littéraire - j’admire Christa Wolf et un certain nombre d’autres auteurs - et, dans le domaine intellectuel, aux tentatives pour réactualiser l’héritage de la théorie critique et de l’Ecole de Francfort, notamment, en tournant le dos à la connotation conservatrice et aujourd’hui théologique que lui a donnée Habermas. Comme vous pouvez l’imaginer, je suis pour un espace culturel, intellectuel et politique européen, et je pense que ce qui se passe aujourd’hui en France et ce qui se passe aujourd’hui en Allemagne représentent des éléments importants dans la construction de politiques oppositionnelles et de théories radicalement critiques. Pour en finir: Chez quels écrivains et chez quels philosophes contemporains français trouvez-vous les questions dont vous vous occupez dans votre travail - à part Annie Ernaux et les autres dont nous avons déjà parlés? Est-ce que - mis à part votre travail - des auteurs comme Jonathan Littell ou Laurent Mauvignier vous intéressent? 126 Entretien Dans le domaine théorique, je m’intéresse beaucoup aux travaux de Marcela Iacub (qui est une juriste et philosophe du droit), qui me semblent poser de très importantes questions. Ses analyses poussent le regard critique le plus loin possible et nous obligent à nous interroger sur nos évidences. Elle a publié au cours des dernières années une série de livres magnifiques: L’empire du ventre, Par le trou de la serrure, De la pornographie en Amérique... Ce qu’elle écrit est très puissant. C’est l’une des œuvres les plus importantes parmi celles qui se développent aujourd’hui en France. Dans le domaine littéraire, je dois vous avouer que je n’ai pas lu le livre de Littell. Ceux de Mauvigner non plus. J’ai très envie de lire son dernier livre. Mais il est vrai - et c’est peut-être lié à une certaine anémie ou atonie de la vie intellectuelle française en ce moment dans le domaine de la philosophie et des sciences sociales - que mon travail se nourrit beaucoup de ce qui se passe dans la littérature. Les écrivains francophones qui m’intéressent aujourd’hui: Assia Djebar (son Nulle part dans la maison de mon père est superbe, et Le Blanc de l’Algérie est tout simplement bouleversant), Edouard Glissant, Patrick Chamoiseau (dont j’aime beaucoup les livres sur son enfance, et son essai Ecrire en pays dominé); et j’ai beaucoup aimé le dernier livre de Dany Laferrière, L’énigme du retour; celui de Lyonel Trouillot, Yanvalou pour Charlie… Néanmoins, il est vrai que j’ai un peu tendance à lire pour écrire, et donc cela limite mes lectures. Malheureusement, les journées ne sont pas extensibles à l’infini. Et n’oubliez pas qu’il y a aussi le cinéma... Je vous remercie beaucoup! Ouvrages de Didier Eribon: Entretiens avec Georges Dumézil. Paris (Gallimard: Folio) 1987 De près et de loin. Entretiens avec Claude Lévi-Strauss. Paris (Odile Jacob) 1988 Michel Foucault (1926-1984). Paris (Flammarion) 1989 Ce que l’image nous dit. Entretiens avec Ernst Gombrich. Paris (Adam Biro) 1991 Faut-il brûler Dumézil? Mythologie, science et politique. Paris (Flammarion) 1992 Michel Foucault et ses contemporains. Paris (Fayard) 1994 Réflexions sur la question gay. Paris (Fayard) 1999 Papiers d’identité. Paris (Fayard) 2000 Une morale du minoritaire. Variations sur un thème de Jean Genet. Paris (Fayard) 2001 Dictionnaire des cultures gays et lesbiennes. Sous la direction de Didier Eribon. Paris (Larousse) 2003 Hérésies. Essais sur la théorie de la sexualité. Paris (Fayard) 2003 Sur cet instant fragile. Carnets, janvier-août 2004. Paris (Fayard) 2004 Echapper à la psychanalyse. Paris (Léo Scheer) 2005 D’une révolution conservatrice et de ses effets sur la gauche française. Paris (Léo Scheer) 2007 Contre l’égalité et autres chroniques. Paris (Cartouche) 2008 Retour à Reims. Paris (Fayard) 2009 et (Flammarion) 2010 De la subversion. Droit, norme et politique. Paris (Cartouche) 2010 127 Entretien 1 Didier Eribon (2009): Retour à Reims. Paris (Fayard) 2 Didier Eribon (2001): Une morale du minoritaire. Variations sur un thème de Jean Genet. Paris (Fayard): 55 3 Didier Eribon (1989): Michel Foucault (1926-1984). Paris (Flammarion) 4 Georges Dumézil/ Didier Eribon (1987): Entretiens avec Georges Dumézil. Paris (Gallimard: Folio); Claude Lévi-Strauss/ Didier Eribon (1988): De près et de loin. Paris (Odile Jacob); voir aussi les entretiens avec Ernst Gombrich in Didier Eribon (1991): Ce que l’image nous dit. Paris (Adam Biro) 5 Didier Eribon (1994): Michel Foucault et ses contemporains. Paris (Fayard) 6 Didier Eribon (2007): D’une révolution conservatrice et de ses effets sur la gauche française. Paris (Léo Scheer) 7 Didier Eribon (1999): Réflexions sur la question gay. Paris (Fayard) 8 Jacques Derrida/ Jürgen Habermas (2004): Le „concept“ du 11 septembre. Dialogues à New York (octobre-décembre 2001) avec Giovanna Borradori. Paris (Gallilé) 9 Didier Eribon (2003) (dir.): Dictionnaire des cultures gays et lesbiennes. Paris (Larousse); Didier Eribon (2003): Hérésies. Essais sur la théorie de la sexualité. Paris (Fayard); Didier Eribon (2004): Sur cet instant fragile. Carnets, janvier-août 2004. Paris (Fayard) 10 Didier Eribon (2005): Echapper à la psychanalyse. Paris (Léo Scheer) 11 Didier Eribon (2001): Une morale du minoritaire. Variations sur un thème de Jean Genet. Paris (Fayard) 12 Judith Butler (2003): Kritik der ethischen Gewalt. FfM (Suhrkamp) 13 Jean Genet [1949]: Journal du voleur. Paris (Gallimard: Folio) 1996: 198 14 Eric Marty (2003): Bref séjour à Jérusalem. Paris (Gallimard); Ivan Jablonka (2004): Les vérités inavouables de Jean Genet. Paris (Seuil) 15 Hadrien Laroche (1997): Le dernier Genet. Paris (Seuil) 16 Du 23 au 27 novembre 2010 au Théâtre National de l’Odéon à Paris. 17 Gerd Koenen (2002): Vesper, Ensslin, Baader. FfM (Fischer) 18 Urs Urban (2007): Der Raum des Anderen und Andere Räume. Zur Topologie des Werkes von Jean Genet. Würzburg (Königshausen & Neumann) 19 Bertrand Westphal (2007): La Géocritique. Réel, Fiction, Espace. Paris (Minuit) 20 George Chauncey (2003): Gay New York. 1890-1940. Traduit de l’anglais par Dider Eribon. Paris (Fayard) 21 Didier Eribon (2005): Echapper à la psychanalyse. Paris (Léo Scheer) 14: 06: 19 128 Arts & Lettres Horst F. Müller A propos de Henri Barbusse. Quelques remarques de philologie barbussiste Déplorable situation bibliographique Au cours de mes travaux sur Barbusse, je ne pouvais pas me défendre contre l’impression que cet auteur ne fut pas très estimé parmi le patrimoine national français. Certes, à l’occasion de son 100 e anniversaire, en 1973, on organisa un grand colloque solennel à son honneur et par là, on réintégra, pour ainsi dire, Barbusse dans l’ensemble de la littérature nationale. Mais une grande fête, même garnie d’intéressantes contributions consacrées à l’homme et à l’œuvre, ne fut pas susceptible de compenser les lacunes du passé. En dépit des travaux de Jean Relinger, commencés dans les années 60, sous la direction de Roger Fayolle, l’exploration systématique de nouvelles sourcesbien qu’à portée de la main dans les bibliothèques de France laissa à désirer. Nous ne voulons pas parler de recherches dans les archives soviétiques qui auraient peutêtre permis de substituer quelques conjectures politiques par des faits. La situation bibliographique, au moins en France, sur Barbusse offre une image déplorable. L’Association Henri Barbusse, liée avec l’A.R.A.C., offre sur son Web-Site deux titres de petites bibliographies épuisés depuis 1920! celle de Henri Hertz et de Paul Desanges, ici nommé Desgranges (sic! ) On ignore ma biobibliographie de 2003 1 qui, en France, n’a pas suscité aucun compte-rendu. Bel et bon, on n’aime que des ouvrages autochtones, mais ce qui est pire: Pour les pèlerinages à Aumont trop d’appareil philologique paraît évidemment trop encombrant. Les travaux de Jean Relinger, commencés au temps de la fameuse théorie du réalisme socialiste, montrent un penchant pour le réalisme au sens de „reflet de la réalité“ et par là pour son caractère documentaire. A l’en croire, le Feu serait en grande partie un reportage! Ma méthodologie à moi, va dans l’autre sens: La guerre ne m’intéresse que comme sujet d’un grand événement historique, esthétiquement indispensable pour la grande épopée de la Grande Guerre qu’est le Feu. Son caractère de l’œuvre d’art, prétendu, mais non pas démontré suffisamment par Relinger, j’ai essayé de le mettre au jour par la vue sur l’intertextualité et l’usage de la polysémie par Barbusse. 2 Le scandale des éditions Paraf La situation des éditions des œuvres de Barbusse laisse à désirer. Il n’y a point d’édition critique, ni de L’Enfer, ni même du Feu. 129 Arts & Lettres C’est le mérite douteux de Pierre Paraf d’avoir fait rééditer L’Enfer chez Albin Michel en 1985 et 1991. L’édition de 1991 dans la Bibliothèque Albin Michel à 285 (+1) p. indique sur p. 6: Première édition Editions Albin Michel 1908. Mais regardons de près! Comparons la fin de 1908 avec la fin de celle de 1991: Barbusse: L’Enfer, Edition de 1908: Henri Barbusse: L’Enfer. La Librairie mondiale sans date. Bibliothèque Nationale Z. Barrès 15639 Avec dédicace manuscrite: A Maurice Barrès, son admirateur. Exemplaire coupé jusqu’à page 202: p. 412/ 413 *** Mais j’ai fini. Je suis étendu, et puisque j’ai cessé de voir, mes pauvres yeux se ferment comme une blessure guérissante, mes pauvres yeux se cicatrisent. Et je cherche pour moi un apaisement. Moi! le dernier cri comme le premier. Moi, je n’ai qu’un recours: me souvenir et croire. Entretenir de toutes mes forces dans ma mémoire la tragédie de cette / chambre. Croire qu’en face du cœur humain fait d’impérissable désir, il n’y a que le mirage de ce qu’il désire; il n’y a qu’un mot, le mot immense qui dégage notre solitude et dénude notre rayonnement; le mot qui semble du néant et du blasphème, mais qui est de la réalisation et de la divinisation: Rien. FIN Barbusse: L’Enfer, Edition de 1991 *** p. [286] Mais j’ai fini. Je suis étendu, et puisque j’ai cessé de voir, mes pauvres yeux se ferment comme une blessure guérissante, mes pauvres yeux se cicatrisent. Et je cherche pour moi un apaisement. Moi! le dernier cri comme le premier. Moi, je n’ai qu’un recours: me souvenir et croire. Entretenir de toutes mes forces dans ma mémoire la tragédie de cette chambre, à cause de la vaste et difficile consolation dont a résonné parfois le fond de l’abîme. Je crois qu’en face du cœur humain et de la raison humaine, faits d’impérissables appels, il n’y a que le mirage de ce qu’ils appellent. Je crois qu’autour de nous, il n’y a de toutes parts qu’un mot, ce mot immense qui dégage notre solitude et dénude notre rayonnement: Rien. Je crois que cela ne signifie pas notre néant ni notre malheur, mais, au contraire, notre réalisation et notre divinisation, puisque tout est en nous. FIN A partir de 1917 existe une édition définitive de L’Enfer, et comme on voit, dans l’édition de 1991, la fin correspond à celle de cette édition définitive et non à la pre- 130 Arts & Lettres mière édition comme indiqué. - Pourquoi cette tromperie du lecteur? Tout simplement pour mieux cacher quelques modifications comme p. ex. celle, susceptible à donner à l’auteur posthume un air plus marxiste qu’il n’avait pas: Edition de 1919, p. 173: L’esprit de tradition infecte l’humanité; et le nom des deux manifestations affreuses, c’est… l’héritage et la patrie. Edition Paraf de 1991, p. 172: L’esprit de tradition infecte l’humanité; et le nom de deux de ses manifestations affreuses, c’est … la propriété et la patrie, Un peu plus loin 1919, p. 173: on a raison d’attaquer par tous les moyens utiles - tous! - le principe de l’héritage et le culte de la patrie. Edition Paraf de 1991, p.172: on a raison d’attaquer par tous les moyens utiles - tous! - le principe de la richesse individuelle et le culte de la patrie. D’autre part, on remarque l’essai de reconstitution de la première édition par l’omission d’un passage qui semble être une interpolation de 1917: Edition de 1919, p. 175: L’amour qu’on a pour son pays serait bon et louable s’il ne dégénérait pas, comme nous le voyons partout, en vanité, en esprit de prédominance et d’accaparement, en haine, en envie, en nationalisme, en militarisme, en course à l’abîme. Edition Paraf de 1991, p. 174 --- Pourquoi n’a-t-on pas pris le texte du vivant de l’auteur? Pourquoi ces „améliorations“ et avec quel droit? Une maison d’édition sérieuse n’aurait-elle pas le droit d’interdire de telles choses? Le monde doit à Pierre Paraf encore une réédition du roman Clarté de Barbusse, parue chez Flammarion, en 1978. Ici aucune indication sur la base de texte! Regardons la fin de l’édition de 1919: [p. 290] - J’étais comme une statue à cause de l’oubli et du regret. Tu m’as animée; tu m’as changée en femme. „Je m’étais tournée vers l’église. On ne croit guère en Dieu tant qu’on n’en a pas besoin. Quand tout vous manque, on sait bien y croire. Mais maintenant, je ne veux plus.“ Ainsi parle Marie … il n’y a que les idolâtres et les faibles qui ont besoin de l’illusion comme d’un remède. Les autres n’ont besoin que de voir et de parler. Elle sourit, vague comme un ange, flottant dans la pureté du soir entre la lumière et la profondeur. Je suis si près d’elle qu’il me faut m’agenouiller pour être plus près. J’embrasse sa figure mouillée et sa tendre bouche, en tenant sa main entre mes deux mains jointes. Si, il y a une divinité, dont il ne faut jamais se détourner pour guider l’immense vie intérieure, et aussi la part qu’on a dans la vie de tous: la vérité. Septembre 1918. 131 Arts & Lettres Edition Paraf de 1978 [p. 312] - J’étais comme une statue à cause de l’oubli et du regret. Tu m’as animée; tu m’as changée en femme. „Je m’étais tournée vers l’église. On ne croit guère en Dieu tant qu’on n’en a pas besoin. Quand tout vous manque, on sait bien y croire. Mais maintenant, je ne veux plus.“ Ainsi parle Marie … il n’y a que les idolâtres et les faibles qui ont besoin de l’illusion comme d’un remède. Les autres n’ont besoin que de voir et de parler. Elle sourit, vague comme un ange flottant dans la pureté du soir entre la lumière et la profondeur. Je suis si près d’elle qu’il me faut m’agenouiller pour être plus près. J’embrasse sa figure mouillée et sa tendre bouche, en tenant sa main entre mes deux mains jointes. Septembre 1918. Edition de 1919, p. 244 : On aperçoit dans le commencement de l’humanité le commencement de son mal. La racine de l’abus, c’est l’héritage. Edition Paraf de 1978, p. 267: On aperçoit dans le commencement de l’humanité le commencement de son mal. Le symbole de l’abus, c’est l’héritage. Dans les éditions Paraf, il y en a une série d’autres „améliorations d’outre tombe“ à découvrir. Cette pratique de l’édition nous paraît monstrueuse. Et il faut crier au scandale. Le feu M. Barbusse s’est-il doublé d’un Monsieur Paraf pour faire d’outre tombe des améliorations dans ses textes? - je crois, pour les chercheurs sur Barbusse il est opportun d’ignorer les éditions Paraf et de s’en tenir à celles du vivant de l’auteur. 1 Horst F. Müller: Henri Barbusse 1873-1935. Bio-bibliographie. Die Werke von und über Barbusse mit besonderer Berücksichtigung der Rezeption in Deutschland. Weimar: VDG. Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, 2003, 499 S. ISBN 3-89739-323-9 2 Horst F. Müller: Studien und Miszellen zu Henri Barbusse und seiner Rezeption in Deutschland. Frankfurt/ Main: Peter Lang, Internationaler Verlag der Wissenschaften, 2010, 287 S. ISBN 978-3-631- 5987-0 132 In memoriam Reinhard Krüger „Mentir ou mourir“. Raymond Federman (1928-2009) Am 16. Juli 1942, nur zwei Tage nach den nur noch äußerst verhalten begangenen Feierlichkeiten zum Jahrestag der Französischen Revolution, veranstalteten die deutschen und französischen Faschisten in Frankreich und so auch in Paris die sogenannte Jour de La Grande Rafle oder Rafle du Vél d’Hiv, den Tag, an dem alleine in Paris und Umgebung 13.152 Juden - so der Bericht der Pariser Polizei - verhaftet und sofort in die Vernichtungslager deportiert wurden. Dies geschah auch in Montrouge, einem Vorort von Paris, in dem die Familie Federman, Marguerite die Mutter, Simon der Vater, Sarah und Jacqueline, die Töchter und Raymond Federman selbst lebten. Im Hause lärmten schon die Gehilfen der Gestapo, worauf Raymonds Mutter ihren Sohn in einem Wandschrank versteckte und ihm mit einem energischen „Chut! “ zu schweigen befahl. Während die Familie verhaftet, nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde, überlebte Raymond Federman, damals 14-jährig, kam zunächst bei Verwandten unter und, nachdem auch diese deportiert wurden, bei Bauern in Monflanquin im unbesetzten Südwestfrankreich, wo er sich als Landarbeiter- und Erntegehilfe verdingen konnte. - Dies tat übrigens zur gleichen Zeit auch der 22 Jahre ältere Résistance-Kämpfer Samuel Beckett, nachdem er im Jahre 1942 aus dem besetzten Paris fliehen mußte. - Kaum daß Frankreich befreit war, machte sich Raymond Federman, der während der Okkupationszeit an einem Kindertransport über Marseille nach Amerika wegen seines Alters nicht teilnehmen durfte und den nichts in Europa mehr hielt als der unendliche Schmerz des Verlusts seiner Familie, im Jahre 1947 auf den Weg in die USA, um ein neues Leben zu beginnen. Wie überlebt jemand, der so entwurzelt wurde in der riskanten US-amerikanischen Gesellschaft nach dem 2. Weltkrieg? Einer Gesellschaft, von der er selbst überzeugt ist, daß man es dort nicht lange aushalten kann. Von Gesinnung her Kommunist und damit die Phantasie von einer anderen Gesellschaft im Herzen, fühlte er immer mehr, daß letztlich nur ein Leben als Künstler und für die Kunst für ihn lebenswert sein könnte. Und man muß noch weiter gehen: Es wurde für ihn ein Überleben und ein Leben durch die Kunst. „Mentir ou mourir - to lie or to die“, das ist die emblematische Parole, unter der Raymond Federman sein Leben neu erringen konnte. Neu geboren in ein zweites Leben, nachdem ihn die Mutter im Wandschrank versteckt hatte, konnte dieses Leben nur noch gelebt werden, in dem es als Suche nach der verlorenen eigenen sozialen Identität geführt wurde, und dieser Identität näherte sich Raymond Federman auf zahlreichen erzählerischen Wegen in immer wieder neuen Varianten. Das Schweigen, das ihm die Mutter gebot, mußte gebrochen werden und konnte aber nur gebrochen werden, indem er nach 133 In memoriam den historischen Lebensumständen fragte, aus denen er als entwurzelter junger Mann hervorgegangen war. Zunächst hatte dies noch keine Sprache, sondern es war vor allem der Strom des Atems, den er in das Saxophon fließen ließ und aus dem er erste Artikulationen seines Daseins gewinnen konnte. Als leidenschaftlicher Verehrer von Charlie Parker, den er gegen Ende der 1940er Jahre einmal in einem Chicagoer Jazzclub bat, sein Saxophon benutzen zu dürfen, erkannte Raymond Federman hier eine Möglichkeit, die verlorene Sprache in Gestalt der gleichsam parasprachlich wirkenden Phrasen des Tenorsaxophons wiederzufinden oder sich ihr anzunähern. Die Erfahrung des Jazz und des Atemrespektive Stimmrhythmus des Saxophons ist eines der bemerkenswertesten Strukturierungsmerkmale der späteren Texte von Raymond Federman geworden. In beständigen Variationen und freien Improvisationen über ein einmal gefundenes Thema bewegen sich Atem, Stimme und Text auf kein Ziel hin, sondern bieten mögliche dynamische Zustände über ein vorgegebenes Thema zu Gehör und zur Lektüre dar. Ohne Perspektive verdingt sich Raymond Federman nach den ersten Jahren in den USA im Jahre 1951 als Fallschirmspringer in der US-Army, die gerade auf dem Weg ist, den Krieg in Korea zu führen. Über einen ersten Absprung und einen Flug nach Tokio kommt Raymond Federman jedoch nicht hinaus, denn er bleibt in Tokio aufgrund seiner Französischkenntnisse als Angehöriger einer Dolmetscherkompanie vom weiteren Kriegsgeschehen ausgenommen. Nach Ableistung des Dienstes erhält er nunmehr als US-amerikanischer Staatsbürger ein Stipendium, mit dem es ihm möglich ist, Literatur zu studieren. Beeindruckt von den Werken Allen Ginsburgs und William S. Burroughs fühlt er mit einigen anderen ebenso dem Schreiben zugeneigten Kollegen die Berufung, „the great American poet“ zu werden. Nach Abschluß seiner Literaturstudien promoviert er im Jahre 1963 in einer Zeit, in der schon Martin Esslins problematische These vom ‘absurden Theater’ Samuel Becketts kursierte, an der University of California/ Los Angeles mit einer sprachphilosophisch und poetologisch angelegten Dissertation über Samuel Becketts frühe Prosa (Journey to Chaos, 1965). Beckett, den er im Zuge dieser Arbeiten kennenlernt, blieb Zeit seines Lebens ein enger Freund. Raymond Federman wurde schließlich Professor an der State University of New York/ Buffalo und hielt von dort aus Kontakt zu allen wichtigen französischen Intellektuellen der 60er und 70er Jahre. So lud er Jacques Derrida, Michel Foucault, Roland Barthes, Alain Robbe-Grillet und viele andere zu Gastvorträgen nach Buffalo ein und kehrte selbst immer wieder nach Frankreich zurück, um dort, bspw. noch unter der Leitung von André Breton, im Jahre 1965 gemeinsam mit Roland Barthes und anderen das Problem der ‘écriture’ zu diskutieren. Im Jahre 1971 folgte dann nach einigen kleineren Gedichtbänden die Publikation eines ersten Romans, diesmal noch in englischer Sprache: Double or Nothing, bei der Little Swallow Press in Chicago publiziert, wurde als eines der herausragenden literarischen Ereignisse des Jahres 1971 gefeiert. Der Roman ist ein typographisch-experimenteller Text, eine concrete novel, wie Raymond Federman 134 In memoriam selbst diese Textsorte in Anlehnung an die Konkrete Poesie bezeichnete, in dem er als Schreibmaschinentext und in den Formen der daktylographischen Type den gesamten lebenswirklichen Metatext der Verfertigung eines Romans vorführt: 365 Tage hat er Zeit, in einem New Yorker Zimmer den Roman zu schreiben und beginnt den zu schreibenden Text damit, die Anzahl der Nudelpackungen, der erforderlichen Tomatensoße und der anderen Dinge, wie bspw. einer mit einem Pegasus-Motiv bedruckten Tapete, zu kalkulieren, derer er bedarf, um den Roman zu schreiben, den er schreiben will. Es handelt sich, so wird erkennbar, um die Geschichte eines jungen Mannes, der von seiner Mutter im Wandschrank versteckt die Verfolgung durch die Gestapo überlebt, in die USA auswandert, um dort ein neues Leben zu führen. Gigantisch sieht man auf den Romanseiten u.a. das Ideogramm eines typographisch gestalteten Schiffs in den Hafen New Yorks einfahren. Wie einer der frühen Amerikaentdecker gelangt der Protagonist somit in sein Eldorado, das jedoch nicht nur süß und golden, sondern auch voller Bitternis ist: „amer Amérique“, das „amer“ bereits im Namen des Kontinents Amerika enthalten, oder Amer Eldorado, bitteres Amerika und El Dorado zugleich also, so heißt eine französische Version von Double or Nothing, die im Jahre 1974 erscheint. Von der Presse als das literarische Ereignis des Literaturherbstes 1974 gefeiert, geht dieser ebenfalls typographisch experimentelle Roman mit seinem Verlagshaus, den Editions Stock, nach deren Verkauf an die Gruppe Hachette noch im Jahre 1974 unter und verschwindet bis auf wenige erhaltene Exemplare, die nicht eingestampft wurden, von der Bildoberfläche. Raymond Federman versuchte wenigstens als französischer Dichter wieder nach Frankreich zurückzukehren, ist damit aber zunächst gescheitert. Stattdessen wird er durch die zahlreichen deutschen Übersetzungen seiner zunächst auf Englisch geschriebenen Romane und Essaybände in Deutschland viel bekannter und ist ständig gesehener Gast in Buchhandlungen, auf Lesungen oder bei Rundfunkproduktionen des Bayerischen Rundfunks in München und anderen. Erst zu Beginn des neuen Jahrtausends wächst wieder das Interesse an diesem auch französischen Autor, dessen Werke mittlerweile ins Chinesische, Japanische, Türkische, Rumänische, Serbische, Spanische, Ungarisch und in viele andere Sprachen übersetzt sind. Der Versuch, seinen vergessenen französischen Erstling Amer Eldorado aus dem Vergessen hervorzuholen, mündet in einer re-écriture des Romans mit dem Ergebnis, daß Raymond Federman die erheblich erweiterte und veränderte Fassung Amer Eldorado 2/ 001 vorlegen kann. Der Roman erscheint zunächst in Deutschland auf Französisch, dann aber in Großauflage in Frankreich und führt zur Rückkehr Raymond Federman in seine Heimat als Dichter. Es handelt sich bei diesem Roman um eine andere Version seines Textes und seines Lebens, A Version of My Life - The Early Years (Chicago 1990), so wie er einen seiner Romane betitelte, und so wie er sich immer wieder mit dem Mittel der Stimme und der Sprache einer durch das „Chut! “ der Mutter ausgelöschten Erinnerung zu nähern trachtete. Insgesamt entstehen so mehr als 40 englische Bücher und mehr als 20 französische aus seiner Feder, die zahlreichen Übersetzungen nicht gerech- 135 In memoriam net. „Mentir ou mourir“, es ist ihm damit gelungen, das dichterische ‘Lügen’ wenn schon nicht als Heilmittel, so doch als Überlebensration gegen das Vergessen und den Tod zu betreiben. Jede seiner Lebensäußerungen, jede Frau, die er liebte, jedes Kind, das er zeugte, jedes Glas Champagner, das er trank, jeden Käse, den er zum Rotwein genoß, jedes Gespräch mit Freunden über neue Bücher, all dies waren immer wieder gerne und mit Leidenschaft ausgestreckte „Big Fingers“ gegen die Gestapo und ihre französischen Helfer, die ihm im Jahre 1942 nach dem Leben trachteten. Er liebte François Rabelais, der ihn lehrte, die Widrigkeiten des Lebens als Dummheiten gegen das Leben zu verlachen und damit zu vernichten. Gegen die letzte Widrigkeit seines Lebens, einen Nierenkrebs, den man im Jahre 2008 bei ihm entdeckte, nachdem er vor zwanzig Jahren schon einen anderen überstanden hatte, waren weder das Lachen noch das Schreiben von letzten Büchern (so ein Buch über Samuel Beckett: The Sam Book) ein geeignetes Heilmittel. Seine Tochter Simone las ihm in den letzten Stunden seines Lebens die von ihm bilingual geschriebene Geschichte The Voice in the Closet/ La voix dans le cabinet de débarras (1979), die Erzählung der von seiner Mutter verordneten Gefangenschaft, seinem Überleben und seiner Wiedergeburt im Wandschrank des von der Gestapo heimgesuchten elterlichen Hauses, vor. Er starb nach 67 Jahren dieses zweiten von seiner Mutter geschenkten, mit allen Sinnen genossenen Lebens am 6. Oktober 2009 ganz in der Nähe seines geliebten Golfplatzes in San Diego. „There will be no more books by Samuel Beckett“ schrieb Raymond Federman anläßlich des Todes seines Freundes vor zwanzig Jahren, und heute heißt es „Il n’y aura plus de livres de Raymond Federman.“ 136 In memoriam Werner von Koppenfels Baudelaire als Lebensretter: Nachruf auf Friedhelm Kemp (1914-2011) Dolmetscher in Kriegszeiten, Verlagslektor, Rundfunkredakteur, Kritiker, Essayist, Anthologist, Herausgeber, Übersetzer aus mehreren europäischen Sprachen, auch Dichter, wie man spät erfuhr, eines schmalen, eindringlichen Oeuvre, zuletzt noch Honorarprofessor für Komparatistik an der Münchner Universität - wie läßt sich soviel Spracharbeit in einem Menschenleben unterbringen, auch wenn seine geistige und physische Spannkraft wie bei Friedhelm Kemp bis ins wahrhaft hohe Alter vorhält? Ohne dem Phänomen zu nahe zu treten, darf man vermuten: Dazu gehört nicht nur eine gesegnete Konstitution, sondern vor allem leidenschaftliche Neugier, immense Belesenheit und ein ebensolches Wissen, zusammen mit dem unabweisbaren Bedürfnis nach Analyse, Ausdruck, Mitteilung, Vermittlung. Friedhelm Kemp wußte sich und was ihm literarisch am Herzen lag, meisterhaft und zugleich brüderlich mitzuteilen, ob in seinen denkbar vielfältigen Büchern oder in Radiosendungen, Feuilletonaufsätzen, Lesungen; nicht zuletzt als unermüdlicher, immer anregender Gesprächspartner in seinen Akademien, der Bayerischen und der Darmstädter, oder auch, druckreif beredt und umrahmt von einer wunderbaren Sammlung geliebter Bücher, in der gastlichen Münchner Wohnung, Eingang Paradiesstraße. Er lebte exemplarisch vor, was die Philologie heutzutage weitgehend vergessen hat, daß nämlich philologische Verantwortung keineswegs einem abstrakten Wissenschaftsideal gilt, sondern einer literarischen Öffentlichkeit, die die raison d ’ être der Literaturwissenschaft ist, und deren Exitus man möglicherweise voreilig diagnostiziert hat. Seit er bei Karl Voßler über „Baudelaire und das Christentum“ promovierte, war die französische Poesie - abgesehen von der Dichtung der Goethezeit - der Leitstern seiner literarischen Interessen. Die Dissertation erschien im Kriegsjahr 1939, unter einem Regime, das der aus liberalem Kölner Elternhaus Stammende herzhaft verabscheute. Frankreich hat er erst danach kennengelernt, „in einem Kostüm, das seinen Träger dort nicht gerade beliebt machte.“ Baudelaire habe ihm damals das Leben gerettet, pflegte er später metonymisch zu sagen; sein Dolmetschen nahm ihn aus der Schußlinie und übte den künftigen Übersetzer, und seine Witterung für Poesie führte ihn auf die Spur lebender französischer Dichter, darunter Saint-John Perse, dessen Hauptwerke er später übertrug. Als nach dem Krieg das ’Fenster nach Westen’ wieder geöffnet wurde, stand am Anfang seiner intensiven, breitgefächerten Übersetzertätigkeit wiederum Baudelaire mit den Journaux intimes, danach mit der Prosafassung der Fleurs du Mal, ein Neubeginn, der Jahrzehnte später zur achtbändigen, reich kommentierten 137 In memoriam deutschen Baudelaire-Ausgabe führen sollte. Kemps Mittlerinteresse galt freilich einer modernen französischen Literatur abseits der stärker modischen Importe von Existentialismus oder Nouveau Roman. Die Liste der Autoren, die er als Lektor des Kösel-Verlags in der Reihe Contemporains veröffentlichte und in viel Fällen selbst übertrug, spricht Bände: Yves Bonnefoy, Roger Caillois, Max Jacob, Philippe Jaccottet, Jean Paulhan, Pierre Reverdy und Louis-René des Forêts finden sich darunter. Besonders Bonnefoy und Jacottet, die seine Altersgefährten waren und seine Freunde wurden, ist er als Übersetzer über lange Jahre treu geblieben. Doch auch in der deutschen Literatur hat er sich als Entdecker bewährt, und in seinen sorgfältig redigierten Ausgaben nicht nur Unbekanntes aus dem Werk von Clemens Brentano, Else Lasker-Schüler und vielen anderen zugänglich gemacht, sondern so vernachlässigte Dichter wie Theodor Däubler, Rudolf Borchardt, Konrad Weiß und Peter Gan publiziert. Eine charakteristische Rolle kommt bei Kemps Mittlermission seinen Anthologien zu. Die mit H.E. Holthusen herausgegebene Gedichtsammlung Ergriffenes Dasein von 1953 war für viele jüngere Leser im Nachkriegsdeutschland die erste Begegnung mit der großen lyrischen Tradition ihres Jahrhunderts. Die Deutsche geistliche Dichtung (1958) bezeugt nicht zuletzt Kemps starkes und kundiges Interesse für die Barockzeit, das sich auch auf die Nachbarliteraturen erstreckte. Noch in der vierbändigen, eingehend kommentierten Anthologie Französische Dichtung von 1990, die er herausgegeben hat und die viele Neuübertragungen von seiner Hand enthält, ist die Renaissance und das, was die Franzosen gern schamhaft préclassicisme nennen, besonders nachhaltig vertreten - ein hierzulande fast unbekanntes poetisches Terrain. In zweisprachiger Lektüre kann der deutsche Leser dank der expressiven Kempschen Nachdichtung dort den hohen poetischen Reiz eines Maurice Scève oder Agrippa d’Aubigné entdecken, aber auch die Rätselsprüche des Nostradamus oder Goethe als Übersetzer der ‚Kannibalenlieder‘ Montaignes. Die zünftige Romanistik zeigte sich an solchen beherzten Brückenschlägen, die sich immerhin auf Vorgänger wie Voßler und Curtius berufen können, akademisch uninteressiert. Das Alter blieb für Friedhelm Kemp Erntezeit. Seine Münchner Vorlesungen über das europäische Sonett erschienen 2002 in einer zweibändigen Ausgabe, die den vielsprachigen Horizont dieses Philologen im etymologischen wie im weiteren Sinn des Wortes auf jeder Seite bezeugt. Auf sehr persönliche Weise tut dies auch seine Rede über die Poesie mit dem Celan-Titel „Gen Unverklungen“ von 2006. Er war immer ein Mann des Wortes, nie des Kulturgeredes, mit Preisen bedacht, aber nicht vom Betrieb zu vereinnahmen, ein begnadeter Bücher- und Menschensammler, mit unzeitgemäßen Standards, doch frei von wohlfeilem Kulturpessimismus. Seine Heiterkeit kam nicht von der Oberfläche. Am 3. März ist er, 96-jährig, im Kreis seiner Familie gestorben. We shall not look upon his like again. 138 Comptes rendus MIREILLE CALLE-GRUBER (ED.), LES TRIPTYQUES DE CLAUDE SIMON OU L’ART DU MONTAGE, PARIS, PRESSES SORBONNE NOUVELLE, 2008, 216 P. Dans ce livre, Mireille Calle-Gruber a rassemblé des documents pour la plupart de la main de Claude Simon, illustrant des aspects de son travail entre 1958 et 1995. A peu près la moitié du volume est consacrée à des textes concernant le roman Triptyque (1973) et le petit film qui en a été tiré en 1975, L’Impasse: plans de montage du roman, scénario et découpage technique du film, photographies du tournage, correspondance entre Simon et Peter Brugger, le producteur au Saarländischer Rundfunk qui avait pris l’initiative du film et de l’entretien dans lequel il s’insère. Une autre partie importante du livre comprend des lettres et des essais de Simon écrits entre 1957 et 1977, dont certains inédits en français. En prime viennent un plan de montage du Jardin des Plantes, datant de 1993, et un DVD réunissant l’interview réalisée par Brugger (y compris L’Impasse), en version française, et l’émission d’„Apostrophes“ avec Bernard Pivot où Simon est passé avec Pierre Boulez à la sortie de son roman Les Géorgiques en 1981. Le livre s’ouvre sur une excellente introduction de l’éditrice et se termine sur un hommage à Claude Simon de Pascal Quignard, aussi éclairant sur l’auteur de l’hommage que sur son sujet. Mireille Calle-Gruber appelle son recueil une „marquetterie“. En effet, l’ensemble aurait pu paraître disparate. Mais il est traversé par d’importantes lignes de force. D’abord la fascination qu’exerçait le cinéma sur Claude Simon. Dans un admirable texte inédit en français. „L’inattendu attendu“, Simon raconte l’impact sur lui du Chien Andalou et de L’Age d’or de Buñuel. Souvent, il empruntait des termes cinématographiques pour décrire sa façon de situer scènes et personnages - „angle de prise de vues, gros plan, plan moyen, plan panoramique, plan fixe, etc.“. La construction de ses romans exigeait de lui un art du montage qui est nulle part plus évident que dans Triptyque, roman où par des fondants enchaînés trois histoires glissent les unes dans les autres. De plus, Simon ambitionnait pendant très longtemps de recréer en film son roman de 1960, La Route des Flandres. De tout cela, ce livre porte, dans les mots mêmes de Claude Simon, un témoignage passionnant. Une seule fois l’écrivain, en collaboration avec Georg Bense et Peter Brugger, a réalisé un film, les douze minutes de L’Impasse. Dans Brugger, Simon a trouvé un interlocuteur sympathique et sensible. L’entretien dans lequel s’insère L’Impasse est exemplaire en ce que, sans prétention ni simplification, elle rend l’oeuvre de Simon pleinement accessible à un public non initié. A l’égard de L’Impasse, le jugement de Simon était mitigé. Le dossier de la genèse du film permet de suivre dans le détail l’engagement enthousiaste de l’écrivain, son souci du détail, et, enfin, sa déception. Peut-être faut-il attribuer le demiéchec du film à l’une des spécificités de l’art du cinéma: l’incontournable collaboration. Fidèle à lui-même, Simon était prêt (voir la préface au projet d’un film sur La Peste à Asdod de Poussin, 103) à abandonner l’œuvre qu’il voulait faire au profit de celle qui se faisait. Mais tandis que dans ses romans il était seul maître à bord, dans le cinéma il était à la merci de carences éventuelles dans les préparatifs, de défaillances techniques et de contraintes budgétaires. Les essais et les interviews de Simon situent l’évolution de sa réflexion sur le roman dans un contexte plus large. En 1957, il présente son propos comme „essentiellement réaliste“ (135). „Copier avec exactitude“ le monde oblige le romancier à „recréer complè- 139 Comptes rendus tement ce qu’il veut restituer“, dit-il en 1958. Puisque dans le souvenir le monde se présente à lui sous une forme fragmentaire et simultanée, le roman ne pourra plus être „simple succession ou addition linéaire d’épisodes, de descriptions ou d’analyses mais une combinaison, une juxtaposition ou un enchevêtrement de ceux-ci“ (142). Dès 1960, pourtant, Simon met l’accent sur l’influence prépondérante du matériau qu’il travaille. Par leurs résonances, les mots infléchissent tout projet, „le propos initial se transformant en cours de route“ (144). Ainsi, la pratique même de l’écriture amène Simon à rejeter le réalisme et toute théorie du roman qui conçoive le langage comme simple instrument. D’où, en partie, son désaccord avec Sartre en 1964 (147-152), et, plus radicalement, en 1977, son accord avec Ricardou sur la nécessité de finir avec le „mythe expression-représentation“ dont on ne pourra se débarrasser „tant que l’on continuera à croire qu’il y a diachronie dans l’acte d’écrire, c’est-à-dire d’abord un sens institué, puis ce même sens exprimé au moyen de l’écriture“ (165). En excluant largement des textes au-delà de 1977, le volume ne donne qu’une idée partielle de l’évolution de la pensée de Simon. On regrette l’absence d’une bibliographie et de toute mention des spécialistes qui ont déjà commenté L’Impasse, 1 œuvre qu’on n’avait à peine besoin de „retrouver“ (10). Mais on ne peut qu’exprimer sa reconnaissance à Mireille Calle-Gruber pour ce recueil dont la richesse des idées et la présentation très soignée vont grandement contribuer à la compréhension et au rayonnement de l’œuvre de Simon. Alastair B. Duncan (Stirling, UK) BRIGITTE SÄNDIG (ED.): „ICH REVOLTIERE, ALSO SIND WIR.“ - NACH DEM MAU- ERFALL: DISKUSSION UM ALBERT CAMUS’ „DER MENSCH IN DER REVOLTE“, MÜNSTER, VERLAG GRASWURZELREVOLUTION, 2009, 191 S. Auf den ersten Blick ist das Buch der Potsdamer Romanistin Brigitte Sändig, das 2009 im Verlag „Graswurzelrevolution“ erschienen ist, nur ein Beispiel aus der Flut von aktuellen Jubiläumspublikationen zum Wendejahr 1989/ 1990. Der auf dem Einband in rot hervorgehobene Satz „Ich revoltiere, also sind wir“ und das kleine Bild von Kerzen schwenkenden Menschenmassen auf der Berliner Mauer, rufen die passenden Assoziationen hervor: „Friedliche Revolution“, „Wir sind das Volk! “. Der Untertitel verrät, warum auf dem Buchdeckel auch die Nahaufnahme eines verschmitzt lächelnden Albert Camus zu sehen ist. Es handelt sich um die Dokumentation eines öffentlichen Kolloquiums von 1991 zu Albert Camus’ philosophisch-politischem Essay L’homme révolté. In Westdeutschland lag der Essay seit 1953 unter dem etwas ungenauen Titel „Der Mensch in der Revolte“ auf Deutsch vor, während er in der DDR bis zuletzt nicht offiziell zugänglich war. Die Tagung war im Juni 1991 von der Evangelischen Akademie Ost-Berlins (zu DDR-Zeiten als „Dissidenten-Akademie“ bekannt) gemeinsam 1 Voir, par exemple, Irene Albers, „Métaphores textuelles et filmiques: Triptyque et L’IMPASSE (DIE SACKGASSE)“, dans Transports: les métaphores de Claude Simon, Irene Albers et Wolfram Nitsch (dir.), Peter Lang, Frankfurt/ Main, 2006, 305-327, et Bérénice Bonhomme, „Triptyque“ de Claude Simon. Du livre au film. Une esthétique du passage, Schena Editore, Presses de l’Université de Paris-Sorbonne, 2005, 223 p. 140 Comptes rendus mit dem Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften und dem Französischen Kulturzentrum veranstaltet worden. Aus Platzgründen hatte sie - Ironie der Geschichte - ausgerechnet im Großen Saal des einstigen Gebäudes der SED-Kreisleitung Berlin-Weißensee stattgefunden: mehr als 100 Zuhörer waren gekommen. Dieses und andere aufschlussreiche Details zur einzigartigen Situation der Tagung bietet die Einleitung der Herausgeberin Brigitte Sändig, wie bereits ihr Beitrag „L’homme révolté in Wendezeiten - Eine Camus-Tagung 1991 in Berlin“ 2 aus dem Jahr 2000, in dem sie ebenfalls auf die besondere Rezeption Albert Camus’ im Osten eingeht. Während Camus (wie sein durch den Streit über L’homme révolté zum Kontrahenten gewordener Freund Jean-Paul Sartre) im westlichen Nachkriegsdeutschland der 50er und 60er Jahre zur modischen Pflichtlektüre der linken Jugend gehörte, war im Osten die „Entscheidung für Camus“ als „Entscheidung gegen die offizielle Kulturdoktrin“ (Sändig, 2000, 6) von weit größerer Tragweite. Die Tagung von 1991 führte als Motto ein Zitat von Albert Camus, das in Worte fasst, was die demonstrierenden Menschen in der DDR wenige Monate zuvor hautnah erlebt hatten: „Ich revoltiere, also sind wir.“. Die drei ostdeutschen Referenten vom Zentralinstitut für Literaturwissenschaft trafen dabei auf drei westdeutsche sowie einen belgischen Kollegen. Sie alle boten ihre verschiedenen Lesarten des 40 Jahre alten Textes einem überwiegend aus dem Ostteil der Stadt kommenden „besonders erwartungsgeladenen Publikum“ (11) dar. Die Zuhörer hofften vor allem darauf, den „Camus-Text auf gegenwärtige Probleme bezogen“ (11) zu sehen. Leider ist die „engagierte und kundige Diskussion“ (11), von der die Herausgeberin Sändig, die damals Organisatorin und selbst Referentin war, zu berichten weiß, nicht aufgezeichnet worden. Eine solche deutsch-deutsche intellektuelle Auseinandersetzung um Camus vor dem Hintergrund der „noch fast gegenwärtigen, lebendigen Erfahrung“ der Demonstrationen von 1989 und des Falls der Mauer wäre heute, 20 Jahre danach, eine spannende Lektüre. Die Tagungsbeiträge von damals beleuchten ausgehend von einer fundierten Einführung in den Camus-Text durch die Bonner Romanistin Martina Yadel, selbst Spezialistin für Jean Grenier (Freund und ehemaliger Philosophielehrer Camus’), ganz unterschiedliche Aspekte und Interpretationsmöglichkeiten, um deretwillen die späte Publikation des Tagungsbandes 3 mehr als gerechtfertigt ist. Die Slawistin Christa Ebert charakterisiert in ihrem Beitrag Camus’ Auseinandersetzung mit Terrorismus nach dem 2. Weltkrieg als „Auflehnung gegen die Ungerechtigkeit in der Geschichte, die sich schließlich zu einer Gegenüberstellung von Mensch und Geschichte steigert“ (47). Anregung und Material dazu fand Camus auch in der russischen Geschichte und Literatur, vor allem bei dem „Prototypen des modernen „Homme révolté“ (48), bei Dostojewskis Gestalt des Iwan Karamasow. Der Romanist Wolfgang Klein liest den Essay L’Homme révolté als „Kommentar zu den Grundstrukturen der modernen Gesellschaft“ (64). Dabei stellt er in seinem Beitrag „Zynische Revolutionäre? Camus über Hegel, Marx und Lenin“ eine erstaunliche Nähe der Genannten fest, obwohl Camus bei allen dreien die „Versuche, Universalität in geschichtlichen Bindungen zu erringen, als unmenschlich“ verworfen habe: „Prinzipiell fühlte sich Camus im Anspruch auf Menschlichkeit für jeden mit Hegel, Marx und Lenin verbunden“ (65). Klein arbeitet heraus, dass Camus in seinen kritischen bis ablehnenden Betrachtungen und Urteilen „nicht das Ganze der jeweiligen Leistungen“ (75) zu erfassen vermag. Der Brüsseler Philosoph Maurice 2 Brigitte Sändig (ed.): Camus im Osten. Zeugnisse der Wirkung Camus’ zu Zeiten der Teilung Europas. Potsdam, 2000. 3 Damals erschien nur eine hektographierte Ausgabe von der Evangelischen Akademie Berlin. 141 Comptes rendus Weyembergh zeichnet in seinem Beitrag die Entwicklung von Camus’ vielfältiger Auseinandersetzung mit der Philosophie Friedrich Nietzsches nach. Deutlich wird, dass „gerade im Augenblick, wo er Nietzsche gegenüber kritisch wird, […] die Faszination und die Verehrung [fortbesteht]“ (104). Weyembergh nennt Camus einen „linken Nietzscheaner“ (107) und kommt bei seiner Lektüre von L’Homme révolté zu dem Urteil, dass es sich dabei um „ein sehr großes Buch“ handele, das „mit einer Rechtschaffenheit, die der Nietzsches vergleichbar“ sei, „mit den Mythen […] unseres Jahrhunderts“ (99) abrechne. In ihrem Beitrag „Was kann Kunst? “ vergleicht die Romanistin Sändig das Literaturverständnis der beiden zentralen Vertreter des französischen Existenzialismus Camus und Sartre. Sie macht einfühlsam deutlich, dass „Camus’ Bewusstsein von der Tragik des 20. Jahrhunderts spontaner, tiefer“ gewesen sei und „ihn daher auch schutzloser gegenüber den Zweifeln an der Existenzberechtigung der Kunst und des Künstlers“ (115) gemacht habe. Der Flensburger Studiendirektor Horst Wernicke prüft in seinem Beitrag mit dem bewusst provozierenden Titel „Camus - Sozialist“ die Aktualität des politischen Engagements Camus’, das als „Variante eines demokratischen, anarcho-syndikalischen Sozialismus“ „in Deutschland, in Europa, weder richtig erkannt noch gar angenommen“ (128) worden sei. Abschließend setzt sich der Bonner Philosoph Heinz Robert Schlette unter der Überschrift „Camus und „die Griechen““ mit dem Schlusskapitel von L’Homme révolté und der darin entfalteten „geistigen, kulturellen und politischen Vision“ (151) auseinander. Darüber hinaus sucht auch der Leser von heute gerade nach jenen aktuellen Bezügen, auf die die damaligen Tagungsteilnehmer gespannt gewartet und auf die sie in der Diskussion angesichts ihrer „Erfahrungen vom Zusammenbruch des sozialistischen Systems und ihrer seither gewonnenen Wende- und Nach-Wende-Einsichten“ (9) heftig reagiert haben müssen. So wie Camus selbst mit seinem Essay den Versuch unternimmt, seine Zeit verstehen zu wollen, 4 haben die damaligen Referenten der Tagung die Umbrüche ihrer Zeit genau im Blick und reflektieren mit ihren Beiträgen auch Camus’ Frage nach der Verantwortung der Intellektuellen. Christa Ebert konstatiert, Camus habe Fragen gestellt, „die ins Zentrum unserer heutigen Existenz zielen“: „Mit dem Ende des Totalitarismus ist die Eskalation der Gewalt nicht beendet. […] Revolte in unseren Tagen - sollte sie sich nicht darauf richten, darüber nachzudenken, wie der Teufelskreis zu durchbrechen wäre? “ (61) Wolfgang Klein nimmt seine Auseinandersetzung mit Camus auch zum Anlass, um „die jetzt gescheiterte Sozialismusart“ als „unmodern“ zu disqualifizieren: „[Sie] scheiterte nicht an einer verfehlten Wirtschaftspolitik an sich und einer politischen Unterdrückungspraxis an sich. Sondern daran, dass diese Sozialisten sich dem Weg der Vermittlung verweigerten und meinten, ihren naiven Traum von der Einheit anders Wirklichkeit werden lassen zu müssen - durch Zwang.“ (87-88) Horst Wernicke unterstreicht die Tragweite von Camus’ Ideen: „Wo bisher der Sozialismus als Verheißung lockte, stellt Camus die Strapazen einer dauernden Aufgabe ins Licht: Camus liefert nach 1945 schon entscheidende Überlegungen für eine in den siebziger Jahren und heute ganz aktuell gewordene, dringend notwendige neue Ethik, die die „Grenzen des Wachstums“, um es mit einem Schlagwort zu sagen, erkennt und die nicht mehr christlich oder politisch oder irgendwie weltanschaulich gebunden ist, sondern alle bisherigen Ethiken kritisch revidiert und erneuert und die etwa im Sinne einer „skeptischen Ethik“ und „alternativer“ Neuentwürfe in der Gegenwart […] verstanden werden kann […].“ (143) 4 „Le propos de cet essai est une fois de plus d’accepter la réalité du moment, qui est le crime logique, et d’en examiner précisément les justifications: ceci est un effort pour comprendre mon temps.“ (Camus, 1951, Introduction, 13-14.) 142 Comptes rendus Die Tagungsbeiträge regen in jedem Fall dazu an, Camus’ Text wieder neu zu lesen und unsere eigene krisenhafte Zeit kritisch zu analysieren. Sandra Schmidt (Osnabrück) GISLINDE SEYBERT: „DU BRING MIR DAS LEUCHTEN ZUM ROT“ - DEUTSCHE UND FRANZÖSISCHE SPIEL- UND SPRACHRÄUME IN POESIE UND PROSA, BONN, LITE- RATUR ATELIER FRAUENMUSEUM, 2009, 121 S. Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Gislinde Seybert eröffnet ihr Buch mit einem Gedicht, in dem sie darum bittet, ihr das Rot zum Leuchten zu bringen, um ihre von Farben begleiteten und geleiteten Lebenswege in das Gestern und Heute vor uns auszubreiten. So entsteht ein Textband, der zwischen dem Leser und der Autorin ein emotionales und dynamisches Spiel von Nähe und Distanz, aber auch von Kontrolle und Kontrollverlust aufbaut. An die in deutscher und französischer Sprache evozierenden und dann wieder sehr analytischen Gedichte schließen sich zwei zentrale Texte an, die das „Herzstück“ dieses Buches ausmachen. Der eine ist ein sehr emotionaler Brief an die Mutter, in der die Autorin mit dieser spricht und darin noch einmal ihre Kindheit nachzeichnet, um für sich herauszufinden, wovon diese eigentlich geprägt war. Daran schließt sich der Text über den Vater an, einem Mann, der nicht in der Lage war, mit seinen drei Töchtern und seiner Frau zu kommunizieren und ihnen eine Lebensperspektive zu eröffnen, weil er nach dem Krieg selbst keine für sich sah. Von daher ist dieses Buch nicht nur ein sprachlich und literarisch interessantes Buch, sondern auch ein historisches Zeitdokument, das das Gestern und Heute miteinander verbindet und eine persönliche Lebensanalyse ausbreitet, die von vielen nachempfunden werden kann, weil es ihnen ähnlich ergangen ist. Besonders eindrucksvoll ist an diesem Buch, dass es nicht nur von der Vergangenheit spricht, sondern immer wieder in das Jetzt gleitet und die Autorin uns an ihren Gefühlen und Eindrücken zu der Landschaft, in der sie ihre Gedanken aufschreibt und zu den Menschen, mit denen sie sich heute verbunden fühlt, teilhaben lässt. Ihre in diesem Buch geäußerten Prosatexte und Gedichte sind zu ihrer DNA geworden - das heißt zu dem, was ihre Eigenschaften, ihren Charakter und ihr Handeln bestimmt hat und sie die hat werden lassen, die sie heute ist. Ein Buch, das Beachtung verdient und einem breiteren Publikum zugeführt werden sollte, zumal gerade die Menschen der Nachkriegsgeneration und der Folgegeneration in den Focus genommen werden. Monika Antes (Hannover) 143 Comptes rendus PAUL VEYNE: FOUCAULT. DER PHILOSOPH ALS SAMURAI, AUS DEM FRANZÖSI- SCHEN ÜBERSETZT VON URSULA BLANK-SANGMEISTER, STUTTGART, RECLAM VERLAG, 2009, 218 S. Mit der Feder wie mit dem Säbel 25 Jahre nach Michel Foucaults Tod erinnert sich Paul Veyne an den Freund „Weil er es ist, weil ich es bin“ - so lautete Montaignes Antwort auf die Frage, warum er mit Etienne de la Boétie befreundet sei, und dies bedeute, so suggeriert der Autor der Essais, auch die Quintessenz dessen, was wir letztlich überhaupt über die Freundschaft sagen können: Statt spitzfindiger Begründung oder rationaler Analyse zähle letztlich das, was ist, was wir wahrnehmen und empfinden, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Der Historiker Paul Veyne errichtet seinem vor 25 Jahren verstorbenen Freund Michel Foucault mit seinem jüngst erschienen Buch ein Denkmal der Freundschaft ganz im Zeichen Montaignes, nicht nur, indem er einen Bogen schlägt von Foucaults ersten philosophischen Gehversuchen bis hin zum Leben und Sterben des von vielen fast wie ein Pop-Star verehrten Meisterdenkers, sondern auch, indem er den oftmals als Strukturalisten oder Anti-Humanisten verkannten Philosophen als Skeptiker zeigt, der die Diskurse erforschte, lange bevor dieses Wort zum Mode- und Allerweltsbegriff wurde. Der Diskurs sei wie die Scheiben eines Aquariums, aus dessen Innern die Menschen - wie die Goldfische - die Welt betrachten, ohne sich ihrer Beschränkung im Goldfischglas bewusst zu sein. Das Goldfischglas als Metapher des Diskurses, dieses Schlüsselbegriffs im Foucault’schen Denken, taucht in Veynes Buch in allen Variationen auf, um dem Leser die Radikalität eines Denkens zu verdeutlichen, das keine transzendentalen, rationalen oder universalen Kriterien gelten lasse und so den Menschen ihre selbstgemachten Illusionen wegreiße. Ja, mit Gewalt habe er sie ihnen genommen, denn Foucault sei kein Philosoph gewesen, betont Veyne, sondern ein „Krieger“ („ein Samurai, der die Feder wie einen Säbel führte“), dessen Skepsis gegenüber jeglichen positiven Aussagen philosophischer, religiöser oder politischer Art ihn nicht gehindert habe, aktiv und mit radikalen Positionen in das politische Geschehen einzugreifen. Der Skeptiker sei eben „ein Doppelwesen. Solange er denkt, steht er außerhalb des Glases und betrachtet die Fische, die dort ihre Kreise ziehen. Aber da er sehr wohl auch leben muss, schwimmt er, selbst Fisch, wieder im Glas, um zu entscheiden, welchem Kandidaten er bei den nächsten Wahlen seine Stimme geben soll“. Aus der gewagten Überbrückung eben dieses Gegensatzes zwischen Betrachten und Handeln bestehe, so Paul Veyne, die von Foucault entwickelte „Ästhetik der Existenz“, mittels derer er an die durch die Gehorsams-Ideologie des Christentums verschüttete persönliche Ethik der antiken Stoiker habe anknüpfen wollen. Abgesehen davon, dass die Zerrissenheit zwischen vita contemplativa und vita activa spätestens seit Emile Zolas J’accuse die Existenz des Intellektuellen prägen, wird Veynes Parforce-Ritt durch die Geschichte des Abendlandes auf dem Rücken des Foucault’schen Denkens eben diesem jedoch nicht gerecht. Die Analyse der verschiedenen Diskurse, in denen der Mensch sich aufhält, ohne zu wissen, dass sich jenseits ihrer Grenzen ganz andere Möglichkeiten des Denkens verbergen, wurde von Foucault keinesfalls so hochfahrend betrieben, wie es die rühmende Hommage Paul Veynes suggeriert. In Wirklichkeit fand sich Foucault nicht mit der nüchternen Feststellung ab, dass sich das Denken im Innern eines Diskurses abspiele, der sich selbst nicht erkennen könne; ist es nicht vielmehr der delphische Imperativ der Selbsterkenntnis, der sich, wenngleich ex negativo, wie ein roter Faden durch seine Bücher zieht? Und ist es nicht die Frage aus seinem wohl bekanntesten Buch Les mots et les choses (dt.: Die Ordnung der Dinge), nämlich „warum das ‘Ich denke’ nicht zur Evi- 144 Comptes rendus denz des ‘Ich bin’ führt“, welche der Motor seines Philosophierens im Sinne eines Auslotens der Grenzen des eigenen Sprechens war? Paul Veynes Buch über den Freund zeigt, ganz im Sinne seines französischen Titels (Foucault. Sa pensée, sa personne), den Denker und den Menschen Foucault, und darin liegt zweifellos sein Verdienst; Anekdotisches mischt sich mit grundsätzlichen Überlegungen, so zum Beispiel beim Blick auf Foucaults Interesse an der iranischen Revolution Ende der siebziger Jahre; hier wird die diesem Denker eigentümliche Mischung aus Enthusiasmus und Skepsis deutlich, wenn er sich nämlich von Khomeini eine „politische Spiritualität“ erhofft und gleichzeitig, im privaten Gespräch äußert: „Ihn an die Macht kommen zu lassen wäre eine riesengroße Dummheit“. Und für den Foucault-Kenner interessant wird Veynes Buch, wenn er, wohl unfreiwillig, einzelne Wurzeln des Foucault’schen Denkens freilegt, so zum Beispiel mit dem Rekurs auf Gustave Flauberts Education sentimentale, wo nach einem Wort Marcel Prousts „die Dinge genausoviel Leben haben wie die Menschen“ und in der Flaubert geradezu besessen das Prinzip der Objektivität zelebriert, das der Persönlichkeit nichts, den Umständen (dem Diskurs) jedoch alles zutraut. Ebenso hätte Veyne Montaignes Skepsis angesichts der Vorstellung von Vollkommenheit oder die ironisch-erstaunte Frage „Wie um alles in der Welt kann man denn Perser und nicht Franzose sein? “ aus Montesquieus Persischen Briefen als Wurzeln der Foucault’schen Diskurs-Kritik nennen können Aber von den Wurzeln eines Denkens, eines Diskurses zu sprechen ist für Paul Veyne schlichtweg „Nonsens: In der Geschichte gibt es keine Präformationen“, stellt er apodiktisch fest und bleibt doch die Antwort schuldig, wie denn der Übergang von einem Diskurs zum anderen zu erklären ist. Jeder stehe unvermittelt neben den anderen im Raum und in der Zeit, unterstreicht der Autor unter Berufung auf Michel Foucault, aber je heftiger er diesen gegen den Vorwurf des Relativismus, ja des „Spenglerismus“ in Schutz nehmen zu müssen glaubt, desto drängender wird die Frage, ob eine Epoche über eine andere, ja ob eine Kultur über eine andere tatsächlich nichts anderes sagen könne, als dass es sie gegeben habe bzw. gebe. Natürlich ist der eurozentristische Hochmut eine Art Sündenfall des westlichen Denkens, und natürlich hat er recht, Michel Foucault als sarkastischen Kritiker dieser Selbstgerechtigkeit zu charakterisieren, aber wenn Paul Veyne, um „ein endgültiges Urteil über die Conditio humana“ zu sprechen, das Denken des Freundes mit den Worten „alles ist relativ, aber die Aussage, dass alles relativ ist, ist selbst nicht relativ“ zu beschreiben sucht, dann kommt dessen Würdigung über das paradoxe Wahrheitsverständnis des Kreters nicht hinaus, der behauptet, dass alle Kreter lügen. Damit erweist er der skeptischen Lebenseinstellung Foucaults letztlich einen schlechten Dienst, denn für diesen war die Kritik der Universalien immer zugleich auch Selbstkritik: „Der Diskurs ist nicht das Leben“, schreibt Foucault am Ende seiner Archäologie des Wissens; und weiter: „es kann durchaus sein, dass Ihr Gott unter dem Gewicht all dessen, was Ihr gesagt habt, getötet habt. Denkt aber nicht, daß Ihr aus all dem, was Ihr sagt, einen Menschen macht, der länger lebt als er.“ Indem Paul Veyne den Nachgeborenen das Leben und Denken des verstorbenen Vertrauten nahezubringen sucht, leistet er diesem den größtmöglichen Freundschaftsdienst. Dass dabei die Erinnerung an die gemeinsamen Jahre über die kühle Analyse der Gedanken Michel Foucaults überwiegt, ist mehr als verständlich; schrieb nicht Montaigne über die Freundschaft: „Hier ist die Wirklichkeit tiefer als selbst der philosophische Gedanke“? Clemens Klünemann (Ludwigsburg)