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lendemains
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/31
2013
38149
lendemains 149 Storytelling 38. Jahrgang 2013 149 055413 Lendemains 149 12.06.13 20: 12 Seite 1 lleennddeemmaaiinnss Etudes comparées sur la France / Vergleichende Frankreichforschung Ökonomie ! Politik ! Geschichte ! Kultur ! Literatur ! Medien ! Sprache 1975 gegründet von Evelyne Sinnassamy und Michael Nerlich Von 2000 bis 2012 fortgeführt von Wolfgang Asholt und Hans Manfred Bock Herausgegeben von / édité par Andreas Gelz und / et Christian Papilloud. Wissenschaftlicher Beirat / comité scientifique: Wolfgang Asholt ! Hans Manfred Bock ! Corine Defrance ! Gunter Gebauer ! Roland Höhne ! Alain Montandon ! Beate Ochsner ! Joachim Umlauf ! Harald Weinrich ! Friedrich Wolfzettel L’esperance de l’endemain Ce sont mes festes. Rutebeuf Redaktion/ Rédaction: Frank Reiser, Cécile Rol Umschlaggestaltung/ Maquette couverture: Redaktion/ Rédaction Titelbild: Charlotte Krauss www.lendemains.eu LENDEMAINS erscheint vierteljährlich mit je 2 Einzelheften und 1 Doppelheft und ist direkt vom Verlag und durch jede Buchhandlung zu beziehen. Das Einzelheft kostet 21,00 ! / SFr 30,50, das Doppelheft 42,00 ! / SFr 56,90; der Abonnementspreis (vier Heftnummern) beträgt für Privatpersonen 54,00 ! / SFr 71,90 (für Schüler und Studenten sowie Arbeitslose 48,00 ! / SFr 63,90 - bitte Kopie des entsprechenden Ausweises beifügen) und für Institutionen 68,00 ! / SFr 91,00 pro Jahr zuzüglich Porto- und Versandkosten. Der Abonnementpreis für vier Hefte plus Online-Zugriff beträgt 85,00 ! / SFr 113,00. Abonnementsrechnungen sind innerhalb von vier Wochen nach ihrer Ausstellung zu begleichen. Das Abonnement verlängert sich jeweils um ein weiteres Jahr, wenn nicht bis zum 30. September des laufenden Jahres eine Kündigung zum Jahresende beim Verlag eingegangen ist. Änderungen der Anschrift sind dem Verlag unverzüglich mitzuteilen. Anschrift Verlag/ Vertrieb: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen, Fon: 07071/ 9797-0, Fax: 07071/ 979711, info@narr.de. Lendemains, revue trimestrielle (prix du numéro 21,00 ! , du numéro double 42,00 ! ; abonnement annuel normal - quatre numéros - 54,00 ! + frais d’envoi; étudiants et chômeurs - s.v.p. ajouter copie des pièces justificatives - 48,00 ! ; abonnement d’une institution 68,00 ! ; abonnement annuel de quatre numéros plus accès en ligne 85,00 ! ) peut être commandée / abonnée à Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, Dischingerweg 5, D-72070 Tübingen, tél.: 07071/ 9797-0, fax: 07071/ 979711, info@narr.de. Die in LENDEMAINS veröffentlichten Beiträge geben die Meinung der Autoren wieder und nicht notwendigerweise die der Herausgeber und der Redaktion. / Les articles publiés dans LENDEMAINS ne reflètent pas obligatoirement l’opinion des éditeurs ou de la rédaction. Redaktionelle Post und Manuskripte für den Bereich der Literatur- und Kulturwissenschaft/ Courrier destiné à la rédaction ainsi que manuscrits pour le ressort lettres et culture: Prof. Dr. Andreas Gelz, Albert- Ludwigs-Universität Freiburg, Romanisches Seminar, Platz der Universität 3, D-79085 Freiburg, e-mail: andreas.gelz@romanistik.uni-freiburg.de, Tel.: +49 203 3188. Redaktionelle Post und Manuskripte für den Bereich Sozialwissenschaften, Politik und Geschichte / Courrier destiné à la rédaction ainsi que manuscrits pour le ressort sciences sociales, politique et histoire: Prof. Dr. Christian Papilloud, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Institut für Soziologie, Adam-Kuckhoff-Straße 39-41, D-06099 Halle (Saale), e-mail: christian.papilloud@soziologie.unihalle.de, Tel. +49 345 55 24250. © 2013 ! Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. ISSN 0170-3803 Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG www.narr.de JETZT BES TELLEN! Thomas Amos / Christian Grünnagel (Hrsg.) Bruxelles surréaliste Positionen und Perspektiven amimetischer Literatur ISBN 978-3-8233-6729-1 055413 Lendemains 149 12.06.13 20: 12 Seite 2 Sommaire Editorial ...................................................................................................................3 Dossier Charlotte Krauss et Urs Urban (ed.) Storytelling Charlotte Krauss, Urs Urban: Storytelling. Zu Kritik und Kulturtheorie des Erzählens ..............................................................6 Françoise Lavocat: Du récit au „storytelling“: enjeux pour la fiction .....................14 Martina Stemberger: „L’autofiction [ ] un geste politique“? Poetik und Politik der Autofiktion im Zeitalter des Storytelling ..............................29 Dieter Thomä: Autorschaft zwischen Spontaneität und Liminalität. Anmerkungen zu Sartre und Foucault ..................................................................46 Mieke Bal: Raconter en images: Flaubert aujourd’hui ..........................................64 Yves Citton: „Pourquoi la narration? “ Entretien avec Charlotte Krauss et Urs Urban......................................................79 Zum Gedenken an Rita Schober Wolfgang Asholt: Einleitung ..................................................................................96 Horst Heintze: Erinnerungen an Rita Schober......................................................97 Friedrich Wolfzettel: Erinnerung und Nachruf: Prof. Dr. Dr. h.c. Rita Schober ............................................................................107 Rita Schober: Zwei Moskau-Besuche.................................................................112 In memoriam Roland Höhne: Gilbert Ziebura als Schrittmacher sozialwissenschaftlicher Frankreichforschung....................................................125 Sommaire Comptes rendus Aurélie Barjonet: Zola d’ouest en est. Le naturalisme en France et dans les deux Allemagnes (Karin Peters).......................................................135 Stephan Leopold, Dietrich Scholler (ed.): Von der Dekadenz zu den neuen Lebensdiskursen. Französische Literatur und Kultur zwischen Sedan und Vichy (Aurélie Barjonet)....................................................................138 Horst F. Müller: Studien und Miszellen zu Henri Barbusse und seiner Rezeption in Deutschland (Wolfgang Klein) .......................................................142 3 Editorial Diese Nummer von lendemains markiert einen Wechsel in der Herausgeberschaft der Zeitschrift. Nachdem Wolfgang Asholt und Hans Manfred Bock die Geschicke von lendemains seit dem Jahr 2000 bestimmt haben, übergeben sie nun die Verantwortung an Andreas Gelz (Albert- Ludwigs-Universität Freiburg) und Christian Papilloud (Martin-Luther-Universität Halle). Unser ganz herzlicher Dank gilt den beiden Kollegen, die mit großem Einsatz und Weitsicht die Zeitschrift in den vergangenen Jahren zu einer über die Grenzen des franco-allemand sowie der romanistischen Fachöffentlichkeit hinaus beachteten Zeitschrift ausgebaut haben. Beide werden der Zeitschrift als Mitglieder des Beirats auch weiterhin verbunden bleiben. Unser herzlicher Dank gilt auch Nathalie Crombée (Osnabrück), die in dieser Zeit die Zeitschrift redaktionell betreut hat. Der Erfolg von lendemains ist ihren Nachfolgern Verpflichtung und Ansporn, das Zeitschriftenprojekt im Sinne der bisherigen Herausgeber fortzuführen, die sozialen, historischen und kulturellen Entwicklungen in Frankreich und Deutschland zu verfolgen, zu reflektieren und dabei neben der binationalen auch der transnationalen Verflechtung beider Länder Rechnung zu tragen. Dieses wissenschaftliche Ziel entspricht zugleich einem intellektuellen und kulturpolitischen Engagement zugunsten eines Dialogs zwischen beiden Ländern, der unserer Meinung nach auch in den und durch die Wissenschaften zu führen und, wiewohl mitunter schwierig, gerade in Zeiten einer tiefgehenden Krise der europäischen Idee unerlässlich ist. Ein anderer, offizieller Versuch, der Krise zu begegnen, war in Bezug auf Ce numéro de lendemains marque une transition au sein de la rédaction de la revue. Après l’avoir dirigée durant 13 ans, Wolfgang Asholt et Hans Manfred Bock ont décidé de passer le relais à Andreas Gelz (Université de Freiburg) et Christian Papilloud (Université de Halle-Wittenberg) qui doivent en continuer le projet dans l’esprit du regard croisé sur les développements sociaux, historiques et culturels en France et en Allemagne. Nous remercions chaleureusement nos deux collègues pour avoir donné à lendemains une position incontournable au cœur des échanges francoallemands. Nous remercions également très sincèrement Nathalie Crombée (Osnabrück) qui a officié à la rédaction de la revue durant tout ce temps. Par leur engagement qui se poursuivra au sein de lendemains, où ils figureront au conseil scientifique, Wolfgang Asholt et Hans Manfred Bock ont stimulé la réflexion sur l’axe franco-allemand et l’intérêt pour les champs de recherche et d’expressions culturelles qu’il recouvre. Leur profession de foi n’a probablement jamais été aussi importante à rappeler qu’aujourd’hui, où l’Europe vit une crise profonde et vraisemblablement durable. Dans ce contexte chargé où les inégalités et le mécontentement s’accentuent, lendemains tient une position ambitieuse, aussi évidente que difficile dont elle a fait son originalité dès le départ. Les nouveaux éditeurs de lendemains Andreas Gelz et Christian Papilloud ont à charge de soutenir cette ambition et de consolider la position de la revue sur cet axe essentiel de la modernité 4 Deutschland und Frankreich aus Anlass der jüngsten Feiern zum Jubiläum des Elysée-Vertrags zu beobachten: die bei Gedenkveranstaltungen freilich immer zentrale Nacherzählung geschichtlicher Ereignisse sowie die (Re-)Konstruktion ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Dies zeigt, wie sehr wir uns in unserem Leben, und nicht nur im Rahmen unseres Umgangs mit Literatur, Theater oder Film, an Erzählungen und Geschichten orientieren. Mit diesem Phänomen beschäftigt sich das Dossier dieser Ausgabe von lendemains zum Thema Storytelling in mehreren Aufsätzen von Françoise Lavocat, Martina Stemberger, Dieter Thomä und Mieke Bal sowie einem Interview mit Yves Citton. Die Leitfrage dieses Gesprächs, „Pourquoi la narration? “, gilt für das gesamte Dossier, das sich unter literaturwissenschaftlicher, philosophischer und medienwissenschaftlicher Perspektive nicht nur mit dem Phänomen von „Poetik und Politik“ der Autofiktion zwischen Faktualität und Fiktionalität beschäftigt, sondern auch mit dem sowohl emanzipatorischen als auch konformistischen oder gar manipulativen Erzählen in der Politik, in den und zwischen den Medien. Verantwortet wird das Dossier von Charlotte Krauss und Urs Urban von der Universität Strasbourg. Ein zweiter Schwerpunkt dieser Ausgabe von lendemains ist der im vergangenen Jahr verstorbenen Romanistin Rita Schober (1918-2012) gewidmet, fraglos eine der bekanntesten Persönlichkeiten der Romanistik in der DDR, deren Forschungen zu Émile Zola und dem Naturalismus internationale Beachtung gefunden haben. Horst Heintze und Friedrich Wolfzettel beleuchten in einem intellectuelle européenne dont lendemains narre le projet par la parole de ses auteurs qui en disent la tradition, le présent et les perspectives à venir. Cet esprit de renouveau se retrouve directement au cœur du dossier publié dans ce numéro sur le storytelling rassemblant les contributions de Françoise Lavocat, Martina Stemberger, Dieter Thomä et Mieke Bal. Si l’art de raconter des histoires, de conter, n’est pas fondamentalement nouveau, il pose des questions subtiles sur les rapports que le storytelling introduit entre le fait et la fiction, entre la personnalité ou la vie de l’auteur et son récit, entre la littérature et la société. Qu’est-ce que narrer? Comment raconte-t-on aujourd’hui et dans quel but? Le storytelling n’est-il qu’un outil de la littérature? Devient-il au contraire un moyen de faire comprendre le discours de la modernité contemporaine également en dehors du domaine littéraire - dans les médias ou en politique par exemple? Est-ce au contraire une forme destinée à formater les esprits et à endormir la critique? Ces questions abordées tout au long du dossier sont reprises dans l’entretien avec Yves Citton mené par Charlotte Krauss et Urs Urban. lendemains consacre également une partie de ce cahier à notre regrettée collègue Rita Schober (1918- 2012), romaniste de renom de l’ex-Allemagne de l’Est internationalement reconnue pour ses études d’Émile Zola et du naturalisme. Horst Heintze et Friedrich Wolfzettel apportent un éclairage original sur la personnalité et l’œuvre de Rita Schober dans le Editorial 5 virtuellen Ost-West-Dialog Leben und Werk Rita Schobers, die mit einem bisher unveröffentlichten autobiographischen Text noch einmal selbst zu Wort kommt. cadre d’un dialogue virtuel est-ouest. Leur contribution est accompagnée d’un texte autobiographique de Rita Schober. Andreas Gelz, Christian Papilloud Editorial 6 Dossier Charlotte Krauss und Urs Urban Storytelling Zu Kritik und Kulturtheorie des Erzählens Erzählen - so wird seit geraumer Zeit vermutet - strukturiert die Wahrnehmung von und den tätigen Umgang mit der Welt. Sollte diese Vermutung stimmen, so verspricht die Analyse des Erzählens uns etwas über Strategien theoretischer und praktischer Weltbegegnung zu verraten. Als Literatur- und Kulturwissenschaftler die kulturelle Logik ihrer Gegenwart noch in den Begriffen von Moderne und Postmoderne auszubuchstabieren versuchten, 1 da schien die Erzählung sowohl Medium der Sinndeutung als zugleich auch ein probates Kriterium für die Konstruktion einer Philosophie der Geschichte zu sein: Die Moderne, das galt der Kulturkritik spätestens seit Hegel als ausgemacht, manifestierte sich nicht zuletzt in einer Krise des Erzählens, die sichtbar wurde im Übergang vom Epos zum Roman; während ersteres erzählerisch wie gesellschaftlich Einheit und Kontinuität verbürgte, vermochte letzterer die Komplexität der Gegenwart und die aus dieser resultierende Kontingenzerfahrung des Subjekts nur mehr mit Mühe erzählerisch zu bewältigen und machte zunehmend gerade die Problematizität des Erzählens zu seinem eigentlichen Thema. Diese Krise schien sich jedoch aufheben zu lassen in systematisch verfassten Metanarrativen - den so genannten großen Erzählungen -, die ihrerseits erst gegen Ende der 1970er Jahre in Misskredit gerieten, weil ihnen spätestens zu diesem Zeitpunkt mit der Illusion einer Einheit ihres Gegenstands auch die Mittel zu seiner sprachlich-konzeptuellen Bewältigung abhanden gekommen waren. Solche geschichtsphilosophisch inspirierten Gemeinplätze beschreiben nur unzulänglich die Besonderheiten bestimmter, etwa literarischer, Texte, sind jedoch aufschlussreich, begreift man sie als Indikatoren einer ‚politischen Poetik‘ (Heiko Christians), die gesellschaftliche Verwerfungen durch die Verdrängung in ideale Gattungskonventionen neutralisieren zu können glaubt: Auf diese Weise kann man zeigen, dass die Behauptung, das Epos sei eine formal bestimmbare Gattung mit integrativer Funktion, weder literaturnoch sozialgeschichtlich haltbar ist, sich aber deuten lässt als Wunsch nach größerem gesellschaftlichen Zusammenhalt (cf. Krauss/ Urban 2013). Was indes bislang weniger bemerkt wurde, ist die Tatsache, dass das Ende der großen Erzählungen nicht nur, und zwar zeitgleich, begleitet wurde von einer Rückkehr zum literarischen Erzählen, 2 sondern dass der Verlust sozialer Kohäsion (der ja in eben diesem Kollaps der Metanarrative zum Ausdruck kommt) bei vielen offenbar zu einem dringenden Bedürfnis nach ‚erzählerischer Resozialisierung‘, nach einer Kompensation der Kontingenzerfahrung durch die Erzählung also geführt hat (cf. Urban 2009) - und zwar in Bereichen, in denen diese bislang, wenn überhaupt, bestenfalls mit Argwohn zur Kenntnis genommen wurden, nämlich in Wirtschaft und Politik (McCloskey 1990). Im Jahre 2007 veröffentlichte 7 DDossier der französische Soziologe Christian Salmon ein Buch über den gezielten Einsatz von Erzählstrategien außerhalb des literarischen Feldes, in dem er dieses Dispositiv - Salmon spricht mit einem viele Franzosen ohnehin Unheil erwarten lassenden englischen Wort von Storytelling 3 - als eine „machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits“ kritisierte; seine eingängige These (die in Frankreich schnell große Verbreitung fand) lautete, dass diese Erzählungen ausschließlich zur Manipulation der Arbeiter, Konsumenten und Wähler dienten, und dass die politische Aufgabe einer kritischen Erzähltheorie mithin darin bestehen müsse, diesen ‚Verblendungszusammenhang‘ (Adorno) sichtbar und das getäuschte Subjekt diesseits der Erzählung handlungsfähig zu machen. 4 Was Salmon hier auf in vieler Hinsicht etwas saloppe Weise vorträgt, ist etwas anderes und dabei zugleich weniger und mehr als das Programm einer ‚postklassischen‘ Narratologie, die auf die Ubiquität des Erzählens mit einer transgenerisch, intermedial und interdisziplinär orientierten Neuperspektivierung reagiert (so Nünning/ Nünning 2002; cf. aber auch Stromaier 2013): weniger, weil Salmon sich mit der formalen Bestimmung des Erzählens 5 (genau wie mit einer Analyse der Mechanismen der Macht) nicht lange aufhält, mehr, weil er mit größerem Nachdruck als die Narratologie, die sich gerne mit dem allgemeinen (und letztlich schwer zu belegenden) Hinweis auf ein anthropologisch induziertes Erzählbedürfnis des homo narrans (Koschorke) begnügt, 6 nach der Funktion des Erzählens fragt und so einer kulturanalytisch informierten Erzähltheorie doch zumindest den Weg ebnet. 7 Geht man diesen Weg weiter als Salmon selbst es tut, so führt er zu einer Kulturtheorie des Erzählens, die die (klassische) Narratologie in entscheidender Hinsicht transzendiert. Die narratologische Analyse setzt die Unterscheidung und die Unterscheidbarkeit von Fiktion und Wirklichkeit voraus. Dabei erweist sich eben diese Unterscheidung, mit der die Literaturwissenschaft sich so lange beschäftigt hat und in der ein oder anderen Weise immer noch beschäftigt, 8 als unbrauchbar oder doch zumindest als problematisch - wenn man, mit oder ohne Derrida, davon ausgeht, dass es „kein Außerhalb des Textes“ gibt. Wenngleich wohl niemand das Vorhandensein des Faktischen außerhalb des Textes bestreiten wird, so wird dieses doch erst begreifbar und also bedeutend in seiner Vermittlung durch Sprache oder andere medientechnische Dispositive: Dass da (ontologisch) etwas ist, scheint zumindest plausibel, was es ist und was es also (für mich) bedeutet erschließt sich nur mittelbar und also im (sprachlichen) Medium (zur „Einsicht in die sprachliche Verfasstheit des menschlichen Weltbezugs“ cf. auch Koschorke 2012: 10). 9 Nun sind die Modalitäten dieser Vermittlung nicht zwangsläufig narrativ - allerdings scheint die erzählerische Vermittlung von Faktizität in besonderer Weise effektiv zu sein. Die Literatur der Moderne - wenn man ein solches Konzept heuristisch einmal als gegeben annimmt - verweigert sich dieser Effizienz, indem sie Vermittelbarkeit problematisiert oder neutralisiert und auf diese Weise das Ästhetische in den Dienst einer Logik der Unverwertbarkeit stellt (die, das wissen wir spätestens seit Bourdieu, gerade aufgrund ihres ästhetischen Wertes letztlich in besonders gewinnbringender Weise auch ökonomisch verwertbar ist). Außerhalb der Literatur sind indes die me- 8 DDossier dialen Programme der Wirklichkeitskonstitution auf Effizienz dringend angewiesen, weil sie andernfalls schlicht nicht wahrgenommen werden - denn im ‚mentalen Kapitalismus‘ ist Aufmerksamkeit eine äußerst knappe Ressource (Franck 2005). Will man dies mit bedenken, dann verschiebt sich die analytische Aufmerksamkeit vom Kriterium der Wahrheit (fiktional / real oder möglich / wirklich) zu dem der Effizienz (funktional / dysfunktional). Die Kulturtheorie des Erzählens, so wie Salmon sie anregt, fragt denn auch weniger nach (Inhalten und) Formen des Erzählens (und muss sich daher von der Narratologie den Vorwurf gefallen lassen, mit einem naiven, intuitiven oder doch zumindest wenig komplexen Erzählbegriff zu operieren), als nach seiner Funktion - und zwar vor allem außerhalb der Literatur. Denn gerade dort erweisen Erzählungen sich offenbar als besonders effizient, und gerade dort kann mithin auch die für die Analyse von Form und Funktion des Erzählens genuin zuständige Literaturwissenschaft, „der indessen ihr unverhofftes Glück, über einen so spannenden Begriff zu verfügen, erst allmählich gedämmert ist“ (Koschorke 2012: 19), etwas leisten (cf. auch Krauss/ Rentel/ Urban 2013). Dabei ist die Verwendung von Erzählungen außerhalb der Literatur eine kulturelle Praxis, die wesentlich älter ist, als es die theoretische Aufmerksamkeit, die dem Phänomen jetzt (erst) zuteil wird, vermuten ließe: Nicht nur wird vermutlich seit jeher in alltäglichen lebensweltlichen Zusammenhängen erzählt (cf. hierzu aus soziolinguistischer Perspektive schon Ehlich 1980 und, kulturanthropologisch, Gumbrecht 1980, sowie zuletzt Klein/ Martínez 2009), auch in vielen nicht-alltäglichen und mehr oder weniger stark institutionalisierten Zusammenhängen hat das Erzählen eine zentrale Funktion: „Wo immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist das Erzählen im Spiel“ (Koschorke 2012: 19). Man denke diesbezüglich nur an die (erzählerische) Produktion subjektiver Identität (cf. Ricœur 1985 und Linde 1993) - etwa in Psychoanalyse oder Arzt-Patienten-Kommunikation -, an die (erzählerische) Vermittlung von (kognitivem und affektivem) Wissen im Kontext pädagogischer Kommunikation oder an die (erzählerische) Konstruktion von Täterprofil und Tathergang vor Gericht. Über die konkrete Kommunikationssituation hinaus, lässt indes gerade dies letzte Beispiel sich mit Fritz Breithaupt auch als Paradigma einer ganzen Erzähltheorie begreifen - „eine[r] Erzähltheorie, die sich aus der Form der Ausrede speist“ (Breithaupt 2012: 10). Denn, so Breithaupt: „Ausreden säen Zweifel, wo zuvor Gewissheit war, und liefern eine zweite Version, wo vorher alles klar schien. Eben hier [...] beginnt Narration: dort, wo es mehr als eine Version eines Sachverhaltes gibt“ (ibid.: 12). Indem aber mit der Ausrede „eine alternative Wirklichkeit [...], die neben der scheinbar einzigen Wirklichkeit der Anklage besteht“ (ibid.: 8), ins Spiel kommt, verschiebt sich die Aufmerksamkeit (auch hier) von der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Fiktion hin zu der unterschiedlichen Verfasstheit eben dieser Erzählungen, über deren Stellenwert und Gültigkeit es nun zu verhandeln gilt. Dieses erzählerische Verhandeln aber ist eine (vielleicht gar die) zentrale kulturelle Praxis - zumindest jener abendländischen Gesellschaften, die sich in der ein oder anderen Weise auf den um Adams Ausrede gegenüber Gott herum organisierten biblischen Gründungmythos berufen (ibid.: 7). Der erzählerische Kommunikationsraum aber, 9 DDossier der sich auf diese Weise öffnet, ist zugleich ein Handlungsspielraum, denn hier wird nicht nur über die Gültigkeit von sich auf vergangene Ereignisse beziehenden Erzählungen entschieden, sondern hier werden spielerisch zugleich Möglichkeiten künftigen Handelns erprobt - Yves Citton spricht in diesem Zusammenhang von ‚Szenarisierung‘ (Citton 2010: 65sq.). Dies performative Moment des Erzählens (cf. auch Bruner 1991) erschließt den aktiv und passiv am Erzählvorgang Beteiligten ein enormes emanzipatorisches Potential; darüber hinaus jedoch weist es die Erzählung als ein mediales Dispositiv aus, das kulturelle Praxis nicht allein dokumentiert, sondern eben selbst vollzieht: Erzählungen sind, ob auf die Zukunft bezogen oder retrospektiv, sprachliche Artikulationen von Veränderlichkeit. [...] Es genügt deshalb nicht, das Vorkommen narrativer Elemente auch in literaturfernen sozialen Bereichen nachzuweisen und in einer der bestehenden Terminologien durchzudeklinieren. Damit allein ist noch nichts erklärt. [...] Erzählen [...] interveniert in die Welt, die es scheinbar nur widerspiegelt, und lässt sie in einem kreativen Aneignungsprozess in gewisser Weise überhaupt erst entstehen. (Koschorke 2012: 22) Genau das aber ermöglicht und erfordert eine Verschiebung auch der theoretischen Perspektivierung des Erzählens: „Dass [...] Erzählen [...] in die gesellschaftliche Praxis hineinwirkt und selbst ein bestimmendes Element dieser Praxis ist, stiftet die Verbindung zwischen Erzähl- und Kulturtheorie. Das Erzählen ist Organon einer unablässigen kulturellen Selbsttransformation“ (ibid.: 25). Die Beiträge unseres Dossiers tragen aus unterschiedlicher Perspektive zu der hier skizzierten Diskussion bei. Gemeinsam ist ihnen die Bestimmung der Funktion von Erzählen, insbesondere für die Vermittlung zwischen Ästhetik und Lebenskunst. Für die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Storytelling erweist sich zunächst die Frage nach der Existenz einer Grenze zwischen literarischem und alltäglichem Erzählen als grundlegend. Die Antworten sind jedoch unterschiedlich: So kommt für Françoise Lavocat der klaren Abgrenzung eine politische Funktion zu, die gerade die durch Salmons Publikation ausgelöste Diskussion in Frankreich aufzudecken vermochte. Der Beitrag definiert die Besonderheit literarischen Erzählens durch die Form sowie eine nuancierte Herangehensweise an den Stoff, das Geschehen und/ oder das Objekt. Die Existenz einer Grenze begründet die Fiktionstheorie und ihre spezifischen Analysekriterien, die der Mannigfaltigkeit fiktionaler Welten gerecht werden: Das ästhetische Lesevergnügen des Lesers wird gerade durch das Spiel mit unbegrenzten erzählerischen Möglichkeiten und Techniken begründet. Für Yves Citton hingegen ist die Existenz exakter Kriterien für literarisches, ‚gutes‛ Erzählen einerseits und alltägliches, ‚schlechtes‘ Erzählen andererseits nicht gegeben. Ihm zufolge ist der Auslöser ästhetischen Kunstgenusses nicht im Artefakt selbst angelegt, sondern auf Seiten des Rezipienten, der auf einen kulturellen Hintergrund und persönliche Erfahrungen zurückgreift. So steht die produktive Aneignung der Erzählung immer auch in Abhängigkeit zu bereits gemachten Erfahrungen: Jede Erzählung bereitet auf neue Erzählungen vor und knüpft an alte Erfahrungen 10 DDossier an. Erzählen, welcher Art auch immer, kann daher die unterschiedlichsten Reaktionen auslösen, diese jedoch nur bedingt vorhersehen und steuern. Neben den beiden bereits erwähnten Beiträgern verweist auch Martina Stemberger auf die für den Rezipienten bedeutsame Kenntnis verschiedener Erzählstrategien. Gerade die erzählerische Reaktion auf die aktuelle französische Storytelling- Diskussion greift zurück auf das Vermögen von Literatur oder Film, sich selbst und die eigene Vorgehensweise zu thematisieren, zu inszenieren und den Leser bzw. Zuschauer auf diese Gedankenreise mitzunehmen. Nun ist die Entdeckung von Metafiktion und mise en abyme nicht neu (cf. etwa Waugh 1984), ihr Einsatz jedoch offenbar besonders häufig, wenn erzählerisch Mechanismen plump-manipulativer Marketinggeschichten aufgedeckt und verarbeitet werden sollen. So wird die erzählte Erfahrung allgegenwärtigen Erzählens zum Mittelpunkt des autofiktionalen Werks von Chloé Delaume. Durch seine Verortung im Genre der Autofiktion thematisiert gerade dieser Text auch eindringlich die Frage der Autorschaft, die im Zentrum des Beitrages von Dieter Thomä steht: Welche Beziehung besteht zwischen der Erzählung und ihrem Autor, zwischen Leben und Schreiben? Muss dem Leser die Möglichkeit geboten werden, eine Grenze zwischen dem Erlebten und dem Erfundenen zu ziehen? Martina Stemberger beschreibt die Autofiktion als ein in Frankreich derzeit populäres, jedoch durchaus ambivalentes Genre zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Fiktion‘. Indem es das als erzählenswert erachtete Leben des Autors thematisiert, lockt es den Leser - auch dies ein spätestens seit dem Briefroman des 18. Jahrhunderts produktives literarisches Verfahren - mit der vermeintlichen ‚Wahrheit‘ und muss sich im Extremfall gar vor Gericht für die zu große Nähe zur Realität anderer lebender Personen verantworten. Unter dem Titel Erzähle dich selbst analysierte Dieter Thomä in einem 2007 veröffentlichten Band die „Lebensgeschichte als philosophisches Problem“ (Thomä 2007): Wenn das schriftstellerische Werk das ‚reale‘ Ich zum Thema und das „gelingende Leben“ (Stemberger) zum Ziel hat, dann ist die in Thomäs hier vorliegendem Beitrag angesprochene Gefahr der „ästhetischen Allmachtsphantasie“ eines Jean-Paul Sartre nicht weit entfernt, droht das Schreiben zu einem - mutmaßlichen - Ersatzleben zu werden. Vielleicht lässt sich der Autor des Schwellengenres Autofiktion gerade so als „Schwellenwesen“ bezeichnen, wie Thomä dies anhand von Äußerungen Foucaults vorführt. Von der Geschichte des Autors führt der Blick zur Konfrontation des Lesers mit seiner eigenen Geschichte. Besonders deutlich wird dies durch die Nutzung moderner interaktiver Spielereien wiederum im Werk von Delaume, die das von Yves Citton beschriebene, durch den Dialog des Rezipienten mit dem literarischen Produkt erreichte Eigenleben der Erzählung produktiv umsetzt. Die dem zugrunde liegende Frage nach der unumgänglichen Aktualisierung jeder Erzählung durch die Rezeption stellt Mieke Bal ins Zentrum ihres Beitrages, der von der Idee einer notwendig „anachronistischen“ Lektüre ausgeht. Am Beispiel der transmedialen Adaptation des Flaubertschen Klassikers Madame Bovary in einem aktuellen Videoprojekt zeigt sich, dass die Treue zur literarischen Erzählung letztlich gerade durch eine vermeintliche Untreue erreicht werden kann: Im Gegensatz zu üblichen Verfilmungen 11 DDossier der Romanhandlung vor möglichst historischer Kulisse unternimmt das beschriebene Projekt eine konsequente Umsetzung der Erzählweise des Romans und kommt so der anachronistischen Aktualisierung durch einen aktuellen Leser nahe. Dabei gibt der die Aktualisierung vollziehende Medienwechsel zugleich Antwort auf die Frage, warum und wie der Rezipient literarische Erzählungen als ‚klassisch‘ im Sinne von ‚zeitlos‘ empfinden und sich selbst angesprochen fühlen kann. Bal, Mieke, Narratology. Introduction to the Theory of Narrative [1985], Toronto, UP, 2009. Barthes, Roland, „Introduction à l’analyse structurale des récits“ [1966], in: id., L’aventure sémiologique, Paris, Seuil, 1985, 167-206. 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Fritz Breithaupt, der dabei selbst eine fragwürdige Position einnimmt, bringt dies wie folgt auf den Punkt: „Anstelle postmoderner Selbstreflexion scheinen biologische Fundierungsgesten wieder gefragt zu sein“ (Breger/ Breithaupt 2010: 11). 2 Um es einfach zuzuspitzen: Lyotards Condition postmoderne erschien 1979, Ecos Name der Rose 1980. Hier verortet übrigens auch Millet den Beginn einer nicht nur die Literatur sondern die gesamte Gesellschaft affizierenden ‚Narrativierung‘ („la narratique, ce barbare néologisme [...] me paraissant convenir à l’état exclusivement narratif de la postlittérature“, Millet 2012: 22) und Verarmung (‚paupérisation‘) der abendländischen Kultur - denn hier entstünde die „idée, post-post-moderne, que la narration (l’‚intrigue‘), et non plus la littérature, est la valeur non seulement heuristique de l’Occident mais aussi son ultime forme de transcendance“. (ibid.: 11) 3 Im Englischen hingegen ist das Wort nicht negativ besetzt, sondern bezeichnet schlicht die Kunst des Erzählens, deren Beschreibung und Analyse sich die Narratologie widmet; cf. hierzu im Folgenden auch Lavocat. 4 Salmon schreibt sich mithin ein in die lange Tradition der Kulturkritik - wie man sie aktuell in besonders perfider und wenig konstruktiver Form eben auch bei Richard Millet, 13 DDossier oder, wesentlich anspruchsvoller, in der Analyse der Blödmaschinen, die Georg Seeßlen und Markus Metz sich vornehmen (Metz/ Seeßlen 2011), findet. 5 Eine systematische Darstellung der formalen Bestimmungsversuche durch die Narratologie kann auch hier nicht geleistet werden. Es sei daher verwiesen auf die ‚klassischen‘ Beiträge (etwa Propp 1928, Barthes 1966, Genette 1991) sowie auf Einführungen (etwa Bal 1985 oder Fludernik 2010) oder Überblicksdarstellungen (etwa Martínez/ Scheffel 1999, welch letztere sich, wie nicht anders zu erwarten, zuallererst der Frage nach den Merkmalen fiktionalen Erzählens widmen...). Es ist im Übrigen nicht zu übersehen, dass Salmons Kritik an der Erzählung sich einschreibt in eine weit in die Vergangenheit europäischer Geistesgeschichte zurückreichende Tradition des Misstrauens gegenüber dem Mythos bzw. gegenüber der Fiktion (cf. hierzu im Folgenden auch Lavocat). Koschorke weist indes darauf hin, dass es dieses Rückblicks gar nicht bedarf um die mangelnde Pertinenz der Unterscheidung festzustellen: „Man muss [...] nicht zu den Ursprüngen hinabsteigen, um Zweifel an der Durchsetzbarkeit einer glatten Trennung zwischen Vernunft & Wahrheit einerseits, Erzählung & Lüge andererseits anzumelden. Statt mit der zweieinhalb Jahrtausende alten Teilung des epistemischen Feldes einschließlich ihrer institutionellen, macht- und wissensgeschichtlichen Folgen zu hadern, kann man es bei der schlichten Feststellung belassen, dass sie nicht funktioniert. Das Erzählen hat sich nicht ins Reservat der schönen Künste einsperren lassen“ (Koschorke 2012: 18; Hervorhebung U.U./ Ch.K.). 6 Koschorke bezieht sich diesbezüglich auf Barthes (Koschorke 2012: 10). Nünning/ Nünning sprechen mit Graham Swift vom ‚storytelling animal‘ (2002: 1), Nancy Huston (2008) von der ‚espèce fabulatrice‘ (Huston 2008), und Fritz Breithaupt beruft sich auf die Evolutionsbiologie (Breithaupt 2012: 10-12). Das bestätigt nun aber vor allem die oben festgestellte Tendenz zum Versuch der biologischen Konsolidierung kulturwissenschaftlicher Theoreme - denn während Nünning/ Nünning tatsächlich klassisch (oder postklassisch) narratologisch argumentieren, bemühen sich Koschorke und Breithaupt ja gerade (und zwar erfolgreich) um eine darüber hinausgehende kulturtheoretische Problematisierung des Erzählens. 7 Ansätze zu einer diskursanalytisch informierten Narratologie finden sich bereits bei Kolkenbrock-Netz 1988. 8 Zur Fiktionstheorie cf. etwa Schaeffer 1999 aber natürlich auch Lavocat im Folgenden (und an anderer Stelle). Eher zur Praxis literarischen Erzählens (How Fiction Works) das erfolgreiche Buch von James Wood (2008). Äußerst kritisch hingegen Esposito 2007, die darlegt, dass die Annahme, die Realität sei wahrscheinlich, ihrerseits eine Fiktion ist. 9 Das gilt auch, wenn schlechterdings nicht bestritten werden kann, dass ein Ereignis tatsächlich stattgefunden hat: Wer Auschwitz überlebt hat, dem hat sich das dort Erfahrene unmittelbar in den Leib eingeschrieben und der verfügt über ein dies dokumentierendes Körpergedächtnis; was das bedeutet, kann auch er oder sie indes nur mittelbar kommunizieren: auch das kommunikative Gedächtnis ist angewiesen auf und konstituiert durch Medialität (Borsò/ Krumeich/ Witte 2001). Das heißt aber gerade nicht, dass es einerlei wäre, was und wie erzählt wird: Stellenwert und Gültigkeit einer Erzählung unterscheiden sich vielmehr durch die Modalitäten der Diskursivierung und gerade diese gilt es zu beschreiben und zu analysieren - analytisch zu unterscheiden also nicht zwischen Fiktion und Wirklichkeit sondern zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen. Das Freiburger GRK (1767) scheint sich dies zur Aufgabe gemacht zu haben (Näheres unter: http: / / www.grk-erzaehlen.uni-freiburg.de/ ). 14 DDossier Françoise Lavocat Du récit au „storytelling“: enjeux pour la fiction Dans un des ses derniers ouvrages, consacré au storytelling, Yves Citton évoque les „livres anciens sur la narrativité“ et les „essais récents sur le storytelling“. 1 Christian Salmon, dans son célèbre essai sur le storytelling, qui a révélé à un large public français le mot et la chose, dessine lui aussi une chronologie et une généalogie. Joignant la dénonciation du storytelling à sa mise en pratique, il les met en scène dans une anecdote: en 2001, aux États-Unis, est évoqué dans un dîner d’universitaires un article de Peter Brooks 2 qui, citant Barthes, Todorov et Georges Bush, commente l’omniprésence inédite, dans le discours politique, du terme et de la notion d’histoire (story), empruntée à la théorie littéraire, et plus précisément à la narratologie française des années 1970. Ce triple mouvement, depuis les États- Unis (à partir de la réception de la French theory 3 ) à la France, de la narratologie à l’engouement pour le storytelling, du (petit) monde universitaire au (vaste) monde du pouvoir, de l’entreprise et des media dessine le storytelling du storytelling. Le constat de Christian Salmon a inspiré notre réflexion. Il impose cependant quelques précautions préliminaires. Son appréhension du phénomène, issue d’un certain contexte français a fortement infléchi le sens du terme en lui donnant une connotation largement négative. Ce n’est pas toujours le cas aux États-Unis, où l’usage du mot est ancien et courant. 4 Dans certains domaines, comme celui des études sur les littératures orales 5 ou des technologies informatiques, 6 aux États- Unis comme en France, le mot n’implique aucune prise de position idéologique. Les termes de narrative et de fiction, n’ont pas non plus tout à fait la même signification aux États-Unis et en France: narrative peut avoir une connotation négative (que n’a pas, en français, le mot récit), à peu près équivalente à celle de storytelling et de fiction au sens large et non spécialisé du terme. De façon significative, c’est la polarité axiologique qui fluctue: la distribution des sens de mensonge et de fausseté varie selon les aires culturelles, les moments historiques et les champs disciplinaires. Notre propos est d’éclairer les enjeux de ce qui nous apparaît comme un renversement concernant le statut de la fiction. Si nous acceptons, à titre heuristique, la généalogie esquissée par Salmon et Citton, on est passé des travaux d’inspiration narratologique 7 privilégiant les textes fictionnels aux essais sur le storytelling 8 qui portent principalement sur des récits factuels. Les narratologues, en effet, pour la plupart peu concernés par la différence entre fait et fiction (Prince 2003; Skalin 2005: introduction), mais globalement acquis à une théorie différentialiste, empruntaient traditionnellement tous leurs exemples à la fiction narrative littéraire. 9 Les théoriciens du storytelling, au contraire, tiennent généralement pour 15 DDossier acquise l’indifférenciation entre fait et fiction, dans une optique panfictionnaliste qui dissout les frontières de la fiction et la notion de fiction elle-même. Dans un premier temps, nous étudierons les modalités de la dissolution de la notion de fiction dans quelques analyses du storytelling, en montrant que sous un habillage terminologique inédit, elles enregistrent peut-être une régression dans l’appréhension conceptuelle contemporaine de la fictionnalité; cependant, la fiction au sens étroit du terme reste le modèle sous-jacent de la plupart des essais sur le storytelling. Cette constatation nous amènera pour terminer à apprécier l’intérêt de la notion de storytelling en ce qu’elle permet de mettre en évidence, dans une perspective renouvelée et plus large que celle de la narratologie différentialiste traditionnelle, quelques caractères propres aux fictions; 10 l’émergence de la thèse du storytelling apparaît enfin comme un révélateur du caractère politique de la question de la différenciation entre fait et fiction. I. Que reste-t-il de la fiction au prisme du storytelling? Le statut de la fiction dans les écrits sur le storytelling qui vont faire l’objet de notre analyse ressortit à un paradoxe: la notion de fiction y est omniprésente mais la fiction en tant que telle 11 y a - presque - disparu. Une régression? Cette situation peut être interprétée de plusieurs façons. Elle est, d’une part, le résultat de la prégnance de la pensée et de la terminologie anglo-saxonnes. Elle est aussi la conséquence de l’élargissement du cercle de ceux qui s’intéressent au récit, depuis la sphère spécialisée des théoriciens de la littérature, vers un milieu beaucoup plus large, pluridisciplinaire (Salmon est sociologue) et parfois à la périphérie du monde académique: journalistes (comme MacCarthy et Fulford), écrivains (comme Nancy Huston) mais aussi médecins, juristes 12 C’est pourtant sous la plume d’un spécialiste de littérature, en particulier du théâtre, que l’on trouve la phrase suivante: What follows is one reality-based 13 observer’s study judicious, I hope - of how those fictional realities were created and how came undone when actual reality, whether in Iraq or at home, became just too blatant to be ignored (Rich 2006: 4). Dans cet exemple, qui représente plutôt la norme que l’exception dans ce genre d’essais, fictionnel a bien le sens d’inexistant (réalité fictionnelle est d’ailleurs opposée à réalité actuelle), mais avec la nuance importante de faux, mensonger. Nancy Huston entend le mot dans le même sens lorsqu’elle estime que les gens meurent à la guerre, en Irak et ailleurs, pour „de mauvaises fictions“ (2009: 118). De même, Christian Salmon appelle „fictionnalisation du travail“ la fiction selon laquelle les ouvriers et les patrons partageraient les même intérêts (2008: 180). 16 DDossier Dans cette optique, une „entreprise de fiction“ est une entreprise qui vend des „fictions utiles“, c’est-à-dire un mélange de vent et de mensonge: par un effet de circularité assez réussi dans la présentation de Salmon la fiction (au sens de mensonge) que promeut l’entreprise vise à transformer celle-ci en fiction (au sens d’entité immatérielle), puisqu’il s’agit, selon Salmon, de se débarrasser des employés comme des produits, au profit d’opérations financières délocalisées. Cette acception négative du terme de fiction peut-être interprétée comme une régression, si l’on songe à la netteté avec laquelle Philip Sidney, en 1595, affirme que le poète (contrairement à l’historien) ne ment jamais, puisqu’il n’affirme rien. 14 Sidney semble concevoir la fiction poétique dans des termes proches de ceux de Searle. Cette attitude à l’égard de la fiction, que nous sommes tentés de qualifier de clairvoyante, car elle correspond à celle des théoriciens actuels, cependant, reste isolée. Furetière, dans l’article „Fiction“ de son dictionnaire (1690), privilégie le sens de mensonge: Fiction: Mensonge, imposture. Il m’a parlé de cœur, et sans fiction. Tout ce qu’il dit est pure hablerie & fiction. Fictions se dit aussi des inventions poétiques, & des visions chimériques qu’on se met dans l’esprit. Les anciens avaient le champ libre pour leurs fictions. Toutes les aventures de leurs dieux n’estoient que fictions, toutes les fictions et chimères que ce malade se met dans l’esprit augmentent son mal. La „pure hablerie“ est une expression qui conviendrait assez bien aux discours des managers et des politiques dénoncés par les théoriciens du storytelling. Si un domaine réservé aux fictions poétiques est esquissé dans le deuxième paragraphe, c’est aussitôt pour le rabattre sur la licence fautive du paganisme ou sur les divagations d’un état mental pathologique. Notons à cet égard que la fiction est envisagée par Furetière, qui rend compte de l’usage des locuteurs français du dix-septième siècle, aussi bien dans la conversation courante („il m’a parlé de cœur et sans fiction“), dans celui des beaux-arts, de l’histoire des religions et de la médecine. Qui donc est archaïque ou novateur, de Sidney, à la fin du seizième siècle, ou de Furetière, à la fin du siècle suivant? Faut-il parler alors de régression, ou de la résurgence d’une appréhension à la fois négative et non spécialisée de la notion de „fiction“, qui n’a jamais disparu? Peut-être l’isolement relatif des thèses différentialistes inspirées de Hamburger tient-il en partie à leur anachronique monodisciplinarité. Hamburger s’opposait aux thèses de Vaihinger ([1923] 2008), associant la fiction à un comme si (als ob) dans toutes les branches de l’activité humaine. La définition de la fiction que défend Dorrit Cohn est extrêmement restrictive: elle rabat le terme sur sa signification courante en anglais, de roman, refuse toute réflexion tournée vers le statut de l’imaginaire et postule une étanchéité totale entre le sens courant (comme mensonge et fausseté), le sens philosophique (comme concept) et le sens littéraire du mot de fiction (qu’elle analyse comme genre). Ce réductionnisme nous semble difficilement tenable: en tout cas, il n’est pas à même de répondre aux questions qui 17 DDossier ont intéressé la fin du vingtième siècle, et qui ont été posées par des théoriciens de la fiction comme Schaeffer et Pavel comme par ceux du storytelling. Si les thèses concernant le storytelling ont bien un air de nouveauté, comme le pense Yves Citton, c’est parce qu’elles désenclavent la fiction artistique et littéraire, au risque, il est vrai, de la faire disparaître du champ de l’analyse et de la réflexion. Qu’en est-il exactement? Nous proposons d’examiner la place et la fonction de la fiction littéraire dans l’argumentation de Nancy Huston (2008), de Christian Salmon ([2007], 2008) et d’Yves Citton (2011). Fictions contre fictions Nancy Huston, dans L’espèce fabulatrice, publié en 2008 (traduit en anglais sous le titre The Tale-Tellers 15 ) défend à première vue un panfictionnalisme radical qui l’amène à qualifier de fiction (entendue comme chimère, illusion, mensonge) l’ensemble des discours humains, collectifs aussi bien qu’individuels. Elle proclame aussi l’équivalence entre la réalité et la fiction, au motif que ce sont les constructions imaginaires qui mènent les hommes, les font agir, aimer et mourir (on retrouve le même argument, dans un habillage cognitif plus voyant, chez Citton). 16 Ce scepticisme large n’a rien de nouveau: un prédécesseur d’Erasme, Codro Urceo, proclame en 1502 que tous les savoirs ne sont que fables, de même que l’auteur et le lecteur („Vos quoque lectores fabulae estis“), le monde lui-même. Cette diatribe sceptique aboutit à une exhortation à s’abreuver des fables des poètes. 17 Cinq siècles plus tard, Nancy Huston ne dit pas autre chose: elle conclut son petit ouvrage par la recommandation d’une consommation planétaire massive de fictions littéraires (selon elle, il faudrait développer en Irak des programmes de lecture plutôt que d’y envoyer des armées). Fictions contre fictions, storytelling contre littérature: l’essayiste juge que les fictions non littéraires, bonnes ou mauvaises, sont „involontaires“ et aliénantes, tandis que les fictions littéraires sont „volontaires“, libératrices et tendent à dégager les individus de l’emprise des premières. Cette solution pro domo proposée par la romancière est irénique et conservatrice. Elle assure un espace réservé et un rôle privilégié à la fiction littéraire; les interférences entre les deux sortes de fiction, qui semblent ne porter le même nom que par hasard, tant elles recouvrent des effets et des valeurs différents, ne sont jamais envisagées. 18 L’intrication entre les différentes formes de la fiction est plus sophistiquée, et partant plus problématique, chez les deux autres auteurs. Christian Salmon (Storytelling, la machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits: [2007], 2008) ne procède pas aux mêmes découpages rassurants que Nancy Huston. Dans le monde post-industriel qu’il décrit, les entreprises se revendiquent, écrit-il en jouant de la paronomase, „non de Toyota mais de Tolstoï“ (2008: 88), ce qui suppose que le storytelling qui décérèbre les employés et les 18 DDossier électeurs soit de nature littéraire, et même plus précisément romanesque. D’ailleurs, les entreprises elles-mêmes sont devenues „romanesques“ (ibid.). Cela peut s’entendre de plusieurs façons. Tout d’abord, ces entreprises fictionnelles ressemblent à des entreprises décrites dans des fictions, comme par exemple dans Joueurs (1993) de Don DeLillo (Players, 1977). Salmon juge assez classiquement que la coïncidence parfaite entre le roman et la réalité vient de la qualité prophétique de l’œuvre littéraire, mais aussi que la réalité se modèle désormais sur des fictions littéraires, ce qui fait écho, en partie, aux thèses de Baudrillard (1981). D’autre part, ces entreprises sont romanesques au sens où elles fonctionnent littéralement comme des fictions, puisqu’elles requièrent de la part de leurs employés une attitude d’„immersion“ 19 et même une „suspension volontaire d’incrédulité“. 20 Salmon utilise des outils littéraires raffinés pour décrire le monde des entreprises réelles: il explique par exemple, en citant Bakhtine, que „le chronotope“ de l’entreprise fordiste a été brisé (2008: 91). Si Nancy Huston voyait le monde comme un théâtre („all world a stage“, 2008: 126), Salmon le voit décidément comme un roman. Mais jusqu’à quel point ces outils sont-ils pertinents? Salmon signale, en passant, une limite (qui n’est pas anodine) à cette identification entre les fictions des politiques et celles des romans: Si l’art du roman constituait une forme d’énonciation paradoxale de la vérité qu’Aragon définissait comme „le mentir vrai“, les spin doctors pratiquent le storytelling comme un art de la tromperie absolue, „un mentir faux“ si l’on peut dire, une forme nouvelle de désinformation (2008: 137). N’a-t-on pas à faire dès lors avec une contradiction? On peut penser que Salmon aboutit, in fine, à une distinction pas si éloignée de celle de Nancy Huston, entre la fiction romanesque, paradoxale, c’est-à-dire ni vraie ni fausse, et la fiction du pouvoir, mensongère. Christian Salmon est loin d’être novice dans la réflexion sur la fiction. En 1999, dans Tombeau de la fiction, il flétrissait une époque qui haïssait et criminalisait la fiction (avec l’affaire Rushdie en ligne de mire) et exprimait une intéressante conception du roman comme un art de jouer avec la frontière entre fait et fiction: Toute l’histoire du roman n’est qu’une longue réflexion sur les limites de l’illusion romanesque et, ce faisant, sur la frontière mouvante qui sépare le réel et la fiction. Le roman s’enchante des multiples passages de l’un à l’autre, des courts-circuits incessants entre la vie et le rêve. Loin d’effacer la frontière qui les sépare, l’art du roman consiste au contraire à souligner cette différence, à la rendre perceptible, presque palpable parfois, comme chez Kafka. L’illusion romanesque n’est rien d’autre que l’illusion donnée par le roman d’une communication constante, intime, immédiate entre le réel et le fictif, entre le rêve et la vie (1999: 43). Si l’on s’aventure à construire un rapport cohérent entre ces deux textes éloignés de dix ans dans l’œuvre de l’essayiste, on pourrait comprendre que la fiction romanesque conforte la différence entre fait et fiction, en jouant avec cette fron- 19 DDossier tière, tandis que les fictions du pouvoir tendraient à gommer celle-ci, ce qui fonde leur capacité d’emprise. On est aussi passé d’une civilisation exécrant la fiction romanesque à un monde entièrement modelé par elle. Surgit alors le danger et la séduction de la fiction qui réside dans la mimesis III, ou reconfiguration dans les termes de Ricœur, dans la scénarisation dans ceux de Citton. Tout l’enjeu soulevé par la réflexion sur le storytelling, chez nos trois auteurs, est dans la définition et l’évaluation de ce franchissement de la frontière entre la fiction et la vie réelle: estil toujours néfaste? Est-il opéré par toutes sortes de fictions, littéraires ou non, et si oui, est-ce de la même façon? Aux deux questions, Nancy Huston répond non (il y a de bonnes fictions involontaires, comme les histoires d’amour; les fictions qu’elle appelle volontaires, en d’autres termes les romans, sont bonnes). Christian Salmon répond oui à la première question et plutôt non à la seconde (si l’on prend en compte ce qu’il dit en 1999 de l’art du roman, qu’il ne place pas du côté de l’emprise ni du „formatage des esprits“). Yves Citton répond non à la première et oui à la seconde. Yves Citton entend prendre le contre-pied de l’ouvrage à succès de Christian Salmon. 21 Il récuse tout d’abord l’idée de „fictions du pouvoir“, qui a selon lui des allures de théorie du complot; à l’heure d’internet, estime-t-il, sans doute avec raison, il n’y a rien de vertical (du sommet vers la base) dans la diffusion des histoires. Mais surtout, il entreprend de défendre les fictions, littéraires on non, au moyen d’un appareillage mi-philosophique (essentiellement ricœurien) mi-cognitif: celui-ci lui permet de décrire l’effet de toute fiction comme un frayage 22 cérébral, systématiquement assimilé à un re-routage. 23 Or, le sens du mot de frayage suggère plutôt le renforcement, par la répétition, d’une réponse neuronale, sa facilitation par l’emprunt d’un parcours déjà fréquenté. Mais dans la perspective de Citton, le frayage opéré par les fictions correspond toujours à la création de voies nouvelles, à des déviations, grâce à l’opération du faire-semblant et l’accès à une pluralité de mondes possibles. On pourrait penser que cette ouverture 24 est réservée au roman, mais il n’en est rien. Citton insiste pour refuser tout privilège au roman: 25 que l’histoire soit factuelle ou fictionnelle, simpliste ou sophistiquée (ces deux alternatives ne se superposant pas) le processus de scénarisation (nom donné par Citton aux effets des récits sur leur public, que ce soit la réponse neuronale à l’exposition à une histoire, les évaluations morales, les actions qui en dérivent) est le même: Une activité de scénarisation peut donc s’appliquer à la fois à des personnages fictifs joué par des acteurs et à mes propres comportements d’individu réel (avec ou sans ma conscience de participer à une scénarisation), au sein d’actions collectives susceptibles de se dérouler dans la réalité à venir. Dans ce second cas, je traite des personnes réelles (moi et ceux qui sont impliqués dans les actions en question) comme des personnages de fiction (2010: 85). Cette proposition nous semble difficilement compatible avec l’affirmation répétée de la liberté des sujets de choisir les histoires bonnes pour eux (c’est-à-dire, dans 20 DDossier la perspective de Citton, les histoires de gauche, qu’il appelle ardemment de ses vœux, pour contrer le storytelling de droite). Comment la liberté de choix pourraitelle coexister avec l’éventualité d’être scénarisé à son insu? Citton envisage une unification des possibles qui rejoint peut-être le comme si de Vaihinger. Il identifie la projection imaginaire (de soi et des autres) dans l’avenir et le fait de se considérer (soi et les autres) comme des personnages de fiction; comme des personnages de théâtre, précise-t-il, ce qui évoque à nouveau la fantasmagorie baroque - all world a stage. L’identification d’une alternative politique (c’est bien ce que Citton a en vue en évoquant l’action collective) et d’un monde possible fictionnel est séduisante: dans une dictature, la liberté enclose dans l’idée de monde possible peut se colorer de bien des connotations différentes, littéraires, religieuses et politiques, comme l’a suggéré Thomas Pavel (2010). Dans une démocratie, ce possible fictionnel enveloppe l’action politique d’un halo d’utopie. Nous sommes cependant en désaccord avec ce nivellement des possibles. L’usage que Citton fait de la notion de métalepse illustre l’abus que recouvre cette indifférenciation généralisée. À ses yeux, tout récit est métaleptique, 26 puisqu’il induit, quel qu’il soit, une scénarisation, comprise comme un franchissement de frontière entre le récit et la vie. Comme la réponse neuronale aux récits fait partie de la scénarisation telle qu’il la définit, comprendre une histoire, c’est déjà opérer une métalepse. 27 Il n’y a donc plus aucune différence entre La rose pourpre du Caire et Autant en emporte le vent, ni entre aucun film, ou roman, et une conversation téléphonique (2010: 112). Selon Citton, d’ailleurs, et conformément à un topos post-moderne, nous n’avons même plus accès aux petits récits (par oppositions aux grands, réputés morts depuis Lyotard), mais à des fragments, des éclats de narrativité que nous glanons dans nos conversations et que picorent nos moteurs de recherches. Nous avons du mal à comprendre comment un environnement aussi incohérent pourrait produire quelque reconfiguration que ce soit, synthétiser l’hétérogénéité du monde (pour reprendre les termes de Ricœur dont Citton se réclame), donner accès à des mondes possibles, littéraires ou politiques. L’hypothèse de la métalepse généralisée n’a aucune valeur descriptive: elle ne nous permet plus de percevoir ni de décrire le jeu à la frontière entre réalité et fiction dans lequel Salmon voit l’art du roman, ni de rendre compte des paradoxes qui sont le propre, à des degrés divers, des mondes fictionnels narratifs. Elle nous empêche de goûter le sentiment d’incongruité, de bizarrerie, 28 que produisent les transgressions de frontières ontologiques, ce que sont les véritables métalepses. II. Quelles leçons une théorie de la fiction peut-elle tirer des essais sur le storytelling? Dans la perspective du storytelling, les fictions esthétiques (littéraires ou filmiques) se sont trouvées confrontées aux „innombrables récits du monde“, pour reprendre l’expression de Barthes (1966) si souvent citée. Elles y ont même été noyées. 21 DDossier Mises sur le même plan qu’un commérage, une conversation téléphonique ou un discours de campagne présidentielle, leur statut, comparativement à celui qui était le leur dans les écrits des narratologues, notamment Hamburger, Cohn et Genette et bien d’autres, a semblé se dégrader considérablement. On peut, comme Dorrit Cohn, le déplorer: on peut aussi en tirer quelques enseignements. Ceux-ci apparaissent en premier lieu par contraste, l’élargissement de la notion de fiction faisant émerger quelques unes des particularités des artefacts culturels produits par l’imagination dans une visée artistique. Quelques particularités propres aux fictions Tout d’abord, à y regarder de plus, les essais sur le storytelling examinés n’opèrent pas une réduction totale de la notion de fiction. Nancy Huston invente in extremis une dichotomie approximative qui restaure une conception traditionnelle de la fiction littéraire (fiction involontaire/ fiction volontaire). Salmon se rappelle la différence fondamentale entre le mentir vrai du roman et le mentir tout court de la propagande. La fiction, au sens étroit du terme, résiste. Ensuite, s’il n’est pas sans profit de rapprocher la littérature et la vie, 29 l’accent exclusif mis sur les usages de la fiction produit des erreurs de perspective. Ce déplacement peut entraîner une indifférence totale quant à la facture et la nature des fictions. Il peut se prévaloir d’un habillage cognitif hâtif (le frayage de Citton), qui convient grossièrement à toutes sortes de récits. Il n’est pourtant pas douteux que le style d’une œuvre, ainsi que son medium, suscitent des résonances cognitives spécifiques (Bolens 2008). Le modelage perceptuel et les effets kinésiques produits par telle écriture, celle de Proust ou de Mme de La Fayette par exemple, sont différents; a fortiori, ce ne sont pas non plus les mêmes stimuli que provoque une conversation téléphonique. La question de savoir si les simulations fictives nous incitent à l’action est controversée. En laissant de côté le cas de l’interaction induite par les jeux vidéos, on peut arguer que le jeu de la fiction implique sur le plan cognitif une inhibition, et même une frustration de l’action (dans ce cas contraire, nous ferions comme Don Quichotte, et nous bondirions sur la scène pour sauver la princesse). Indépendamment de la réflexion sur le storytelling, beaucoup de propositions sont énoncées, actuellement, qui envisagent la fiction comme action, ce qui peut faire partie d’une stratégie défensive et apologétique en faveur de la littérature et de la fiction, dont ceux qui en vivent, écrivains et professeurs, s’évertuent à prouver l’utilité (Daros 2012). Marielle Macé a raison d’insister sur la passivité et la disponibilité inhérents à l’acte de lecture (2011: 30). Nous souhaitons faire entendre une voix dissidente, en rappelant cette évidence: contrairement aux textes religieux et politiques, la fonction première des fictions (en tout cas de nombre d’entre elles) n’est ni de susciter un engagement ni d’appeler à l’action. Les bénéfices du décrochage de l’expérience empirique, des effets de monde alternatif, des simulations sensori- 22 DDossier motrices induites par les fictions, en termes de plaisir et d’intellection, ne sont pas si faciles à cerner quant à leur finalité. Il ne s’agit pas ici de nier l’efficacité modélisatrice de la fiction sur les cadres de pensée et les comportements, ni la dimension exemplaire des „univers de normes et de biens“ que sont les fictions, selon les mots de Thomas Pavel. Mais on peut aussi rappeler qu’un grand nombre de fictions artistiques ne souscrivent à aucun programme, ou à tout le moins que leur programme axiologique et éthique est ambigu, parfois contradictoire, que leur finalité prescriptive se laisse souvent malaisément identifier, contrairement à celle des histoires des politiques et des managers. Une frontière politique Les leçons que l’on peut tirer des essais sur le storytelling ne se limitent pas à faire ressortir par contraste quelque caractéristiques propres aux fictions artistiques. L’émergence des écrits sur le storytelling depuis la fin des années 1990 met en évidence le fait que la différenciation entre fait et fiction n’est pas dépourvue d’enjeux politiques. Ceux-ci se sont transformés par rapport à ceux des années 1970- 1980. Le sous-titre du livre que Frank Rich, un universitaire spécialiste de théâtre, consacre en 2006 au storytelling (The decline and fall of truth from 9/ 11 to Katrina) souligne clairement le contexte de son propos et de sa prise de position. Par opposition, l’indulgence proclamée à l’égard des histoires, y compris quand elles sont fausses, est articulée, chez Robert Fulford à un soutien explicite à la politique de George Bush. 30 Christian Salmon identifie dans la campagne présidentielle de Nicolas Sarkozy et de Ségolène Royal 31 le triomphe du storytelling politique sur le modèle américain et ne cache pas, dans la postface qu’il consacre à son ouvrage, réédité en 2008 (215-226), que la cristallisation de l’aversion à l’égard du président français avait contribué au succès de son livre. Si l’on excepte Yves Citton, qui en appelle à un „storytelling de gauche“, c’est bien, aux États-Unis et en France, une opposition issue des rangs de gauche, qui conjugue la dénonciation de la propagande des pouvoirs en place à celle du storytelling. Des universitaires qui avaient probablement épousé les thèses déconstructionnistes se sont trouvés accusés d’être „reality-based“ (selon l’expression de Rich), ou ont revendiqué de l’être. On assiste alors à un certain renversement de tendances. Dans la lignée de Derrida et d’Hayden White, 32 la déconstruction des binarismes, dont celui entre la réalité et la fiction, s’était imposée dans les années 1970-1980 comme une option progressiste par opposition à un positivisme conservateur, assez naïf pour croire encore à „la réalité à papa“, comme l’appelle Marie-Laure Ryan. 33 Cependant, motivée par la seconde guerre du Golfe, la dénonciation du storytelling a modifié ce clivage. La connotation négative qu’ont acquis les mots de storytelling et même de narrative signifie alors moins le discrédit de la fiction comme mensonge qu’une réhabilitation de la notion de réalité. Or, ce n’est que dans ce cadre de pensée dualiste que l’on peut comprendre le jeu de la fiction, que nous assimilons, avec 23 DDossier Christian Salmon, à une manipulation constante de la frontière avec ce qui n’est pas elle. En conclusion, nous aimerions plaider pour trois formes de conciliation. En premier lieu, il nous paraît indispensable d’équilibrer une perspective interne (l’enquête sur les indices internes de fictionnalité ou de factualité) et une perspective externe (pragmatique, culturelle, sociologique). La première, à nos yeux, n’a pas été suffisamment menée surtout dans une perspective diachronique et comparative. 34 Les essais sur le storytelling (ainsi d’ailleurs que maints ouvrages inspirés par les sciences cognitives) témoignent d’un désintérêt total pour les aspects formels des œuvres de fiction, ce qui prive ces analyses de toute portée descriptive au profit de généralités infalsifiables. Cette double focale que nous appelons de nos vœux implique une pluralité d’approches: les indices de fictionnalité doivent être appréhendés dans une perspective essentiellement ontologique qui n’exclut pas une approche pragmatique (parce qu’il n’est pas possible de se débarrasser de la notion de feintise ludique, même si elle ne convient pas à tous les textes ni à toutes les époques) ni une analyse narratologique. Mais comme l’ont déjà dit Monika Fludernik (1996) et Sylvie Patron (2009: 283), la fiction, surtout envisagée à travers ses usages, ne ressortit pas entièrement à la narratologie. Notre troisième proposition de conciliation concerne le périmètre de la définition de la fiction. L’analyse de Käte Hamburger présente beaucoup d’intérêt dans notre perspective, qui n’est pas linguistique, mais ontologique. Sa description des indices internes de fictionnalité - y compris dans leur aspect paradoxal - conforte une conception de la fiction comme passage d’un monde à l’autre. Sa conception du je origine fictif est compatible avec une ontologie des entités non-existantes. Elle rend aussi finement compte du problème indépassable posé par l’usage de la première personne. Cependant le caractère trop restreint de la notion de fiction qu’elle défend, de même que Dorrit Cohn, nous paraît manquer les enjeux actuels et la dimension anthropologique de cette question. Néanmoins, nous ne souscrivons pas non plus à une définition trop large de la fiction, qui rabat fatalement la fiction sur le mensonge. Nous avons essayé de montrer que l’indifférenciation de toutes les formes de fictions (comme récit, littéraire ou non) n’était pas opératoire. Cependant, c’est justement la frontière, l’oscillation qui nous semble intéressante (et d’ailleurs historiquement pérenne), l’entre-deux du jeu et du mensonge. La théorie du storytelling fait partie des pensées actuelles qui occupent cette frange, qui embrassent, parfois non sans contradictions, les différentes acceptions et les usages variés (spécialisés ou non) de la fiction. Nous avons essayé de montrer les limites mais aussi les avantages de cette conception indécise de la fictionnalité, en particulier la mise en évidence des enjeux politiques de la conception de la frontière entre fait et fiction. Une leçon de l’élargissement et de la vulgarisation de la notion de fiction, qui caractérise notre temps, est enfin de nous faire soupçonner que la recherche d’un propre de la fiction pourrait être une chimère. Les récits, disait Barthes, sont in- 24 DDossier nombrables. C’est tout aussi vrai des formes et des usages de la fiction, qui manifestent l’expérience de tous les degrés de proximité et d’éloignement, de déni ou de souci de leurs frontières. Baudrillard, Jean, Simulacres et Simulation, Paris, Galilée, 1981. Barthes, Roland, „Introduction à l’analyse structurale des récits“, Communications, 8, 1966, 1- 27. Blayer, Irene Maria F. et Monica Sanchez, Storytelling, Interdisciplinary and Intercultural perspectives, NY et al., Peter Lang, 2002. Bolens, Guillemette, Le style des gestes: corporéité et kinésie dans le récit littéraire, préface d'Alain Berthoz, éd. BHMS (Bibliothèque d'Histoire de la Médecine et de la Santé), 2008. Brooks, Peter, Reading for the Plot. Design and Intention in Narrative, NY, Knopf, 1984. Caïra, Olivier, Définir la fiction. Du roman au jeu d’échec, Paris, Presses de l’EHESS, 2010. Citton, Yves, Mythocratie. Storytelling et Imaginaire de gauche, Paris, Éd. 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Jannidis, J. Pier, et W. Schmid. 2 Peter Brooks avait lui-même affirmé l’omniprésence des histoires et analysé le désir d’histoire qu’il repérait dans la littérature et dans la vie psychique (1984). 3 Sur cette question, voir la mise au point toujours actuelle de François Cusset, 2003. 4 Par exemple, le titre de l’essai de Walter Benjamin, Der Erzähler (1936-1937), est traduit en anglais The Storyteller, en français Le conteur. La première traduction (1952) par M. de Gandillac, s’intitulait Le Narrateur. L’acception trop spécialisée prise par ce terme dans les travaux de narratologie a visiblement imposé ce changement. Merci à S. Patron pour m’avoir indiqué cette première traduction. 5 On peut citer The importance of storytelling: a study based on field work in northern Alaska, Rooth 1976. 6 En témoigne par exemple la série de colloques et de publications portant le titre: Virtual Storytelling. Using Virtual Reality Technologies for Storytelling, (2001, 2003, 2005). Ils émanent d’un projet français (GT-RV Pôle Image Alsace and the French Virtual Reality Group). 7 Nous sommes évidemment parfaitement conscients du fait qu’on ne peut parler d’une seule narratologie, mais de narratologies au pluriel (Prince, 2003, Nünning, 2003). Cependant, si l’on envisage la question de la fiction et de la différence entre fait et fiction, nous avons à faire à un ensemble d’auteurs assez restreints: sans prétention à l’exhaustivité, Cohn (1990, 1999), Doležel (1997, 2010), Genette (1991), Hamburger [1957], 1968), Löschnigg (1999), Nünning (2003), Pavel (1986), Ryan (2001), Schaeffer (1999, 2012) Martinez et Scheffel (2003), Phiphalen (2002), Skalin (2005 et 2008). On trouvera chez tous ces auteurs, en particulier Nünning, Scheffel, Schaeffer (2012) une bibliographie complémentaire sur cette question. 8 Nous désignerons par là, outre les auteurs français déjà mentionnés, Huston (2008) et des auteurs américains comme Fulford (1999), Rich (2006), Jackson (2007), Nash (1990), Blayer et Sanchez (2002). 9 Genette le remarque et le déplore (1991). 10 On aura en effet à notre avis avantage à substituer autant que possible une appréhension modeste et différenciée des caractères que présentent le plus souvent certaines fictions à une réflexion sur le propre de la fiction. 11 Au sens que nous avons précédemment déterminé, voir note 10. 12 Cette constellation constitue ce que l’on appelle couramment le narrative turn. 13 Cette expression est reprise d’un conseiller non nommé de Georges Bush, qui, selon un journaliste du New York Times Magazine, se serait moqué de ceux qui se fondent sur la réalité (reality-based), en prétendant que ceux qui détiennent le pouvoir fabriquent la réalité. Salmon (2008: 186) commente cette anecdote rapportée par Rich (2006: 4). 14 „the Poet, he nothing affirms, and therefore never lieth“ ([1595], 2002: 103). 15 Ce terme, un peu moins usité que storytellers, a le même sens. Il désigne aux États- Unis plusieurs groupes, souvent universitaires, qui se consacrent au storytelling, entendu comme l’art de raconter des histoires. 16 Cet argument que l’ont trouve assez souvent (la fiction ne se distingue pas de la réalité car les effets qu’elle produit sont réels) est fallacieux. À ce compte, Cendrillon n’est pas un personnage fictionnel parce que le film qui la représente et les profits qu’il engendre 27 DDossier sont bien réels, et parce que de millions de petites filles réelles se sont vraiment identifiées à elle. 17 „Sermo Primus“ dans Orationes seu sermones ut ipse appellabat, Epistolae, Silvae, Satyrae, Eglogae, Epigrammata, 1502. Je tiens cette information de Nicolas Corréard (2008: 155-162). 18 Huston évoque bien quelques objections possibles (il y a des romans qui exercent une influence néfaste) mais elle les balaie rapidement (2008: 182). 19 Les nouvelles règles managériales supposent que chacun „s’immerge et se soumettre à une fiction commune, celle de l’entreprise comme on se laisse captiver par un roman“ (2008: 94). 20 „il présuppose cette attitude propre aux univers fictionnels, la suspension d’incrédulité, véritable idéal-type de la nouvelle économie“ (2008: 89). 21 Il souligne néanmoins à plusieurs reprises sa communauté de vues avec lui (2011: 66 note 1). 22 Dans le langage médical, le frayage désigne le passage d'une excitation d'un neurone à l'autre, qui se réalise par une voie déjà empruntée, correspondant ainsi à une moindre résistance; par analogie, il s’agit, en psychologie, d’un passage, d’un cheminement facilité du fait de son itération (Centre National de Ressources Textuelles et Lexicales, CNRS, atilf, http: / / www.cnrtl.fr/ definition/ frayage). 23 2010, en particulier chapitres 3 et 4. 24 On peut le mettre en relation avec le décrochage, le déplacement déictique précédemment évoqué à propos de Hamburger. 25 Il cite abondamment l’histoire de Mme de la Pommeraye dans Jacques le Fataliste, comme représentation fictionnelle du processus de frayage. 26 La métalepse est définie, surtout depuis Genette (2005), comme le passage d’un niveau narratif à un autre, par exemple quand un personnage fictionnel-dans-la fiction rencontre un personnage réel-dans-la-fiction (comme dans La Rose pourpre du Caire, Woody Allen, 1987), ou lorsque qu’Hitchcock apparaît dans un de ses films. 27 „L’activité de scénarisation est métaleptique précisément en ce qu’elle articule un scénario (fictif) imaginé pour l’avenir avec la facilitation effective de l’advenir (réel) de cette fiction.“ (2010: 86) 28 Genette insiste tout particulièrement sur cet aspect (2005). 29 Marielle Macé exprime bien le rejet de la narratologie au motif que celle-ci ignorerait les usages de la littérature et l’éloignerait de la vie: „loin de modèles sémiotiques ou narratologiques (qui ont tendance à décrire l’activité de lecture comme une opération close sur elle-même, aussi valorisée qu’elle est séparée, et qui peinent donc à faire entrer ensuite la lecture dans la vie), l’expérience littéraire s’aligne ainsi sur les autres arts et sur tous les moments pratiques dont elle est concrètement solidaire dans nos vies“ (2011: 15). 30 Il justifie au nom du storytelling la comparaison faite par G. Bush de Sadam Hussein et d’Hitler (2009: 33). 31 Salmon, en 2007, renvoie en effet dos-à-dos les deux candidats. Le démontage du storytelling de N. Sarkozy et de son équipe se précise dans la postface de 2008. 32 Un exemple illustre le caractère idéologique du débat. Hayden White, en 1999, attaque violemment Gertrude Himmelfarb qui déplore l’esthétisation du récit historique et défend „le principe de réalité“ de l’histoire traditionnelle d’un point de vue moral („Telling it as You Like it: Postmodernist History and the Flight from Fact“, Times Literary History, oct. 16, 1992). White estime qu’en dénonçant la nouvelle histoire qui veut saper l’histoire tra- 28 DDossier ditionnelle, Himmelfarb s’en prend „aux marxistes, aux femmes, aux noirs“ (1999: 34sq.). 33 „À la ‚réalité à papa‘ de la physique newtonienne, de l’âge des Lumières et du positivisme, le post-modernisme substitue la vision d’une réalité fondée sur le paradoxe, construite par les règles conventionnelles d’un jeu que nous définissons nous-mêmes, et dont la connaissance ne peut être que fragmentaire et subjective.“ (2010: 61-62) 34 Fictions et cultures (2010), collectif réalisé par A. Duprat et par moi-même, est une tentative allant dans ce sens. 29 DDossier Martina Stemberger „L’autofiction [ ] un geste politique“? Poetik und Politik der Autofiktion im Zeitalter des Storytelling Einleitung: Von Schriftstellern und Storytellern „Aujourd’hui il y a des histoires partout [ ]“, konstatiert Frédéric Beigbeder (zit. Durand 2008: 64): „Il y a trop d’histoires fausses qui nous ennuient: toute la journée, partout, des fictions tentent de nous arracher à notre torpeur“ (Beigbeder 2008: 48) wobei er auch die Frage nach Status und Funktion der Literatur im Zeitalter der universalisierten Narratomanie aufwirft: „Quelle est la place du roman [ ] dans cette époque qui croule sous le ‚storytelling‘? “ (Beigbeder 2011: 14; cf. auch Durand 2008: 64). Eine gewisse Irritation angesichts der mit dem Phänomen Storytelling (Salmon [2010: 222sq.] zufolge „un concept multiforme et nomade“, ein Ensemble diskursiver Praktiken bzw. eine Technik der Diskurs-Formatierung, aber auch ein Dispositiv im Sinne Foucaults) verbundenen Ausweitung der narrativen Kampfzone, ein gewisser Überdruss angesichts einer ungeahnten Inflation von non-literarischen Stories ist auch bei anderen Protagonisten der zeitgenössischen französischen Literaturszene unverkennbar. Kein Geringerer als Michel Houellebecq meldet sich als Anti-Storyteller zu Wort: „ça m’a toujours fait chier de raconter des histoires, je n’ai absolument aucun talent de conteur (de storyteller, pour reprendre un mot plus récent)“ (Houellebecq/ Lévy 2008: 266). Kurz: Die Literatur bleibt von der „nouvelle doxa narrative“ (Salmon 2007: 99) nicht unberührt. In der Ära des StoryTelling - StorySelling (cf. Posner-Landsch 2007) stellt sich die brisante Frage, ob die literarische Fiktion gegenüber den „fictions utiles“ (Salmon 2010: 88) aus Politik, Wirtschaft und Werbung über Strategien gesellschaftlich potentiell relevanter Kritik oder sogar des Widerstands verfügt, ob die kritische „contre-narration“ (ibid.: 213) nicht ihrerseits vereinnahmt zu werden droht. Auf das gute Geschäft mit der menschlichen „Fiktionsbedürftigkeit“ (Iser 1993: 16) scheint die Literatur des extrême contemporain mit einer Problematisierung der allzu gut gemachten Story, der narrativen Autorität und der Erzählinstanz zu antworten; mit Strategien metadiskursiver Reflexion, die explizit auf die massive Narrativisierung der Gesellschaft außerhalb des literarischen Feldes reagieren. Autofiktion: Mainstream oder Anti-Storytelling? Gerade die Autofiktion als nach wie vor kontroverses Genre 1 sieht sich im Zeitalter des Storytelling mit erhöhtem Selbstreflexions- und -legitimationsbedarf konfrontiert, zwischen der Selbsterzählung als Befriedigung eines hegemonialen Narrato- 30 DDossier Konformismus und dem seit Doubrovsky im Diskurs der „écrivains autofictionnaires“ 2 präsenten Anspruch auf ‚Transgression‘ und ‚Subversion‘ (cf. Jeannelle 2011: 57, 62) - kurz, mit der Frage: (Sich) erzählen, mit dem oder gegen den Mainstream einer per se narratophilen Epoche? Die Ambivalenzen sowohl des Storytelling als auch der Autofiktion scheinen einander zu potenzieren, wobei Letztere auch in diesem neuen Kontext als mögliche Praxis diskursiven Widerstands reflektiert wird. Doch wie ist es tatsächlich um das subversive Potential der Autofiktion in der Ära des Storytelling bestellt? „Exhibition. Étalage. Narcissisme. Nombrilisme. Individualisme. Égocentrisme. Prétention. Repli sur soi. Sclérose. Indifférence au monde. Indolence face aux choses sociales. Désaffection du politique. Autofiction: syndrome néolibéralisme, sœur aînée processus télé-réalité“ - so fasst Chloé Delaume (2010: 28) die Litanei jener Vorwürfe zusammen, die gegenüber der Autofiktion artikuliert wurden und werden. Bei allem Streben nach Défense (et illustration) eines als ‚narzisstisch‘ verschrienen Genres übersieht auch Vilain (2005: 44sq.) nicht den heiklen Status autobiographischen bzw. autofiktionalen Schreibens in der „société reality-show“, die Problematik der Selbstnarrativisierung in einem gesellschaftlichen Kontext, der ebendiese favorisiert, ja verlangt (cf. ibid.: 10). Auch Forest (2011a: 13) diskutiert die Frage, wie weit die Autofiktion sich als „une sorte de néo-naturalisme de l’intime“ womöglich komplizenhaft in eine exhibitionistische Erzählkultur einschreibt. Er kritisiert seinerseits eine Literaturkritik, die der Autofiktion ihren „nombrilisme“ vorhält und statt dessen eine - selbst den Gesetzen des „imaginaire télévisuel“ unterworfene - world fiction privilegiert (ibid.: 16); auch hier wird schließlich die écriture de soi zum Hort des Widerstands „contre le mensonge du discours partagé, contre la fausseté de la fiction ordinaire“ stilisiert (Forest 2011b: 89). Camille Laurens (2011: 141) identifiziert unter Berufung auf Foucault den erzählend reflektierten „rapport de soi à soi“ als Basis potentieller ‚Subversion‘; Delaume (2010: 77sq.) versteht autofiktionales Schreiben als Form narrativer résistance gegen die „fictions collectives“. Audeguy (2011: 69sq.) dagegen spottet über die Pseudo-Heroen autofiktionaler Erfahrungsliteratur, „soldats de l’authenticité [ ] soulignant pudiquement, les yeux baissés, leur immense courage“ und deren absurden ‚revolutionären‘ Anspruch: „Comment une telle production ose-t-elle se réclamer d’une quelconque subversion, dans un monde dominé par l’ego tripping? “ Mit einem Wort: Die Diskussion um das ‚mauvais genre‘, das nach wie vor beträchtliches Provokationspotential besitzt, geht weiter. „Mauvais genre, genre mauvais“: Annäherungen an ein anrüchiges Genre „Mauvais genre, genre mauvais. [ ] Mauvais genre, genre mauvais.“ (Delaume 2010: 12) Es ist hier nicht der Ort, um auf die theoretische Debatte um die Autofiktion im Detail einzugehen bzw. die ‚Karriere‘ des Terminus seit seiner Einführung durch Dou- 31 DDossier brovsky nachzuzeichnen. 3 Die Autofiktion - in diesem Sinne „victime de son succès“ (Vilain 2005: 203) - erscheint heute mehr denn je als vages, unscharf abgegrenztes Konzept; „ce mot un peu fourre-tout“ (Burgelin 2011: 42) wird von verschiedenen Protagonisten der literaturtheoretischen Diskussion sehr unterschiedlich (weit) gefasst: „tout le monde utilise le vocable à sa façon [ ] au point que les interprétations contradictoires du mot autofiction pourraient remplir une anthologie“ (Colonna 2004: 15). Wohl auch dank seiner „viscosité sémantique“ (Gasparini 2008, zit. Jeannelle 2011: 63) hat sich der Begriff erfolgreich gegen die terminologische Konkurrenz behauptet (cf. Gasparini 2004: 309sq.). Vielleicht ist es jedoch gar nicht entscheidend, die ‚definitive‘ Definition der Autofiktion zu liefern; es gilt vielmehr die Frage zu reflektieren, warum gerade dieses Konzept - „catalysateur“ sui generis (Philippe Lejeune in Doubrovsky/ Lecarme/ Lejeune 1993: 9, zit. Colonna 2004: 238) - für so heftige Kontroversen zu sorgen vermag (Jeannelle 2011: 54sq.). Die (Debatte um die) Autofiktion ist auch ein Epochensymptom: „on peut dire qu’‚autofiction‘ est aussi le nom d’une mutation culturelle“ (Gasparini 2009). Autofiktion, so Gasparini unter Rekurs auf Colonna, fungiert als „mot-récit“, das (s)eine eigene Geschichte erzählt: „Mot-test, mot-miroir, il nous renvoie les définitions que nous lui assignons“ (ibid.). Rund um das „Mode-Phänomen“ Autofiktion (Forest 2011a: 12) konzentrieren sich einige zentrale Fragestellungen der zeitgenössischen Literaturtheorie, wobei es auch marktstrategische Aspekte zu berücksichtigen gilt: Der Autofiktions-Hype kann auch als Versuch der literarischen Rehabilitation der Autobiographie interpretiert werden (Vilain 2005: 8sq.); 4 nicht zuletzt auf Wunsch der Verleger werden autobiographische Texte als ‚Romane‘ etikettiert (Audeguy 2011: 69) - unter diesem Label gelangt der traditionelle „roman autobiographique“ zu neuer „légitimité littéraire“ und „visibilité éditoriale“ (Forest 2011a: 11). Das Genre bleibt jedoch ‚anrüchig‘; die Abgrenzung von den „radotages de l’auto-fiction“ (Duteurtre 2008: 54), der „bruyante ego-littérature“ (Audeguy 2011: 70), scheint aktuell im literarischen und literaturkritischen Milieu zum guten Ton zu gehören. 5 In den Augen mancher Autofiktions-Skeptiker kommt es geradezu einer Geste der Selbst-Nobilitierung gleich, die eigene (Familien-)Geschichte nicht zu autofiktionalen Zwecken zu verwerten (cf. etwa ibid.: 74). Anerkannte Schriftsteller, die sich auf das verminte Terrain der Autofiktion vorwagen, sehen sich mit der Frage konfrontiert, ob sie dergleichen denn nötig hätten. 6 Das Genre wird als regelrechte Falle wahrgenommen, aus der ein Autor sich kaum mehr zu befreien vermag: „Ce qui me fait très peur dans l’autofiction, c’est de ne plus pouvoir en sortir. Si après ça on veut persuader les autres qu’on écrit des romans, bon courage! “ (Virginie Mouzat, zit. Neuhoff 2010). Nicht nur theoretische Diskurse zum Thema, soweit sie von Adepten des autofiktionalen Projekts stammen, fallen durch ihren defensiven Gestus auf; AutorInnen deklarierter Autofiktion sehen sich einem konstanten Legitimationsdruck ausgesetzt, der Notwendigkeit, die Literarizität des Genres zu verteidigen (Laurens 2011: 134). So konstatiert Vilain (2005: 8sqq.) den historisch widersprüchlichen Umgang 32 DDossier mit Praktiken der Selbsterzählung und versucht, die „parole de soi“ - „ce genre compromettant“, von dem sich Schriftsteller, „soucieux de maintenir leur texte dans les quartiers respectables de la Littérature“, nach Möglichkeit fernhalten - gegenüber den Vorwürfen des Narzissmus, des Exhibitionismus, der bloßen ‚Schreibtherapie‘ etc. zu rehabilitieren. Überaus misstrauisch betrachten das Etikett ‚Autofiktion‘ selbst AutorInnen, deren Œuvre eine unübersehbare Affinität zu ebendieser aufweist; so problematisiert Christine Angot die entsprechende Kategorisierung ihrer Werke mit dem Argument, diese stelle die literarische Qualität eines Textes in Frage und sei dazu angetan, die Aufmerksamkeit des Publikums vor allem auf die biographische Pikanterie zu lenken (cf. Angot 2011; Delaume 2010: 58sq.). ‚Klassische‘ Autofiktion bleibt, so Angot (2011: 38sq.), dem „processus mental collectif“ verhaftet, wohingegen es doch um die Demontage präfabrizierter Narrationen gehe: „L’écrivain [ ] doit tuer le discours [ ]“. Aber auch Delaume, die eine Poetik einer komplexen Autofiktion mit politischem Impetus entfaltet, zeigt sich ablehnend gegenüber literarisch anspruchsloser, unter dem Aspekt der Gesellschafts- und Diskurskritik irrelevanter „autofiction sordide“ (cf. Minh Tran Huy 2001). Kurz: Die emotionale Aufladung der Debatte ist ebenso offensichtlich wie aufschlussreich; die Inszenierung einer schriftstellerischen Persona funktioniert in der aktuellen französischen Literaturszene nicht unwesentlich über die (vorzugsweise kritische) Positionierung gegenüber der Autofiktion. Gerade in Frankreich spielt der diesbezügliche Diskurs auch eine Rolle bei der (De-)Konstruktion einer ‚nationalen‘ literarischen Identität; von Schriftstellern wie Literaturkritikern wird die autofiction als französischer Spleen belächelt. „L’autofiction, une passion française“ titelt Assouline (2011); aber auch Beigbeder, selbst dem „jeu avec le je“ (Beigbeder 2005: 133) nicht abgeneigt, spottet über das französische Faible für das Genre: „il faut admettre qu’il y a là une spécificité de notre littérature hexagonale“ (Beigbeder 2008: 47). Entsprechend sind die Advokaten der Autofiktion bemüht, deren Internationalität zu betonen (cf. etwa Forest 2011a: 13; Colonna 2004: 195). Gewiss ist Autofiktion kein exklusiv französisches Phänomen; doch wird sie in Theorie und Praxis in Frankreich mit einer Intensität betrieben wie kaum anderswo. Auch vor diesem Hintergrund scheint es von besonderem Interesse, eben am Beispiel der zeitgenössischen französischen Literatur die Metamorphosen der Autofiktion im Zeitalter des Storytelling zu reflektieren. Der ‚Dämon‘ der Theorie: Autofiktion als Labor und als Diskursgenerator „Un néologisme hante l’Empire des lettres, de l’Europe aux Amériques.“ (Colonna 2004: 11) Die theoretische Literatur rund um die Autofiktion ist in den Jahrzehnten seit Doubrovskys ‚Erfindung‘ 7 zu wahren Textgebirgen angewachsen. Von spöttischen Gegnern wird das aus ihrer Sicht eklatante Missverhältnis zwischen theoretischem 33 DDossier Aufwand und literarischem Output thematisiert: Assouline (2011) mokiert sich über „la fameuse question dite de l’autofiction, dont la fortune théorique est inversement proportionnelle à la qualité de ses fruits“; Jeannelle (2011: 55) konstatiert aber auch eine gewisse Diskrepanz zwischen „investissement polémique“ und „rendement conceptuel “. Es ließe sich freilich die Frage stellen, ob die Bedeutung des Konzepts ‚Autofiktion‘ - und des ritualisierten Autofiktions-Bashings - nicht gerade auch in dieser Funktion als Diskursbzw. Theoriegenerator zu sehen wäre; „Le démon de l’autocommentaire“ (ibid.: 63), der die Autofiktion seit ihren Anfängen heimsucht, hat auch seine Meriten. Autofiktion stellt nicht nur ein Experimentierfeld metaliterarischer Selbstreflexion dar; nicht zu Unrecht erklärt Beigbeder (2008: 47sqq.), dass eben die Autofiktion dazu beigetragen habe, auf dem Umweg über das ‚Ich‘ einen neuen Blick auf die extra-romaneske Realität zu eröffnen: „Le roman post-Nouveau roman revient donc au réalisme par le truchement du ‚moi‘. [ ] Après l’autofiction, place à l’autoréalité“. Auch Forest (2011a: 15) versucht sich an einer Rehabilitation der Autofiktion als neuer Version eines „réalisme romanesque“: „Un ‚nouveau réalisme‘? Si l’on veut.“ Autofiktion wirft die Frage nach einem stets problematischen Ich, nach dem (multiplen, instabilen) Subjekt und dem narrativen Charakter von Identität auf. Die autofictionnaires üben sich in der lustvollen Dekonstruktion der ersten Person Singular: „Et si le moi est insaisissable, pourquoi cesser de le poursuivre? Et si je n’existe pas, pourquoi le taire? “ (Laurens 2011: 139). Laurens charakterisiert den autofiktionalen Text als „une quête d’identité in progress“, als labyrinthisches Verwirrspiel, das auch die Lesenden mit einbezieht (ibid.: 136). In Burgelins Interpretation (2011: 45sq.) wird das autofiktionale Ich zum „ideologisch verdächtigen“ (Non-)Subjekt, „figure même du refus et de l’insoumission“. Insofern besitzt die Autofiktion in einer Zeit, die das Individuum dazu auffordert, zum Manager seiner Story, zum narrativen Produzenten seines norm- und marktkonformen ‚wahren‘ Ich zu werden, durchaus kritisches Potential (cf. Forest 2011a: 19). Autofiktion als per se hybrides Genre, „genre de l’entre-deux“ (Genon 2007), problematisiert die Relation zwischen ‚Realität‘ und ‚Fiktion‘. Angesichts einer Kultur des Storytelling, die ‚falsche‘, maskierte Fiktionen generiert (cf. Salmon 2007: 37sq.), fungiert sie als Schule des Misstrauens nicht nur gegenüber dem klassischen autobiographischen Narrativ, sondern auch gegenüber sonstigen Erzählungen: „L’autofiction [ ] amène le lecteur à interroger, à soupçonner ce qui lui est donné à lire“ (Genon 2007). In der Tradition Doubrovskys betrachten auch zeitgenössische Autofiktionäre ihr Genre als ‚demokratisches‘ Projekt, das eine elitäre Sichtweise der Literatur konterkariert und das ‚gewöhnliche‘ menschliche Leben als der Literarisierung würdigen Gegenstand anerkennt (Vilain 2005: 93sqq.). Die Frage einer literarischen Ethik stellt sich in der Domäne der Autofiktion mit besonderer Virulenz, da der/ die Andere hier konkret auf dem Spiel steht (Delaume 2010: 69). „Moi, j’aime bien l’autofiction des autres. Je ne le ferais pas, parce que c’est dangereux. [ ] C’est une violence à la personne à qui ça arrive“, erklärt Virginie 34 DDossier Despentes (zit. Neuhoff 2010); Vilain (2005: 47sqq.) setzt sich mit den Ambivalenzen eines „genre sans éthique“ auseinander. Autofiktion wirft die Frage nach der Relation von Narration und Macht, nach den Verfügungsrechten über die Lebensgeschichten anderer Menschen auf - eine Frage, die im Zeitalter der Reality show längst keine exklusiv literarische mehr ist. 8 Von der Brisanz dieser Problematik zeugen auch die diversen juristischen Nachspiele autofiktionaler Publikationen (cf. Gasparini 2004: 237), die die französische Literaturszene in der jüngeren Vergangenheit erlebt hat, von Angot bis Laurens. Letztere konstatiert (selbst-)illusionslos den grenzenlosen „Egoismus“ des schreibenden Subjekts, das sich fremdes Lebensmaterial zu Zwecken des literarischen Recycling aneignet: „L’égoïsme des écrivains est infini“ (Laurens 2006: 38). Die Erzählerin in Ni toi ni moi kommentiert ironisch die Perspektiven eines neuen, offenbar auf Erfolgskurs befindlichen Genres, des „Hassromans“: „Nouveau genre littéraire: le roman de haine! “ (ibid.: 33). Mit der pikanten Gattung der „Histoires d’ex“ („De Justine Lévy à PPDA“) beschäftigte sich ein Dossier des Nouvel Observateur (cf. Bui 2011); auf literaturtheoretisch interessanterem Level bewegte sich die Kontroverse um Marie Darrieussecqs angebliches „psychisches Plagiat“ an Laurens’ autofiktionalem Text Philippe. 9 Während Audeguy (2011: 71) in anderem Kontext über die „fétichistes du vécu“ spottet, verleitet die Valorisierung einer problematischen ‚Authentizität‘ Forest (2011b: 93) dazu, dem Vorwurf des „plagiat psychique“ eine gewisse Plausibilität zuzubilligen. Wie auch immer: Die im pro-autofiktionalen Diskurs inflationär präsente Metapher des (literarischen, philosophischen, gesellschaftskritischen) ‚Labors‘ hat in diesem Sinne ihre Berechtigung. In einer „ère de débâcle théorique et de régression critique“ bleibt die Autofiktion ein privilegierter Ort der literatur- und gesellschaftstheoretischen Reflexion; ein „laboratoire“ (Forest 2011a: 16sq.; cf. auch Burgelin 2011: 41), in dem ein sich selbst fraglich gewordenes Ich sich in allen erdenklichen Modalitäten erprobt. Eine Poetik des Widerstands? Die ‚Politik der Autofiktion‘ zwischen Anspruch und Realität Das Genre lädt also dazu ein, etliche zentrale Problematiken der Literatur und darüber hinaus der Gesellschaft der Gegenwart zu reflektieren, wie nun an einigen konkreten Textbeispielen illustriert werden soll. Anderen gleichfalls vielversprechenden Spuren kann aus Platzgründen nicht weiter nachgegangen werden; in Vilains „métaphysique de la timidité“ (2010: 60) - nicht zuletzt als (Auto-) Fiktionsgenerator (120sq.) - wird der „timide“ in einer Epoche der „Hyperkommunikation“ (34) zur Figur des Widerstands gegen eine Kultur des Storytelling bzw. des verlogenen „positive thinking“ (36), zur Figur, die die Funktionsweisen von Sprache und Erzählung fundamental in Frage stellt (176). Auch Laurens (2011: 140) betont die gesellschaftliche Relevanz der Autofiktion; diese reflektiere die andernorts ge- 35 DDossier leugneten „violences insupportables“, denen das Individuum sich ausgesetzt sieht. Ein Text wie Ni toi ni moi problematisiert die Erzählbarkeit menschlicher Existenz; hier artikuliert sich eine prinzipielle Skepsis gegenüber einer Narration, die das Leben zu vereinnahmen droht (Laurens 2006: 22, 35sqq.). 10 Laurens rekurriert auf die Metapher des Palimpsests, um die Non-Linearität einer nur mit Verlusten narrativisierbaren Wirklichkeit zu verdeutlichen (ibid.: 23); ihre Protagonistin, Opfer einer Sprachkrise von Lord Chandos-Dimensionen, reagiert allergisch auf die „Plastikwörter“ (cf. Pörksen 1988) des öffentlichen Diskurses, einer manipulativen, mortifizierten Sprache - Autofiktion, wie sie hier betrieben wird, darf auch als diskursanalytisches und -kritisches Projekt gelten (cf. etwa Laurens 2006: 120). Catherine Cusset (1999: 42) wiederum meditiert über die autobiographische Basis jeglichen Schreibens („on n’invente rien: on déplace et on transpose, c’est tout“) und über die Autofiktion als ‚mauvais genre‘, das - „la nouvelle mode chez les universitaires“ (285) - akademische Karrieren zu kompromittieren vermag (77) Im Folgenden sollen einige grundsätzliche Fragen rund um Selbstverständnis, Selbstinszenierung und kritisches Potential der zeitgenössischen Autofiktion ausgehend vom Werk Chloé Delaumes 11 diskutiert werden. Letzteres, angesiedelt in der Tradition des Oulipo und des formalistischen Experiments (cf. Minh Tran Huy 2001), steht für eine anspruchsvolle „autofiction expérimentale“ (cf. Genon 2010). Delaume verfasst hermetische Texte mit prononcierter metalinguistischer Dimension, mit komplexer, ja manierierter Syntax, voll von Wortspielen, extrem verdichteten intertextuellen Allusionen, extravaganten Neologismen, aber auch ausgesuchten Archaismen; Texte, die es den Lesern alles andere als leicht machen und gezielt eventuelle naiv voyeuristische Lesarten decouragieren (Delaume 2010: 66). Kurz: Ihr Werk ist besonders dazu angetan, die Unterstellung zu widerlegen, Autofiktion habe nichts als banalen Alltags-Exhibitionismus in anspruchsloser Form zu bieten. Delaume positioniert sich als Advokatin einer ‚schwierigen‘ Literatur, wobei ihre Diabolisierung der bloßen ‚Unterhaltungsliteratur‘ (cf. etwa ibid.: 17) 12 ihr eine gewisse Häme eingetragen hat (cf. etwa Galakof 2009); auch als Leiterin der Reihe Extraction (Verlag Joca Seria) betreibt sie eine pro-experimentelle Literaturpolitik. Der formalistische Anspruch verbindet sich jedoch mit einem ausgeprägten Bewusstsein für die eigene gesellschafts- und medienkritische ‚Mission‘ 13 - wobei die Frage legitim ist, inwieweit diese Texte ein relevantes Publikum zu erreichen vermögen. 14 Delaumes Poetik ist auch insofern besonders aufschlussreich, als Autofiktion hier zur Kunst „multi-supports“ wird (Delaume 2010: 62). 15 Die Schriftstellerin thematisiert auch andere (inter-)mediale Manifestationen des Genres (etwa „l’autofiction en BD“ oder „[l]es nouvelles formes numériques de l’autobiographie fictionnalisée, les blogs“ [ibid.]) und experimentiert selbst mit unterschiedlichen Medien. 2002 initiiert sie ihr Projekt Corpus Simsi (cf. Delaume 2003), dessen Titel eine ironische postmoderne Passionsgeschichte verspricht. Autofiktion als Computerspiel: Auf Basis von Les Sims™ kreiert die Autorin ihre virtuelle Doppelgängerin; Chloé Delaume, „personnage de fiction sans domicile fixe“, 16 redigiert ihren eige- 36 DDossier nen Blog („Autofiction en ligne, une variation“ [Delaume 2010: 87 [A] ]) und lädt die Leser bzw. User zur kreativen Interaktion ein. Die Ko-Autoren können die Sims- Figur ‚Chloé Delaume‘, als narratogenes „Virus“ definiert und eingekleidet von Christian Lacroix, in ihr jeweiliges Spiel integrieren (cf. Delaume 2003: 125); das Ich wird zum kollektiv autorisierten Konstrukt. 17 Auch in anderen Texten entfaltet Delaume ein Programm zur multimedialen ‚Aktivierung‘ der Rezipienten; 18 mit La Nuit je suis Buffy Summers (Delaume 2007b), „livre-jeu [ ] livre-je“ (Delaume 2010: 91 [A] ), legt sie einen ‚interaktiven‘ Roman vor, der das Imaginarium der TV- Serie rund um Vampirjägerin Buffy 19 aufgreift und die Leser zum Spiel mit dem „Je élastique“ der Autofiktion einlädt (ibid.: 92sq. [A] ). Ausgehend von Delaumes Werk lässt sich aber auch besonders gut die Frage reflektieren, wie weit autofiktionales Schreiben, will es einen gewissen Grad von Intensität und Relevanz erreichen, auf die Exzeptionalität des autobiographischen Materials angewiesen ist. Degeneriert die Autofiktion unweigerlich zur „consignation d’un quotidien quelconque“ (ibid.: 28), wenn der ‚Motor‘ der individuellen Leidenserfahrung hinter der Selbst-Fiktionalisierung fehlt? Wenn Audeguy (2011: 72) die Absenz von „autofictions jubilatoires“ in der zeitgenössischen französischen Literatur beklagt, so ist in der Tat nicht zu übersehen, dass etliche der ‚interessanteren‘ autofictionnaires überdurchschnittlich problematische Lebensgeschichten aufzuweisen haben. Delaume bestätigt diese Affinität der Autofiktion zur privaten Katastrophe; doch gerade diese konstituiere auch ein subversives Potential - nicht umsonst suche man dieses ‚anrüchige‘ Genre aus dem narrativen „biotope commun“ zu verbannen (Delaume 2010: 71). Autofiktion, lapidar als „une négociation de la douleur“ definiert (51), sei jedoch keinesfalls auf die para-literarische „auto-thérapie“ (74) zu reduzieren: „L’autobiographe écrit sur sa propre vie. L’autofictionnaliste écrit avec“ (20). Kaum jemand dürfte besser geeignet sein als Delaume, um derlei Fragen am eigenen Leib zu reflektieren. Die Geburt der Autofiktion aus dem Geist der Familientragödie: Delaumes Werk verarbeitet die desaströse Kindheitsgeschichte eines bedrohten Ich, das Zuflucht in der Sprache sucht (cf. etwa id. 2001: 53), das Schreiben als Überlebens- und Rachestrategie kultiviert (cf. etwa id. 2010: 13, 73, 93 [A] ). Ein fragmentiertes Subjekt, dem die eigene Biographie zum ‚(auto-)friktionalen‘ Text gerät (id. 2001: 110), 20 erfindet sich in einem performativen Schreib-Akt (cf. id. 2012: 14) als „personnage de fiction“ neu. 21 Delaumes Werk ist vor allem auch insofern von Interesse, als die Autorin Autofiktion explizit mit einer gesellschaftskritischen ‚Mission‘ ausstattet - dabei aber zugleich eine gewisse ironische Distanz wahrt. In La Règle du Je ist das erzählende und theoretisierende Ich soeben dabei, seine neuesten Reflexionen zum Thema ‚Politik der Autofiktion‘ zu rekapitulieren, als sich - in einer der für Delaumes Texte charakteristischen polyphonen Sequenzen - die kritische Stimme des Lebensgefährten einmischt: „Peut-être aussi que d’un point de vue philosophique Chloé on pourrait Chloé envisager Chloé l’autofiction comme Chloé n’en fais pas trop quand même hein, l’autofiction ça va pas sauver le monde, ma chérie“ (Delaume 2010: 57). 22 37 DDossier Die Welt als Wille und Videodrome: Von der ‚Verfügbarmachung‘ des Subjekts „Peut-on rester au monde quand on a habité dans la télévision [ ]“ (Delaume 2006: 128) Bei Delaume bleibt es nicht bei der bloßen Theorie einer gesellschaftskritischen Autofiktion; besonders eindrücklich illustriert dies ihr aus aktuellem medienpolitischem Anlass entstandenes TV-Projekt. Patrick Le Lay, PDG von TF1, sorgte im Jahr 2004 für Empörung, als er erklärte, das Fernsehen verkaufe seinen Werbekunden im Wesentlichen „le temps de cerveau humain disponible“. 23 Le Lays Statement, auf das u.a. Storytelling-Theoretiker Salmon mit seinem Pamphlet Verbicide. Du bon usage des cerveaux humains disponibles reagierte, fungierte auch als Initialzündung für Delaumes J’habite dans la télévision (cf. Delaume 2010: 89 [A] ), „un projet multi-supports, portant sur la confrontation des fictions individuelles face au formatage de la fiction collective imposée par la société spectaculaire“. 24 Im Rahmen einer „expérience totale“ (ibid.: 90 [A] ), die 22 Monate Intensiv-Fernsehen samt minutiöser Dokumentation von Körperreaktionen, Gedanken und Gefühlszuständen vorsieht (Delaume 2006: 42), 25 wird an eigener Person getestet, was es mit der „mise en disponibilité du cerveau“ auf sich hat: „S’écrire dans ce réel qui nous fictionnalise. Se réapproprier sa propre narration“ (Delaume 2010: 90 [A] ). In Form eines parodistischen TV-psychiatrischen Protokolls verzeichnet Delaume die Spuren, die der televisionäre Exzess an Psyche und Physis hinterlässt. So geht die Konfrontation mit Dauerreklame für Kartoffelchips am fernsehenden ‚Versuchstier‘ auf zwei Beinen nicht spurlos vorüber; im Munde Delaumes werden die „chips Lay’s“, die die Erzählerin durch ihre TV-induzierten nokturnen Fressorgien begleiten (Delaume 2006: 66), zum hochideologischen Junk food, als ‚Studienobjekt‘ verglichen mit dem Produkt professionellen Polit-Marketings: „Nous entendrons par objet absolument tout ce que l’on veut, Nicolas Sarkozy ou un paquet de chips“ (ibid.: 71). Delaume karikiert die pseudo-elitäre Pose jener, die sich von der Unterschichts- und Bildungsverlierer-Problematik TV-Manipulation nicht betroffen glauben (ibid.: 12), einen Kultursnobismus, der dem ‚vulgären‘ TV den Konsum von Erzählungen „sur support papier“ vorzuziehen vorgibt (16). 26 Sie thematisiert den Selbstbetrug des vermeintlich mündigen Medienkunden, die Ambivalenzen eines ‚kritischen‘ Fernsehens („Un programme qui vous apprend que Patrick Le Lay vend à Coca- Cola du temps de cerveau humain disponible“ [18]) ebenso wie die Illusion des „métalangage protecteur“ (20). Der Text - intertextuelles Patchwork - verarbeitet u.a. statistisches Material über das TV-Konsumverhalten der französischen Durchschnittsbevölkerung (12), Informationen über die französische Mediengeschichte (53sq.) wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse aus den kommerz-affinen Domänen des „neuromarketing“ bzw. der „Neuroeconomics“ (31sq.). Schlüsselsätze des Medien-Machers werden als Refrain in den Text eingearbeitet, so in 38 DDossier einem regelrechten Wechselgesang zwischen Le Lay, der Erzählerin und dem Petit Robert (14sqq.). Der Rekurs auf die Autorität des Wörter-Buchs ist bei Delaume eine zentrale Strategie; die Macht des Wortes wird als Instanz der Résistance beschworen: „Le Verbe est le pouvoir. Ne l’oubliez jamais. [ ] Français encore un effort si vous voulez rester humains“ (88sq.). Die Autorin analysiert die „Kolonisierung“ (cf. Oliver 2004) des menschlichen Bewusstseins; nach einem TV-Trimester hat das ‚sujet‘ zu denken aufgehört, sich in eine diskursive Recyclingmaschine verwandelt (Delaume 2006: 104sqq.). Ebenso wie in Beigbeders 99 francs (cf. Beigbeder 2000) werden Parallelen zwischen zeitgenössischen Marketingbzw. TV-Manipulationstechniken und den Faschismen des 20. Jahrhunderts hergestellt (cf. Delaume 2006: 34sq.), aber auch religiöse und publizitäre ‚Gehirnwäsche‘ assoziiert (cf. 37sqq.). In einem Akt der Tele- Fusion löst das dauerexponierte Ich, dem Simulakrum der TV-Realität verfallen, sich in einem abstrakten Wir auf (110). 27 Delaume reflektiert den téléréalisme - „une phase décisive de l’autophagie capitaliste“ (164) - im sozioökonomischen Kontext ebenso wie den (televisionären und sonstigen) Terror der Geschichten, den Trend zur universellen Narrativisierung als ‚totalitäres‘ Phänomen. Menschen werden in Stories transformiert, die in der „grande fiction collective“ aufgehen; „les fictions individuelles“ solange bearbeitet, bis sie sich in die Lüge einer glatten TV- Welt einfügen (165). Das (In-)Dividuum 28 wird zum Statisten im perversen „Märchenbuch“ jenes mythischen „Ogre“ (166), der - Wörter- und Wörterbuchfresser (90), Narrato-Terrorist der „kollektiven Fiktion“ (117) - als unheimlicher Wiedergänger durch Delaumes Werk geistert. Delaume formuliert hier bereits ihre Poetik der Wachsamkeit und des Widerstands, die Weigerung, sich gehorsam ‚schreiben‘ zu lassen: „je renonce aux grands livres des fictions collectives, je refuse d’être écrite“ (ibid.: 95). Ein Stück erzähltes Leben wird gegen jene „kollektive Fiktion“ in die Waagschale geworfen (146), wobei das Ich seine Skepsis gegenüber Geschichten aller Art bekundet (45); die Reaktion auf die Kultur des Storytelling oszilliert zwischen dem Entwurf hyper-reflexiver Gegen-Narrationen und der Verweigerung der Erzählung überhaupt. Den medialen Techniken des „formatage d’individus“ (148) gegenüber weniger resistent als erhofft, verschwindet jenes Ich schließlich in einer virtuellen Parallelwelt; lediglich ein Polizeiprotokoll zeugt von der rätselhaften disparition einer gewissen Chloé Delaume (152sqq.). Dieses prekäre Ich, das die Chronik seiner angekündigten Auflösung signiert, aber dennoch auf seiner eigenen „narration“ insistiert, lanciert einen finalen Appell an eventuell noch vorhandene Adressaten, ihre Geschichte zu retten (168). „Man wird nicht als Ich geboren“: Selbst-Fiktionalisierung als Subversion? La Règle du Je schildert vor dem Hintergrund eines ausführlichen theoretischen Panoramas „Les aventures de Chloé Delaume au pays de l’Autofiction“ (Delaume 39 DDossier 2010: 15); 29 der Text - zwischen Essay und Fiktion angesiedelt 30 - richtet sich gezielt gegen die aktuelle Tendenz zur Devalorisierung des Genres. Die Autorin, die sich als „Praticienne de l’autofiction“ definiert (ibid.), verbindet akademischen Diskurs und literarische Reinszenierung der existenziellen Not eines Ich, das sich an das rettende Konzept „Autofiktion“ klammert (13); vor allem jedoch artikuliert sie hier explizit ihr Programm einer „Politique de l’autofiction“ (77sqq.). Delaume operiert wiederum mit Techniken der Montage aus unterschiedlichen Diskursfragmenten; das heikle Sujet Autofiktion wird in einem kritischen Polylog, in dem Partner, Leser, Literaturtheoretiker und Wörterbücher, Freunde und/ als Feinde bunt durcheinander sprechen, reflektiert. Ein anonymes ‚ils‘ formuliert - Chor einer postmodernen Tragikomödie - nicht nur allerlei idées reçues darüber, wie man zu leben und zu schreiben habe, sondern fungiert auch als Sprachrohr für diverse dem Projekt Autofiktion gegenüber skeptische bis negative Positionen (cf. etwa ibid.: 68sq.). Die Autorin bezieht einen Standpunkt strategischer Marginalität (die freilich die erfolgreiche Kommerzialisierung nicht scheut: Delaume distanziert sich ausdrücklich vom nicht mehr zeitgemäßen Mythos der „artistes maudits“ [cf. Minh Tran Huy 2001]). Hier spricht ein Ich, das die eigene ‚Abnormität‘ bewusst für sich reklamiert („La prostitution, le meurtre, la psychose, le deuil, le suicide. La mort, l’aliénation. C’est de ça que je parle, c’est de là que j’écris“ [Delaume 2010: 66, cf. auch 69] 31 ); Theoriebildung ist von der narrativen Sorge um ein in seiner Integrität bedrohtes Selbst nicht zu trennen (und zwar über die Rhetorik der genrespezifischen „Lieux de sincérité“ [cf. Gasparini 2004: 231sqq.] hinaus). Der Gipfel der Auto-Marginalisierung ist dort erreicht, wo das Ich hinter dem Text sich selbst zur Fiktion erklärt: „Tout ceci doit être considéré comme dit par un personnage de roman“ (Delaume 2010: 15). Autofiktion erscheint als existenzielles ästhetisches Projekt (ibid.: 56), dessen Ziel nicht (nur) ein Werk (und erst recht die ambivalente Perspektive der Œuvres complètes), sondern auch bzw. vor allem ein gelingendes Leben ist: „Je ne cherche pas à faire œuvre, mais surtout à faire vie“ (7). Es bleibt jedoch nicht bei einem Konzept der Autofiktion als mehr oder minder erfolgreicher Lebensbewältigung. Aus dem privaten Trauma entfaltet sich eine auch intersubjektiv relevante Reflexion über die Konditionierung des Individuums im Sinne der Foucaultschen ‚Gouvernementalität‘. Die ‚Mythomanie‘, und sei sie auch psychopathologischen Ursprungs, wird zur Geste des Widerstands (52). Die „fictionnalisation de soi, lucide“ (19) ermöglicht nicht nur die Distanzierung vom (un-)heimlichen „roman familial“ (6), sondern richtet sich auch gegen die „fictions collectives“ aller Art, nicht zuletzt - unter Rekurs auf Foucault - gegen psychiatrische (und psychoanalytische) Narrative; auch hier sieht sich das rebellische Ich mit einer repressiven „fiction extérieure“ konfrontiert (23). Jenem Chor der kritischen Stimmen, der Autofiktion als Substitut für die sprichwörtliche Couch ridiculisiert (ibid.: 75), setzt Delaume - unter Berufung auf Foucault und auf Christian Salmon - ihre „Politik der Autofiktion“ entgegen: „Je répète: fictions collectives. Familiales, culturelles, religieuses, institutionnelles, sociales, 40 DDossier économiques, politiques, médiatiques: je me refuse aux fables qui saturent le réel. [ ] L’autofiction, une piste. Une forme littéraire parfaitement subjective, où le Je se libère des fictions imposées“ (77). Die écriture du je wird zur Widerstands- und Überlebensstrategie in einem System, das die Geschichten seiner ‚Insassen‘ (vor-)schreibt und kontrolliert: „L’autofiction un geste, un geste politique. [ ] Écrire le Je relève de l’instinct de survie dans une société où le capitalisme écrit nos vies et les contrôle“ (78). Der intimen - bzw. ‚extimen‘ (cf. Vilain 2005: 89sqq., Colonna 2004: 13) - Fiktion wird überindividuelle Relevanz zugeschrieben; der Kurzschluss zwischen privat und politisch ist Programm: „Travailler sur l’intime, parce que, lettres capitales: Le privé est politique“ (Delaume 2010: 66; cf. auch id. 2012: 81). La Règle du Je, eigenwilliges Portrait of the artist, reflektiert auch den Werdegang einer jungen Schriftstellerin, die sich zunächst um den Segen diverser ‚Koryphäen‘ für ihr autofiktionales Schreiben bemüht; die Auseinandersetzung mit deren ‚autoritären‘ Narrativen mündet jedoch in die selbstbewusste Neubestimmung der eigenen literarischen Identität. Der Text dokumentiert auch diesen theoretischen Parcours, an dessen Ende das Ich die Definitionsmacht über seine Version der Autofiktion und über seine Lebens-Geschichte/ n (zurück-)gewonnen hat (Delaume 2010: 6). 32 Die Auto-Fiktionalisierung erscheint als Akt der diskursiven Selbstermächtigung eines Subjekts, das „maître de mon destin“ zu bleiben bzw. zu werden gedenkt - woraus sich mit mathematischer Präzision die Formel von der Politizität des Ich ergibt: „L’autofiction = un pas de côté = réappropriation de sa vie par la langue = mon Je est politique“ (81). Durchaus politisch ist auch Delaumes Versuch, den literarischen Schaffensprozess zu ‚demokratisieren‘: Die Problematik narrativer Autorität wird kontinuierlich thematisiert, in das eigene autofiktionale Projekt involvierten Personen eine Form limitierter Ko-Autorschaft zugestanden: „À leur fictionnalisation je veux qu’ils participent“ (ibid.: 68). 33 Am Ende steht wiederum der Appell an den Adressaten, der mit der Frage nach seiner eigenen Geschichte konfrontiert, zu deren kritischer Reflexion aufgefordert wird (82); auch an die Lesenden richtet sich jenes performative Programm, das Delaume in Abwandlung der mittlerweile x-fach geflügelten Maxime des Erasmus von Rotterdam bzw. - in der feministischen Version - Simone de Beauvoirs proklamiert: „On ne naît pas Je, on le devient“ (8). 34 (Provisorische) Conclusio Autofiktion im Zeitalter des Storytelling, zwischen Komplizenschaft und Résistance: Angesichts zweier kontrovers diskutierter Problematiken der Literatur- und Kulturwissenschaft, deren Interrelation in diesem Beitrag reflektiert werden sollte, ist es aus der Perspektive der Zeitgenossenschaft kaum angebracht, eine definitive Conclusio zu formulieren. Wenn die Literatur des extrême contemporain nicht umhin kann, auf den Trend des Storytelling zu reagieren, so vollzieht sich diese Reaktion aus Gründen, die hier deutlich geworden sein dürften, in der Do- 41 DDossier mäne der gerade in Frankreich heiß umstrittenen Autofiktion mit besonderer Intensität. Keinesfalls sollte an dieser Stelle jener bei Delaume treffend parodierte Anspruch reinszeniert werden, Autofiktion als Form widerständiger Selbsterzählung könne quasi ‚die Welt retten‘; illustriert werden sollte jedoch, dass die Autofiktion - in der literarischen Praxis, aber auch als Stimulans theoretischer Diskurse - trotz aller (teilweise nicht unbegründeten) Skepsis gegenüber dem ‚mauvais genre‘ nach wie vor ein gewisses kritisches Potential besitzt. Anders, Günther, Die Antiquiertheit des Menschen, vol. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution [1956], München, Beck, 1992. Angot, Christine, „Acte biographique“, in: Forest (ed.) 2011, 31-40. 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Gasparini 2004: 240. 5 Die Devalorisierung der Autofiktion im literaturkritischen Diskurs hat auch eine genderbezogene Komponente; sie geht oft genug mit deren ‚Feminisierung‘ einher. So konstatiert der Verfasser einer Studie über Sexe et littérature aujourd’hui eine spezifische ‚weibliche‘ Affinität zum Genre, wobei die „autofictionnaires“ ein weiteres Mal gegen die „vraies romancières“ (deren Fehlen in der zeitgenössischen Literatur der Autor beklagt) ausgespielt werden, cf. Bessard-Banquy 2010. 6 So wurde Emmanuel Carrère als „vrai et estimable fictionniste français“ der ‚Sündenfall‘ seines Roman russe („autofiction outrancière“) übelgenommen, cf. Berton 2007. 7 Zur Kontroverse um die ‚Vaterschaft‘ des Konzepts Autofiktion cf. Vilain 2005: 169sqq. 8 Mittlerweile existiert auch in Frankreich eine „association des victimes de la téléréalité“, cf. Delaume 2006: 126. 9 Cf. Laurens 2007. Darrieussecq setzt sich auch literaturtheoretisch mit den Plagiatsvorwürfen auseinander, mit denen sie zwei Mal im Lauf ihrer Karriere konfrontiert war (cf. Darrieussecq 2010); ebenso wie Salmon (1999) betont sie, wie sehr Plagiatsvorwürfe als (nicht nur literatur-)politische ‚Waffe‘ fungieren können. 10 Cf. zu dieser Problematik Thomä 2007: 94. 11 Es handelt sich um ein von Boris Vian und Antonin Artaud inspiriertes Pseudonym, cf. Delaume 2010: 5sq. 12 Auch in punkto Musik positioniert sich Delaume (2007: 61) gegen das bloße „divertissement“. 13 Von 2005 bis 2007 betreute Delaume neben ihrer literarischen Tätigkeit das Forum von Daniel Schneidermanns Arrêt sur images, cf. Grell 2009; Delaume 2006: 126. 14 Delaume ist sich über dieses Dilemma im Klaren; sie treibt ein raffiniertes Spiel mit ihren Lesern, deren potentielle Reaktion, ja möglicher fluchtartiger Ausstieg aus dem Text ironisch antizipiert wird, cf. etwa ibid.: 11. 44 DDossier 15 Zur Relevanz des Konzepts ‚Autofiktion‘ abseits der Literatur cf. auch Colonna 2004: 199. 16 Cf. die Rubrik ‚Simsologie‘ auf der Website der Autorin. 17 Delaumes Angebot virtueller Ko-Narration wurde angenommen: In La Règle du Je berichtet die Autorin, wie ihr diverse Screenshots von den aktuellen Abenteuern ihres Avatars zugeschickt werden, Delaume 2010: 87 [A] . 18 In J’habite dans la télévision wird im Text auf ein dazugehöriges Audio-Dokument auf der Website der Autorin verwiesen (cf. Delaume 2010: 90sq. [A] ); auch in Dans ma maison sous terre (Delaume 2009) referieren die Kapitel jeweils auf akustische ‚Paralleltexte‘ (cf. Delaume 2010: 93 [A] ). In La Dernière Fille avant la guerre werden literarischer „pacte de lecture“ und musikalischer „pacte d’écoute“ parallelisiert (Delaume 2007a: 99); schließlich reflektiert Delaume Perspektiven einer „musikalischen“ Autofiktion (Delaume 2010: 93 [A] ). 19 Buffy the Vampire Slayer, in der französischen Fassung Buffy contre les vampires. 20 Doubrovsky selbst rekurriert bereits spielerisch auf die Variante „autofriction“ (Doubrovsky 1977: 4 e de couverture). Den Begriff ‚friktional‘ gebraucht Ette (2001: 43sqq.) in anderem Kontext. 21 Als rituelle Formel kehrt die Proklamation der eigenen ‚Fiktivität‘ in Delaumes Texten, leicht variiert, immer wieder, cf. etwa Delaume 2010: 5, 21, 79, 82; Delaume 2007a: 8, 63, 103; Delaume 2012: 13, 17, 113. 22 In La Dernière Fille avant la guerre mokiert sich die autofiktionale Erzählerin über die Versuchung der „rébellion [ ] mignonne“, der „subversion Haribo“ (ibid.: 60), der ihr Alter ego zu verfallen droht. 23 Die AFP-Depesche vom 9. Juli 2004 wurde von Libération unter dem Titel „Patrick Le Lay, décerveleur“ (10./ 11. Juli 2004) kritisch aufgegriffen, cf. Salmon 2007: 16, 57sq. 24 Website, Rubrik „Chantiers sonores“, J’habite dans la télévision. 25 „[ ] je n’habitais pas mon corps mais la télévision toute l’année 2005“, Delaume 2007a: 108. 26 Der Text als potentiell subversives Denkstimulans wird mit dem Buch als kulturellem Konsumobjekt und Statussymbol kontrastiert: „Vous ne lisez pas des textes mais vous achetez des livres“ (Delaume 2006: 17). 27 An jenem Punkt, an dem das Ich unrettbar erscheint, die Geschichte eines erfolgreich verfügbar gemachten Gehirns mit Worten vermeintlich nicht mehr erzählt werden kann, verweist Delaume auf jene auf ihrer Website abrufbare Aufzeichnung ihrer Gehirnfrequenzen - enzephalogrammatischer Kommentar zur medialen ‚Kontamination‘ des Subjekts, ibid.: 110sq. 28 Cf. Anders’ (1992: 135, 141) Reflexionen über das moderne Individuum als ‚Divisum‘ sowie Deleuzes (2009: 244) Konzept des ‚dividuel‘, Produkt der postmodernen „sociétés de contrôle“. 29 Der Text entfaltet ein plastisches topologisches Imaginarium; auch Delaume (2010: 15) zitiert die durch Michel Houellebecqs jüngsten Roman zu neuer Popularität gelangte Korzybski-Formel „La carte n’est pas le territoire“. Die Autofiktion ist ein imaginäres ‚Land‘, das Staatsbürgerschaftsprätendenten den „pacte délibérément contradictoire propre à l’autofiction“ (Genette 2004: 161) als quasi-bürokratische contrainte auferlegt (Delaume 2010: 18); schließlich (ibid.: 61) wird sie zur „utopie“ im strengen Sinne des Wortes erklärt. 30 Cf. Genon 2010: „Cet essai [ ] est une fiction Dans le sens que toute théorie est une fiction. Ou une autofiction qui théorise l’autofiction.“ 45 DDossier 31 Einer ähnlichen Strategie der gezielt ‚marginalen‘ Selbstverortung bedient sich auch Virginie Despentes, cf. etwa Despentes 2006: 9. 32 Delaume transformiert die autofiction („genre de magie noire“, Delaume 2012: 136), Doubrovskys Formel variierend, spielerisch zur autofixion: „Réel, d’événements et de faits strictement fictifs. Si l’on veut, autofixion“ (ibid.: 138). 33 Ähnlich evoziert auch Carrère (2009: 323) seine Vorbzw. Rücksichtsmaßnahmen bei der literarischen (Re-)Inszenierung von D’autres vies que la mienne. 34 Cf. auch den appellativen Schluss von Une femme avec personne dedans, Delaume 2012: 139sq. 46 DDossier Dieter Thomä Autorschaft zwischen Spontaneität und Liminalität. Anmerkungen zu Sartre und Foucault 1. Eine erstaunliche Entsprechung Der Eine sagt: Je sens à la hâte et puis je développe en mots, je presse un peu par ici, je force un peu par là et voilà construite une sensation exemplaire, bonne à insérer dans un livre relié. Tout ce que les hommes sentent, je peux [ ] le mettre noir sur blanc. Mais non pas le sentir. Je fais illusion, j’ai l’air d’un sensible et je suis un désert. [ ] Je voulais écrire, cela n’était pas en question, cela ne fut jamais en question; seulement à côté de ces travaux proprement littéraires, il y avait ‚le reste‘, c’est-à-dire tout: l’amour, l’amitié, la politique, les rapports avec soi-même, que sais je? (Sartre 1983: 82, 95) Der Andere sagt: On écrit aussi pour n’avoir pas un visage, pour s’enfouir soi-même sous sa propre écriture. On écrit pour que la vie qu’on a autour, à côté, en dehors, loin de la feuille de papier, cette vie qui n’est pas drôle, mais ennuyeuse et pleine de soucis, qui est exposée aux autres, se résorbe dans ce petit rectangle de papier qu’on a sous les yeux et dont on est maître. Écrire, au fond, c’est essayer de faire s’écouler, par les canaux mystérieux de la plume et de l’écriture, toute la substance, non seulement de l’existence, mais du corps, dans ces traces minuscules qu’on dépose sur le papier. N’être plus, en fait de vie, que ce gribouillage à la fois mort et bavard que l’on a déposé sur la feuille blanche, c’est à cela qu’on rêve quand on écrit. Mais à cette résorption de la vie grouillante dans le grouillement immobile des lettres, on n’arrive jamais. Toujours la vie reprend en dehors du papier [ ], jamais on arrive à se faire assez mince et assez subtil pour n’être rien d’autre que la linéarité d’un texte et pourtant c’est à cela qu’on voudrait parvenir. Alors on ne cesse d’essayer, de se reprendre, de se confisquer soi-même, de se glisser dans l’entonnoir de la plume et de l’écriture, tâche infinie, tâche à laquelle on est voué (Foucault 2011: 57sq.). Die Entsprechung zwischen diesen beiden Beschreibungen ist erstaunlich. Hier wie dort wird der Unterschied zwischen Schreiben und Leben ins Extrem getrieben, hier wie dort entwickelt sich eine Dynamik, wie man sie sonst am ehesten vom Bumerang kennt: Zunächst führt die Bewegung weg von einem arg durchwachsenen Leben, an dessen Stelle tritt das Schreiben, doch am Ende wendet sich das Blatt, es kommt zu einem Rückschlag oder zu einer Rückkehr zum Leben, welches sich aufdrängt als ein „Rest“, der „alles“ ist, oder als etwas, das „außerhalb des Papiers“ wieder hochkommt. Erstaunlich ist die Entsprechung zwischen den zitierten Passagen auch deshalb, weil sie von den größten Antipoden der französischen Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen: von Jean-Paul Sartre und Michel 47 DDossier Foucault. Fast könnte man sagen, diese Jahrhunderthälfte sei zu klein und eng für diese beiden Denker gewesen: In einem an boshafter Raffinesse kaum überbietbaren Kommentar bestritt der Jüngere dem Älteren diese Zeitgenossenschaft und bezeichnete Sartres Denken als „le magnifique et pathétique effort d’un homme du XIX e siècle pour penser le XX e siècle“ (Foucault 1994: V. I, 541sq.). Wenn ich die Entsprechung zwischen Sartres und Foucaults Überlegungen zum Verhältnis zwischen Leben und Schreiben herausstelle, so tue ich dies nicht etwa, weil ich Gefallen an der Annäherung oder gar Angleichung zwischen beiden Autoren finde. Jene Entsprechung finde ich vielmehr eher irritierend. Im Übrigen gehört das Foucault-Zitat, das so gut zu dem Sartre-Zitat passt, keineswegs zu dessen kanonisch gewordenen Selbstauskünften, es entstammt einem erst kürzlich edierten, außerordentlich interessantem Gespräch, das Claude Bonnefoy 1968 mit Foucault geführt hat. Dieses Gespräch ist ein zusätzlicher Anlass, über Sartre und Foucault neu nachzudenken. Die folgenden Überlegungen stellen einen Versuch dar, mit der Irritation über die Nähe zwischen beiden Autoren zurechtzukommen. Irritierend ist nicht so sehr die Tatsache, dass sowohl Sartre wie auch Foucault von der Tätigkeit des Schreibens - und von der Frage der Autorschaft - fasziniert sind; diese Faszination versteht sich bei ihnen als „hommes de plume“ eigentlich von selbst. Irritierend ist eher, dass beide ihre Faszination in das Schema von Welt und Gegenwelt einpassen: Die Leistung des Schreibens wird nicht etwa in einer Intervention gesehen, welcher Sartre wie Foucault doch gleichermaßen zugetan waren, sondern in einer Substitution dessen, was man behelfsweise wirkliche Welt nennen könnte, durch eine gemachte, konstruierte oder künstliche Welt, sowie in einer Substitution des Akts des Lebens durch den Akt des Schreibens. Im Lichte jenes Schemas von Welt und Gegenwelt bekommt die Alternative ‚Schreiben oder Leben‘ eine besondere Form: Das Schreiben schillert zwischen dem Schrecken der Mortifikation und dem Versprechen der Sublimierung des Lebens. Es schafft Distanz zum unmittelbaren, unverstellten Gefühl, und es stellt eine kostbare Erfahrung in Aussicht. Bei der Frage, welcher Preis hierfür zu entrichten ist, tritt dann der Bumerang-Effekt ein, mit dem man wieder auf das Leben diesseits des Schreibens zurückkommt. Verhandelt wird also die Konsonanz und Dissonanz von Leben und Schreiben. Im Folgenden möchte ich Sartres und Foucaults Deutungen der Autorschaft vergleichen. Meine Überlegungen lassen sich kurz so resümieren, dass Sartre und Foucault zwei unterschiedliche, unvereinbare Autorpositionen zuzuschreiben sind. Sartres Autor setzt, wie sich zeigen wird, auf Spontaneität, Foucaults Autor auf Liminalität. 2. Sartre oder: Die Allmacht des Autors Am Ende von Les mots verwendet Jean-Paul Sartre ein einzelnes, einziges deutsches Wort, in dem sich die Botschaft dieses Buches in höchster Verdichtung zusammenzieht. „L’homme de plume apparut, ersatz du chrétien que je ne pouvais 48 DDossier être“ (Sartre 1964: 207sq.). Sartres autobiographisches Buch über seine Kindheit gipfelt demnach in der Geburt des schreibenden Menschen. Die Rede vom „Ersatz“ lässt sich nicht nur darauf beziehen, dass mit dem „Mann der Feder“ die Ewigkeit der Schrift an die Stelle der Ewigkeit der Seele tritt. Zuallererst ist das Schreiben vielmehr ein Ersatz für das Leben. Ein Leben als Schreiben, ein Leben, das sich Hals über Kopf ins Schreiben stürzt und vollauf mit ihm identifiziert, tritt an die Stelle eines wirklichen Lebens, das dem kleinen Jean-Paul (oder „Poulou“) nicht anders als unerträglich ist und vor dem er die Flucht ergreift. Wenn der Zwölfjährige z.B. von Lisette, die er anhimmelt, wegen seines Schielens gehänselt wird, so hat er ein unschlagbares Motiv dafür, dieser Welt den Rücken zu kehren. Befassen wir uns statt mit Sartre zunächst kurz mit dem Ersatz. Wann immer etwas ersetzt wird, entwickelt sich ein Spiel von Identität und Differenz. Wenn der Ersatz nahtlos passt (wie bei dem sogenannten Originalersatzteil eines Autoherstellers), dann merkt man gar nicht, dass unter der Haube etwas anders ist als vorher. Doch nicht immer läuft es bei einer Substitution so glatt, nicht immer funktioniert die Homologie zwischen dem Einen und dem Anderen perfekt. Es gibt Ersatzteile, Ersatzprodukte oder Ersatzkandidaten, denen man ihre Behelfsmäßigkeit, Unzulänglichkeit, Andersartigkeit von weitem ansieht. Beispiele finden sich gerade dort, wo das Wort „ersatz“ Eingang in die französische und die englische Sprache gefunden hat, etwa beim „ersatz de café“ oder bei der „ersatz religion“. Gerade der Ersatzkaffee ist als Kind des Krieges aus der Not geboren; wer dieses Getränk zu sich nimmt, tut dies im trübsinnigen Wissen darum, dass es zweite Wahl ist. Erfahrungen, in denen der Ersatz mit einer Differenzerfahrung verbunden ist, macht man nicht nur mit Produkten, deren Mickrigkeit zum Himmel stinkt, sondern auch bei anspruchsvolleren gedanklichen Operationen - gerade auch bei der Idee von der Kunst als Lebensersatz, welche mit Sartres Idee vom Schreiben als Lebensersatz aufs Engste verbunden ist. Hier blüht das Geschäft von Identität und Differenz in alle Richtungen. Die Kunst als Lebensersatz, das Schreiben, das dem Leben den Rang ablaufen und sich selbst als Leben ausgeben will, sind gezeichnet von einer Ambivalenz, die gerade bei Sartre dramatische Formen annimmt. Auf der einen Seite ist die Kunst (wie das Schreiben) vom Makel des Scheins, der Illusion befleckt. Auf der anderen Seite aber protzt die Kunst (wie das Schreiben) damit, dass sie in eine schönere oder bessere Welt versetzt. Ab- und Aufwertung ringen miteinander. Sartres besonderes Verhältnis zum Doppel ‚Leben/ Schreiben‘ ist für sein Denken maßgebend - und zwar in einer Weise, wie ich gleich vorweg annoncieren will, die diesem Denken eher zum Schaden als zum Vorteil gereicht. Die Faszination, die das Schreiben als Wirklichkeitsersatz auf Sartre ausübt, ist in seinen Texten allgegenwärtig. Wenn er als Kind den Bildteil eines Lexikons betrachtete, „j’y faisais la chasse aux vrais papillons posés sur de vraies fleurs. Hommes et bêtes étaient là, en personne: [ ] je trouvais à l’idée plus de réalité qu’à la chose“ (ibid., 38sq.). Das Lesen war für ihn wie „mourir d’extase“, wie eine „abolition“ seiner selbst als eines kleines Jungen und eine Wiedergeburt als Weltschöpfer und Weltherrscher, als Besitzer einer „île aérienne“ (58, 61, cf. 47). Nach 49 DDossier dem Lesen kam das Schreiben: „Je n’existais que pour écrire et si je disais: moi, cela signifiait: moi qui écris“ (127). Autor- und Subjektposition fallen zusammen. Aus der Distanz heraus sagt Sartre: „Pour avoir découvert le monde à travers le langage, je pris longtemps le langage pour le monde“ (151). In den 1960er Jahren behandelt er die Verwechslung von Welt und Sprache mit scheinbarer Gelassenheit als Sache der Vergangenheit. Doch er bleibt an diesem Thema hängen wie an einem Angelhaken. Als er wegen seiner Erblindung nicht mehr schreiben kann, bemerkt er immer wieder, dass er damit eigentlich seine Daseinsberechtigung verloren habe. Allgegenwärtig ist die Kluft zwischen Leben und Schreiben in dem Roman La nausée von 1938: „Pour que l’événement le plus banal devienne une aventure, il faut et il suffit qu’on se mette à le raconter. C’est ce qui dupe les gens: un homme, c’est toujours un conteur d’histoires [ ]; et il cherche à vivre sa vie comme s’il la racontait. Mais il faut choisir: vivre ou raconter“ (Sartre 1975: 61sq., Hervorh. orig.). Das Leben wählend, drängt der Held dieses Romans darauf, zu „existieren“ und „les choses“ zu begegnen, die nicht nur Dekor sind, sondern „se sont délivrées de leurs noms“: „Elles sont là, grotesques, têtues, géantes [ ]. Je suis au milieu des Choses, les innommables“. Der Held ist unter Dingen, von denen nur zu sagen ist, „qu’elles existaient“ (ibid., 177, 179). Am Ende dieses Buches findet sich dann freilich eine Spekulation auf eine Form des Erzählens oder eine „histoire, par exemple, comme il ne peut en arriver, une aventure. Il faudrait qu’elle soit belle et dure comme de l’acier“. Eine Geschichte, die so hart wie Stahl (oder wie das Leben) ist, wäre allenfalls zulässig oder sogar gerade um des Lebens willen erwünscht (247). Sartres frühe Texte stehen unter dem Eindruck des Erweckungserlebnisses, das durch die phänomenologische Parole ‚zu den Sachen selbst‘ ausgelöst wurde (es fällt in das Jahr 1932; cf. de Beauvoir 1986: 189). Und doch bleibt die Hand, die nach den Sachen greift, und die Parole, die sie feiert, eine leere Geste, weil Sartre der Mittel enträt, von diesen Sachen irgendetwas zu sagen, was über die emphatische Bekundung ihrer Existenz hinausginge. Daneben und dagegen steht in La nausée eine narrative Umschreibung oder gar Bezeugung der Wirklichkeit, die sich den Vorwurf zuzieht, von ihr abzulenken. Auf beiden Seiten dieses Unternehmens trifft man also auf Wirklichkeitssuche und -verfehlung. In diesem doppelseitigen Paradox spiegelt sich die Doppelung von Sein und Bewusstsein, welche im Zentrum von Sartres philosophischem Hauptwerk L’être et le néant steht. Dem „être“ als schierer Faktizität steht das Bewusstsein gegenüber, das als „néant“ an Irrealität leidet und doch nicht von sich lassen kann. Die Selbstdistanzierung von der Realität, die Sartre als Kind zur Perfektion getrieben hat, wird nun anhand des Rollenspiels der Unaufrichtigkeit, in der berühmten „mauvaise foi“ des Kellners, der den Kellner spielt, analysiert und kritisiert (Sartre 1943: 85sqq.). 50 DDossier Die Flucht ins Schreiben und der Fluch des Schreibens bleiben in Sartres Schriften nach La nausée unverändert präsent. „Je suis ligoté à mon désir d’écrire“, 1 notiert Sartre als Soldat am 22.11.1939 - und am 6.3.1940: J’eusse peut-être été sauvé si la nature m’eût doué de sensualité, mais je suis froid. Me voilà ‚en l’air‘, sans aucune attache [ ]. Le Castor m’écrit justement que la véritable authenticité ne consiste pas à déborder sa vie de tous côtés ou à prendre du recul pour la juger, ou à se libérer d’elle à chaque instant, mais à y plonger au contraire et à faire corps avec elle. Mais cela est plus facile à dire qu’à faire, lorsqu’on a trente-quatre ans et qu’on est coupé de tout, qu’on est une plante aérienne. [ ] Il faut être fait d’argile et je le suis de vent (Sartre 1983: 355sq., Eintrag vom 6.3.1940). Was Kierkegaard in Entweder-Oder über die ästhetische Distanz, den indirekten Genuss des Genusses gesagt hat, 2 bezieht Sartre - ohne freilich auf Kierkegaard Bezug zu nehmen - in bitterer Selbstanalyse auf sich selbst. Ihm geht es nicht um das Fühlen selbst, sondern um ein Bewusstsein des Fühlens, er zieht Genuss aus einem voyeuristischen Verhältnis zu sich selbst und zur Welt (Sartre 1983: 82, Eintrag vom 28.11.1939). Damit tritt die Ambivalenz des Schreibens in ihrer ganzen Schärfe heraus: Eigentlich ist Sartres ganzer Stolz, was er in oder aus Wörtern entwickeln kann. Und doch bleibt - gemäß der am Beginn meines Beitrags zitierten Passage - ein „Rest“, der „alles“ ist. Dem Erzählen kommt in diesem Rahmen eine besondere Bedeutung zu, weil es an der Nahtstelle steht, an der Leben und Schreiben oder Sein und Bewusstsein aneinander stoßen. Zu den Leistungen des Erzählens gehört, dass es eine biographische Form über das Leben legen kann, und diese Biographie ist Sartre ungeachtet seiner gelegentlichen Invektiven gegen das Erzählen willkommen. Er preist sie mindestens zeitweise als Formwerdung des Lebens: En un sens, j’envisageais chaque moment présent du point de vue d’une vie faite, pour être exact il faudrait dire: du point de vue d’une biographie. [ ] C’est que j’aurais voulu que chaque événement me survînt comme dans une biographie, c’est-à-dire comme lorsqu’on connaît déjà la fin de l’histoire. C’est cette déception que j’ai exprimée à propos de l’aventure dans La Nausée. Bref j’étais toujours hanté par l’idée de vie. [ ] J’ai été jusqu’aux moelles pénétré de ce que j’appellerai l’illusion biographique, qui consiste à croire qu’une vie vécue peut ressembler à une vie racontée (Sartre 1983: 103-106, Eintrag vom 2.12.1939). Es ist zu beachten, dass Sartre hier eine Position im Rückblick resümiert, die er meint überwunden zu haben. Ob er diese Distanz zur frühen Faszination wirklich erreicht, ist allerdings zweifelhaft. Sein ganzes Leben lang bleibt Sartre von Autobiographie und Biographie geradezu besessen. Neben Les mots, den Carnets 1939/ 40 und den teilweise sehr ausführlichen autobiographischen Interviews der späten Jahre gehören zum biographischen Teil seines Werkes u.a. die Bücher über Baudelaire, Genet, Flaubert und der Drehbuchentwurf zu Freud. Im Laufe vieler Jahrzehnte hat Sartre verschiedene Versionen der narrativen, schreibenden, ästhetischen Formgebung des Lebens praktiziert und analysiert. Man gewinnt den 51 DDossier Eindruck, dass Sartre seinen Baudelaire-Essay von 1946 als Gelegenheit genutzt hat, auch mit einer eigenen Neigung abzurechnen: „Travestir, voilà l’occupation favorite de Baudelaire: travestir son corps, ses sentiments et sa vie; il poursuit l’idéal impossible de se créer lui-même.“ 3 Im Buch über Jean Genet 1952 schildert Sartre ein Leben, das gezeichnet ist von einem schier unerträglichen realen Leiden, dem man entweder durch das Handeln entkommt oder aber, wenn dieser Weg verbaut ist, durch die Flucht ins Imaginäre, also durch die Verwandlung des „agent“ in den „acteur“ (Sartre 1952: 385). Die Flaubert-Studie L’idiot de la famille von 1971/ 72 schließlich ist geleitet von der These, dass Flaubert sein „programme de vie“ so habe abwandeln können, dass ihm „une victoire du langage“ gelungen sei (Sartre 1971-72: Vol. 3, 442, Vol. 1, 629). Weitere Beispiele - etwa aus Sartres Mallarmé- Deutung - ließen sich anführen. Dem Schreiben kommt nach Sartre eine magische Macht zu, mit der man der Wirklichkeit Herr wird, indem man sie verführt. „Écrire, c’était saisir le sens des choses et le rendre au mieux. Et séduire c’était la même chose, tout uniment“ (Sartre 1983: 326, Eintrag vom 28.2.1940). Die Strategie besteht hier wie dort darin, sich in etwas hineinzuversetzen und in dessen Innerstes vorzustoßen. So wird die Wirklichkeit bei Sartre weiblich; sie wird zum Objekt der Begierde, das der Intellekt im voyeuristischen Exzess erobert. Mit diesem Machtgefühl des Schreibenden hängt das Rechthaberische, Dogmatische zusammen, das bei Sartre häufig durchschlägt. Man muss ihm freilich zugutehalten, dass er im Anschluss an die gerade zitierte Bemerkung hinzufügt: „Je vois avec stupeur la profondeur d’impérialisme qu’il y avait là-dedans“ (ibid., 326sq.). Dass er den Imperialismus seines Schreibens im Jahre 1939 bereits zu einer Sache der Vergangenheit erklärt, beruht allerdings auf einer Selbsttäuschung. Sartres Werk erzählt nicht nur von der Erhebung über die Welt durch das Schreiben oder die Kunst, dieses Werk zeugt auch vom Unbehagen an dieser Art von Befreiung. Dieses Unbehagen, das in Sartres Selbstkritik wie auch in seinen Porträts fiktiver und realer Helden zutage tritt, führt zu der Frage: Wie hält man es in der Realität aus, wie stellt man sich ihr, ohne ihr zu erliegen und von deren Trägheit verschluckt zu werden? Die philosophische Antwort Sartres erfolgt - sowohl systematisch wie auch chronologisch - in zwei Stufen. Er beginnt mit der Freiheit und kommt dann - spät und mehr schlecht als recht - zur Moral. Wenn man die Kunst, das Schreiben, das bloße Bewusstsein nicht als Ausweg, sondern nur als Ausflucht sieht, dann ist man zurückgeworfen auf die Faktizität. Für Sartre ist dieser systematische Schritt verbunden mit der Wendung von Husserl zu Heidegger. 4 „L’existence est un plein que l’homme ne peut quitter“, heißt es in La nausée (1975: 188). In den Tagebüchern greift er diese Wendung auf: „L’homme est un plein que l’homme ne peut quitter“ (1983: 122, Eintrag vom 4.12.1939). Er ist der Gefahr ausgesetzt, in dieser Fülle zu ertrinken, sich also etwa mit der Tatsache zu arrangieren, dass er „le produit monstrueux du capitalisme“ ist (ibid.: 355, Eintrag vom 6.3.1940). Dieser Tendenz, von der Wirklichkeit vereinnahmt und aufgesogen zu werden, stellt Sartre die „liberté“ entgegen, die er im Juli 52 DDossier 1938 in einem Brief an Simone de Beauvoir als große Entdeckung, als neues „sujet“ seines Romans L’âge de raison identifiziert. Mit dieser praktischen - keineswegs nur ästhetischen - Freiheit soll die Überschreitung geschichtlicher Zwänge gelingen, also gewissermaßen die Entleerung der Fülle des Seins, das bis in den letzten Winkel des Lebens hineingekrochen ist. Man muss damit beginnen - wie Sartre sagt -, „à [s]e nettoyer“ oder - wie die deutsche Übersetzung drastisch formuliert, sich „auszumisten“ (Sartre 1950: 125; dt. 1976: 130). Fast alle Texte, die Sartre nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs verfasst, sind dann in der einen oder anderen Weise darum bemüht, diese Freiheit von dem naheliegenden Verdacht zu entlasten, sie beziehe sich auf einen individuellen Willkür- und Kraftakt. Zur Selbstkritik sieht er sich auch aufgrund der Vorhaltungen seiner jungen maoistischen Freunde Pierre Victor (alias Benny Lévy) und Philippe Gavi veranlasst (cf. Sartre et al. 1973). Er will die Freiheit moralisch einordnen und aufwerten. Entsetzt hört er 1969 eine frühere Aussage von sich, wonach ein Mensch unabhängig von allen Umständen stets frei sei zu wählen, ob er ein Verräter sein wolle oder nicht, und reagiert darauf mit dem Ausruf: Je crois qu’un homme peut toujours faire quelque chose de ce qu’on a fait de lui. C’est la définition que je donnerais aujourd’hui de la liberté, ce petit mouvement qui fait d’un être social totalement conditionné une personne qui ne réstitue pas la totalité de ce qu’elle a reçu de son conditionnement (Sartre 1972: 101sq.). In seinen späten Jahren will Sartre der Freiheit das richtige Maß geben. Mit dem „petit mouvement“, von dem er - wie gerade erwähnt - spricht, kommt man entsprechend in einen Bereich, in dem die kleinen Schritte oder eben kleinen Bewegungen im Lebenslauf und Lebenswandel einer narrativen Versprachlichung zugänglich werden. Und doch bleibt Sartres späte Depotenzierung der großen Freiheit fadenscheinig. Es sind gerade nicht die kleinen Bewegungen, sondern die großen Gesten und dramatischen Auftritte, auf die er sowohl in seinem politischen Handeln wie in seinen philosophischen Arbeiten - und auch noch im Flaubert-Projekt - fixiert bleibt. Einerseits dramatisiert er den Zwang, andererseits dramatisiert er die Freiheit als triumphalen Gegenschlag. Die Biographie bleibt bei Sartre der Schauplatz eines Kräftemessens zwischen Vergangenheit und Zukunft, Geschichte und Freiheit. Bei ihm ist eigentlich immer high noon. So bleibt Sartres Theorie der Freiheit eine Bürde - und zwar eine Bürde, die er sich selbst im Reich des Ästhetischen, mit seiner Theorie des Autors aufgeladen hat. In einer Tagebuchnotiz vom 24.11.1939 heißt es: „Revenons à la volonté. Je constate que sa structure essentielle est la transcendance, puisqu’elle vise un audelà qui ne peut être que dans l’avenir“ (Sartre 1983: 52). Hier wird eine Freiheit aufgerufen, die den Widerstand der trägen Realität transzendiert. Zugleich wird erkennbar, woher das Exaltierte an Sartres Freiheit kommt. Sie ist ebenjener Urszene entsprungen, in der der kleine „Poulou“ und der junge Mann im Handumdrehen von dieser Welt, dem Diesseits, in eine ganz andere Welt, ein „au-delà“, meinten 53 DDossier hinüberwechseln zu können. Ohne sich darüber wirklich Rechenschaft abzulegen, transponiert Sartre den ästhetischen reality switch, den er beim Jonglieren mit zwei Welten perfekt einstudiert hat, in das praktische Leben und tut so, als ob sich dieses Leben zweiteilen ließe, als ob in der Zukunft ein Jenseits, eine ganz andere Welt und ein ganz anderes Selbst im Handumdrehen zu haben wäre. Das Phantasma des Schreibenden legt sich wie eine falsche Folie über den Lebenswandel des Menschen, in dem sich Freiheit und Zwang doch nicht so säuberlich trennen lassen wie Öl und Wasser. Sartres Ideal praktischer Freiheit ist der missratene Spross einer ästhetischen Allmachtsphantasie. 5 Von diesem Schreiben fällt nicht - wie man sich dies erträumen mag - ein Licht, sondern ein Schatten auf das Leben. Sartre besetzt eine Autorposition, die sich durch radikale Spontaneität im strengen philosophischen Sinne Kants auszeichnen soll, also durch die Fähigkeit zum Neubeginn, die einen Schnitt in der Zeit zieht. Am biographischen Projekt - und entsprechend an der Form der Erzählung - fasziniert ihn nicht die Kontinuität, sondern die Neuerfindung, der Neueinsatz im Hier und Jetzt. Man muss ihm zugutehalten, dass er damit zur Korrektur einer Theorie der Erzählung beiträgt, die ebenjene Kontinuität übermäßig betont; am prominentesten ist sie von Paul Ricœur in Temps et récit vertreten worden. Sartres Bild der (Auto-)Biographie ist freilich mindestens so verzerrt wie die Bilder, die ihm entgegenstehen. Seine Spontaneität wirkt geradezu hysterisch, sie ist besessen von der Abwehr des Gegebenen und Vergangenen. Eine Spontaneität, die tatsächlich über die Bedingtheit des Lebens erhaben wäre, hätte diese krampfhafte Abwehr gar nicht nötig. Sartre aber sieht sich ständig bemüßigt zu betonen, dass er mit sich, wie er geworden ist, gewissermaßen fremdelt und über seine Vergangenheit hinweggeht: C’est la rançon de la liberté, on est toujours dehors. On est séparé des souvenirs comme des mobiles par rien, il n’est pas de période de la vie à laquelle on puisse s’attacher, comme la crème brûlée ‚attache‘ au fond de la casserole; rien ne marque, on est en perpétuelle évasion; en face de ce qu’on a été on est toujours la même chose: rien (Sartre 1983: 405). Die Spontaneität bleibt befangen in einem double bind, in dem der Abwehrkampf gegen das Gegebene mit der Sehnsucht nach Konkretion konkurriert. Sartres Autorposition führt auf einen theoretischen Irrweg. 3. Foucault oder: Der Autor als Schwellenwesen 6 Ich möchte nun auf die eingangs angesprochene Entsprechung zwischen Sartre und Foucault zurückkommen und herausfinden, wie sich Foucaults Autorposition im Vergleich zu derjenigen Sartres darstellt. Anhaltspunkt dieses Vergleichs war der Befund, dass Foucault mindestens so sehr wie Sartre vom Schreiben und von jener Gegenwelt, die auf ein Blatt Papier passt, fasziniert ist. Dazu gehört bei beiden ein Unbehagen an dieser Faszination. So schätzt Foucault an der Sprache das Versprechen der Freiheit und beklagt an ihr ein Realitätsdefizit. 54 DDossier Diese Ambivalenz bezieht er im Gespräch mit Bonnefoy 1968 auf eine autobiographische Erfahrung, die in seinem Werk, soweit ich sehe, sonst nicht Erwähnung findet. Als „fils de chirurgien“, als Sohn eines Arztes, der „ne parle pas“, sondern „agit“, wächst er mit einer „dévalorisation profonde, fonctionnelle de la parole“ auf, welche sich bei ihm selbst als „une méfiance presque morale“ gegen die Selbstgenügsamkeit und Selbstgefälligkeit der Sprache festsetzt (Foucault 2011: 28, 32sq.). Foucault beschreibt die Hinwendung zum Schreiben, die ihm erst als Dreißigjährigem gelungen sei, auch als Abwendung von der Herkunft, als Selbstüberwindung. Anhänglichkeit und Abstoßung spiegeln sich in der Art, wie Foucault selbst dann seinen Schreibakt interpretiert. Er bleibe nämlich, wie er meint, in gewisser Weise „fidèle à [s]on hérédité“, indem er die Rolle des Diagnostikers annehme: „J’ai transformé le bistouri en porte-plume [ ]; j’ai substitué à la cicatrice sur le corps le graffiti sur le papier“ (ibid.: 41, 36). Auch Foucault ist angezogen von dem Machtgefühl, das zur Sprache - in seinem Fall: zum Sezieren der Diskurse - gehört. Doch ihm liegt es fern, den Autor im Sinne Sartres zum Helden der Spontaneität zu erklären. Wie genau er dessen Status bestimmt, bleibt zu klären. Es gibt eine weit verbreitete Lesart Foucaults, die ich verwerfen werde, aber nicht kommentarlos übergehen kann. Diese Lesart kann durchaus auch die eingangs zitierte Bemerkung Foucaults als Beleg für sich in Anspruch nehmen, insbesondere den Satz: „On écrit aussi pour n’avoir pas un visage“. Dieser Satz scheint sich bequem einzufügen in eine Gegenüberstellung, wonach Sartre den Autor als Protagonisten der Freiheit feiert, während Foucault den Autor radikal demontiert und anonymisiert. Die Freiheit des Schreibens scheint bei Foucault eine andere Funktion zu haben als bei Sartre: sie dient der Befreiung von sich selbst. Der prominenteste Beleg für diese Lesart ist ein von Foucault angeführtes Beckett- Zitat. Es ist eine Feststellung, nicht eine Frage, die Samuel Beckett in den Textes pour rien formuliert. „Qu’importe qui parle“ - das Fragezeichen fällt bei ihm weg. 7 Sprache gibt es und Sprechen, aber auf den Sprecher kommt es nicht an. Gerade weil es Sprache gibt, stößt man auf die Bedeutungslosigkeit, die Belanglosigkeit dessen, der spricht. Er kann gar keine Bedeutung haben, er bleibt sprachlos hinter der Sprache zurück. Diese Erfahrung macht er freilich gerade nur in der Sprache. Als jemand, der der Sprache ausgesetzt ist, empfindet er den Mangel der Sprachlosigkeit oder identifiziert sich als dieser Mangel. So gewinnt die Sprache die Oberhand: „Tout se ramène à une affaire de paroles“, „je suis en mots, je suis fait de mots“, „ce qui se passe, ce sont des mots“, so heißt es in Becketts Roman L’innommable (2004: 81, 166, 98). Was jenseits dieser Worte ist, liegt „au creux de mon inexistence“ (Beckett 1958: 139). Die Idee, dass ich es sei, der spricht, stammt nicht von mir, sondern ist „un piège“, in die mich die Sprache lockt: „Croient-ils que je crois que c’est moi qui parle? Ça c’est d’eux aussi. Pour me faire croire que j’ai un moi à moi“ (Beckett 2004: 98). Die Anderen halten mich im Netz der Sprache gefangen oder sind mit mir darin gefangen. 55 DDossier Überbrücken lässt sich die Differenz zwischen Sprache und Leben nach Beckett nicht, vor allem nicht in der Weise, wie dies traditionell gehandhabt wird, nämlich durch eine Geschichte als Lebensgeschichte, die die Fusion von Sein und Sprache verbürgen könnte. Es ist unmöglich „de dire qui je suis, où je suis“ (Beckett 2004: 63). „Il en faut, parait-il, du moment qu‘il y a parole, pas besoin d’histoire, [ ] rien qu’une vie“. Mit der Biographisierung begeht man nach Beckett einen Fehler. „Le tort“ besteht darin, „m’être voulu une histoire, alors que la vie seule suffit“ (1958: 142). Bei dem Diskurs, der nicht aufhört, der sich immer weiter fortsetzt, bin ich weder Subjekt im Sinne des Sprechers noch Subjekt im Sinne des Protagonisten. „Peu importe le sujet, il n’y en a pas“, sagt Beckett (2004: 123). Kurz ist der Weg von Beckett zu Foucault. Becketts „Qu’importe qui parle“ avanciert zum Schlüssel- und Schlusssatz von zwei wichtigen Texten zur Selbstverständigung, die Foucault in den späten 1960er Jahren verfasst: die „Réponse à une question“ von 1968, mit der er sich an die Leser der Zeitschrift Esprit wendet, sowie der Vortrag „Qu’est-ce qu’un auteur? “ von 1969 (Foucault 1994: Vol. I, 695, 812, cf. 792). Was bei Beckett Züge der Verzweiflung trägt, wirkt bei Foucault nun aber wie ein Befreiungsschlag. Es scheint so, als ergebe sich aus Becketts Ausweglosigkeit ein Ausweg, als münde die Aporie in eine Position. „On peut imaginer une culture“, so sagt Foucault, „où les discours circuleraient et seraient reçus sans que la fonction-auteur apparaisse jamais. Tous les discours, quel que soit leur statut, leur forme, leur valeur, et quel que soit le traitement qu’on leur fait subir, se dérouleraient dans l’anonymat du murmure“. In einer großen Geste der Erledigung sagt Foucault, man sei in die neue Lage versetzt, „les questions si longtemps ressassées“ nicht mehr hören zu müssen, etwa die Fragen: „Qui a réellement parlé? Est-ce bien lui et nul autre? Avec quelle authenticité, ou quelle originalité? Et qu’at-il exprimé du plus profond de lui-même dans son discours? “ (ibid.: Vol. I, 811sq.) Diese theoretische Provokation wird von Foucault direkt im Diskurs umgesetzt. Wenn es keine Rolle spielt, „qui parle“, dann heißt dies in letzter Konsequenz: Die Rolle dessen, der spricht, kann abgeschafft werden. Deshalb experimentiert er damit, hinter der Sprache zu verschwinden, also als „philosophe masqué“ aufzutreten und in Le Monde 1980 Rede und Antwort zu stehen, ohne selbst als Sprecher in Erscheinung zu treten (ibid.: Vol. IV, 104). Dieser Ansatz spiegelt sich in dem Satz: „Où ‚ça parle‘, l’homme n’existe plus“ (ibid.: Vol. I, 544). Die Vorgeschichte dieses Satzes reicht zurück zu Nietzsches „Es denkt“, welches wiederum ein Einwand oder - mehr noch - ein Grabstein für Descartes’ „cogito ergo sum“ sein wollte (cf. Nietzsche 1980: Vol. 5, 31 [„Jenseits von Gut und Böse“, § 17]). All diese Hinweise könnten so gedeutet werden, dass Foucault eine Strategie der Selbstanonymisierung oder gar Selbstabschaffung verfolge. Sie hat nicht nur eine theoretische, sondern auch eine biographische Spitze, die man vorläufig so formulieren könnte: Die Theorie löst sich vom Autor, vom Sprecher ab, mit ihm versinkt die Person, die diese Rolle übernimmt, ins Dunkle, Bedeutungslose. Was bleibt, sind Diskurse, deren Macht nicht durch die leere Behauptung einer auktorialen Instanz durchkreuzt werden kann. 56 DDossier Wenn denn eine Durchkreuzung dieser Diskurse, eine Infragestellung der Macht erfolgen kann, so gelingt sie gemäß dieser Strategie allenfalls dann, wenn man sich als subversives Element in ihnen bewegt und mit Bataille „la transgression“ betreibt (cf. Foucault 1994: Vol. I, 233sqq.). Die Freiheit, die Sartre in der Spontaneität des Autors verankert, wird nach dieser Lesart durch die Überschreitung ersetzt. Die Absicht, ihr eine auktoriale Instanz zuzuordnen, wäre auf der Basis der von Foucault propagierten Anonymisierung ganz abwegig. Diese Lesart wirkt in sich stimmig. Sie ist mit einer Komplikation konfrontiert, die sie allenfalls noch bewältigen muss, nämlich mit der Tatsache, dass der späte Foucault ein notorisches Interesse am Subjekt an den Tag legt. Diese Aufmerksamkeit will zu den frühen Anonymisierungsstrategien nicht recht passen. Es gibt eine eingängige Interpretation zur Erklärung dieser Divergenz. Konstatiert wird demnach in einem ersten Schritt ein Widerspruch. Er besteht zwischen Foucaults früher rhetorischer Frage „Qu’importe qui parle? “ und seiner späten Hinwendung zu einem Selbst, das sich um sich sorgt (ibid.: Vol. IV, 786), oder zwischen Foucaults früher These, dass „le sujet qui parle [ ] sous chaque mot se trouve renvoyé à sa propre mort“ (ibid.: Vol. I, 249), und seinem späten Interesse am „sprechenden Subjekt“, das sagt: „Ich bin derjenige, der dieses und jenes denkt“ (1996: 11). Während Foucault in der Archäologie des Wissens noch wütend gefordert hat, man möge ihn nicht fragen, „qui je suis“ (1969: 28), hört man ihn am Ende ziemlich bereitwillig Auskunft geben über sexuelle und andere Vorlieben. 8 In einem zweiten Schritt versucht man dann nicht, diesen Widerspruch aufzulösen oder aufzuheben, sondern man führt ihn darauf zurück, dass es beim späten Foucault zu einem Sinneswandel, nämlich zu einer Wiederkehr des vormals geächteten Subjekts, Sprechers und Autors gekommen sei. Diese Wiederkehr wird als Bruch mit der früheren Position gewertet und dann - je nach theoretischer Präferenz - entweder willkommen geheißen oder verworfen. All dies klingt suggestiv, und doch führt diese gesamte Deutung zu Foucaults theoretischer Entwicklung in die Irre. Ich bin der Auffassung, dass man Foucaults über viele Jahre verstreute Überlegungen zur Autorposition und zum Verhältnis zwischen Schreiben und Leben in einen konsistenten Zusammenhang bringen kann. Die Tatsache, dass dieser Zusammenhang bei Foucault selbst verdeckt bleibt - und von ihm selbst verdeckt wird -, hat zu diversen Missverständnissen geführt, die das Verständnis seines Werkes verstellen. Sowohl die Devise von der antisubjektiven ‚Transgression‘ der 1960er Jahre wie auch die Empfehlung zur subjektiven Selbstkultivierung der 1980er Jahre verstehe ich als Rand- und Oberflächenphänomene einer sich durchhaltenden Position: Foucault denkt den Autor - und das Subjekt - als Schwellenwesen. 9 Bevor ich ausführe, was mit dieser Figur des Schwellenwesens oder mit der Liminalität gemeint ist, möchte ich ihr einen markanten Auftritt gönnen. Dieser Auftritt findet statt in einem der zugleich wichtigsten und unbekanntesten autobiographischen Texte Foucaults - und dieser Text findet sich in einem keineswegs unbe- 57 DDossier kannten Buch, nämlich in Folie et déraison. L’histoire de la folie à l’âge classique. Vieles ist ungewöhnlich an diesem Buch, und viel ist darüber geschrieben worden (Foucault 1961; cf. Artières et al. [ed.] 2011). Ein Punkt, der im Wettbewerb des Ungewöhnlichen gute Chancen auf den Sieg hätte, ist allerdings in Vergessenheit geraten. Auf der vorderen Umschlagklappe der ersten Auflage von 1961 findet sich eine kurze biographische Notiz, die all jenen entgangen ist, welche ein Exemplar ohne Umschlag oder auch eines aus einer späteren Auflage zur Hand nahmen. Nur ein einziger Interpret, nämlich Didier Eribon, hat sich, soweit ich sehe, kurz mit diesem Text befasst - freilich nicht in seiner Foucault-Biographie, sondern in einer späteren Aufsatzsammlung. Darin ist dieser kleine Text, von dem Eribon sagt, er sei in Vergessenheit versunken, auch abgedruckt - allerdings mit einigen kleinen Übertragungsfehlern. 10 Das Original lautet: Ce livre est de quelqu’un qui s’est étonné. L’auteur est par profession un philosophe passé à la psychologie, et de la psychologie à l’histoire. D’avoir été élève de l’École normale supérieure, agrégé de philosophie, pensionnaire de la Fondation Thiers, d’avoir fréquenté les hôpitaux psychiatriques (du côté où les portes s’ouvrent), d’avoir connu en Suède le bonheur socialisé (du côté où les portes ne s’ouvrent plus), en Pologne la misère socialiste et le courage qu’il lui faut, en Allemagne, pas très loin d’Altona, les nouvelles forteresses de la richesse allemande, d’être redevenu en France un universitaire, l’a fait réfléchir, avec un peu de sérieux, sur ce que c’est qu’un asile. Il a voulu savoir, il veut toujours savoir quel est donc ce langage qui à travers tant de murailles et de serrures se noue, se prononce et s’échange au delà de tous les partages. Wenn man diese Notiz liest, kann man sich vor Anspielungen auf Schwellen kaum retten - seien es nun solche, die überschritten werden, oder solche, die unüberwindlich sind. Der Text ist in geradezu kurioser Weise überdeterminiert: Foucault bringt Schwellen in sechs verschiedenen Formen ins Spiel. Er beginnt eher traditionell mit dem Staunen, das dem Philosophen zusteht und versäumt nicht die Gelegenheit, gewisse äußere Erfolge wie die erlangte agrégation zu erwähnen. Jeder Eingeweihte weiß, dass es sich bei dieser Prüfung um einen rite de passage, die Überschreitung einer besonders hohen Schwelle handelt. Inzwischen ist auch bekannt, dass die agrégation als erste Schwelle, auf die angespielt wird, für Foucault mit besonderen Qualen verbunden war, die in jener Notiz verständlicherweise keine Erwähnung finden. Wohl aber werden zweitens die Schwellen erwähnt, die Foucault beim Wechsel der Disziplinen überschreitet: Sein Weg führt von der Philosophie zur Psychologie und weiter zur Geschichte. Drittens überquert er Ländergrenzen - von Frankreich über Schweden, Polen und Deutschland zurück nach Frankreich. Viertens schildert er mit Bezug auf diese Länder jeweils Situationen, bei denen Schwellen im Spiel sind. In Frankreich sind es die Schwellen der Irrenanstalten, die überquert werden. 11 In Schweden ist es die Wohlfahrtsgesellschaft, die keinen Ausgang, keine Ausflucht mehr kennt. 12 In Polen geht es um die Schwelle zwischen Anpassung und Widerstand. In Deutschland schließlich beobachtet Foucault die sich gegen die Armen verschanzenden Reichen und bringt mit dem Hinweis, Hamburg liege nahe bei Altona auch noch eine Anspielung auf 58 DDossier Sartres Theaterstück Les séquestrés d’Altona unter. All diese Erfahrungen (oder diese retrospektiven Interpretationen von Erfahrungen) münden fünftens in den Hinweis auf das „asile“, worunter im Französischen zuallererst - aber natürlich nicht nur - die Irrenanstalt zu verstehen ist, sowie sechstens im Hinweis auf das Medium, das Verbindungen über Grenzen hinweg schafft: die Sprache. Der kurze Text endet also mit einer inhaltlich-methodischen Doppelspitze: Foucault setzt in der Notiz „l’asile“ als Thema, dem sich nicht nur Folie et déraison, sondern auch diverse andere Bücher Foucaults zuordnen lassen. Darüber hinaus bezeichnet Foucault mit dem „langage“ und dessen Potential zur Verbindung und Abgrenzung seinen methodischen Ansatzpunkt. Man kann anhand der Umschlagnotiz eine Pointe mit Foucault gegen Foucault setzen: Sie ist nämlich ein Affront gegen die Idee, es komme gar nicht darauf an, wer spricht. Sie zeigt, dass nicht alles gesagt ist, wenn man sich mit dem Hinweis auf Foucaults Beckett-Zitat begnügt. Es lohnt sich vielmehr, von diesem Sprecher zu sprechen. „L’œuvre est plus que l’œuvre: le sujet qui écrit fait partie de l’œuvre“ (Foucault 1994: Vol. IV, 607). Dieser Sprecher erscheint bei Foucault als Autor in Bewegung, doch geht es ihm nicht darum, „[à] opposer [ ] le ‚devenir‘ au ‚système‘, ou comme on dit dans une irréflexion bien légère ‚l’histoire‘ à la ‚structure‘“ (Foucault 1969: 23). (Man darf an dieser Stelle mitdenken, dass Foucault sich hier sowohl von Bergson als auch von Sartre absetzt.) Das Subjekt in Bewegung ist nach Foucault nirgendwo anders anzutreffen als am Rand oder an der Grenze jener Festlegungen, in denen der Mensch befangen ist. Es gibt ein reiches Vokabular, das Foucault für die Umschreibung dieser Bewegung auf der Schwelle einsetzt. Zu ihm gehören „discontinuité (seuil, rupture, coupure, mutation, transformation)“ (ibid.: 12, cf. 31), „limites“, „expériences-limites“, „attitude limite“, „transgression“, „excès“, „la vivacité de la différence“, „le fait sauvage du changement“ etc. (Foucault 1994: Vol. I, 161; Vol. IV, 574; Vol. I, 236, 244, 677). Der dogmatische Streit um Foucaults Kritik am Subjekt und deren Widerruf ist meines Erachtens fruchtlos. Er verstellt die Tatsache, dass sich Foucault durchweg von einer bestimmten Version des Subjekts absetzt und einer anderen zuneigt, welche man anhand dieser spezifischen Bewegung auf der Schwelle identifizieren kann. Ich möchte nur zwei weitere Auskünfte Foucaults anführen, mit denen sich der Bogen von den frühen 1960er bis zu den 1980er Jahren schlagen lässt. „On pourrait faire une histoire des limites“, so schreibt Foucault in dem (in späteren Auflagen fehlenden) Vorwort zur ersten Ausgabe von Folie et déraison (Dits et écrits I, 161) - und ebendiese Geschichte hat er tatsächlich geschrieben: „Interroger une culture sur ses expériences-limites, c’est la questionner, aux confins de l’histoire, sur un déchirement qui est comme la naissance même de son histoire“ (Foucault 1994: Vol. I, 161). Und wie er sich 1968 „l’analyse de types différents de transformation“ vornimmt (Foucault 1994: Vol. II, 677; Hervorh. orig.), so heißt es dann in den Entwürfen zu seiner Vorlesung über L’herméneutique du sujet: „Il s’agit en somme de partir à la recherche d’une autre philosophie critique: une philosophie qui ne détermine pas les conditions et les limites d’une connaissance de l’objet 59 DDossier mais les conditions et les possibilités indéfinies de transformation du sujet“ (Foucault 2001: 508). Philosophiegeschichtlich kann man sagen, dass dieses Motiv der Bewegung oder Transformation Foucault in den Stand versetzt, sich von dem „verschleppten Hegelianismus“ zu kurieren, den er an sich selbst diagnostiziert. 13 Er spielt hier an auf die von ihm mehrfach bezeugte Tatsache, dass er sich als Student im Banne Hegels, in einem „univers dialectique“ befunden habe (Foucault 1994: Vol. I, 613). Natürlich ist es gerade Hegel, der das ‚Werden‘ und die ‚Bewegung‘ mit aller Macht in die Philosophie eingeführt hat. 14 Wenn Foucault nun bei diesem ‚Werden‘ anknüpft, so verweigert er ihm jedoch die Rückkehr zum ‚Sein‘, die bei Hegel vorgesehen war, also die Ankunft in einer „unité recompensée“ (Foucault 1969: 22). Das Gegenbild zu Foucaults ‚mobilem‘ Menschen (Rainer Schürmann) ist der „homo dialecticus - l’être du départ, du retour et du temps, l’animal qui perd sa vérité et la retrouve illuminée, l’étranger à soi qui redevient familier“. 15 Wenn Foucault später bei Hegel - und auch bei Marx - anknüpft, so liest er sie beide nietzscheanisch, d.h. im Lichte von Nietzsches Theorie der Selbstüberwindung (cf. Thomä 2007a), welche bei seiner eigenen Theorie der Transformation Pate gestanden hat. Es sei daran erinnert, dass Nietzsche selbst Hegel dafür lobte, die Ideen des ‚Werdens‘ und der ‚Entwicklung‘ in die Philosophie eingeführt zu haben (cf. Nietzsche 1980: Vol. 3, 598sq. [„Fröhliche Wissenschaft“, § 357]). Besonders deutlich wird diese Konstellation an einer Stelle aus seinem Gespräch mit Trombadori: „Nous tournons là autour d’une phrase de Marx: l’homme produit l’homme. Comment l’entendre? Pour moi, ce qui doit être produit, ce n’est pas l’homme tel que l’aurait dessiné la nature, ou tel que son essence le prescrit; nous avons à produire quelque chose qui n’existe pas encore et dont nous ne pouvons savoir ce qu’il sera“ (Foucault 1994: Vol. IV, 74). Diese Selbstproduktion ist nicht als einmaliger Kraftakt zu verstehen, sondern als fortlaufendes Experiment: „L’écriture ça consiste essentiellement à entreprendre une tâche grâce à laquelle et au bout de laquelle je pourrai, pour moi-même, trouver quelque chose que je n’avais pas d’abord vu. [ ] Je ne découvre ce que j’ai à démontrer que dans le mouvement même par lequel j’écris“ (Foucault 2011: 41). Und 1980 sagt Foucault: „Une expérience est quelque chose dont on sort soi-même transformé. [ ] Je suis un expérimentateur en ce sens que j’écris pour me changer moi-même et ne plus penser la même chose qu’auparavant“ (1994: Vol. IV, 41sq.). Wie stellen sich im Lichte dieser auktorialen Bewegung Foucaults changierende Auskünfte zum Tod, zum Fortleben oder zur Wiedergeburt des Subjekts dar? In L’archéologie du savoir scheint Foucault nahezulegen, dass die von ihm avisierte Transformation ohne das Subjekt auskomme, ja geradewegs gegen es gerichtet sei. Er sagt: „Je n’ai pas nié, loin de là, la possibilité de changer le discours: j’en ai retiré le droit exclusif et instantané à la souveraineté du sujet“ (1969: 272). Diese Gegenstellung zwischen Bewegung und Subjekt verschärft sich noch zu der These, die Überschreitung sei an „la perte“ oder „la disparition du sujet“ gebunden (1994: Vol. I, 243, 521). 60 DDossier Manches von dem, was in diesem „discours négatif sur le sujet“ (Foucault 1994: Vol. I, 615) vorgebracht wird, ist aus meiner Sicht tatsächlich als Selbstmissverständnis Foucaults abzuheften - in dem Sinne, wie er dies selbst im kritischen Rückblick auf Les mots et les choses markiert, wenn er sagt, qu’au cœur de leur histoire les hommes n’ont jamais cessé de se construire eux-mêmes, c’est-à-dire de déplacer continuellement leur subjectivité, de se constituer dans une série infinie et multiple de subjectivités différentes [ ]. En parlant de la mort de l’homme, de façon confuse, simplificatrice, c’était cela que je voulais dire (Foucault 1994: Vol. IV, 75). Man kann, wie ich meine, auch an den Texten der 1960er Jahre deutlich machen, dass Foucault nicht einfach auf anonyme Diskurse setzt. An der soeben zitierten Stelle aus L’archéologie du savoir richtet sich sein Einwand, genau besehen, nicht prinzipiell gegen das Subjekt, sondern gegen dessen „souveraineté“. Auch in seinem frühen Text über Bataille, der „Préface à la transgression“, ist beachtenswert, dass der Überschreitung als „un geste qui concerne la limite“ keine „existence véritable en dehors du geste“ zugebilligt wird, dass Überschreitung und Grenze sich einander verdanken oder „se doivent“ (Foucault 1994: Vol. I, 236sq.). Die Geste kann nicht einfach abgelöst werden von den Umständen, auf die sie sich bezieht. Es geht nicht um einen anderen Zustand, in den man hineingeriete und bei dem das Subjekt vollkommen vergessen werden könnte, sondern um den Moment der Überschreitung selbst. Die Schwelle, die man übertritt, ist undenkbar, unerfahrbar ohne den Raum, in dem sie sich befindet. Später wird Foucault sagen: „On doit échapper à l’alternative du dehors et du dedans; il faut être aux frontières“ (1994: Vol. IV, 574). Foucault bringt das Subjekt an diese Grenze oder Schwelle, er verwandelt es, aber er lässt es nicht beiseite - und zwar deshalb nicht, weil sonst die Grenze und die Bewegung in dem Raum an dieser Grenze gar nicht erfahrbar wäre. Man macht sich nicht einer falschen Harmonisierung oder einer Glättung von Widersprüchen schuldig, wenn man sagt, dass Foucault mit den Auskünften über Schwelle und Grenze, Bewegung und Transformation, die sich in allen Werk- und Lebensphasen finden, immer wieder in die gleiche Kerbe schlägt. Dabei handelt es sich nicht um eine Übung, die etwa der Vorliebe oder dem Gutdünken Foucaults entsprungen wäre, sondern um die Ausarbeitung eines philosophischen Programms, das grob folgendermaßen umrissen werden kann. Die Menschen sind in dem Maße, wie sie in die Sprache eingelassen oder der Sprache ausgeliefert sind, des Ursprungs beraubt, welcher ihnen zu einer souveränen Position verhelfen könnte: „Avant toute existence humaine, toute pensée humaine, il y aurait déjà un savoir, un système, que nous redécouvrons [ ]. Qu’estce que ce système anonyme sans sujet, qu’est-ce qui pense? Le ‚je‘ a explosé“, so sagt Foucault und fügt in Anspielung auf Heidegger hinzu: „Il y a un ‚on‘“ (1994: Vol. I, 515). Doch das Wissen, das System, der Diskurs, die Sprache, in denen man sich bewegt, sind selbst keine geschlossenen Gebilde, sondern Räume mit offenen Rändern. An ihnen macht man „une expérience qui change, qui empêche 61 DDossier d’être toujours les mêmes“ (ibid.: Vol. IV, 47). Wenn man sich - so etwa der Einwand Foucaults gegen Lévi-Strauss (ibid.: Vol. I, 615; cf. id. 2001: 506) - in diesem Raum bewegte, als gäbe es gar keine Offenheit, würde man von diesem Raum und der eigenen Position darin ein Zerrbild liefern. Mit seiner Theorie des Subjekts und des Autors hat Foucault versucht, eine gute Beschreibung des Menschen als Schwellenwesen zu liefern. Das Leben dieses Schwellenwesens rundet sich nicht zu einem Ganzen, das zur biographischen Totalität überhöht werden könnte; insofern steht Foucault auch die „totalisation“ fern, die Sartre bei Flaubert zu erkennen meint (Sartre 1971-72: Vol. 3, 58, 439). Wenn man denn von Sartre her in eine Nähe zu Foucault kommen will, so kann man sich allenfalls an „le petit mouvement“ halten, an dem er (s.o.) in späten Jahren die Freiheit festmacht. Aus der Folge dieser kleinen Bewegungen ergibt sich auch bei Foucault so etwas wie der „fil de ma vie“ (Foucault 2011: 29), der sich über Schwellen zieht, ohne je zu zerreißen. Foucaults Schwellenwesen ist getränkt von einer Erfahrung der Zeitlichkeit, die übrigens in dem eher plastischen, räumlichen Bild vom Leben als Kunstwerk, welches im Anschluss an den späten Foucault popularisiert worden ist, unglücklicherweise in den Hintergrund tritt. Vielleicht ergibt sich anhand von Foucaults „Lebensfaden“ auch eine andere Form biographischen Schreibens; jedenfalls darf man sich hierfür auf seine Bemerkung berufen, „que mes livres [sont], en un sens, des fragments d’autobiographie“ (Foucault 1994: Vol. IV, 747sq.). Damit rückt Foucault in die Nähe jener vielfältigen Experimente mit der Form des Erzählens (cf. Thomä 2007) - vor allem auch des biographischen und autobiographischen Erzählens -, welche im 20. Jahrhundert unternommen worden sind. (Man denke nur an Marcel Proust, Virginia Woolf, Robert Musil, Siegfried Kracauer, Walter Benjamin oder Roland Barthes.) Statt Foucault zu feiern oder anzuklagen, weil er zur Abschaffung oder Entwertung der Autorschaft beigetragen habe, sollte man ihn dafür schätzen, dass er dem Autor - anders als Sartre - ein menschliches Maß diesseits ästhetischer Allmachtsfantasien gegeben hat. Artières, Philippe et al. (ed.), „Histoire de la folie à l’âge classique“ de Michel Foucault. Regards critiques 1961-2011, Caen, PU de Caen, 2011. Artières, Philippe und Jean-François Bert, Un succès philosophique. „L’Histoire de la folie à l’âge classique“ de Michel Foucault, Caen, PU de Caen, 2011. Beauvoir, Simone de, La force de l’âge, Paris, Gallimard, 1986. Beckett, Samuel, L’innommable [1953], Paris, Minuit, 2004. — Nouvelles et textes pour rien, Paris, Minuit, 1958. Bürger, Peter, Sartre. Eine Philosophie des Als-ob, FfM., Suhrkamp, 2007. Eribon, Didier, Michel Foucault et ses contemporains, Paris, Fayard, 1994. Foucault, Michel, Folie et déraison. 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Schürmann, Rainer, „Se constituer soi-même comme sujet anarchique“, in: Études philosophiques, 4, 1986, 451-471. Thomä, Dieter, Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem [1998], FfM., Suhrkamp, 2007. — „‚Jeder ist sich selbst der Fernste‘. Zum Zusammenhang zwischen personaler Identität und Moral bei Nietzsche und Emerson“, in: Nietzsche-Studien, 36, 2007, 316-343 [Thomä 2007a]. Turner, Victor, The Ritual Process: Structure and Anti-Structure [1969], NY, PAJ Publications, 1982; Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur [1969], FfM/ NY, Campus, 2005. van Rossum, Walter, Sich verschreiben. Jean-Paul Sartre 1939-1953, FfM., Fischer, 1990. 1 Sartre 1983: 43. Nach wie vor erhellend zur Frage von Schreiben und Leben bei Sartre ist Walter van Rossum: Sich verschreiben. Jean-Paul Sartre 1939-1953 (1990). 2 Zum „zweiten“, ästhetischen Genuss, in dem die „Wirklichkeit im Poetischen ertrunken“ ist, cf. Kierkegaard 1956: 328. 3 Sartre 1988: 144. Sartre hat sich bekanntlich später von diesem Buch distanziert. 4 Die Wendung von Husserl zu Heidegger lässt sich recht genau auf das Jahr 1938 datieren; cf. Sartre 1983: 224-230, Eintrag vom 1.2.1940. 5 In der Beschreibung, freilich nicht in der Bewertung, komme ich hier überein mit Peter Bürger (2007: 76): „Der für Sartres Freiheitsphilosophie konstitutive Akt der Selbstwahl beruht auf einem Als-ob“. DDossier 63 6 In diesem Abschnitt verwende ich einzelne Passagen aus Dieter Thomä: „Das wilde Faktum der Veränderung. Zum Verhältnis von Theorie und Autobiografie bei Michel Foucault“, in: WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialforschung, 1, 2013 (im Druck). 7 Beckett 1958: 129. (Als Entstehungsdatum der „Textes pour rien“ wird das Jahr 1950 angegeben.) 8 Foucault 1994: Vol. IV, 166, 254, 295, 737-743. Die intimsten Äußerungen zu ‚fistfucking‘, zu den Badehäusern in San Francisco etc. finden sich in einem Interview von 1978, dem Foucault freilich die Autorisierung verweigert hat; es wurde von Jean Le Bitoux 1978 geführt. Für die engl. Übers. cf. Foucault 2011a: 385-403. Miller stützt sich in seiner Darstellung der kalifornischen Jahre Foucaults ausgiebig auf dieses Interview; cf. Miller 1995: 381-412. Millers Buch betreibt einen Reduktionismus des Werks auf das Leben, vor dem Foucault mit guten Gründen gewarnt hat. 9 Ich übernehme diesen Ausdruck von der Ritualtheorie Turners, verzichte aber darauf, den Ähnlichkeiten und Unterschieden, die zwischen Turner und Foucault bestehen, im Detail nachzugehen. Turner spricht von „liminal entities“, „liminal personae“ sowie „threshold people“, „Schwellenwesen“, „Schwellenpersonen“ und „Grenzgängern“; cf. Turner 1982: 94; dt. 2005: 95. 10 Eribon 1994: 61. In der kürzlich erschienenen instruktiven Darstellung der Publikations- und Rezeptionsgeschichte dieses Buches wird die hier zur Rede stehende Notiz gleichfalls abgedruckt, aber seltsamerweise nicht weiter kommentiert; cf. Artières/ Bert 2011: 17. 11 Foucault findet noch im späten Rückblick auf seine Lehrjahre Gefallen an der Figur der Schwelle: „Chacun de mes livres représente une partie de mon histoire. [ ] Pour prendre un exemple simple, j’ai travaillé dans un hôpital psychiatrique pendant les années cinquante. Après avoir étudié la philosophie, j’ai voulu voir ce qu’était la folie: j’avais été assez fou pour étudier la raison, j’ai été assez raisonnable pour étudier la folie“ (Cf. Foucault 1994: Vol. IV, 779). 12 Übrigens wird Foucault 1968 in einem Interview bemerken, er sei nach Schweden gekommen mit der festen - ihrerseits auf Schwellen erpichten - Absicht, von nun an aus zwei Koffern zu leben, um die Welt zu reisen und nie mehr eine Zeile zu schreiben; Schweden habe ihn von dieser Absicht abgebracht; cf. Foucault 1994: Vol. I, 651. 13 Foucault 1990: 229-234 (dieser unautorisierte Text findet sich nicht in den Dits et Écrits). Cf. die eindrucksvollen Überlegungen zur Schwierigkeit, „[à] échapper réellement à Hegel“, in Foucault 1971: 74. 14 Hegel (1970: 138): „Es ist als Selbstbewußtsein Bewegung“; cf. Pippin 2011: 60. 15 Foucault 1994: Vol. I, 414. Zum „mobilen Menschen“ cf. Schürmann 1986, 459. DDossier 64 Mieke Bal Raconter en images: Flaubert aujourd’hui Vive l’anachronisme Il faut avant tout que l’on soit bien d’accord sur un fait: l’anachronisme est indispensable à qui veut comprendre le fonctionnement des narrations. L’argument est simple et bien connu, banal même: c’est que la lecture elle-même est nécessairement anachronique. Chacun lit pour soi, pour et dans le présent. C’est un peu comme la mémoire: on fait acte de mémoire dans le présent, même si l’impression ou l’événement auquel se rapporte le souvenir s’est déroulé dans le passé. Toute banale qu’elle puisse être, cette idée est importante quand on pense à la possibilité de venir en aide aux personnes traumatisées ou autrement atteintes d’un mal qui relève de leur passé. 1 C’est ainsi que je me souviens aujourd’hui de ma première réaction à la tragédie de la vie d’Emma Bovary. „Si seulement elle s’était résolue à travailler! “, pensai-je alors tout en pleurant de chaudes larmes. Car personne n’est vraiment à l’abri des clichés. J’étais alors naïve; c’est dans le présent que je m’en souviens et que je dois agir sur le souvenir. C’est en m’identifiant au personnage, en partageant avec lui les aventures, les émotions, les événements et jusqu’aux mots qui décrivent tout cela, que je pouvais, alors, m’engager avec lui. Maintenant, je reconnais ce sentiment, je peux le revivre. Car il est logé quelque part en moi. C’est surtout - et voilà le sujet de cet article - que, dans le présent, je vois Emma et les autres. L’image, chaque fois recomposée quand quelqu’un la regarde, est en transformation permanente, tout en étant située en même temps endehors du temps. L’image, comme une histoire, se passe, se déroule dans le tempo de celui qui la regarde. On sous-estime le rôle que jouent les images pour la lecture, pour la mémoire et pour toute activité culturelle. C’est au moyen de ce lien anachronique et des images qu’elle crée que la littérature continue à être pertinente. Ce constat est bien banal, j’en conviens. Mais en même temps, il est crucial de le reconnaître. J’ai dédié la plus grande partie de ma vie professionnelle à l’analyse critique de la narration: à sa théorie, à sa pratique et, dernièrement, à son exploration au moyen de l’image en mouvement. Ce qui m’a le plus intéressé dans les récits, c’est la façon dont la narration manipule - pour le bien et le mal de ses récepteurs - les lecteurs et les spectateurs. La narration en tant qu’instrument politique, en tant qu’outil de persuasion, en tant qu’enjeu éthique: cela ne se limite pas à la littérature. Mais un bon roman démontre tout cela de façon compacte, subtile, complexe, nuancée. J’espère en persuader les lecteurs de cette revue. 2 DDossier 65 Raconter visuellement J’ai entrepris, il y a dix ans, de recourir au médium de la vidéo pour faire des analyses de la culture contemporaine en devenir - donc pas encore documentée. Le premier résultat de cette démarche est une série de documentaires expérimentaux concernant la question de l’immigration. C’est à partir de cette perspective contemporanéiste qu’ensuite, avec l’artiste britannique Michelle Williams Gamaker, j’ai entrepris une analyse de la folie dans le domaine social, qui a donné lieu au long métrage fictionnel Histoires de Fous, basé sur le livre Mère Folle de la psychanalyste parisienne Françoise Davoine. C’est à travers l’expérience de ce dernier projet que mon nouveau projet, toujours avec Michelle, se propose d’examiner l’actualité littéraire, philosophique et culturelle de Madame Bovary. Il a débuté par un grand tournage en août 2012. 3 Car même si j’ai travaillé sur des textes et sur d’autres objets très variés, je ne peux m’empêcher de revenir de temps en temps à Madame Bovary de Gustave Flaubert. Ce roman, qui date de 1856, forme une série avec plusieurs classiques comme Effi Briest, Anna Karenina, La Regenta et d’autres romans écrits dans les pays européens par des hommes sur des femmes hystériques et qui finissent mal, un genre très à la mode dans la deuxième moitié du XIX e siècle. On aurait tendance à se dire que seul son statut de classique le sauve de l’oubli. Or, ces romans nourrissaient la pensée freudienne en émergence, car on y faisait entrevoir le désir des femmes et l’horreur qu’il inspirait aux hommes. La question „Que veut la femme? “ était dans l’air, et si Freud s’en faisait le porte-parole et le théoricien (partiellement manqué), il n’en était pas l’inventeur. La toute première publication d’analyse littéraire de ma main était consacrée à Madame Bovary. C’est sur la base de ma lecture, naïve et anachronique, que je pus trouver en 1974 la motivation d’entreprendre comme il était d’usage à l’époque une analyse structuraliste, technique plutôt aride. À ce moment de l’histoire des Sciences Humaines, si l’on voulait avoir du poids, il fallait être technique. J’ai plus ou moins réussi mon coup. Si l’article d’il y a une quarantaine d’années me convainc encore aujourd’hui, c’est par le lien qu’il établissait entre la technique romanesque - descriptive en l’occurrence - et la portée politique. Tout était dans l’image. J’avançais alors que la description de Rouen, introduite par l’un de ces imparfaits dévastateurs dont Flaubert était le maître et qui frisent l’agrammaticalité („Tout à coup, la ville apparaissait“), prédisait l’échec d’Emma à trouver ce bonheur évasif qu’elle cherchait avec tant d’acharnement. Je pressentais que Flaubert non seulement passait par des jeux de grammaire à la limite de l’inacceptable, mais qu’il démontrait aussi ce que nous appellerions aujourd’hui une tendance féministe. Or, la relecture que j’en ai faite récemment m’amène à penser que le roman est plus que cela: il est prophétique, radical, d’un progressisme encore difficile à comprendre et, s’il faut en croire la critique, à accepter. Est-ce là une lecture anachronique? Évidemment. DDossier 66 Pour explorer ce côté progressiste, cette actualité prophétique du roman, et pour voir comment l’écriture a pu à ce point dépasser la volonté probable de son auteur, je me suis immergée depuis peu dans une entreprise dont j’avoue qu’elle est assez folle: donner de ce roman une version à la fois actualisée et fidèle; explorer comment l’image raconte autrement et autre chose. L’image en mouvement, a priori l’image visuelle même si le niveau auditif est essentiel, devrait se prêter - me suis-je dit - à l’examen de quelques caractéristiques généralement attribuées au roman flaubertien: son côté visuel, qui se vérifie par la prédominance de la description sur le récit, et son rejet du dialogue, remplacé non seulement par la narration, mais aussi par le discours indirect libre qui remplace le qui parle? par un qui voit? ainsi que par l’image visuelle ou auditive. 4 Ces modes, qui tendent à raconter en images, permettent une dynamique entre l’objectivité proclamée et la subjectivité de fond, ou bien, comme je tâcherai d’argumenter plus loin, ils permettent la solidarité avec la dernière par le moyen de la première. La subjectivité n’est pas seulement celle du personnage mais, de façon plus complexe, celle où le personnage et les lecteurs se rencontrent. Il ne s’agit nullement de plaider pour un Flaubert féministe ou autrement engagé dans le domaine du social; qu’il ait été l’idiot de la famille sartrien ou Emma Bovary auto-déclaré („Madame Bovary, c’est moi“), peu m’importe. Car toute projection d’une interprétation sur l’intention de l’auteur interdirait l’anachronisme que j’estime indispensable pour générer le sens de l’héritage littéraire et artistique du passé; pour mettre en relief son actualité. 5 Les films sur Madame Bovary ou qui s’en inspirent sont nombreux, et à vrai dire, du point de vue de l’ambition de donner forme à la pertinence du roman, ils ne sont guère très réussis, même ceux tournés par des réalisateurs brillants. C’est qu’ils sont plus fidèles à l’histoire qu’à la façon de narrer, au récit proprement dit, à sa dynamique spécifique. On y fait grand cas des scènes les plus spectaculaires - le bal au château de la Vaubyessard, ou l’agonie, par exemple - mais peu de l’écriture qui les raconte. Et surtout, ils sont pour la plus grande partie construits comme des drames historiques, en costumes. Paradoxalement, la tentative même d’éviter l’anachronisme entraîne sa présence inavouée et, de ce fait, pernicieuse. L’historicité des images donne au roman, qui avait sa propre contemporanéité, un masque théâtral qui met tout à distance. Comme il se doit, les erreurs des autres nous ont servi de leçon, de même que nos propres erreurs, ceux de nos projets antérieurs. Nous envisageons le projet comme suit, comme le plus anachronique possible, et donc comme le plus fidèle possible à l’écriture de Flaubert. C’est par ce biais que nous avons l’ambition de saisir ce en quoi consiste une narration proprement dite impossible. Je donnerai ici trois exemples de la façon dont la création d’images qui transposent tout le roman dans le présent tout en le tirant hors de la durée narrative, aide le roman à se révéler dans toute son actualité. DDossier 67 L’image visuelle raconte: le regard comme moteur narratif Pour rendre justice au caractère visuel presque obsessif du roman, nous avons imaginé, dans un premier temps, une série de huit installations vidéo. Le mode de l’installation vidéo nous empêchera de recourir au plus vite à la narration, piège de tout travail audio-visuel basé sur un roman. Nos vidéos varient de l’écran simple à quatre écrans disposés en cube, en passant par des triangles et des triptyques ainsi que des duos opposés ou juxtaposés. L’ensemble constituera une exposition „immersive“. Par ce mot, que Michelle a analysé en détail dans sa thèse (Gamaker 2012), nous entendons une forme artistique où le fond et la forme, la technique et l’ambiance collaborent pour solliciter une présence participative du spectateur; ceci correspond plus ou moins au sens de l’identification en littérature et au cinéma, mais sans les atouts sentimentalistes et manipulateurs qui l’accompagnent souvent. Ce n’est qu’une fois ces pièces terminées que nous nous proposons de procéder au montage d’un film de 90 minutes sur la base du même matériel. C’est l’ordre inverse de celui que nous avions suivi pour le film, puis pour diverses installations sur la folie. Selon nous, cela vaut toujours la peine de changer de mode de travail; on apprend plus, tout se renouvelle. 6 Sur ce point, mieux vaut donner quelques exemples, même si, à l’état de brouillon actuel, ils se situent encore au futur. Tout d’abord, l’idée de l’hostilité au dialogue, dans son lien avec le désir de fidélité (pour mieux comprendre les enjeux de la narrativité) de même que la mise à jour actualisant, entraîne un problème de scénario. Les quelque 400 pages du roman se sont réduites, dans notre scénario, à 40 pages, soit à 10% du texte. A priori, le scénario se limite à des citations directes du roman, tout en éliminant des discours qu’on ne pourrait que difficilement actualiser. Le caractère citationnel du texte flaubertien - citations sans guillemets puisées dans son fonds sans fond des idées reçues - nous a quasiment obligées à nous limiter aux citations. En même temps, l’écriture narrative nécessite des substituts d’un tout autre ordre. Prenons l’élément narratif le plus visuel qui soit - la première fois que Charles voit Emma, lors de la visite médicale à la ferme où elle habite. C’est à la fois un acte manqué dans la mesure où Charles ne la voit pas tout de suite, et un acte décisif car il éveille Emma à la vie - et Charles aussi, d’ailleurs. En éliminant le prétexte narratif - la jambe cassée du père Rouault - nous mettons en images simplement cette perception retardée et mutuelle. En réduisant le nombre de sites et de personnages, d’épisodes et d’événements, nous avons mis en scène cette vision qui éveille à la vie sur deux écrans opposés. Ils constituent la première scène, appelée La vie quotidienne. Sur un écran, on voit Charles qui prend son café du matin et se prépare à sa tournée de visites aux malades. Il lit le journal, regarde par la fenêtre; son langage corporel suggère l’ennui mais il ne voit rien. Pendant les trois minutes de ce tableau, on voit, sur l’autre écran, Emma parmi les animaux de la ferme. Elle commence à se poser des questions sur sa vie, peut-être à s’ennuyer. DDossier 68 Fig. 1: Emma, jouée par Marja Skaffari, commence à s’ennuyer à la ferme (Madame B., Mieke Bal & Michelle Williams Gamaker, 2013) 7 Un changement devient perceptible, mais à peine, après trois minutes. Au moment où Charles lève les yeux et regarde par la fenêtre, Emma marche vers la maison du médecin, se promène dans le champ qui l’entoure et finit par jeter des coups d’œil furtifs qui suggèrent un début de flirt. Elle regarde l’apparition assez fantomatique de l’homme à la fenêtre où celui-ci s’adonne à un regard proche du voyeurisme. Ce sont donc deux regards socialement ambigus, qui commencent à avoir des conséquences percutantes quand ils se croisent. Fig. 2: Charles à la fenêtre, joué par Thomas Germaine (Madame B., Mieke Bal & Michelle Williams Gamaker, 2013) Qu’avons-nous fait en modifiant l’épisode des visites fréquentes de Charles à la ferme du père Rouault, les Bertaux, la découverte de la jeune fille et l’éveil du désir, la demande en mariage et l’acceptation par Emma qui „croyait avoir de DDossier 69 l’amour“ comme on le raconte rétrospectivement? Le moment essentiel des chapitres 2 et 3, selon Michelle et moi, était le lent réveil du regard performatif. Emma commence à exister lorsque Charles la voit - avec tout ce qui s’en suit. Un regard performatif - qui fait acte. Le père qui décide, la procédure de la demande en mariage en l’absence de la jeune femme, tout cela ne nous paraissait ni actualisable ni important au-delà de la couleur locale temporelle, c’est-à-dire historique - distraction, selon nous, qui condamne la plupart des films sur ce sujet. Par contre, avec l’idée du regard performatif nous voulions intervenir, non pas simplement dans la critique flaubertienne mais aussi dans la théorie de l’art et de la culture visuelle en général. De cette dernière, la littérature fait partie intégrante. 8 On sait que l’art peut avoir une efficacité performative. Mais que le regard même qu’on jette sur lui puisse avoir pour effet un changement existentiel, voire ontologique, ceci fournit à l’argument connu un fondement qui, tout en le renforçant, implique le spectateur dans cette efficacité. Or, pour cet aspect-là, les théories de la réception ont déjà avancé que l’art, y compris la littérature d’ailleurs, ne peut fonctionner sans ses spectateurs. C’est un argument a priori phénoménologique. Mais que l’efficacité performative d’une image dépende du regard qu’on jette sur l’autre signifie que l’ontologie même du visuel est fondamentalement dialogique. 9 Ainsi, Charles, ce médecin de campagne généralement - mais sans doute à tort - tenu pour médiocre et donc méprisable, démontre l’importance du regard en tant qu’outil ontologique. Cela s’approche des idées de Lacan, en particulier de sa conception de l’écran culturel, mais sur un niveau plus général. C’est dans ce sens que nous croyons avoir été fidèle à l’écriture flaubertienne dans sa portée de ce qu’on appelle aujourd’hui, à la suite du philosophe Hubert Damisch, un „objet théorique“. Par ce terme, Damisch veut suggérer que l’œuvre d’art même incite à la réflexion théorique, voire qu’elle indique la manière dont on peut (la) théoriser. 10 Images sonores: la voix mortelle Toujours dans notre projet, le déploiement de l’image auditive est un deuxième exemple du paradoxe de la fidélité anachronique. La plupart de ces images restent à créer, car notre artiste du son, la Portugaise Sara Pinheiro ne peut les créer qu’une fois le montage fini. L’idée en est que le son - murmures, tintements, bêlements, hurlements - constituent un réseau lui aussi déployé dans le but de la narration anachronique. Car tous ces sons sont réitératifs, durables, routiniers. Mon exemple doit ici être limité à l’emploi du dialogue pour la création d’une image. Cette image sonore, située en dehors du temps, retourne pour faire acte de narration. Parmi les milliers de phrases narratives du roman, il s’en trouve en effet quelques-unes que nous avons prises comme points de départ pour raconter autrement. Dans un sens, notre conception, qui limite la plupart des dialogues à des citations littérales, comporte aussi l’opposé de cette méthode contraignante. Parfois, nous avons donné aux acteurs une phrase, une expression, et nous leur DDossier 70 avons demandé d’improviser là-dessus. Cela donne lieu à des images sonores, des développements dont l’importance réside dans la façon de constituer un contenu narratif de manière sensuelle. Ensuite, celui-ci trouve sa place dans un récit sans pouvoir être localisé textuellement. Prenons la fameuse phrase „Sa conversation était plate comme un trottoir de rue“. Elle est fameuse à juste titre, car aux yeux d’Emma, elle est dévastatrice pour Charles - si toutefois l’on considère la phrase comme un discours indirect libre. Mais comme Jonathan Culler (1976) et d’autres l’ont démontré, rien n’est moins certain, justement, que ce discours. 11 La petite phrase illustre surtout parfaitement l’usage économique des mots qui en dit long sur l’esthétique narrative. Car l’usage générique du nom conversation, accompagné de l’imparfait qui n’a rien ici de spécifiquement flaubertien mais exprime simplement la réitération et la routine, implique, justement, beaucoup de mots - un nombre infini de mots qui finissent par assommer l’interlocutrice avec sa platitude „comme un trottoir de rue“. Des mots qui trottent, en effet. Il fallait inclure cette phrase importante à la fois comme l’expression narrative d’un non-événement, et comme la représentation de l’ennui qui finira par tuer Emma. En d’autres termes, elle provoque un renversement dans l’économie narrative: de la narration littéraire, on passe à la narration cinématographique. Ce renversement est nécessaire, encore une fois, pour être fidèle au roman - tout en le trahissant. Or, le caractère itératif de la conversation plate qu’implique la phrase, la perception qu’en fait Emma et le glissement vers l’aventure qui s’en suit: tout cela ne peut pas être audio-visualisé facilement, et surtout pas avec la concision de Flaubert, car pour l’auteur une métaphore suffisait. C’est en s’y essayant que la plupart des films échouent dans la mise-en-film du roman. Pour notre expérimentation, c’est-à-dire dans le but de tourner un film-labo qui explore ce qui est et ce qui fait le récit plutôt que de fournir des réponses toutes faites, nous nous sommes mis derrière la caméra sans aucune répétition préalable. Car pour l’improvisation (aussi appelé jeu d’atelier) la qualité réside dans le caractère spontané, dans le premier jet. Cette opportunité, nous la devons à notre chance de travailler avec de brillants acteurs extrêmement talentueux. L’acteur qui interprète Charles, le Français Thomas Germaine, avait simplement annoncé qu’il aimerait parler de quatre sujets, étalés sur quatre dîners qui auraient lieu pendant des soirées différentes: le temps, un projet de construire une cabane dans le jardin, une patiente, et enfin le manque de goût (ou de parfum) des framboises. On voit l’ennui venir. L’actrice qui jouait Emma, la Finlandaise Marja Skaffari, toute préparée qu’elle était, n’avait qu’à se taire et montrer dans son visage l’écho visuel du discours de Charles. L’image sonore, donc, fonctionne comme l’image visuelle performative telle que je l’ai décrite dans l’exemple précédent. 12 Bien que nous ayons filmé cette scène avec deux caméras fixes, chacune orientée sur l’un des deux visages, nous avons décidé de montrer presque exclusivement le visage d’Emma. C’est là que s’inscrivit un ennui de plus en plus exaspérant; c’est là, sur son visage, que l’on construit le discours indirect libre de la DDossier 71 phrase de départ, même si, ou parce que, c’est exclusivement Charles qui parle. Son discours constitue, en effet, une image sonore proprement dite. Dans le récit, Emma focalise; il fallait donc que ce soit elle la prisonnière de la conversation plate - écrasante, donc, effectivement comme un trottoir de rue. Et selon la conception performative du regard, c’est encore le spectateur qui la met en l’état de manifester son ennui et, à la fin de la séquence, quand l’ennui se transforme en horreur, de pousser un cri. Car c’est le spectateur qui, en voyant l’ennui et en en éprouvant l’horreur, lit sur son visage et, dans un certain sens, autorise l’ennui de s’y manifester. Fig. 3: Emma (M. Skaffari), écoute la conversation de Charles, „plate comme un trottoir de rue“. (Madame B., Mieke Bal & Michelle Williams Gamaker, 2013) En même temps, nous avons voulu libérer Charles du mépris qui l’entoure dans la critique, réception qui, de fait, rend son personnage ineffectif. Ou plutôt, c’est l’acteur qui, par son jeu, devient son propre sauveur. Son outil est alors le rythme. Quand il parle de sujets à dormir debout, il parle néanmoins sur un rythme nerveux, avec une monotonie à la limite de la fébrilité, tout en s’arrêtant et soupirant de temps en temps. Par ce moyen, il donne forme à l’angoisse du personnage qui, sans s’en rendre compte, est lui aussi prisonnier de ce ménage sans issue. Il souffre de ses propres clichés, et par conséquent interroge l’interprétation un peu trop systématique de l’ironie flaubertienne. Sentant sa femme s’ennuyer, à un niveau pourtant irréfléchi, il parle avec de plus en plus de nervosité, meublant les silences qu’il sait inéluctables, et il en résulte qu’il accumule les bêtises. La bêtise flaubertienne, ici, ne réside pas tant dans la réitération des clichés mais plutôt dans le besoin de remplir un vide pourtant radical que génèrent les clichés. Ce besoin donne de la profondeur au personnage plus profond. L’image sonore qui en résulte colle au visage d’Emma, c’est la contrepartie visuelle, voire le produit de cette image sonore. Dans cette scène, Charles et Emma sont plus unis DDossier 72 que jamais: liés par l’ennui, la nervosité, l’angoisse. Leur union infernale dit bien tout ce que Flaubert n’a dit que de façon implicite. Quand, à la fin, Emma pousse un cri, Charles demande avec étonnement: „Ça va? “ comme s’il pensait que si seulement il réussissait à transformer l’ennui en maladie, il pourrait sauver son mariage. Il est médecin, après tout. Cette image sonore - et il y en a d’autres, bien sûr - démontre un autre côté de la performativité de l’image. L’image visuelle, le visage d’Emma de plus en plus exaspérée, n’est pas, dans ce cas, la conséquence du regard de l’autre. Elle est le produit d’une voix, de paroles, d’une conversation que Flaubert a si bien caractérisée. Néanmoins, si Charles est celui qui a fait vivre Emma dans la première scène, il est aussi celui qui la fait quasiment mourir dans celle-ci. Il est, de nouveau, le personnage générateur d’un événement invisible: celui qui transforme Emma, à peine éveillée à la vie, en un cadavre vivant. Elle entre dans une agonie qui dure le reste de l’histoire. Cette agonie n’est pas causée par son mari - après tout, il en est tout aussi bien une victime - mais il ne fait que l’occasionner, il en est l’instrument. La véritable cause, c’est l’attente, la passivité d’Emma prisonnière d’un système qu’elle ne comprend pas, mais qui lui a été inculqué dès son plus jeune âge. Pour renforcer cette importance performative de l’image sonore, nous avons aussi mobilisé la sonorité dans la scène de l’agonie même. 13 Sauve qui peut: les hommes Le troisième type d’image est l’image audio-visuelle que créent les acteurs par leur jeu. Ces images sont, elles aussi, des interprétations du roman. Le problème fondamental de la critique flaubertienne est moins la fameuse incertitude, l’indécidabilité de la dynamique entre bêtise et ironie, sujette au paradoxe du menteur crétois, que le récit qui fait défaut. L’écriture s’esquive; on ne l’attrape jamais en flagrant délit de raconter. Dans ce sens, il s’agit en effet d’un livre „sur rien“, malgré la tournure dramatique que prend l’histoire. Histoire et narration se séparent, parfois de façon dramatique. Dans le clivage entre les deux, les hommes de la vie d’Emma risquent de tomber. Car ils se ressemblent trop. L’image de ce clivage, nous la produisons par le moyen du casting. La médiocrité tant décriée de ces hommes est un aspect du lien qui existe entre eux. L’autre aspect, c’est Emma elle-même, à qui son éducation a volé la capacité d’être active, de faire. En effet, le drame d’Emma est son impuissance. Elle manque de performativité. Comment rendre une ressemblance entre trois hommes, surtout si chacun d’eux, a priori, a pour mission de sauver Emma de l’ennui par contraste avec l’homme de routine? Charles la sauve de son père, Rodolphe et Léon la sauvent de Charles. Le sauvetage échoue à chaque fois, justement parce qu’ils se ressemblent trop. Mais Flaubert ne le dit pas. Nous avons mis en scène cet inracontable flaubertien par deux décisions de casting. D’abord, les trois hommes sont joués par un seul acteur; ensuite, Emma et ses hommes ne parlent pas la même langue. La première décision est motivée par le fait évident mais jamais dit que la DDossier 73 jeune femme est amoureuse de l’amour et non pas d’un homme en particulier; la deuxième décision, quant à elle, est motivée par le fait tout aussi indéniable et tout aussi inénarrable qu’Emma et ses hommes, de toute façon, ne se comprennent pas. Lors de la scène du dîner décrite plus haut, l’ennui inéluctable d’Emma était, bien sûr, facilité par le fait que l’actrice comprend assez peu le français. Mais l’incompréhension se joue aussi à un niveau plus profond. Le romantisme exalté de Léon, dans la première partie, ne rencontre qu’un écho modérément enthousiaste chez Emma. En refondant cet épisode avec celui de la grossesse et le souhait d’avoir un garçon, car „les hommes, au moins, sont libres“, nous avons mis en scène la promenade des deux personnages dans une forêt où, après un tournant du sentier, Emma, qui est enceinte à l’insu de Léon, voit un bébé garçon jouer dans le sable du sentier. Elle s’attendrit. Léon, lui, ne voit rien. Le spectateur voit tour à tour le bébé - et pour rendre la scène encore plus croyable, le petit crie de plaisir! - et le pan de sable vide. Que penser, que croire? Le caractère subjectif des deux images les rend incompatibles. Elles se succèdent, ce qui empêche sans doute un choix clair, car le spectateur voit lui aussi le bébé, puis le pan de sable vide. L’idée est justement de mettre les deux personnages sur le même niveau de ce que, à l’époque, on commençait à considérer comme l’hystérie. Si Emma hallucine, Léon, plat, tombe de son nuage romantique pour reconnaître son incapacité d’imaginer. Lequel est le plus fou des deux? Fig. 4: Thomas Germaine jouant les trois hommes, collage (photos de Thijs Vissia, montage Margreet Vermeulen) DDossier 74 Fig. 5: Juxtaposition du bébé, joué par Julia Gamaker, et du pan de sable vide (Madame B., Mieke Bal & Michelle Williams Gamaker, 2013) Lors du tournage de l’aventure entre Emma et Rodolphe, des rencontres clandestines dans le château de ce dernier, nous étions de nouveau face à un défi narratif. Les monologues intérieurs de Rodolphe disent bien son ennui. D’ailleurs, dès qu’il a décidé de séduire Emma, cet homme cynique se demande „mais comment s’en débarrasser ensuite? “ Le lecteur est donc bien préparé, mais est-ce que le spectateur s’en souvient? De nouveau, l’acteur crée l’image de l’ennui. Cela va jusqu’à laisser tomber de sa main la petite boîte contenant un bijou qu’Emma lui a offert en cadeau. Ce bijou, il s’en sert d’abord pour produire un reflet de lumière sur le visage d’Emma; il joue avec elle, littéralement. Ensuite, il laisse tomber la boîte. Le geste exprime bien son ennui. Mais, au-delà du cynisme déclaré du personnage flaubertien, l’acteur a su mettre dans le visage de Rodolphe quelque chose que Flaubert ne dit pas: une tristesse profonde. Est-il possible de réconcilier cette tristesse avec le cynisme du personnage? Nous avons posé la question à l’acteur. „Mais bien sûr,“ a-t-il dit. „Il mène une vie vide; lui aussi il est malheureux.“ Flaubert le dit-il? Non, et oui. Dans le scénario, Thomas Germaine a indiqué la phrase „Si seulement j’avais un but dans la vie, si j’eusse rencontré une affection “. Effectivement, la phrase est là, tirée du roman. Elle y fait partie du grand fond de clichés de la séduction. Il en va de même dans notre scénario, où l’acteur la prononce avec un visage à la fois intense et solidement malhonnête. En ancrant en cette phrase l’expression de tristesse, l’acteur crée de fait une image de la progression narrative même, où l’amusement et le plaisir recherchés s’autodétruisent par l’effet de la durée. Mathieu Montanier, qui joue Homais, cherchait lui aussi à donner plus de profondeur à son personnage. Dans son cas c’était sans doute encore plus difficile. Car si Flaubert, avec énormément de subtilité et d’ambiguïté, glisse dans les paroles des trois amants assez d’éléments qui permettent de les sauver de la médiocrité que leur attribue trop vite une critique qui comprend le citationnalisme de Flaubert de façon unilatérale - et en oublie l’incertitude - le cas d’Homais semble plus problématique. Après tout, à la première lecture, le pharmacien semble l’incarnation même du cliché, de l’ignorance, de la méchanceté et du snobisme. Sauf que notamment dans ses disputes avec le curé, Monsieur Bournassien, au sujet de la religion (qu’il rejette), l’incertitude s’insinue. En même temps, la réception de DDossier 75 ces passages dépend aussi clairement des convictions du spectateur. Et c’est là que l’incertitude est renforcée, que l’on se rend compte que ce qu’on voit et entend diffère pour chacun. Cela éveille chez le spectateur à la fois un sens de la responsabilité et de la participation, et une réalisation de la force performative du personnage que l’acteur présente. Dans un deuxième temps cependant, une autre caractéristique d’Homais prend plus de consistance. Elle se note le plus clairement dans la scène qu’il fait à son apprenti Justin au sujet de l’emplacement de l’arsenic. Or, il s’agit là d’une scène dans les deux sens du terme. Car on est au théâtre, au théâtre de boulevard même: Emma, que le pharmacien a lui-même convoquée, est présente et écoute, et c’est ainsi que commence la grande finale du suicide. Ce qui perce à la surface dans cette scène est l’hystérie d’Homais. Même caricaturale, l’hystérie - dont témoignait aussi Léon - n’est pas seulement la nouvelle maladie dont Freud mettra le nom à la mode, et sur laquelle il fondera la découverte de l’inconscient. C’est aussi ce qu’ont en commun Emma et ses hommes. Entre le cliché, facilement ironisé, et l’hystérie généralement attribuée aux femmes, le texte flaubertien navigue avec astuce. Fig. 6: Homais dans la mer, joué par Mathieu Montanier. (Madame B., Mieke Bal & Michelle Williams Gamaker, 2013) De sa propre initiative, Mathieu Montanier a insisté pour faire quelques performances autour de l’hystérie. Premièrement, alors que Charles et Emma sont invités à une réception à Paris - notre version du bal - il fait une crise de nerfs dans une forêt où il cherchait des baies pour ses médicaments. Ensuite, après le suicide d’Emma, il est déchiré, non pas par la culpabilité mais par une sorte de crise DDossier 76 d’hystérie totale. Il se plonge dans la mer, se lave le visage avec de la boue et des algues, il rit, il crie et il pleure. Cette scène reste indécidable; lui donner un sens clair serait la pire trahison du texte - où, d’ailleurs, elle ne figure pas. Si une crise d’hystérie n’est jamais belle à voir, on ne peut pas non plus s’en débarrasser avec de l’ironie facile. Pourtant, la lumière nordique aidant, l’image est belle. La beauté produit l’ambivalence: elle nous rapproche du personnage qu’en même temps nous abhorrons. Encore une fois on est amené à se demander: lequel de ces personnages est le plus fou? Étrangement, ce n’est pas Emma. Récit imagé Le dernier exemple de ce que nous appelons imager - la mise en image du récit - montre le plus clairement peut-être à quel point un récit pris à la lettre de sa littérarité, peut, en tant qu’objet théorique, générer sa propre trahison. Nous affirmons que nos installations constituent, que notre film constituera une version de Madame Bovary. Mais pour affirmer cela il faut prendre le mot version dans son sens littéral, celui de ‚tour‘, ou de ‚détournement‘. Homais, dans le roman, ne s’approche jamais de la mer. Mais il a bel et bien une crise d’hystérie. Ce fait est déjà assez frappant. Cela fait partie du côté prophétique que nous attribuons au roman, ce pourquoi nous nous sentons autorisé à imaginer, à partir de traits littéraires, une version qui puisse donner forme à ce que la prophétie de Flaubert signifie aujourd’hui. 14 Or, notre version tient à s’attacher au roman, non pas par vénération pour son auteur, mais parce que, s’agissant d’un roman classique, canonique, son potentiel d’actualité n’a toujours pas été épuisé. La sensibilité féministe - qui ne devient perceptible qu’à partir d’une vision volontairement anachronique - nous semble indéniable. Mais alors, qu’est-ce qu’on gagne à sauver les hommes du mépris total? Tout. Plus les personnages des hommes sont complexes, plus la tragédie d’Emma devient inéluctable et terrible, et plus elle donne à penser, à évaluer dans quelle mesure la situation des femmes s’est vraiment améliorée depuis. Ce n’est qu’en sauvant les hommes d’un ridicule qui resterait superficiel s’il n’était que massif, et donc qui trahirait la complexité de l’incertitude flaubertien, que l’on peut sauver Emma de sa bêtise à elle, car les pièges qu’on lui tend, nous les reconnaissons encore. Notre réécriture du roman en images - visuelles, sonores, jouées - met en relief ce qui était là depuis toujours, mais dont on ne perçoit le caractère pernicieux qu’une fois que les images créent le lien, forcément anachronique, entre le texte de 1856 et la culture d’aujourd’hui. Un roman classique n’est pas grand parce qu’il est intouchable. Bien au contraire, c’est dans la mesure qu’il se prête à cette trahison par fidélité qu’un récit littéraire reste vraiment vivant. Cette trahison dit en effet que tout est déjà là mais qu’en même temps, rien n’est vraiment là, qu’il faut tout changer pour mieux voir. DDossier 77 Alphen, Ernst van, Art in Mind: How Contemporary Images Shape Thought, Chicago, Chicago UP, 2005. Austin, John L., How to Do Things With Words [1962], Quand dire c’est faire, trad. Gilles Lane, Paris, Seuil, 1970. Bakhtin, Michail M., The Dialogic Imagination: Four Essays, Austin (Texas), The University of Texas Press, 1981. Bal, Mieke, „Fonction de la description Romanesque“, in: Revue des langues vivantes 40/ 2 (1974), 132-149. — Quoting Caravaggio: Contemporary Art, Preposterous History [1999], Chicago, Chicago UP, 2 2001. — Travelling Concepts in the Humanities: A Rough Guide, Toronto, Toronto UP, 2002. — Narratology: Introduction to the Theory of Narrative, 3e éd. revue et augmentée, Toronto, Toronto UP, 2009. — „Madame B.: L’analyse cinématographique d’un roman“, in: Flaubert. 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Rodowick, David N., The Virtual Life of Film, Cambridge MA, Harvard UP, 2007. Todorov, Tzvetan, Mikhaïl Bakhtine. Le principe dialogique, Paris, Seuil, 1981. 1 Pour cette conception de la mémoire comme étant sujette à des actes dans le présent, voir le volume collectif Acts of Memory, 1999. Sur l’anachronisme inévitable et fondamental, voir mon livre (1999). 2 Pour cette conception du récit, voir mon ouvrage de narratologie, réédité en 2009. 3 Le terme ‚en devenir’ est dérivé des travaux de Gilles Deleuze. Pour les films précédents, voir le lien http: / / www.miekebal.org/ artworks/ films. Le film est distribué par Les Films de l’Atalante, Paris. Si j’utilise le pronom je dans ce texte, c’est afin d’éviter les connotations, à la fois pompeuses et faussement solidaires, du nous d’usage. Par contre, il ne s’agit jamais d’un je singulier; pour le projet ici en question, je indique les deux réalisatrices du projet, Michelle Williams Gamaker et moi-même. 4 J’appelle ici cinématographique l’image en mouvement malgré les discussions acharnées sur la différence entre le cinéma analogue et la vidéo digitale. Voir Rodowick 2007. 5 Mon argumentation contre ce que j’appelle l’intentionnalisme se trouve dans mon livre de 2002, ch. „Intention“. DDossier 78 6 Pour les expositions qui ont suivi le film sur la folie, voir le lien www.miekebal.org/ artworks/ exhibitions. 7 Toutes les illustrations sont des plans arrêtés des vidéos de Madame B., par Mieke Bal & Michelle Williams Gamaker, 2013. 8 Sur la visualité de la littérature, voir le chapitre „Caught by Images“ du livre d’Ernst van Alphen (2005). 9 Y compris dans le sens de Bakhtine, où dialogisme et citationalisme coïncident (1981). Voir aussi Todorov (1981) et, pour une étude qui donne de l’actualité à ce sens, Peeren (2007). 10 Pour une vue positive de Charles, voir le livre de Marc Girard (1995), qui selon moi pêche par excès de partialité contre Emma - il prend en effet ses paroles sans aucun sens de l’ironie, qui est pourtant capitale chez Flaubert. À ma connaissance, Damisch n’a jamais publié de texte spécifiquement dévoué à l’objet théorique. La définition la plus claire se trouve dans un entretien, publié en anglais, avec Yve-Alain Bois et al. (1998). 11 Voir en particulier Prendergast 1981. L’idée que la traduction fidèle est impossible et indésirable remonte au beau texte „La tâche du traducteur“ de Walter Benjamin. Voir aussi le chapitre „Image“ dans mon livre (2002). 12 Marja Skaffari dût interrompre le tournage une fois ou deux lorsqu’elle ne put s’empêcher de rire, tellement la performance de Thomas était hilarante. Nous autres, réalisatrices et acteurs, assistants, maquilleuse et autres participants, nous écroulâmes alors avec elle. 13 Sur la scène de l’agonie, voir mon article „Madame B.: L’analyse cinématographique d’un roman“ dans la revue Flaubert. Revue critique et génétique (2012). 14 Pour cette conception de la version comme tournure, selon l’étymologie du mot, voir Peeren 2007. DDossier 79 DDossier Yves Citton „Pourquoi la narration? “ Entretien avec Charlotte Krauss et Urs Urban Urban: Commençons par une question très générale: Qu’est-ce que le storytelling? On peut partir de la réception française de ce mot qui a été très largement diffusé par le livre de Christian Salmon, Storytelling. La machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits (2007). Le mot a été lancé dans le milieu français comme une attaque contre une certaine façon d’utiliser la narration. Ce livre, qui a eu à la fois beaucoup de succès et suscité beaucoup de critiques, j’ai toujours eu envie de le défendre parce qu’il me semble que son projet est à la fois politiquement justifié et théoriquement - je dirais littérairement aussi - tout à fait sain. Ce qu’il dénonce, ce n’est pas le fait de raconter des histoires, mais l’appropriation d’un certain mode de narration par des stratégies managériales, publicitaires et politiques. Donc le mot storytelling a été lancé en France comme la dénonciation d’un emploi de la narration à des fins de manipulation, de formatage des esprits, d’homogénéisation. Les sociologues et les chercheurs en sciences humaines s’en sont emparés en imaginant qu’il repérait quelque chose de nouveau dans les discours politiques, économiques etc. Il me semble qu’outre cet objectif politique de dénonciation, il y a quelque chose de très important qu’essaie de faire Christian Salmon, qui est de dire: Nous autres littéraires, nous avons à défendre ce qui s’est passé à la fin du XIX e et au XX e siècle, une réflexion sur les formes de la narration, qui essaie de déconstruire, de mettre en crise et de brouiller la communication par la narration. Ce n’est pas nouveau: Diderot, Sterne etc. ont fait la même chose depuis longtemps, mais il me semble que ce travail littéraire de mise en crise de la narration prend une pertinence particulière au XX e siècle, au sein de dispositifs médiatiques qui communiquent des images et des récits de façon beaucoup plus rapide et beaucoup plus large. En ce sens, la première diffusion du storytelling dans l’espace français est la dénonciation de certaines pratiques et la revendication d’un travail sur la forme dont les littéraires seraient les dépositaires ou les protecteurs. Face à cela, je n’ai pas vraiment d’objections à faire: c’est important de repérer la façon dont certaines stratégies de communication utilisent le fait de raconter des histoires. Le seul point sur lequel je ne suis pas d’accord avec Salmon, c’est qu’on n’échappe pas à formater les esprits sitôt qu’on parle, qu’on interagit avec quelqu’un avec une intention. C’est donc le sous-titre du livre qui me dérange plutôt que le titre. Ce qui fait problème, ce n’est pas tellement le formatage comme tel, mais le type de formatage, la finalité et la pratique dans laquelle il s’inscrit. 80 Krauss: Dans votre ouvrage Mythocratie, vous opposez au storytelling le concept de la scénarisation et une vision tout à fait positive de la mythocratie. Selon vous, à quoi peut servir l’art du récit? Je répondrai en reprenant une formule que Deleuze reprend de Spinoza: On n’a jamais encore pu déterminer ce que peut un corps. Et j’ai envie de dire la même chose du récit; l’attitude littéraire consisterait à dire qu’on n’a jamais encore pu déterminer ce que peut un récit. On s’aperçoit qu’il a pu avoir un effet sur telle ou telle personne, sur telle ou telle nation, à tel ou tel moment historique. On sait donc que le récit peut faire des choses, mais, par principe, il peut toujours faire plus. Mon livre réfléchissait plutôt au pouvoir du récit, comment on pourrait peut-être l’utiliser un petit peu mieux. Même si on raconte des histoires de façon assez classique, sans poser de questions littéraires sur la forme et la narration, les histoires peuvent non seulement vendre des choses par la publicité, faire de la propagande politique ou mobiliser les employés de façon managériale, elles peuvent aussi servir à une organisation politique par le bas. D’ailleurs, Salmon cite tout le travail fait dans les pays anglo-saxons, en particulier aux États-Unis, par les activistes politiques, anticapitalistes, syndicalistes etc. qui, eux aussi, mobilisent le storytelling pour créer de la mobilisation politique. Donc à quoi sert le récit? La réponse que j’ai envie de donner, c’est que le récit peut servir à mobiliser, pour le meilleur comme pour le pire. Cela dit, chez Sloterdijk, il y a cette notion de mobilisation qui, en elle-même, peut être problématique, et on pourrait donc retomber sur la dénonciation du storytelling. Si le récit sert à mobiliser alors que notre époque souffre d’une espèce d’hypermobilisation infinie et constante, peut-être qu’effectivement le storytelling est mauvais en soi - j’admettrais tout à fait qu’on décide cela. Le salut ou l’alternative serait alors à chercher ailleurs, du côté d’une sorte de poésie, de lyrisme, de description, de haïku, de suspension, de distraction ‒ bref, tout sauf davantage de mobilisation Et c’est là que les littéraires seraient bien placés: Quelles autres formes de discours, d’expériences de la littérature échapperaient au récit? Est-ce que ces autres formes échappent justement à la mobilisation? Ce sont des formes qui, par définition, mettent en question la mobilisation qui est au cœur des problèmes de notre époque et, en ce sens, l’utilité du récit serait critiquable comme telle. Je reprends votre question sous un autre angle: à quoi sert le récit? Je dirais qu’il nous insère dans une temporalité qui est celle d’une action possible. Les récits servent à nous donner des modèles d’actions avec un certain nombre de causes simplifiées et identifiées, un certain nombre d’actants, d’agents, de personnages qui font ou qui subissent certaines choses, et puis un certain nombre de conséquences qui ont été isolées, sélectionnées, filtrées et mises en valeur. On peut considérer l’existence comme une sorte de flux infini et continu, et les récits servent à isoler les lignes et à montrer que les lignes se croisent d’une certaine façon, à certains moments et donc à inscrire ces flux dans lesquels on est pris au DDossier 81 sein de nœuds qu’on identifie comme des actions. Le récit nous aide à faire ceci, et on en a donc forcément besoin. Donc le récit sert à pouvoir penser l’action humaine. Ce sont les travaux de Ricœur, Temps et récit etc., qui ont bien montré cela depuis longtemps: on ne peut pas ne pas se raconter des histoires, parce qu’on ne peut pas ne pas penser en termes d’action. En ce sens, le récit est inévitable, formater les esprits est inévitable. Et raisonner en termes d’action, c’est donc toujours se mobiliser, se mettre en mouvement face à une certaine finalité. Urban: Il faudrait donc, d’après ce que vous venez de dire, partir, avec ou sans Derrida, de l’idée que non seulement, il n’y a pas de hors texte, mais qu’il n’y a pas non plus de hors récit? Autrement dit: N’est-ce pas illusoire de croire qu’il y aurait un espace en dehors de la narration à partir duquel on pourrait condamner ses effets néfastes? Ne faudrait-il pas, au contraire, accepter l’immanence discursive au lieu de la nier et essayer de trouver un mode narratif différent - un récit qui exposerait les conditions et les modalités de sa construction? Je ne sais pas s’il y a du hors récit. Dans la mesure où on doit agir, je dirais que l’on retombe forcément sur des chaînes narratives - il faudrait que l’on me prouve le contraire. Cela dit, est-ce que la réflexion ne consiste pas justement à suspendre l’action, n’est-ce pas ce qui présuppose toute l’activité de la pensée? Il faudrait voir du côté de Bergson, qui nous dit justement que la vie quotidienne, la vie comme telle, à 99%, ce sont des schèmes sensori-moteurs. On perçoit certaines choses et on réagit à ce qu’on perçoit - et la vie, c’est cela. Sans cela, on ne pourrait pas survivre 30 secondes. Mais il y a encore autre chose dans l’expérience humaine: des moments de suspension, des moments d’écarts. Là, je lis Bergson à travers Deleuze: ces vacuoles, ces écarts font que s’instaure une possibilité de faire autre chose entre le stimulus et la réponse. Est-ce que le récit nous impose des chaînes d’action? Dans ce cas, ce serait le storytelling et le formatage des esprits. Ou est-ce que le récit peut être utilisé pour introduire de l’écart entre le stimulus et la réponse? Peut-être. Voir, entendre ou lire des enchaînements d’action chez autrui, cela nous aiderait à introduire de la distance, des écarts, des détours dans nos propres enchaînements d’actions. Le récit pourrait être utilisé comme un espace de modulation ou de modélisation de l’action. Tant que ce n’est pas un film d’action dans lequel quelque chose se passe toutes les 30 secondes, et qu’on a justement des pauses à l’intérieur d’une narration, on pourrait y introduire cette espèce de suspension de l’action et de l’histoire. Ces suspensions nous permettent d’introduire des variations potentielles entre différentes modalités de réponse. En ce sens, je crois qu’on pourrait opposer, dans l’expérience cinématographique, les films d’action calculés de façon à ce que toutes les x secondes, il y ait quelque chose qui explose, il y ait un gros bruit qui vient nous mobiliser même purement physiquement. Il s’agit justement de ne pas décrocher, ou alors de ne décrocher que sous un mode, tout d’un coup, pendant dix secondes où il n’y a pas de bruit d’explosion, parce que les héros DDossier 82 DDossier s’embrassent, et alors on est mobilisé sur autre chose Ce serait donc un certain type de narration qui nous mobilise de façon presque permanente, toujours par des hauts et des bas dans les actions qui s’imposent à nous: on veut que le gentil sorte du piège dans lequel il est tombé, on veut qu’il embrasse la belle femme, et ainsi de suite. Dans ma réponse, j’ai fait une dichotomie un petit peu facile entre les films commerciaux d’Hollywood qui explosent tout le temps et puis, je ne sais pas, Straub et Huillet ou Godard qui, au contraire, nous font réfléchir Mais même dans les pires films d’action, j’imagine qu’il y a des moments où le spectateur, qui regarde à travers le personnage, se pose une question un peu éthique ou comportementale: Est-ce qu’il faut embrasser, est-ce qu’il ne faut pas embrasser? Est-ce qu’il faut tirer, est-ce qu’il ne faut pas tirer? Ce seraient donc plutôt ces moments de suspension qui permettent de réfléchir sur les choix, qui nous feraient sortir du mauvais modèle du storytelling. Et des moments comme ça, il y en aurait partout ‒ plus ou moins, bien entendu. Urban: Il y aurait donc un potentiel critique des films d’action ? Ce serait quelque chose qui se passe finalement en deçà du récit, qui agit sur le corps, qui nous affecte charnellement, physiquement? Au cinéma tel qu’on en a l’expérience aujourd’hui dans les salles, avec un son dolby qui nous affecte vraiment physiquement - il y a effectivement quelque chose qui passe par le médium en tant que matériel et qui nous affecte directement. Et, de nouveau, sans que ce soit forcément bon ou forcément mauvais, c’est clair qu’il y a là une capacité de mobilisation purement instinctive ou purement physique qui fait que, lorsque quelque chose explose et qu’il y a des enceintes acoustiques autour de moi, cela me fait tressauter, sans que je puisse le contrôler. Le corps, le système nerveux humain, est construit, depuis l’âge des cavernes, de telle façon que lorsqu’un mouvement intervient toutes les trois ou quatre secondes, on doit nécessairement y faire attention, par instinct de survie: mouvement égale danger. Donc: quelque chose bouge, j’y fais attention. C’est une donnée physique de l’attention humaine. Or l’accélération, dans les années 80, du montage au cinéma et à la télévision correspond assez précisément au fait que l’on doit justement toujours être physiquement mobilisé par la télévision: l’image change toutes les trois ou quatre secondes. Elle joue donc sur cet instinct: il y a danger, donc je vais regarder, et ceci expliquerait que, des fois, on regarde la télévision et on est épuisé nerveusement le soir alors que l’on était couché sur son fauteuil. Ce serait là le degré zéro de la narration, parce que ce n’est même pas de la narration: il y a un mouvement ou une explosion, et sans que je sache qui fait exploser quoi pour quelle raison, cela mobilise le corps. On est ici en deçà de la narration, parce que c’est purement physique. Si les films mobilisent ceci - mais pas la littérature, toujours à cause du medium - ils ne sont pas forcément mauvais: on peut tout à fait faire un film d’action qui amène cet instinct à un point où il devient intéressant Justement, on peut juger, évaluer un film: comment est-ce qu’il utilise une narration? comment est-ce qu’il uti- 83 DDossier lise tous ces dispositifs instinctuels pour produire de la réflexion, pour produire ces moments de suspension? Ce sont ces moments de suspension qui comptent, mais ils sous-entendent souvent (pas toujours) qu’on soit pris, qu’on soit mobilisé dans la séquence de causalités, dans la poursuite des évènements, des personnages mis en scène, avec des investissements affectifs, dans des problématisations de valeurs. Peu importe que cela nous prenne avec du bruit ou des mots, mais il faut qu’on soit pris et surpris, qu’à un moment donné, cela devienne un problème. Mettre le spectateur dans des problèmes, ça peut être la finalité explicite pour laquelle on fait des films dans ce qu’on appelle le cinéma d’auteurs. Mais cela peut aussi se trouver dans des films commerciaux, dans lesquels un auteur a réussi à faire un travail intelligent. Cela arrive même très souvent. Ce qui justifie ou condamne un récit, c’est de savoir s’il utilise les moyens du medium utilisé (en l’occurrence le cinéma) pour poser des problèmes qui demandent un travail d’interprétation. Mais chacun est sensible à des problèmes un peu différents, donc il est difficile de dire dans l’absolu ce qu’est un bon ou un mauvais récit. Urban: Par en deçà, je voulais désigner ce que vous avez appelé le degré zéro de la narration Mais revenons à la question du pouvoir: ceux qui critiquent le storytelling - vous le rappelez dans votre livre - négligent non seulement le pouvoir et son fonctionnement, mais ils ne définissent pas non plus la story. En y regardant de plus près, on constate qu’ils critiquent un certain type de story, une manière bien précise de raconter: celle du récit réaliste qui vise à produire l’illusion d’un texte transparent à travers lequel on verrait, immédiatement, la réalité. Le récit réaliste tend par là à rendre invisible la médialité du récit, le fait que l’on raconte, qu’il y a un récit. Or, en tant que littéraires, nous savons qu’il y a d’autres manières de raconter des histoires. Comment peut-on raconter sans naturaliser ce que l’on raconte - et comment, selon vous, devrait-on raconter afin d’être politiquement efficace? C’est une question difficile J’aimerais d’abord remettre en question ou récuser une sorte de dichotomie a priori qu’on peut avoir en abordant cette question: d’un côté, il y aurait les modes de récit classiques, réalistes, transparents etc. et d’un autre côté, il y aurait la réflexivité qui met en crise les formes mêmes du récit. Cette dichotomie est à la fois une évidence, elle est de bon sens, elle nous aide à nous repérer dans la littérature ou les arts du XX e siècle. En même temps, s’il s’agit de penser la politique, il faut la déplacer, la reconfigurer. Il y a un mot que vous n’avez pas employé, c’est l’identification: je vois une histoire, je crois que c’est vrai, je me mets à la place du personnage principal et je pleure quand il pleure et je ris quand il rit Ce serait la ‚mauvaise‘ façon de raconter une histoire, parce qu’on se fait avoir, parce qu’on ne sait pas qu’on est dans un fauteuil au lieu d’être je ne sais pas où J’ai très envie de récuser cette condamnation. Une façon de reprendre la question, c’est l’immersion: l’immersion dans un récit est peut-être évitable par des procédures très perverses, sadomasochistes ou jouissives, pourquoi pas, on peut faire toutes les expériences possibles. Mais en soi, elle n’est pas mauvaise du tout. De même qu’on est forcément immergé dans la vie, les récits ouvrent une petite vie 84 DDossier virtuelle dans la vie, donc on est nécessairement immergé dedans, et en soi, je ne vois aucune connotation morale négative dans le fait d’être immergé, de s’identifier. Ces expériences immersives font complètement partie de l’expérience esthétique comme telle. Là encore, c’est simpliste de faire référence au XX e siècle uniquement, parce qu’on pourrait trouver des exceptions chez les Grecs ou au XVIII e siècle, mais je vais vite: disons grossièrement qu’au XX e siècle, on a développé une réticence, une prudence ou une mauvaise conscience face à ces pratiques immersives. Socialement, c’était justifié par la montée en puissance des dispositifs médiatiques. J’ai déjà fait référence aux appareils qui nous plongent complètement dans la réalité virtuelle. L’extrême en serait le visiocasque, le 3D, et même si ce n’est pas encore le cas maintenant, on peut imaginer qu’un jour, je ne sache plus si je suis en train de vous parler réellement ou si je suis plongé dans un dispositif - qu’il s’appelle skype ou autrement - où vous n’êtes pas réellement là. On a commencé par avoir des écrans, puis on a fait des Imax dans lesquels on était complètement pris, puis des visiocasques, et on peut imaginer que l’étape suivante serait le branchement direct sur les neurones ‒ d’ailleurs ça se fait déjà. Alors, je ne pourrais plus distinguer si je suis immergé dans un spectacle ou si je suis dans la réalité. Tout le XX e siècle s’est senti menacé par cette perspective, qui a eu un grand succès avec le film The Matrix, qui à travers Baudrillard n’est qu’un avatar de la caverne de Platon ou du malin génie de Descartes. Le sens de la réalité est menacé, et on a donc mis en place toute une série de dispositifs qui, au contraire, essaient de couper ces effets d’immersion. Ils ont produit des œuvres d’art admirables, Godard ou d’autres - génial, il n’y a rien de mieux. Cela dit, parce qu’on a fait ceci, on ne doit pas mépriser ou condamner l’immersion. On ne peut pas vivre sans ce type d’immersion, et une grande partie de la puissance des récits réside justement dans cette immersion. Non seulement on ne peut pas y échapper, mais c’est une chose admirable, parce que de cette façon on peut se plonger dans des mondes qui n’existent pas. La dimension utopique, la pensée utopique, la puissance politique de l’imagination et de l’imaginaire reposent en partie sur cette capacité qui permet de s’immerger dans un monde qui n’existe pas. Deuxièmement, il faut se demander comment cela fonctionne non seulement de façon efficace - comment on parvient à l’immersion - mais comment on utilise cet outil d’une puissance énorme. Et là, le storytelling, la narration, l’immersion narrative, c’est comme un ordinateur ou un marteau: on peut en faire les meilleures et les pires choses. Il ne s’agit donc pas de condamner l’immersion (ou l’identification), mais de savoir au nom de quoi on va dire que c’est une bonne ou une mauvaise utilisation. C’est ce que j’essayais de faire plus haut en disant que les bons récits sont ceux qui posent des problèmes appelant à un travail interprétatif. Mais plus largement, je dirais que ce n’est pas au nom de critères seulement narratifs qu’on va voir que c’est une bonne ou une mauvaise histoire, mais en regardant les effets visés et les effets réels d’un type de dispositif d’immersion au sein d’un type de population. Si, par exemple, on raconte au Rwanda l’histoire que ce sont telles autres ethnies qui ont volé nos terres, qui profitent de la richesse, qui nous exploitent et que le seul moyen de rétablir la justice, 85 DDossier c’est de les tuer, on raconte des histoires sur le passé, sur ce qui se fait tous les jours dans les villages, et cela produit des génocides. À mon avis, il sera très difficile de trouver la raison de cela dans la façon dont les histoires sont racontées. Ce n’est pas la radio comme telle qui est mauvaise, c’est cette radio-là, Mille collines, la façon dont elle a usé la radio et le storytelling, qui a participé au génocide. On a raconté des histoires, mais ce ne sont pas les histoires en tant qu’histoires qui ont conduit au génocide, c’est la façon dont telle histoire a été mise dans tel contexte et instrumentalisée. C’est très décevant comme réponse, d’un point de vue théorique, parce que je n’ai pas de critères à donner. C’est toujours une question de plus ou moins, il n’y a pas de bon ou de mauvais en soi. Il y a un lieu commun de la réflexion critique du XXe siècle, c’est qu’une des fonctions des pratiques artistiques, des études littéraires, c’est de cultiver une conscience des manipulations. On sait comment cela fonctionne, on apprend à regarder, à analyser des films, on voit comment des films nous font croire certaines choses, on regarde comment des histoires nous font pleurer, nous font rire. Comme toute connaissance, apprendre à comprendre comment cela fonctionne peut nous donner des outils pour les faire fonctionner différemment. Je dirais alors que les bons films, les bonnes émissions de radio, ce sont celles qui nous aident à percevoir et à comprendre ce que peut le medium utilisé. Un dispositif médiatique vaudrait ce que vaut le travail du medium auquel il se livre. Mais autant que ceci, il me semble que le travail des études littéraires ou de l’esthétique, c’est de nous sensibiliser aux beautés, à l’expérience elle-même: c’est de nous faire vivre quelque chose (et pas seulement le comprendre ou l’analyser). Il ne s’agit pas seulement de nous donner des armes pour nous en défendre, mais aussi de nous permettre de sentir les nuances, de nous permettre de jouir des nuances d’une histoire. Parce qu’une histoire est racontée d’une certaine façon, elle réussit à nous emballer, mais on peut aussi être plus ou moins sensible à sa beauté. On peut lire l’Iliade en traduction française ou allemande et trouver que c’est une belle histoire. Si on arrive à lire Homère dans le texte, on sera sensibilisé à des choses que le traducteur, forcément, n’a pas pu transmettre. L’expérience esthétique, le travail esthétique et le travail littéraire consistent non seulement à nous permettre d’analyser les choses (et donc peut-être de s’en défendre), mais aussi bien à se faire emballer encore plus intensément, en se sensibilisant aux nuances, aux finesses, aux beautés propres de la narration, de l’histoire. Urban: Mais qu’en est-il de ce type aux États-Unis, qui a pris le fusil à la première de Batman, croyant être Joker, et a tiré dans la foule? Oui, James Holmes, qui a mitraillé les spectateurs d’un cinéma à Aurora en disant (paraît-il) „I am the Joker! ‟ Mais est-ce le film, est-ce Batman qui a produit ce massacre, ne serait-ce qu’indirectement? Est-ce qu’il l’a produit de façon plus déterminante que l’enseignant de chimie ou de neurosciences, puisque James Holmes était un doctorant, je crois, qui a fait un cours à ce type et qui ne lui a pas plu? C’est très difficile d’en parler, parce qu’il serait facile de dire que c’est pathologique, qu’il y a toujours des dingues ou des gens qui perdent leur sens de la réa- 86 DDossier lité. On appelle cela une psychose et si on peut, on les met dans des asiles et on ferme la porte derrière. Moi, je dirais que c’est une sorte de risque inhérent à l’esprit humain et aux dispositifs qui le conditionnent (cinéma, livres, cours, etc.). Il y a ce dingue qui a tué des gens et, finalement, peut-être que Lénine aussi était un dingue qui a cru qu’on pouvait faire une révolution. Je ne sais pas, un récit produit toujours des effets, de même qu’un marteau peut vous tomber sur le pied et vous casser le doigt de pied. Kurt Cobain, dans Nirvana, a fait cette chanson sur le viol et puis il y a un idiot qui a violé une fille avec cette chanson. Oui, cela a dû y participer. Mais bon, on ne va pas s’arrêter à faire des chansons parce que des gens peuvent mal les interpréter. Cela montre justement que les récits ont des effets et qu’on ne peut pas les contrôler. Ca produit parfois des effets tragiques, mais dans l’ensemble, j’ai envie de dire Tant mieux! : ce serait encore plus tragique si on pouvait prévoir mécaniquement ce que font les récits sur les esprits humains. Krauss: Je vais continuer du côté de la production plutôt que du côté de la réception du récit. L’idée qu’un récit puisse devenir „une machine à formater les esprits“ comme le dit Christian Salmon implique la conception d’un sujet qui serait incapable d’agir - ou de réagir. Comment peut-on concevoir la relation entre récit et sujet? À en croire Michel Foucault, le sujet est en même temps le produit d’un ou de plusieurs dispositifs de pouvoir et, en tant que tel, capable d’agir. Que peut faire le sujet avec le récit qu’on lui impose - quel que soit d’ailleurs le récit? Et le contexte de la mondialisation change-t-il les données? Effectivement, c’est un autre type de critique qu’on pourrait faire à Christian Salmon. De nouveau, je ne veux pas le critiquer: dans son livre, il a essayé d’enfoncer un clou, il n’a pas pu mettre toutes les nuances possibles. On peut toujours reprocher à quelqu’un de n’avoir pas tout dit ce qu’il fallait dire: Lacan disait que la vérité ne peut que se mi-dire. Mais effectivement, cette idée de formatage des esprits comme telle présuppose que les esprits sont une matière brute qui rentre dans le moule qu’on lui donne. Alors que Christian Salmon sait très bien qu’il y a une capacité des sujets, des lecteurs, des spectateurs, à investir activement les formes et les contenus qu’on leur donne. La mobilisation, c’est moi qui suis mobilisé. Je suis mis en mouvement, mais c’est toujours moi qui fais des gestes à l’occasion de mouvements qu’on m’incite à faire. Cette part d’activité du sujet-lecteur, du spectateur etc., est effectivement centrale. Vous parlez de Foucault; moi, je suis en train de relire Michel de Certeau. Même si cela date maintenant de 30 ans, c’est d’une richesse admirable sur la lecture, sur toute la notion d’usages. Michel de Certeau remet en valeur la créativité propre de l’usage, tout ce qu’il y a de réappropriation de la part des consommateurs-usagers, qu’on présente de façon trompeuse comme étant passifs. Certeau a fait une enquête très large. Personnellement, ce que je connais un peu moins mal, ce sont les questions de lecture, et il est évident que la pratique de la lecture - on l’a dit à partir de la deuxième moitié du XX e siècle de manière très soutenue - est une activité qui implique une créativité propre de la part du sujet. Il faudrait se demander si la lecture, 87 DDossier parce qu’on a un signifiant linguistique, parce que la stimulation sensorielle est très étroite, très limitée, demande plus de créativité que le contre-exemple, le film en Imax ou la réalité virtuelle du jeu vidéo, où, au contraire, les images me sont données (je n’ai pas besoin de les imaginer), où les sons me sont donnés (je n’ai pas besoin de les rêver). On pourrait faire un contraste: on est plus passif lorsqu’on est dans un Imax à se faire bombarder par un film en 3D que lorsqu’on lit un roman de Balzac. Krauss: Et pourtant tout le monde ne réagit pas de la même façon Exactement! De nouveau, il me semblerait raisonnable de dire que ces processus de réappropriation, de créativité de l’usager ont plus d’espace pour se déployer lorsqu’on lit un texte que lorsqu’on est dans un Imax. En même temps, comme vous le disiez, on imagine toujours quelque chose. Chaque image qui nous est montrée prend sens en fonction d’autres images qu’on a déjà vues ou de l’image dont on imagine qu’elle peut venir par la suite dans le déroulement de l’histoire. Jacques Rancière, dans Le spectateur émancipé, prend l’exemple des jeux télévisés en se disant que les gens se font vraiment laver le cerveau. Mais un jeu télévisé fait aussi fonctionner une capacité de deviner, de répondre du spectateur qui est toujours (un peu) créative, qui a toujours une marge de réappropriation. Jacques Rancière, tout comme le cadre d’analyse que propose Michel de Certeau, nous dit que tout spectateur est toujours actif. On peut poser cela comme une base de travail: le spectateur se réapproprie toujours les choses à sa manière, comme le montrent les enquêtes des cultural studies - p.ex. la façon dont des films de Bollywood sont réappropriés au Brésil, où les significations construites sont différentes. Maintenant, il me semble que d’un point de vue théorique, il serait plus intéressant de se demander s’il y a des dispositifs qui exercent une pression qui écrase cette capacité de réappropriation, et d’autres, au contraire, qui lui permettent de se déployer. Cela se rapproche de ce qu’on a dit tout à l’heure: il y certains modes de narration qui nous saturent, qui ‚occupent‛ notre attention, comme une armée d’occupation occupe un pays C’est vraiment une question de saturation, il me semble que c’est important - saturation des sens, des capacités perceptives, et saturation des capacités à se repérer dans un espace narratif. Je crois qu’on pourrait caractériser ainsi certains modes de narration qui sont dominants dans ce qui nous vient de la télévision, de Hollywood, de la grande diffusion, où on est toujours proche de la limite, de ce qu’on peut percevoir et comprendre en même temps. Et peut-être qu’une façon intéressante de raconter des histoires, de faire des films ou des objets esthétiques, ce serait de pousser la saturation audelà - et toute une série de films, films de pseudo-action ou films à la Godard, nous donnent trop de matériel. Il y a trop de choses, trop de gens qui parlent en même temps, et on ne sait pas à quoi il faut prêter attention. La sursaturation produirait des effets intéressants ‒ tout comme, au contraire ( avec des minimalistes comme Straub et Huillet) le fait de donner très peu d’informations, de raconter plus lentement et d’ouvrir des espaces où des nuances émergent peu à peu, justement 88 DDossier parce que ça ne crie et ça n’explose pas toutes les dix secondes de toutes parts. Dans ce cas, je peux aller vers le film ou vers la narration et poser des questions, construire des problèmes, regarder les choses ‒ plutôt que de suivre l’enchaînement des séquences d’actions qui me viennent. Même si je n’ai pas envie d’établir des dichotomies ‒ du genre: il y a les films d’Hollywood qui nous abrutissent, qui formatent les esprits vs il y a les films d’art et d’essai ‒ j’imagine qu’à chaque époque historique, on pourrait voir des modes de narration dominants qui, en l’occurrence, pourraient s’identifier au storytelling comme formatage d’esprits. Ce formatage-là repose sur le fait qu’ils nous immergent d’une certaine manière qui consiste à nous mettre à l’aise - on sait ce qui se passe. Le décalage intéressant serait de nous mettre dans une situation où on sait qu’il y a trop de choses ou, au contraire, qu’il n’y a pas assez de choses. Ces modes de narration alternatifs encourageraient et nourriraient cette capacité créative de la part des usagers, des spectateurs ou des lecteurs. Effectivement, tous les modes de narration ne sont pas égaux, mais tout dépend de ce qu’on veut en faire. Si je prends du recul sur ce qu’est en train de faire notre époque, envers son environnement et envers les générations à venir, j’ai envie d’adopter une position simpliste mais nécessaire: il y a des choses comme les menaces environnementales globales pour lesquelles on n’est pas assez mobilisés; donc si on me montre un film avec plein d’explosions qui me font comprendre qu’il faut que j’arrête d’acheter des 4x4, si ça convainc les spectateurs d’infléchir un peu leur mode de vie, c’est un bon film. Un point c’est tout. Peut-être qu’Avatar ou, plus récemment, Cloud Atlas ‒ qui sont tous des films traduisant en récit une sorte d’idéologie négriste (l’idéologie que des gens comme moi essaient de développer dans une revue comme Multitudes) sont des bons films, mêmes s’ils saturent nos sens, captivent notre attention avec des effets spéciaux, etc., s’ils arrivent à faire passer quelques sensibilités, quelques idées, qui aident un peu à infléchir nos modes majoritaires de sentir et de penser, et donc d’agir. Moi, je fais la navette entre Grenoble et Paris en TGV, donc je consomme une quantité d’électricité hallucinante ‒ alors que je suis contre les centrales nucléaires qui produisent 80% de l’électricité en France! Si on arrive à me reconditionner pour que je passe à des modes de vie moins destructeurs de la planète, qu’on le fasse avec des films d’action, avec des discours philosophiques ou avec des impôts, peu importe: il faut absolument qu’on y arrive. Sans cela, nos petitsenfants auront vraiment de la peine à survivre. Donc à cette fin, avec ce degré d’urgence, je dirais, tout est bon ‒ ou presque Urban: Mais est-ce que les discours dominants, les discours du pouvoir ne peuvent pas avoir le même effet? Ce qui est intéressant chez de Certeau, c’est le fait que le dispositif du pouvoir lui-même produit des effets de contre-pouvoir. Il prend l’exemple de la lecture, des gens qui marchent dans la ville aussi, qui utilisent les dispositifs et qui les déstabilisent en même temps. Et puisque vous parlez des cultural studies: Homi Bhabha, qui doit beaucoup à Foucault et certainement aussi à de Certeau, montre que le discours du pouvoir - son exemple est la 89 DDossier Bible en Inde - la lecture ou l’utilisation de ce discours, censé être transporteur d’un certain pouvoir, la pratique culturelle, la réception, la lecture, peuvent aussi produire des effets de contre-pouvoir? Tout à fait. Et il me semble que cela fait justement partie de cette capacité de réappropriation qui n’est pas contrôlable. On peut essayer de formater des esprits tant qu’on veut, et certes souvent, cela peut marcher. Mais il y a aussi toujours des points par où ça fuit, et c’est là-dessus qu’il faut aussi faire porter notre attention. Krauss: Pour continuer dans cette idée-là, vous dites dans Mythocratie que jusqu’ici, la Gauche européenne institutionnalisée n’a pas vraiment été très douée pour raconter des histoires et que, quand elle a compris qu’il fallait raconter des histoires pour être élue, depuis les années 1990, elle a raconté les mêmes histoires que la droite Comment est-ce qu’on peut concevoir des histoires de gauche pour sortir de ce qu’on peut peut-être même appeler un cercle vicieux? Oui, c’est la question que pose le livre Mais il n’y donne que des réponses très décevante, je le reconnais volontiers: j’aimerais bien avoir une recette de cuisine pour préparer de bons récits de gauche, mais je ne l’ai pas trouvée Krauss: Et vous étiez justement en train de dire qu’il y a certaines histoires qui rendent le lecteur plus ou moins actif, comme les histoires contre le 4x4. Est-ce que ce sont des thématiques qu’il faut utiliser ou est-ce qu’il y a une certaine façon de raconter? Les deux. Il y a un travail qui peut se faire Ces histoires de gauche-droite, c’était un dialogue qu’on avait avec Jérôme Vidal, qui dirige les éditions Amsterdam et qui voulait qu’on parle de la Gauche, donc j’ai parlé de la Gauche. J’y crois, mais en même temps, je n’y crois qu’à moitié. Qu’on s’identifie à travers un signifiant comme la Gauche, cela peut sembler utile. En même temps, c’est problématique, surtout parce que cela revient finalement à dire qu’il y a de bonnes histoires et de mauvaises histoires ‒ ce que je fais depuis le début de notre discussion ‒ mais qu’on n’aime pas trop parler de „bon‟ et de „mauvais‟, donc on dit „gauche‟ vs „droite‟, et on croit que c’est moins problématique. À mon avis, on n’échappe pas à l’évaluation. Je n’aime pas le geste de critiquer, de dénoncer et de condamner, mais en même temps, je reconnais qu’il faut toujours filtrer ce qui nous arrive, qu’il y a certaines choses qui nous font du bien et d’autres qui nous font plutôt du mal. Donc, appelons les bonnes histoires des histoires „de gauche‟ Il me semble qu’on peut en tout cas les définir à travers deux dimensions: d’une part, la créativité qu’elles induisent chez l’usager, pour prendre ce terme là, le spectateur, le lecteur etc. Est-ce qu’elles lui permettent de se découvrir ou de se développer luimême, de préciser quel est son mode de vie, non pas en tant qu’il est imposé de l’extérieur, mais qu’il résulte de l’interaction entre sa singularité à lui et le milieu dans lequel il est? Donc une bonne histoire, ce serait une histoire qui me permet de réfléchir, pas forcément de façon réflexive, distante et critique, mais de mettre 90 DDossier en scène un rapport différent entre ma singularité et mon milieu. Je disais plus haut: une histoire qui fasse que le spectateur ou le lecteur se pose un problème qui appelle un travail d’interprétation. Il me semble que l’on peut réduire à cela la créativité des pratiques que soulignait Certeau. Pour mélanger Certeau et Bergson: face à tout ce qui m’arrive, j’ai tendance à reproduire des réponses à des stimulus, avec des schèmes sensori-moteurs déjà établis. Une bonne histoire, ce serait une histoire qui forcément m’impose quelque chose de l’extérieur. Deleuze disait qu’une bonne philosophie nous force à penser d’une certaine façon. Le bon philosophe - le modèle serait Spinoza - est une contrainte, un conditionnement: je rentre à la première proposition de l’Éthique, et c’est comme un enchaînement dont je ne peux pas sortir parce que la deuxième est nécessaire pour la première et ainsi de suite. Je ne peux pas y échapper, je suis conditionné à penser comme le veut Spinoza. C’est le formatage de l’esprit, qui fait peur à toute une pensée. Deleuze, au contraire, dit qu’un bon film me force à penser certaines choses. Une bonne philosophie me fait sentir la nécessité de certains enchaînements, donc je ne peux pas y échapper. Cette aliénation de ma pensée, que ce soit dans un enchaînement d’arguments philosophiques ou dans une séquence de scènes au sein d’un récit, fait peur parce que c’est de „l’aliénation‟, mais en même temps, c’est ce qu’on cherche dans une expérience esthétique. C’est pour cela qu’on ouvre les yeux, que l’on regarde un film ou qu’on lit un roman plutôt que de faire autre chose, plutôt que de rêvasser. Le bon récit, ce serait donc celui qui forcément me formate, m’impose cette nécessité. Mais à l’intérieur de cette nécessité, il me permet de penser différemment la façon dont je réagis, en réponse aux stimuli de mon milieu. Et je précise bien: dont je réagis. C’est ce qui permettrait à ma singularité de se développer, d’imaginer des réactions différentes aux stimuli de mon milieu, avec cette histoire, avec ce corps, avec ces fantasmes, pour poser ces problèmes-là, en tirer cette interprétation-là. Ce serait le versant de réflexion, de prise de distance, de suspension des enchaînements habituels. Première définition du bon récit. L’autre dimension serait le but vers lequel il me pousse. Si le récit me pousse à prendre un fusil et me tirer dans la tête, c’est un mauvais récit. Peutêtre qu’il aura raison, mais c’est un mauvais récit Ceci vaut aussi pour la philosophie: une philosophie qui me fait prendre un révolver et me tuer (ou tuer mes voisins, ou les spectateurs dans un cinéma), je dis que c’est une mauvaise philosophie parce que j’aime la vie. Urban: Vous venez de dire qu’à l’intérieur d’un bon récit, on a la capacité d’immersion et la capacité de réflexion. C’est quelque chose qui se passe dans la tête du récepteur. Mais qu’est-ce qui vous permet d’utiliser un bon récit de la bonne manière? Tout à l’heure, vous avez dit que pour utiliser un récit de cette manière-là, il fallait produire une conscience qui nous permette de le faire. Est-ce que cette conscience critique se forme en dehors du récit ou est-ce qu’elle peut faire partie du récit? 91 DDossier Je ne dirais jamais qu’en tant que lecteur, „j’utilise un récit“. Je peux comprendre qu’un publicitaire ou un syndicaliste utilise un récit, mais en tant que spectateur, lecteur ou auditeur, cela me semble difficile de dire que j’utilise un conte par exemple, parce que j’ai toujours un pied dedans, et parce que ce n’est pas un outil (pour moi en tant que récepteur). Le récit est un outil pour le publicitaire, mais il me semble difficile de dire que c’est un outil pour le lecteur ou le spectateur - c’est une expérience. On peut utiliser cette expérience pour en faire quelque chose, on peut l’instrumentaliser. La différence entre utilisation et expérience, c’est que j’utilise peut-être l’outil, mais je subis l’expérience. L’immersion dont je parlais tout à l’heure me semble donc constitutive de l’expérience du récit. Une façon de répondre serait de se demander si, à l’université, nous formons des usagers qui gardent toujours un pied extérieur tout en ayant un pied dedans. Une certaine santé, une salubrité de la consommation des récits, ce serait de ne pas être complètement dedans. En ce sens, il s’agirait de rester soi-même, de résister à une aliénation qui serait peut-être menaçante parce que trop grande. Je ne souscrirais pas à cela. Urban: Cela se passe-t-il à l’extérieur ou à l’intérieur du récit? On peut toujours adopter une position critique. Lorsqu’on est dans une salle de classe et qu’on lit ensemble un petit poème en prose de Baudelaire, on comprend qu’il y a une histoire et on demande à nos étudiants: „Regardez, quels mots il utilise pour mettre en scène cette histoire? “ On essaie alors d’être aussi en dehors que possible. Et de même, si on fait une analyse de film, on évite que les étudiants s’identifient simplement au héros: on veut qu’ils regardent quel angle a choisi le réalisateur, quel type de montage, quelle musique intervient quand. C’est donc peut-être un détachement plutôt que l’immersion: on se détache pour regarder le film ou le livre comme un objet. C’est essentiel à la posture que l’on développe dans les études littéraires ou esthétiques. Est-ce que tout citoyen bien éduqué doit pouvoir faire ce travail? Ce serait une thèse qui me plairait assez, ne serait-ce que parce que cela mènerait les gens dans ma salle de classe; j’ai donc un intérêt corporatiste à dire oui. Est-ce que cela formerait de meilleurs citoyens d’avoir non seulement cette distance mais aussi ces outils critiques pour analyser? Tout à l’heure, je disais qu’on n’est jamais complètement immergé dans une fiction parce qu’on sait qu’on regarde un film ou qu’on lit un livre. Mais il y a une différence entre ne jamais être complètement immergé et prendre un recul critique grâce à des outils d’analyse (là, pour le coup, il y a bien des outils). Est-ce une bonne chose en soi? Sans doute. Pourquoi? Ce n’est pas propre à la littérature, c’est que simplement je me porte mieux si je sais comment réparer ma voiture, comment fonctionne mon ordinateur, et donc je me porte mieux si je sais comment fonctionne un récit. Ce n’est pas forcément plus important, mais c’est aussi important que de savoir comment fonctionne internet ou comment fonctionne un réchaud à gaz. Maintenant, cette distance critique est-elle nécessaire pour utiliser un récit? Peut-être. Pour certains récits, c’est clair parce qu’ils sont faits pour qu’on ne 92 DDossier rentre pas dedans. Sans cette posture-là, on va donc s’ennuyer, ne pas les lire, ne pas trop les regarder. On gagne non seulement en connaissance, mais aussi en capacité-à-être-affecté, comme dit Spinoza: on est d’autant plus puissant, on a d’autant plus de capacité d’agir qu’on a plus de capacité à être affecté, plus de sensibilité. Et en ce sens, on aurait d’autant plus de capacité d’agir qu’on est plus sensible à son environnement. Les histoires faisant partie de notre environnement, plus on est sensible aux histoires, mieux on se porte, plus on a de capacité d’agir. Si cette distance critique nous permet de nous sensibiliser, en plus de nous donner des outils critiques, ce serait un bien en soi. Et pour revenir à utiliser un récit, on pourrait donc se dire - je ne sais pas si cela vous convient, mais j’essaie de poursuivre ce que vous suggérez - que l’intérêt du récit serait non seulement de nous immerger dans un monde, de nous donner une certaine expérience, mais aussi de nous raffiner notre sensibilité à la narration. Chaque récit nous aiderait donc à mieux percevoir les récits à venir. Et je crois que c’est assez vrai - j’en ai eu l’expérience à travers la musique. Je me rappelle les premières fois qu’on m’a fait écouter du free-jazz, cela me sidérait complètement: il y avait Coltrane qui souffle dans son saxophone, avec Elvin Jones qui tape sur sa batterie pendant vingt minutes J’étais un peu perdu. Je faisais un peu le snob: comme c’est Coltrane, il faut dire que c’est cool, donc j’écoute un peu plus, et ça devient moins saturé et moins indigeste, et finalement, ça devient vraiment intéressant, plaisant, fascinant. Et plus on écoute, plus on apprend à distinguer, justement, à se sensibiliser aux choses, à distinguer et à sentir physiquement un plaisir. Plus j’ai écouté du free-jazz, moins j’ai ressenti cela comme violent et agressif. L’immersion, elle s’est gagnée à force de sensibilisation, de lutte, de travail sur soi. Cet exemple que j’ai à partir du free-jazz, on pourrait se dire qu’il vaut pour le cinéma, pour la littérature, pour plein de choses. Il y a un moment de snobisme où quelqu’un vous a dit que c’est cool de voir ce film, de lire ce truc, ou alors d’avoir une bonne note parce qu’il faut avoir un diplôme, peu importe: ce qui compte, c’est qu’il y ait quelque chose qui nous pousse à nous plonger dedans. Et en nous plongeant dedans, non seulement on a une expérience qui au début est peut-être assez faible, non seulement on acquiert des outils critiques, mais le plus important, c’est que l’on se familiarise avec un certain type d’expériences, on développe une sensibilité qui nous permet de jouir, mais seulement au bout d’un certain temps. La jouissance vient au terme de l’expérience, quand certains récits nous ont sensibilisés à certaines formes de narration. Ce serait donc aussi cela, utiliser. C’est peut-être ce que vous vouliez dire: on utilise les récits pour être plus fluent, comme quand on parle une langue, pour être plus à l’aise dans les modes de narration - pas pour être plus malin, plus puissant ou plus critique, mais pour jouir mieux. On utilise des récits en classe, c’est clair, avec nos étudiants. Il y a là du snobisme, des notes, des choses horribles, mais l’idée est de les inciter à y procéder par eux-mêmes parce qu’ils s’aperçoivent que ça peut devenir du plaisir au bout d’un certain temps. On les a juste pendant quelques mois, on réussit à les pousser au point où ils ont déjà un petit peu de jouissance, un début, et donc ils développent cela, ils 93 DDossier voient que la jouissance est au bout. C’est le cas idéal qu’on n’atteint pas toujours, bien entendu Krauss: Et est-ce que ce serait une éducation qui passerait forcément par le monde universitaire? Si l’on regarde le cas typique de storytelling politique qu’est l’Italie de Berlusconi L’un des artistes engagés contre Berlusconi, l’auteur satirique Paolo Rossi, dit p.ex. dans la préface d’un livre sur Berlusconi: „Le roi est luimême devenu le fou du roi. Mais alors le véritable bouffon, quels autres arts est-ce qu’il connaît, et comment va-t-il pouvoir gagner encore son pain? “ Ma réponse à cette question irait dans le sens de ce que vous venez de dire: le monde artistique essaie de donner au public les moyens de comprendre les histoires que raconte la politique de Berlusconi ou, dans d’autres pays, de George W. Bush, de Sarkozy etc. À votre avis, est-ce que le monde artistique peut, lui aussi, éduquer le public à mieux décerner les histoires ou à mieux comprendre comment fonctionnent les histoires? En Italie, on trouve p.ex. des films qui tentent d’expliquer comment fonctionne le storytelling politique en recourant au métafilm. Il me semble que c’est plutôt une affirmation qu’une question - et j’y souscrirais. Mais j’ai envie de complémenter cette notion d’éducation du public. Que ce soit les universitaires qui éduquent les étudiants ou que ce soient les artistes qui ont compris comment fonctionne Berlusconi, qui éduquent le public qui n’aurait pas compris comment fonctionne Berlusconi sur comment fonctionne Berlusconi là, j’ai envie de résister. Est-ce que les artistes ont vraiment compris comment fonctionne Berlusconi? Je n’en suis pas sûr. En tous cas, les universitaires, ils piétinent Krauss: Nanni Moretti, par exemple, montre très bien dans son film Il Caimano les étapes de l’ascension de Berlusconi. Il met en scène une équipe de tournage qui essaie de tourner un film sur Berlusconi et qui se heurte à la réalité berlusconienne. C’est-à-dire qu’elle rencontre des interdictions de partout. Et on trouve la même chose dans un film italiano-allemand de Lucia Chiarla et Henrik Stahlberg, Bye Bye Berlusconi, qui raconte pratiquement la même histoire. Les films ont été produits en même temps, les deux mettent en scène la difficulté de tourner un film sur Berlusconi et dans les deux films, Berlusconi est jugé à la fin. C’est assez surprenant de voir que les deux projets visent à montrer les ressorts, à montrer comment Berlusconi se met lui-même en scène et comment fonctionne son histoire. En même temps, les deux films sont très différents C’est peut-être un peu fort de dire que c’est une éducation du public, mais la volonté du film est certainement d’aller au-delà du simple bonheur esthétique au cinéma. Je ne suis pas artiste: ils font ce qu’ils veulent. Mais je sais qu’en tant qu’enseignant, d’une part, j’ai lu Rancière et j’essaie de ne pas expliquer. Ce que j’essaie de faire avec les étudiants, ce n’est pas de leur expliquer comment les choses fonctionnent, parce que, quant à moi, je ne comprends pas comment les choses fonctionnent. Donc: je suis tout à fait d’accord avec l’éducation du public et 94 DDossier tout ce que vous avez dit sur les films sur Berlusconi si on rajoute en bas de page que le film est pour Moretti et Lucia Chiarla un moyen d’essayer de comprendre, de se donner à eux-mêmes les moyens, de s’éduquer eux-mêmes et d’éduquer le public. En ce sens, c’est plutôt la posture de l’éducateur ou de l’explicateur qui me semble problématique. Pas tellement pour les artistes, parce que c’est vrai qu’ils se débrouillent très bien avec cela, mais plutôt pour nous universitaires: on voit qu’il y a quand-même pas mal de collègues qui viennent et expliquent aux étudiants ce qu’il faut comprendre. Krauss: Mais ce serait alors un film où on mettrait en scène Berlusconi en disant: voilà, c’est ainsi que cela fonctionne. Dans ce cas, on n’aurait pas le deuxième niveau, cette équipe de tournage qui se heurte à la réalité et qui essaie de tourner un film qui n’aboutit peut-être pas Alors que dans les films cités, on n’a pas la narration vraiment réaliste évoquée tout à l’heure par Urs, on n’a pas la posture du „On vous explique le monde“, mais plutôt les moyens de rentrer dans ce monde. Très bien: cela casse justement l’opposition entre explication et narration. Si l’on essaie de comprendre ou d’expliquer Berlusconi, peut-être que la meilleure ou l’une des bonnes façon de le faire, c’est de faire un film dans lequel on raconte l’histoire de quelqu’un qui essaie de filmer et qui ne peut pas filmer etc. C’est ce que fait Godard depuis 50 ans! ... Cela, il faut qu’on l’incorpore, nous universitaires. Ce qu’on fait dans une salle de classe, c’est toujours un peu de l’explication, même si cela ne nous plaît pas, parce qu’on a préparé des choses à l’avance, parce qu’on espère avoir compris un certain nombre de choses, parce qu’on a dégagé un peu le terrain pour voir les causalités et autres. Il y a donc une partie explicative. Mais on ne peut pas du tout la dissocier d’une autre partie, qui est fondamentalement narrative: on s’inscrit toujours dans des schèmes d’action, dans des valeurs, dans des finalités, dans des causalités - ou beaucoup plus concrètement dans des salles de classe. Chaque cours qu’on fait, c’est aussi de petites histoires que l’on se raconte ou qu’on met en scène. On se met en scène soimême comme enseignant, comme si on était un personnage d’enseignant. Donc on se scénarise, pour reprendre le mot, on se scénarise forcément comme enseignant, ce qui sous-entend toute une narrativité. Ce que nous autres universitaires avons donc à apprendre des artistes, c’est cette conscience de la scénarisation. Pour comprendre des choses, il peut y avoir des concepts, des catégories ou des systèmes, mais il y a aussi une dimension narrative. De même, lorsqu’un artiste raconte une histoire, que ce soit par un film ou par un autre moyen, il y a forcément une dimension explicative. Il essaie donc aussi un peu d’éduquer le public, en sachant (parce qu’on ne peut pas dissocier les deux) que l’on ne peut espérer éduquer le public qu’en se mettant soi-même dans une histoire où on commence par s’éduquer soi-même. Peut-être est-ce la réponse à la question de tout à l’heure: utiliser les récits, c’est développer la conscience de la scénarisation. Tout ce que l’on fait dans la vie sociale relève de la scénarisation ‒ Erwing Goffman l’a bien décrit depuis des décennies, lui aussi. 95 DDossier Urban: Terminons sur une question d’ordre historique: la plupart de ceux qui parlent aujourd’hui du pouvoir du récit, du storytelling etc. font comme si c’était quelque chose de nouveau. Or dans Mythocratie, vous faites souvent référence à des textes littéraires classiques, notamment du XVIII e siècle. Et vous rappelez parlà que la réflexion sur le pouvoir de la narration n’est pas une invention du XX e siècle. Plus spécifiquement, pensez-vous que le storytelling ou la narration extralittéraire a des antécédents dans les siècles passés? Je comprends la question de deux façons. Est-ce que le storytelling, tel que le définit Salmon, le fait de mobiliser des gens à travers des histoires, a une histoire passée? Oui. J’imagine que des empereurs romains racontaient des histoires aux généraux et aux soldats pour qu’ils aillent se faire casser la figure en se battant aux frontières de l’empire. Maintenant, est-ce que la réflexion sur le storytelling, la réflexion critique sur la narration, a des antécédents? Oui, bien sûr, on pourrait facilement sélectionner une série de textes pour montrer que cette conscience de la scénarisation était là, de Lucien, à Rabelais, à Sterne, à Diderot, etc.. Moi, ce qui m’intéresserait plus, ce serait d’insérer cela dans le champ d’études de l’archéologie des médias, sur lequel j’ai envie de travailler maintenant. Il est bien connu en Allemagne, qui a été pionnière, aux USA, au Canada, dans les pays scandinaves, mais ça n’a pas du tout pris en France, pour le moment en tous cas. Il consiste à partir des problèmes que l’on se pose aujourd’hui avec les médias numériques, avec la façon dont les médias investissent tous les champs de notre vie, et à remonter dans le passé pour reconnaître des modes de discours, des modes de diffusion des discours, de subjectivation qu’on croit spécifiques du numérique, mais qu’en réalité, on peut retrouver dans l’expérience littéraire ou ailleurs. La littérature a un rôle fondamental à jouer dans l’archéologie des médias, et les gens qui ont développé cela sont souvent des littéraires. Même s’ils parlent de numérique, Kittler par exemple, ils ont une formation littéraire. La pratique, quand-même assez bizarre, qu’on a eue du texte littéraire à la fin du XX e siècle nous sensibilise très fortement au fonctionnement des médias. En ce sens-là, il est intéressant de repérer comment la scénarisation, le storytelling, se branche sur des dispositifs concrets, historiques, matériels. Que ce soit internet, la diffusion du roman, la Bibliothèque bleue, les colporteurs ou les monastères au Moyen Âge - il faut voir justement quels sont les branchements entre le texte, la conversation, l’image, la communication à distance, l’archivage, puis, plus tard, le film, ou les réseaux numériques qui permettent de leur donner une efficacité à chaque époque. C’est cette historicisation-là qui est intéressante maintenant, toujours pour essayer de mieux se repérer dans le présent, mais en essayant de voir comment cela fonctionnait à telle ou telle époque du passé. 96 IIn memoriam Zum Gedenken an Rita Schober Wolfgang Asholt Einleitung Am Zweiten Weihnachtstag des vergangenen Jahres starb Rita Schober in ihrem Haus im Fritz-Erpenbeck-Ring in Pankow. Damit ging nicht nur ein Leben zu Ende, das mit der Geburt in Böhmen zur Zeit der Österreichischen Monarchie begann und in dessen Verlauf sie die Tschechische Republik, den ‚Anschluss‘ des Sudetenlandes an NS-Deutschland, den Krieg und die Sowjetische Besatzungszone, die DDR und die Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 erlebte, sondern auch ein Wirken, das die Romanistik und die Philologie in der DDR, in besonderem Maße an ‚ihrer‘ Humboldt-Universität, geprägt hat. Als Schülerin und Assistentin Victor Klemperers habilitierte sie sich 1954 und übernahm 1957 einen Lehrstuhl für Romanistik an der HU, ab 1959 als Nachfolgerin ihres Lehrers. Von 1969 bis 1975 war sie Dekanin der Geisteswissenschaftlichen Fakultät, 1969 wurde sie ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und 1974 Mitglied des Exekutivrates der UNESCO. 1975 übernahm sie den Vorsitz des Nationalkomitees für Literaturwissenschaft, zugleich wurde sie Mitglied des Präsidiums des PEN-Zentrums der DDR und nicht zuletzt war sie Angehörige des Professorenkollegiums der gleichnamigen Fernsehsendung. Vor allem aber erreichte Rita Schober, dass es trotz der Hochschulreformen der DDR, die dies eigentlich ausschlossen, an der HU als einziger Universität weiter eine Romanistik gab. Bis 1979 repräsentierte die oft so genannte „rote Rita“ als Institutsdirektorin und bis 1989 als weiterhin Lehrende die universitäre DDR-Romanistik und bis kurz vor ihrem Tode war sie wissenschaftlich tätig; besonders interessierte sie sich in ihren letzten Jahren für die französische Gegenwartsliteratur, vor allem Houellebecq, den die große Zola-Forscherin als Vertreter eines provozierenden Neo-Naturalismus schätzte. Die außergewöhnliche Persönlichkeit der Verstorbenen würdigen die beiden Nachrufe von Horst Heintze und Friedrich Wolfzettel, denen dafür herzlich gedankt sei. Rita Schobers Bedeutung für die vier Jahrzehnte der DDR-Romanistik ist aber auch der Grund dafür, dass lendemains ihre Erinnerungen an zwei Moskau-Besuche abdruckt, die sie mir mit der Bemerkung überlassen hat, sie veröffentlichen zu dürfen, falls sie ihre Memoiren nicht abschließen könne; dafür gilt ihr der herzliche Dank der Zeitschrift, die sie von Beginn an mit Sympathie begleitet hat. Die Moskau- Besuche der Jahre 1964 und 1970 gestatten zwar auch Einblicke in die Situation der DDR-Romanistik, vor allem aber lassen sie erahnen, wie die Romanistiken der sozialistischen Länder arbeiteten und kooperierten. Insofern stellen sie auch ein historisches Zeugnis dafür dar, wie schwer es die DDR-Romanistik hatte und welche Verdienste Rita Schober sich für ihr Leben und Überleben erworben hat. 97 IIn memoriam Horst Heintze Erinnerungen an Rita Schober Als Schüler Victor Klemperers denke ich an seine beliebte Wendung von den poche ma sentite parole, die Rita Schober wieder aufgriff, als sie ihrem Lehrer die Grabrede hielt. Es war ja sein Wunsch gewesen, dass sie als die älteste unter seinen Schülern und als adiutrix im Amt diese Aufgabe übernahm, und sie mag sich der verba magistri erinnert haben, um damit gewissermaßen als Exordium die Hörer auf das Lob des Verstorbenen einzustimmen. Wenige und gefühlvolle Worte wären wohl die eindrucksvollste Form des Gedenkens gewesen, wenn der Redner nicht die Pflicht hätte, die Verdienste des Toten hervorzuheben und zwar in dem Sinn, die dem Diktum de mortuis nil nisi bene entspricht, was ja nicht heißen soll, nur das bonum zu sagen, sondern eben bene, in guter gerechter Weise. Als einem homme de lettres widerstrebte Klemperer die Feiertagsrhetorik, aber als Literarhistoriker wurde er doch nicht müde, zum Lobe Voltaires zu reden und zu schreiben. Denn wie kann man kurz sein, wenn das Herz den Redner beredt macht? Rita Schober kam auch immer wieder auf ihren Lehrer zurück, von dem sie wusste, was sie ihm schuldig war. Das gilt als ein starkes Argument gegen die Wendung der poche ma sentite parole, deren ironischer Unterton den gläubigen Zweifler und Freigeist verrät, dem das Spiel Montaignes mit der Katze gefiel und der es erfahren hatte, wie schwer es ist, die Menschen mit ihrer inconstance in die Reihe zu bringen - à les r’appiesser et mettre à mesme lustre. 1 Versuchen wir es dennoch mit dem Hallenser Auftakt unserer romanistischen Geschichte. Im Mai des Jahres 1948 empfing die damalige Assistentin des verwaisten Seminars den Professor, um ihm als künftigem Ordinarius, bei dessen Wahl es in der Fakultät Widerstand gegeben hatte, die Räumlichkeiten und die Bibliothek zu zeigen, die sie nach deren Auslagerung wieder hergestellt hatte. 2 Dann saß man zu viert in dem winzigen Direktorzimmer, wo noch das Bild von Karl Voretzsch hing, Victor und Eva Klemperer mit Rita Hetzer und Robert Schober. Dieselbe Szene kann man in den leicht süffisanten Notizen von Klemperers Tagebuch (21. Mai 1948) nachlesen, die das Ereignis aus der Nähe eher trivial erscheinen lassen. Und doch war die Begegnung für beide von weitreichender Bedeutung. Klemperers Entschluss für Halle sollte das traditionsreiche Seminar von einer Hochburg der altfranzösischen Philologie in einen Hort der neueren französischen Autoren verwandeln, die beim alten Voretzsch noch in dem Regal der Unterhaltungsliteratur standen, soweit sie ins triviale 19. Jahrhundert gehörten. Eigentlich kam jetzt erst die Kopie der Houdon-Büste auf dem Regal zwischen den Büchern zur Geltung. Als Klemperer im Herbst-Semester 1948 seine Vorlesungen aufnahm, sprach er so beredt und eindringlich von dem Aufklärer, dass sich der Hörsaal bald mit Hörern aller Fakultäten füllte. Der Assistentin muss es solchen Eindruck ge- 98 IIn memoriam macht haben, dass sie sich Jahrzehnte später dazu bewogen fühlte, Klemperers Voltaire aus dem Dixhuitième mit Nachwort und Anmerkungen als eine Hommage an den Lehrer neu herauszugeben. 3 Freilich konnte die geborene Rita Tomaschek und Witwe des bei Leningrad gefallenen Kunsthistorikers Hetzer nicht die Prager Zeit vergessen, als sie bei den katholischen Schwestern wohnte und an der deutschen Universität studierte, wo sie eine solide sprachwissenschaftliche Ausbildung erhielt. Es waren gewiss dramatische Umstände, unter denen sie zur Promotion gelangte. Klemperer hat ihre Promotion nicht gelesen, wohl aber Werner Krauss. Den Glücksfall in Halle sollte die Assistentin mit Entschiedenheit wahrnehmen. Von ihrer literaturwissenschaftlichen Wende zeugt der Beitrag in der wissenschaftlichen Sammelschrift, den das Staatssekretariat für Hochschulwesen aus Anlass der dritten Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1951 in Berlin herausgab: Wissenschaftler kämpfen für den Frieden. Renommierte Fachleute und Nationalpreisträger der DDR wie Theodor Frings, Wolfgang Steinitz, Johannes Herz oder Johannes Stroux waren dort vertreten, wenn sie auch nicht alle auf den aktuellen Anlass einen Bezug nahmen. Anders die Genossin Dr. Rita Schober, Assistentin und wiss. Nachwuchskraft, damals zeitweilig Mitarbeiterin der staatlichen Zentralstelle. Sie hatte sich ihr Thema - „Literaturwissenschaft und Kampf für den Frieden“ - auf die Fahne geschrieben. Die theoretische Weihe sollte ihr auf dem Lehrgang für angehende Dozenten des historischen und dialektischen Materialismus an der Parteihochschule in Klein- Machnow zuteil werden, zusammen mit Georg Klaus und Georg Mende (der mich in der Prüfung über Gegenwartsprobleme beinahe durchfallen ließ) und mit Kurt Hager. Auf der Hakeburg kam die dialektische Erleuchtung über sie: - Ich hatte bisher gelernt, in linearen Kausalketten zu denken, und meine Vorliebe in der Schule für Latein und Mathematik entsprach vielleicht auch diesem Hang zur formalen Logik. - Mit der Dialektik ging es mir wie dem Märchenprinzen mit dem Eisberg. Ich rutschte immer ab. Der Durchbruch kam eigentlich erst, als ich nach mehr als zwanzig Versuchen Hegels Einleitung zur Phänomenologie begriffen hatte. Wer die Energie und den Fleiß ihrer Person kennt, wird der späten Versicherung höchstens eine bescheidene Übertreibung unterstellen. Das Ereignis hob sie noch in der Erwiderung auf die Laudatio zur Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Humboldt-Universität zu Berlin im Jahr 1988 hervor: Das Eindringen in die Schriften der Klassiker hat mir buchstäblich eine neue Welt erschlossen. 4 Ich erhielt die Broschüre mit der Fackel und dem geöffneten Buch von ihr mit der Widmung: Meinem lieben Studienkollegen u. Seminarmitarbeiter. 4.8.51. Die Botschaft vom Freund und Feind im Friedenskampf hörte ich wohl: Auf der Seite des Friedenslagers unter der Führung der Sowjetunion eine Literatur, die mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln die fortschrittliche, gesellschaftliche Entwicklung ihrer Länder fördert, und in den vom USA-Imperialismus beherrschten Ländern als Ausdruck der herrschenden Klasse eine Literatur, die im letzten alle auf Zerstörung und Vernichtung abzielenden Tendenzen verherrlicht und neben ihr, im Kampf gegen sie, eine fortschrittliche Literatur in diesen Ländern, deren Bedeu- 99 IIn memoriam tung und positive Wirkung von Tag zu Tag zunimmt. Was ich wenn auch weniger geschult mit ihr teilte, war die Begeisterung für das Treffen in der schwer zerstörten Hauptstadt der DDR, bei dem ich die starke französische Delegation als Dolmetscher jene vierzehn Tage - im August, im August blühn die Rosen - begleitete. Wir zogen singend durch die Straßen: Nous sommes la jeune garde. Nous sommes les gars de l’avenir. Auf dem Marx-Engels-Platz begrüßte der alte Präsident Wilhelm Piek die Jugend aller Nationen und bei jeder Gelegenheit ertönte der vielsprachige Gesang, den unser Lehrer als echte Stimme der Völker in Liedern würdigte. 5 Es war die Hoffnung auf eine wahrhaft demokratische deutsche Republik in einer internationalistischen Welt des Friedens, die uns verband, wie verschieden die Propaganda im Osten und Westen das Ereignis auch auslegte. 6 Für einen historisch-dialektisch geschulten Marxisten verstand es sich, dass die Forderung des Tages in einen größeren Zusammenhang gehörte. Also ging die Autorin von der Gegenwart in das französische 19. Jahrhundert zurück und berief sich auf George Sand (die ihr Klemperer zur Habilitation vorgeschlagen hatte). Dieser engagierten Vorkämpferin der Emanzipation stellte sie den Hüter der impassibilité Gustave Flaubert gegenüber, für den die Kunst reiner Selbstzweck bedeute. In beiden sah sie den Gegensatz von Tendenz und L’art pour l’art (ein Thema, das mir Klemperer in der französischen Klausur gestellt hatte) verkörpert. Die Sand sprach ihr aus dem Herzen: Man muss ein Narr an Leichtgläubigkeit sein, um sich über den gewaltigen Einfluss gewisser Dichter auf ihre Zeit zu wundern, während es doch ganz selbstverständlich ist, dass die Zeit ihren machtvollen Einfluss auf ihre dichterischen Hirne fühlbar werden läßt. Es solle sich niemand vor der Tendenz scheuen, wenn sie dem Fortschritt und dem Frieden diente. Der Krieg ist niemals ein Instrument des Lebens. Aber - fährt sie fort -, der Glaube, dass man ihn verhindern kann, ist keine Utopie. Der Traum von der Zusammenarbeit der Völker ist von seiner Verwirklichung nicht so weit entfernt, wie man glaubt. Vielmehr wird sie das Werk des 20. Jahrhunderts sein. Sprach solches Zeugnis für die historische Verwurzelung der Friedensidee, so stellte sich der gegenwärtigen Literaturwissenschaft die Aufgabe, den (bürgerlichen) Theorien vom Selbstzweck der Literatur entgegenzutreten. In diesem Sinn hatte Werner Krauss seine Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag verfasst, auf die sich die Autorin berief, als sie Benedetto Croce des Idealismus und Ästhetizismus zieh. Der Ästhetiker habe die Bedeutung des Realisten Balzac gröblich verkannt, als er dessen Eugénie Grandet analysierte: Balzacs angeblich künstlerisches Versagen wird mit dem „alle Probleme lösenden Zauberwort“ der „disposizione psicologica“ erklärt. Diese Flucht in einen irrational gefassten Psychologismus kommt einer Selbstaufgabe der Wissenschaft gleich. Ob ihr Lehrer diese Sätze gelesen hat, weiß ich nicht. Er teilte ihre Begeisterung für den Frieden und die Sowjetunion, aber als Literarhistoriker war er doch zu erfahren, um auf die eine einzige Methode zu schwören. Im Glauben an die gesellschaftliche Determiniertheit des Individuums stecke doch auch Metaphysik, erklärte er geradezu verzweifelt. So waren der Meister und Rita in ihrer Methode auf friedliche Koexistenz 100 IIn memoriam angewiesen. Sein sensibles Verhältnis zur Sprache sollte ihr stets ein Beispiel sein, doch in der Auffassung von der Literatur gingen sie getrennte Wege. Er sei eben kein Marxist, räumte sie ein, sondern von der (bürgerlichen) Kultur des 19. Jahrhunderts geprägt. Seinen Hallenser Kreis, zu dem auch Hans Klare gehörte, hat Klemperer mit nach Berlin genommen, als er an die Humboldt-Universität berufen wurde. Dort mussten wir uns auf die Veränderungen einstellen, die durch die II. Hochschulreform in Gang gesetzt wurden. Die Romanisten sollten mit Krauss und Klemperer ein großes literaturwissenschaftliches Institut bilden. Es wäre wohl eine Gelegenheit gewesen, die zwei Koryphäen des Faches in sinnvoller Arbeitsteilung zusammen zu bringen. Aber das sollte selbst Rita Schobers Energie nicht gelingen. Sie erhielt unter Klemperer einen Lehrstuhl und wurde schließlich seine Nachfolgerin, wobei sie es sich zum Ziel setzte, die Romanistik mit allen ihren Fächern auszubauen (was insbesondere für die Lateinamerikanistik galt, aber mir gleichfalls zugute kam - nach dem Tod Klemperers, dem ich in Halle zur Seite stand, rief sie mich nach Berlin zurück und übertrug mir die italienische Abteilung). Im Gegensatz zu Klemperer, der seinen Mitarbeitern völlig freie Hand ließ, ohne sich groß um ihre Angelegenheiten zu kümmern, lenkte sie das Institut mit matriarchalischer Strenge, so dass ich wohl die Liberalität meines Lehrers vermisste, aber doch auch sah, wie sich die einzelnen Fächer entwickeln konnten, die Sprachwissenschaft unter Hans Klare und die Lateinamerikanistik unter Hans Otto Dill und ich mit der kleinen Italianistik. Gewiss förderte das internationale Ansehen der Institutsdirektorin in der SED-Kreisleitung die Ziele des Instituts. Revenons à nos moutons, das heißt auf die französische Literaturgeschichte als Gegenstand des Literaturwissenschaftlers. Die schließliche Habilitationsschrift Emile Zolas Theorie des naturalistischen Romans und das Problem des Realismus von 1954 habe ich zwar gelesen, doch ohne deren methodische und theoretische Tragweite zu würdigen. Gerade Zola, gegen dessen Naturalismus Georg Lukács (und schon Engels) polemisierten, sollte ihr zum Prüfstein für den Realismus- Begriff in sozialer wie in künstlerischer Hinsicht werden. Als Krönung ihrer Analyse kann man die Ausgabe der Rougon-Macquart in deutscher Übersetzung ansehen, die 1967 bei Rütten und Loening und 1975 im Winkler-Verlag erschienen ist. Wie viel geduldige Arbeit hinter einem solchen Unternehmen steckt, wird ermessen können, wer sich je selbst an ein Großprojekt dieser Art gewagt hat, aber es gibt dafür auch kaum eine größere Befriedigung als solch ein Unternehmen im Dienst eines großen Werkes. Die zwanzig Bände haben bei mir in Berlin im Bücherregal gestanden, bis ich sie in ein Antiquariat gab, weil ich meinte, keinen Platz mehr dafür zu haben - bei Dante müsste ich dafür mit den Trägen und Lauen im Purgatorium büßen. 7 Eifriger war ich dagegen bei ihren literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die ein kleines Fach im Regal ausfüllen. Den Anfang machten die Skizzen zur Literaturtheorie. 8 Über den Titel habe ich mich mokiert. Verlangte eine Theorie nicht ein geschlossenes Bild, das die Erfahrung aus der Praxis zusammenfasste? Die Autorin meinte 101 IIn memoriam es anders, als eine Art Litotes, rhetorische Herabsetzung, denn die Analyse des Germinal war gewiss keine bloße Skizze. Auch hielt sie eine gewisse Vorsicht für geraten, beim Ausgang vom gesellschaftlichen Standort des Werkes nicht durch polemisches Überbetonen des Sozialen die künstlerische Seite zu vernachlässigen. Wichtig erschien ihr am Germinal vor allem der Nachweis, wie sich im Werk eines Künstlers Wahrheit und Wirklichkeit wechselseitig bedingen. Dem Naturalisten, der die sozialen Probleme vor Augen hatte, korrigierte sich die Vorstellungswelt in Wahrheit durch die Wirklichkeit, auch ohne dass er schon einen Begriff vom wahren historisch und dialektisch bedingten Wesen der Realität hatte. In diesem Sinn konnte der Realismus triumphieren. - Hier hatte der Fahnenträger des französischen Naturalismus ein Werk von so elementarer realistischer Kraft geschaffen, daß darüber seine abwegigen Theorien zerbrachen... Dieses Urteil umschloss die Charaktere so gut wie die Sprache und ihre Klangfärbung, wie sie das Ende des Streikumzugs der Grubenarbeiter mit düsteren Tönen bestimmte: le soleil se couchait, les derniers rayons, d’un poupre sombre, ensanglantaient la plaine. 9 Mich sollte freilich die freundliche Widmung mit herzlichem Dank für die Boileau- Hilfe im Jänner 1957 nicht hindern, meine kritischen Bemerkungen an den Rand des Exemplars zu kritzeln. An der Kennerschaft der Zola-Spezialistin konnte ich nicht zweifeln. Aber mir schien, dass sie um der Theorie willen dem Spontanen und der Einbildungskraft zu wenig Raum gegeben hatte, wie einmal Giacomo Leopardi die deutschen Gelehrten schlechthin kritisiert hatte: Questi tedeschi sempre bisognosi di analisi, di discussione, di esattezza... 10 Nun war die Genauigkeit vielmehr eine Tugend der Hochschullehrerin, die in ihren Analysen durchaus auch das Moment der Empfindung und Vorstellungskraft im Auge gehabt hatte. Mein Widerspruch erklärt sich vielmehr als ein Gegensatz im Stilgefühl. Dem Bedürfnis der Autorin nach exakter Bestimmung widersprach meine Neigung zur Ambivalenz. Beeindruckte mich ihre Intelligenz und analytische Begabung, so stieß ich mich an der Systematik ihrer Schreibweise. Hin- und hergerissen hätte ich mit Catull poetisch sagen können: Odi et amo. Quare id faciam fortasse requiris. / Nescio. Sed fieri sentio et excrucior. Es bedurfte wohl der zunehmenden Gelassenheit des Alters, um einsehen zu lernen, wie gut wir uns im Widerspruch hätten ergänzen können. Bis dahin war die Wetterlage wechselhaft, aber wir haben auch die Tiefs überstanden. Als ich 1956 mit Erwin Silzer die Klemperer-Festschrift Im Dienste der Sprache vorbereitete, standen wir ziemlich weit auseinander. Erst auf die Intervention des Jubilars hin schickte sie einen Beitrag zu den Hauptrichtungen in der modernen vergleichenden Literaturwissenschaft, der ihren weiten Überblick erkennen ließ. Indessen mag ihr der Titel (der vom Verleger stammte und dem Adressaten nicht gefallen wollte) wieder in Erinnerung gekommen sein, als sie ihre Streitschrift wider die Moderne in der Kritik veröffentlichte: Im Banne der Sprache - Strukturalismus in der Nouvelle Critique. 11 Dachte die in Prag linguistisch geprägte Romanistin auch an die eigene Erfahrung? Diesmal ging es um die humanistische Position in der Literaturwissenschaft, die sich gegen die Vorherrschaft von langage und écri- 102 IIn memoriam ture im Schaffensprozess zur Wehr setzte. Erklärte doch Michel Foucault, der Wortführer der Nouvelle Critique, ausdrücklich, man müsse sich des Humanismus als des am meisten belastenden Erbes des 19. Jahrhunderts entledigen. 12 Der Ausdruck mochte einem Bannspruch gleichen. Für Rita Schober kam darin eine Verwechslung zum Ausdruck, die von der bloßen Möglichkeit einer formalisierten Darstellung bestimmter konkreter Vorgänge auf die Aufhebung von Konkretheit schlechthin schloss. 13 In schönster Blüte zeigte sich die konstruktive Seite der Realismus-Theorie in dem letzten Essayband Rita Schobers, der in der noch heilen DDR erschien: Vom Sinn oder Unsinn der Literaturwissenschaft 14 (ich hätte statt der Alternative die Koexistenz gewählt). Wenn „Sinn“ die Weise betrifft, wie wir zu dem Objekt unseres Bemühens stehen, dann musste es für sie bedeuten, dass die von ihr vertretene Sicht der Literaturwissenschaft sinnvoll war. 15 Ich erhielt das Buch, das einen bunt gestrichenen Pegasus zeigt, mit dem Gruß: Meinem Horst zum 65.! sehr herzlich in alter Freundschaft! 13.6.-29.6.1988. Die beiden Geburtstagsdaten markierten für uns gewissermaßen einen historischen Abschnitt, in dem sich die DDR- Verhältnisse noch von selbst verstanden. Die gemeinsam geteilte Vergangenheit reichte bis in die Zeit vor Klemperer zurück, als das Häuflein Hallenser Romanistikstudenten bei Rita Hetzer altfranzösische Lektüre betrieb und die Lais der Marie de France übersetzte (es ist mir peinlich in Erinnerung, wie schlecht ich einmal damit zurechtkam; ich dachte, jetzt müsste sie mich rausschmeißen, aber es blieb bei der freundschaftlichen Atmosphäre). Als Studenten haben wir auch mit ihr über das Ding an sich diskutiert, von dem wir bei dem Kantianer Paul Menzer gehört hatten (dem man schnell einen schmählichen Abgang bereitete). Als die Rita ihren Robert heiratete, zogen die Unentwegten mit einem Handwagen voller Scherben durch die Stadt vor die Wohnung der Verlobten, um ihnen einen Polterabend zu veranstalten. In Berlin setzte sich das eher familiäre Verhältnis zu viert fort, Rita mit ihrem zweiten Mann, der Opfer des Faschismus war und Mitarbeiter des ZK, und ich mit meiner aus beider sudentendeutscher Heimat stammenden Frau Edith. Als Schobers ihre Datsche am See von Prieros erworben hatten, waren wir oftmals zu Gast. Dorthin zogen wir uns auch im Jahr 1965 zu einer Klausur zurück, damit wir in Ruhe die Konzeption der internationalen Dante-Konferenz in Berlin vorbereiten konnten, auf der Rita als Vorsitzende des Dante-Komitees der DDR den Festvortrag im Apollo-Saal der Staatsoper halten sollte. Mit ihr habe ich auch die erste Paris-Reise unternommen. Bei dieser Gelegenheit empfing uns der Kenner des Seizième Antoine Adam in seiner Wohnung im Stil Louis Quatorze. Da waren wir beide noch Neulinge auf dem Feld internationaler Kontakte, aber sehr bald zeigte sie sich bestens auf wissenschaftliche Tagungen vorbereitet. Ich glaube, sie hat noch jedes Mal die Nacht vor ihrem Vortrag mit dem letzten Schliff an der Rede zugebracht. Auch in den Kolloquien war ihre Stimme von Gewicht, so als sie mit ihrem Mitarbeiter-Stab an den Veranstaltungen ihres Freundes Jan Fischer in Prag oder im Schloss von Liblice auftrat - wo 1962 die Kafka-Konferenz stattfand, an 103 IIn memoriam deren Folgen wir lange zu beißen hatten. Daneben unternahmen wir auch zwei größere Urlaubsreisen gemeinsam. Als wir 1968 von der Tatra auf getrennten Wegen zurück fuhren, begegneten wir den sowjetischen Panzern, die gegen den Prager Frühling anrückten. In Berlin kam schließlich die III. Hochschulreform über uns, die zur Auflösung der Institute und ihre Umwandlung in Sektionen führte. Es ist die Institutsdirektorin hart angekommen, mit ansehen zu müssen, wie ihre Partei die akademische Autorität durch bürokratische Zentralisierung ersetzte. War sie doch von deren Würde und Wert überzeugt und wenn sie im Aufzug der Professores durch die Menge der Studenten schritt, stand ihrer eleganten Erscheinung der Talar gut. Manche haben ihr das als Hochmut ausgelegt. Wer indes die Sorge der roten Rita um ihre Mitarbeiter erfahren hatte, der konnte wie Marc Antonius auf der Leichenfeier des berühmten Toten fragen: Wenn Arme zu ihm schrien, so weinte Caesar; die Herrschsucht sollt aus härterm Stoff bestehn, doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war... 16 Sie ließ sich nicht unterkriegen und erreichte es schließlich mit ihrem starken Willen, die Romanistik aus der Mammutsektion Philologien- Germanistik herauszulösen. Da war sie schon Dekanin einer ebenso aufgeblähten gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät mit Ökonomen, Juristen und Kriminologen. Man kannte ihren Namen an der Universität so gut wie in den Kreisen der Kollegen. Es hat sie gewiss befriedigt, auf dem Weltkongress für Philosophie 1983 in Montreal einen der Plenarvorträge halten zu können, in dem es um das Verhältnis Zivilisation und Kultur ging, ein Thema, über das wir schon bei Klemperer im Hallenser Seminar diskutiert hatten. Was sie freilich nicht ändern konnte, war das Problem der Ausgrenzung. Wir waren die Privilegierten, die ins kapitalistische Ausland fuhren. Für die meisten Mitarbeiter und Studenten aber galt, was Goethes Faust in einem etwas anderen Sinn meinte: Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt; Tor, wer dorthin die Augen blinzelnd richtet..., denn der konnte noch nicht wissen, dass drüben der Westen bedeutete. 17 Als es mit der DDR zu Ende ging und sich die Sonne senkte, aber glücklicherweise nicht blutig rot, machte jeder auf seine Weise die Erfahrung mit der neuen Realität. Die Philosophen, so hatte es deren einstiger Student seiner Berliner Universität in denkmalgeschützten Lettern an die Wand des Foyers geschrieben, hätten die Welt nur verschieden interpretiert, es käme aber darauf an, sie zu verändern. Wie immer man den Satz auslegen mag: Die Welt veränderte sich und ihre Interpreten mussten sie anders interpretieren. Als die Veränderungen eintraten, die wir die Wende nennen (bei Klemperer gehörte das Wort zur LTI), waren wir beide schon emeritiert, aber ziemlich auseinander geraten. Mich belastete die Erinnerung an die Zeiten der ‚internen Aussprachen‘. Sie beklagte meine mangelnde Solidarität. Traurig war es für beide Seiten, als wir uns am Grab ihres zweiten Mannes wiedersahen, den der Rücktritt des ZK und seine Folgen bitter getroffen haben musste. Es ist müßig, scheint mir, im Nachhinein das bonum und malum auf die Waage der Gerechtigkeit legen zu wollen. Sie fand gute Freunde, die ihr mit Verständnis 104 IIn memoriam begegneten, und eine getreue Lebensgefährtin, die in das Haus am Fritz-Erpenbek-Ring einzog, und sie brachte die Kraft auf, ihre Studien und Analysen fortzusetzen. Als ein brillantes Zeugnis dafür steht das programmatische Alterswerk von 2003, die Essay-Sammlung Auf dem Prüfstand. Zola-Houllebecq-Klemperer. Der Prüfstand galt der eigenen Methode und sollte sich an Zola und am activisme destructeur eines der Neusten unter den Franzosen bewähren. Winfried Engler hat dazu eine Einleitung geschrieben, die gedrängt auf die wesentlichen Aspekte des Werdens und Ausdauerns im Streben der engagierten Literaturwissenschaftlerin hinauslief. 18 Er wird mir verzeihen, wenn ich ihm nicht immer folgen kann. Ich bekam ein Exemplar, dessen Widmung die eingenommene Distanzierung erkennen ließ: Für Horst Heintze mit den herzlichsten Glückwünschen zum 80. Geburtstag - „con molti auguri“ für die erfolgreiche Vollendung der Morgante-Übersetzung. Freilich sind wir auch über diese ‚Spätlese‘ kaum ins Gespräch gekommen. Zu ihrem 90. Geburtstag, zu dem ihm die von ihr mitgegründete Leibniz-Sozietät und ihre Schüler Hans-Otto Dill und Gerhard Schewe eine würdige Feier im Senatssaal bereiteten, konnte ich nicht mehr als ein Sonett für die Festschrift beitragen, die ihr als Einzelexemplar überreicht wurde. Reminiszenz Wir kennen uns seit einundsechzig Jahren und ganz am Anfang war die Poesie, als wir die Verse lasen der Marie de France und deine ersten Schüler waren. Mit Dir sind wir nach Budapest gefahren, nach Prag, Paris und Leningrad sowie nach Prieros in die Laubenkolonie, als wir mit Kräften brauchten nicht zu sparen. Und wir uns leisten konnten ohne Hektik das Alte mit dem Neuen zu verbinden, den Spuren folgend Marxscher Dialektik und was Methode heiße zu ergründen, auch wie die Kunst vereinbar mit der Technik, und ob das Nirgends irgendwo zu finden. Es ist ihr danach bitteres Leid nicht erspart geblieben. Die Last des Alters, der Abschied von vertrauten Mitarbeitern und Weggefährten und unfasslich die Krankheit und der Tod ihres einzigen Kindes. Wir haben an alledem Anteil gehabt, so wie sie an unserer Arbeit, den erheiternden Morgante. Als wir von Berlin aufbrachen, um nach Thüringen zu ziehen, protestierte sie heftig dagegen. So blieben uns zur Verbindung nur noch die Korrespondenz und das Telefon. Zweimal konnten wir sie noch in ihrem Haus in Pankow besuchen, das letzte Mal im vergangenen Sommer. Da saßen wir mit ihr und Ilse Ennig auf der Terrasse und führten friedvolle Reden. 105 IIn memoriam Sie sprach über ihre Sorge, dass uns die Sprache, die den Gedanken formt, erhalten bleibe. 19 Ich verstand es im Sinn eines Humanismus, dem die gestaltende Kraft der Rede am Herzen liegt, sogar einer geheime Liebe zur Poesie jenseits aller wissenschaftlichen Analysen. Welche Kraftanstrengungen sie über die Jahre aufgebracht hatte, um sich auf den Prüfstand zu stellen, darüber hat Winfrid Engler an ihrem Begräbnis, zu dem ich nicht kommen konnte, nicht nur die poche ma sentite parole gesprochen. Mir scheint es dem eigenen Decorum zu entsprechen, der Trauer in der biblisch-antiken Totenklage des Dichters Angelo Poliziano Ausdruck zu geben, die er zum Tode seines Lorenzo Magnifico verfasste, auch wenn, wie mir Wolfgang Asholt schrieb, nicht mehr viele Lorbeerbäume übrig geblieben seien: Quis dabit capiti meo aquam, quis oculis meis fontem lachymarum dabit, ut nocte fleam, ut luce fleam? Sic turtur viduus solet sic cycnus moriens solet, sic luscinia conqueri. Heu miser, miser! O dolor, dolor! Laurus impetu fulminis illa illa iacit subito .... Diese Trenodia hat Heinrich Isaac vertont und sie wurde in der Kirche Santa Reparata aufgeführt. 20 Ich denke, sie hätte der Verstorbenen gefallen. Ist es ein Wunder, wenn der Mensch im hohen Alter zu den Eindrücken und Gefühlen seiner Kindheit und Jugend zurückkehrt? Rita Tomaschek ist katholisch getauft und gefirmt. Sie hätte sich eine Bestattung nach lateinischem Ritus gewünscht. So holt die Vergangenheit das erfüllte Leben ein. 1 Michel de Montaigne, Essais, Livre second, Chapitre I. 2 Siehe dazu die Darstellung in dem Klemperer gewidmeten Teil von Auf dem Prüfstand: Zola-Houellebecq-Klemperer, Berlin, edition tranvía, 2003, 303sqq. 3 Victor Klemperer, Voltaire, Berlin, edition tranvía, 2004. 4 In: Günter Hellriegel (ed.), Realität, Fiktion und Realismus in der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Berlin, Humboldt-Universität, 1989 (Gesellschaftswissenschaften; 1,8). 5 Wahrhaft weltumspannende Lieder sind bei dem friedlichen Treffen der Jugend und Studenten aller Nationen in Berlin oder beim Weltstudentenkongress erklungen, heißt es in dem roten Büchlein Der alte und der neue Humanismus. Siehe auch den letzten Absatz 106 IIn memoriam von „Französische Lyrik der Gegenwart“, in: Victor Klemperer, Vor 33 - nach 45, Berlin, Akademie-Verlag, 1956, 218-223. 6 Einen geheimen Schatten sah ich freilich auf das schöne Bild fallen. Zur Gruppe der Betreuer gehörte auch ein Angehöriger des MfS. 7 O gente in cui fervore aguto adesso / ricompie forse negligenza e indugio / da voi per tepidezza in ben far messo (Purgatorio, Canto XVIII). 8 Berlin, Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1956. 9 Vergleiche Rimbauds A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu in den „Voyelles“. 10 Siehe Alessandro Costazza, „Questi tedeschi sempre bisognosi di analisi, di discussione, di esattezza. Leopardi und die deutsche Philosophie und Ästhetik des 18. Jahrhunderts“, in: Ginestra 12/ 2002, 9-28. 11 Halle/ Saale, Mitteldeutscher Verlag, 1968. Mit der Widmung: Meinem lieben Horst in sehr herzlicher Freundschaft. 12 Michel Foucault, „Absage an Sartre. Interview mit Madeleine Chapsal. Mai 1966“, in: Günther Schiwy, Der französische Strukturalismus, Reinbek, Rowohlt, 1969, 205sq. 13 Wir waren im Rahmen eines Seminars zur wissenschaftlichen Weiterbildung am Romanischen Institut an den Diskussionen beteiligt. 14 Halle/ Leipzig, Mitteldeutscher Verlag, 1988. 15 Siehe Herbert Schnädelbach, Was Philosophen wissen und was man von ihnen lernen kann, München, C. H. Beck, 2012. 16 Shakespeare, Julius Caesar, III, 2. 17 Zweiter Teil, V. Akt. 18 „Von Spätlesen und anderen Genüssen“ (Auf dem Prüfstand: Zola-Houellebecq- Klemperer, loc. cit., 7-14). 19 Siehe dazu Herbert Schnädelbach: Tatsächlich ist im Erkenntnisbereich die Wortsprache unhintergehbar, denn nur sie sichert die Verständlichkeit und Überprüfbarkeit von Erkenntnisansprüchen (loc. cit., Ende Kapitel 7). 20 Siehe Jean-Louis Charlet, „Le Thrène de Politien pour la mort du Magnifique (Ode 11 in Laurentium Medicem)“, in: Protrepticon. Studi di letteratura classica e umanistica in onore di Giovannangiola Secchi Tarugi, hg. v. S. Prete, Mailand, Istituto Francesco Petrarca, 1989, 29-34. 107 IIn memoriam Friedrich Wolfzettel Erinnerung und Nachruf: Prof. Dr. Dr. h.c. Rita Schober Um mit einem späteren Stichwort zu beginnen: Es war wie ein Mythos. Mein Band Der französische Sozialroman des 19. Jahrhunderts in der Darmstädter Reihe ‚Wege der Forschung‘ war 1981 erschienen; er enthielt (in leicht gekürzter Form) den seinerzeit wegweisenden Aufsatz Rita Schobers „Die Wirklichkeitssicht des ‚Germinal‘“ von 1953, in dem diese gegen Lukács̕ geläufige Abwertung des Zolaschen Naturalismus die „mythisierende Darstellung der Masse als Ausdruck welthistorischer Notwendigkeit“ und „das Kollektiv des Proletariats als Held des Romans“ interpretiert hatte. Aus dem notwendigen Briefwechsel mit der bewunderten älteren Kollegin ergab sich die Idee, Rita Schober zu einem Gastvortrag an meine damalige Universität Gießen einzuladen. Der beiderseitige Wunsch scheiterte offensichtlich an behördlichen Schwierigkeiten, aber ein zweiter Versuch, diesmal von Dietmar Rieger, hatte Erfolg, und so konnte ich Frau Schober 1983 als Gast in meinem Haus in Wettenberg empfangen. Ich holte sie ab - wir kannten uns noch nicht -, stellten uns beim Plaudern mit Gästen wechselseitig vor, erfuhren, dass wir beide aus Nordböhmen kamen (sie aus Rumburg, ich aus Aussig) und lagen uns in den Armen. Es war Sympathie auf den ersten Blick und der Beginn einer langen Freundschaft, in der das Gemeinsame immer das Trennende überwog und in der die ‚getrennten‘ Romanistiken gleichsam symbolisch zusammengeführt wurden. Ihr Gastvortrag unter dem Motto von Roland Barthes’ „effet de réel“ nahm den wichtigen Aufsatz „Wirklichkeitseffekt oder Realismus? “ von 1986 (wieder abgedruckt in Vom Sinn oder Unsinn der Literaturwissenschaft, Leipzig 1988) vorweg; er führte in das Zentrum ihres Nachdenkens über die gesellschaftliche Funktion und Wahrheit von Literatur und knüpfte indirekt auch an unsere Diskussionen über den Naturalismus und Germinal und vor allem die Rolle des Mythos an, eine Thematik, die sich rückblickend als Konstante in unseren Gesprächen erweisen sollte. Nicht zu Unrecht hat Aurélie Barjonet in diesem Punkt in ihrer Monographie Zola d’Ouest en Est. Le Naturalisme en France et dans les deux Allemagnes (Rennes 2010) von einem „dialogue virtuel“ zwischen Rita Schober und mir gesprochen. Eine Gegeneinladung zu dem Internationalen Kolloquium über Weltliterarische Prozesse heute, dargestellt am Beispiel der Epik anlässlich der 175 Jahre Berliner Universität im November 1985 gab mir dann Gelegenheit, über das Verhältnis von Geschichte und Mythos im französischen Gegenwartsroman, und die Teilnahme am Berliner Kolloquium zum 70. Geburtstag Rita Schobers 1988 über die mythische Schreibweise des frühen Le Clézio zu sprechen. Rita Schober selbst hatte das Thema „Zur Rolle der Mythologie“ bezeichnenderweise bereits 1985 zur Diskussion gestellt. 108 IIn memoriam Telefonate, Besuche im Fritz-Erpenbeck-Ring und wissenschaftlicher Austausch bezeugten die nie unterbrochene gegenseitige Verbundenheit, die auch von dem politischen Umbruch 1989 nicht berührt wurde. Um den Mythos ging es dann erneut in meinem Beitrag zu dem von Winfried Engler und Rita Schober 1993 organisierten Dahlemer Kolloquium Hundert Jahre Rougon-Macquart im Wandel der Rezeptionsgeschichte, in dem Rita Schober einleitend im Rückblick auf ihre Zola-Lektüren erneut auf dieses Problem einging, um zugleich die Notwendigkeit einer realistischen Lektüre zu postulieren. Die Akten erschienen 1995 im Narr-Verlag und konsekrierten in gewisser Weise das Lebenswerk der ‚großen alten Dame‘ der DDR-Romanistik, zu deren 90. Geburtstag am 13. Juni 2008 ich noch einmal an der Humboldt-Universität weilte und zu einem literarischen Angebinde beitragen konnte. Noch in diesem hohen Alter war Rita Schober souverän und eindrucksvoll wie immer. Mittlerweile hatte sie auch schon den skandalumwitterten Autor der Particules élémentaires, Michel Houellebecq, entdeckt und erzählte mir bei einem Besuch begeistert, wie sie anlässlich einer Autorenlesung mit ihm diskutiert hatte. Im Vorwort des genannten Jubiläumsbandes hatte Winfried Engler die Rezeption Zolas als „Virus“ charakterisiert, „der resistent durch die Romanprogramme geistert“; Rita Schober zögerte nicht, den sozialen Realismus Houellebecqs in eben diese Tradition zu stellen. 2002 erschien ihr programmatischer Beitrag „Renouveau du réalisme? ou de Zola à Houellebecq“, der 2003 in ihr bewundernswert luzides, letztes Buch im Tranvía-Verlag Walter Frey, Auf dem Prüfstand. Zola-Houellebecq-Klemperer, einging. Noch einmal war sie trotz ihrer Leiden an den, wie sie gerne sagte, „geliebten Schreibtisch“ zurückgekehrt, und wieder war es ihr gelungen, die Forschung in eine neue Richtung zu lenken und die überraschten jüngeren Kollegen das Staunen zu lehren. Wenige Wochen vor ihrem Tod am 2. Weihnachtsfeiertag 2012 - ich hatte ihr meine vier Beiträge zu dem noch wenig bekannten Romancier Maxence Fermine und seinen antirealistischen, mythischen Symbolismus geschickt - rief sie mich an und meinte, wir beide hätten jeder auf seine Weise - in Bezug auf Houellebecq und Fermine, Realismus und Mythos - eine neue Traditionslinie sichtbar gemacht. Ahnte ich, dass es unser letztes Gespräch sein sollte, in dem sie noch einmal ihre Freude über die drei Jahrzehnte unserer Freundschaft unverhüllt zum Ausdruck brachte? Rita Schober verband den hohen intellektuellen Anspruch mit großer menschlicher Sensibilität; sie besaß vor allem die Gabe des Ausgleichs, der Vermittlung und Versöhnung. Dem Vermächtnis ihres „eigentlichen akademischen Lehrers“ und väterlichen Freundes Victor Klemperer, den sie 1946 - nach ihrer Promotion im März 1945 an der Universität Prag - in Halle kennengelernt hatte und dessen Assistentin sie 1951 in Berlin wurde, blieb sie ungeachtet ihres überzeugten Eintretens für die sozialistische Gesellschaftsordnung ihr Leben lang treu. Nach der Habilitation 1954 an der Humboldt-Universität bis 1978 Lehrstuhlinhaberin und Direktorin, konnte sie die volle Romanistik über die Universitätsreform 1969 hinweg nicht nur bewahren, sondern gestützt auf ihre Erfahrung als frühere Hauptreferentin für Philologie im DDR-Staatssekretariat und als Dekanin noch ausbauen 109 IIn memoriam und das Institut im Zusammenhang mit dem großen Übersetzungsprojekt der Rougon-Macquart von Émile Zola und der Gründung der Beiträge zur romanischen Philologie 1961 zu einem Aushängeschild der DDR-Philologie machen, das im steten internationalen Kontakt zugleich als Sprachrohr der Verständigung und des Austauschs zwischen Ost und West fungierte. Auf zahlreichen romanistischen und komparatistischen Kongressen von Moskau bis Paris vertreten und bekannt, als Mitglied des Exekutivrats der UNESCO (seit 1974) und als Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR (seit 1975), des Internationalen PEN-Clubs und als Nationalpreisträgerin trug sie tatsächlich entscheidend zur kulturellen Vernetzung der DDR und zum Ansehen des romanistischen Standorts Berlin bei. Entscheidend aber war das oben genannte gewaltige, noch von Werner Krauss 1951 angestoßene Projekt einer Übersetzung der Rougon-Macquart in Einzelbänden; es war mehr als nur der gelungene Versuch, den bislang wenig geschätzten Autor gegen die vergiftete Kritik von Georg Lukács im Literaturkanon zu verankern und seine historische Leistung ungeachtet weiter bestehender ideologischer Vorbehalte gegen den Naturalismus als ‚realistischen‘ Kritiker des Zweiten Kaiserreichs neu zu bewerten. Das 1976 abgeschlossene Team-Projekt für den Rütten & Loening Verlag Berlin ist auch die Geschichte einer beispiellosen Begegnung von Ost und West und überdies einer fast wunderbar anmutenden Synchronizität der Forschung in beiden Bereichen. Denn einmal dürfte es über Jahrzehnte kaum einen deutschsprachigen Leser gegeben haben, der das Zolasche Werk nicht über diese jeweils mit einem Nachwort versehenen Einzelbände kennenlernte; die Lizenzausgabe für Winkler in München, Bertelsmann in Gütersloh, den Buchclub Ex libris in Zürich und die Europäische Buchgemeinschaft in Stuttgart unterstreichen diese einmalige Resonanz einer DDR-Initiative jenseits des damaligen Eisernen Vorhangs, eine ‚internationale‘ Breitenwirkung, die durch die Neuausgabe der Rougon-Macquart in der Digitalen Bibliothek (Berlin: Directmedia, 2005) gekrönt wurde. Die Editionsgeschichte, zu der man weitere Einzelausgaben sowie eine limitierte und illustrierte Sonderausgabe bei Winkler (München) hinzurechnen müsste, hat den ‚deutschen‘ Zola geschaffen. Rita Schober, die sich ursprünglich über George Sand habilitieren wollte, aber dann aus forschungsgeschichtlichen Gründen zu Zola wechselte, ist an diesem Projekt gleichsam mitgewachsen. Im Geleitwort der CD-ROM-Ausgabe hat sie diese Entwicklung selbst angesprochen, die Aurélie Barjonet in ihrem genannten Forschungsbericht in vergleichender Perspektive untersucht hat. Nach ihrer unveröffentlichen Habilitationschrift Emile Zola. Theorie des naturalistischen Romans und das Problem des Realismus (1954) hatte Rita Schober in ihrem programmatischen Aufsatz „Reálité und vérité bei Balzac und Zola“ 1961 und 1963 das Lukácsche Verdikt gegen den biologischen Naturalismus zu umgehen bzw. durch einen erweiterten Realismusbegriff zu korrigieren gewusst, indem sie Ästhetik und Lebenswahrheit als Ausdruck der großen Wahrheit der Natur auffasste und so den Weg für die wenn nicht marxistisch orthodoxe, so doch ‚realistische‘ Rehabilitierung des mit Misstrauen betrachteten Autors ebnete: „Die Wahrheitsreligion mündet in die Naturreligion“, lautet dann das 110 IIn memoriam Fazit von 1963. Man muss das umfangreiche, klug abwägende Nachwort zu Nana in der Digitalen Bibliothek lesen, um den seit 1952 zurückgelegten kritischen Weg zu ermessen. Hier findet auch die von Anfang an inkriminierte mythische Schreibweise, an der sich wie schon gesagt, unsere kleine Kontroverse anlässlich des Abdrucks des Germinal-Aufsatzes entzündet hatte, gebührende Berücksichtigung. Was aber das genannte Stichwort Synchronizität angeht, so ist noch immer erstaunlich, wie sich die Entstehungsgeschichte des Zola-Projekts mit dem von mir 1970 in meinem Forschungsbericht für das Romanistische Jahrbuch, „Zwei Jahrzehnte Zola-Forschung“, postulierten Neuanfang seit den 50er Jahren deckt, nimmt doch das Anfangsjahr 1952 durch Guy Robert (Émile Zola), Angus Wilson (Émile Zola) und Jean Fréville (Zola, semeur d’orages) eine beinahe symbolische Bedeutung an, während die Folgegeschichte der Zola-Kritik eben die Problematik der mythischen Schreibweise fokussieren sollte. Wie im Fall eines „Zola réaliste malgré lui“ ging es Rita Schober - eine „zolienne malgré elle“? - auch in anderen Bereichen und vor allem in ihren umfangreichen literaturtheoretischen Arbeiten darum, das ‚bürgerliche‘ Erbe in die neue sozialistische Lebensordnung und die Prämissen des dialektischen Materialismus einzubringen, dem sich die katholisch erzogene Sudetendeutsche fortan aus Überzeugung verpflichtet fühlte. Seit den Skizzen zur Literaturtheorie (Berlin 1956) steht daher die Suche nach einem tragfähigen Realismuskonzept im Zentrum ihrer Forschung. Dem trug u.a. auch das zu ihrem 65. Geburtstag 1983 veranstaltete Kolloquium Realismus und literarische Kommunikation (Berlin 1984) Rechnung. Bezeichnenderweise trägt die Realismusdiskussion Rita Schobers auch die Züge einer versuchten ‚Versöhnung‘, indem der Realismusbegriff auf die werthaltige ‚Umsetzung‘ lebensweltlicher und historischer Erfahrung verweist, Literatur als ‚Sinnproduzent‘ begriffen wird und Gattungs- und Stilzwänge als ‚Material‘ zur Wiedergabe eines ‚allgemein menschlichen Inhalts‘ dienen: mit dem Titel ihres schönen Buches Louis Aragon. Von der Suche der Dichtung nach Erkenntnis der Welt (Berlin 1985). Schon der frühe, in vieler Hinsicht charakteristische Habilvortrag über die Lais der Marie de France begreift die „verinnerlichende Umsetzung“ höfischer Konventionen als Suche nach der Wirklichkeit. Immer geht es, wie es ein Buch von 1977 postuliert, um „die wirkliche Welt in der Dichtung“ (Von der wirklichen Welt in der Dichtung, Berlin). Oder mit den Termini des 1989 veröffentlichten Sammelbandes Abbild, Sinnbild, Wertung: Aus dem „Abbild“ wird das „Sinnbild“, das erst „Wertung“ voraussetzt und ermöglicht. In ihrer schönen Rezension des Buches (in der Romanistischen Zeitschrift für Literaturgeschichte) spricht Renate Kroll 1986 von „einem überregionalen, überzeitlichen, allumfassenden Humanismus“; auch dies, wie der Aufsatz „Sprache - Kultur - Humanismus. Victor Klemperer zum Gedenken“ (1982) zeigt, letztlich ein Vermächtnis des großen Lehrers (Vom Sinn und Unsinn der Literaturwissenschaft, Leipzig 1988). Mit den avancierten Theorien des Westens, besonders Roland Barthes und dem Strukturalismus und der Rezeptionstheorie der von Hans Robert Jauß inszenierten Konstanzer Schule, trat die Autorin schon früh in einen langen kontroversen Dialog ein, der sich in der pro- 111 IIn memoriam grammatischen Publikation Im Banne der Sprache. Strukturalismus in der Nouvelle Critique, speziell bei Roland Barthes (Halle/ Saale 1968) niederschlug. Die aktuellen Vorstellungen von Autoreflexivität mussten ebenso wie die These der geschichtlichen Relativität der Text-Leser-Beziehung notwendig mit einer verbindlich referenziellen und werthaft begründeten Haltung kollidieren. Die kritischen und oft noch immer bedenkenswerten Ausführungen Rita Schobers zeigen aber, wie sehr sie sich durch solche neuen Richtungen der Literaturkritik herausgefordert fühlte, aber auch wie sehr Kritik hier zugleich Anregung, ja Aneignung im Hinblick auf eine Perspektive der möglichen Versöhnung impliziert. Mit ihren eigenen Worten: „Die Korrektur der Einseitigkeiten dieser Theorien kann also nicht durch eine einfache Verwerfung erfolgen, sondern nur durch ihre Überprüfung im Rahmen eines historisch-materialistischen Gesamtkonzepts“ („Rezeption und Realismus“). Für die unermüdliche Teilnehmerin an internationalen Tagungen erschien es selbstverständlich, die noch verbliebene DDR-Romanistik und Literaturwissenschaft in Bezug zu neueren, insbesondere französischen Tendenzen zu setzen und die Ergebnisse im Hinblick auf die „Adäquatheit der Aneignungsresultate der Rezeption“ „historisch konkret“ zu überprüfen („Rezeption und Bewertung“). Man kann nur staunen, mit welcher Souveränität die einst große Theoretikerin des ‚sozialistischen Realismus‘ in ihrem Beitrag „Editionsgeschichte als Rezeptionsgeschichte“ zu dem Band 100 Jahre Rougon-Macquart die nicht-realistischen Elemente in neueren Forschungen referiert, um die eigene Arbeit kritisch zu bewerten und neu zu gewichten. Das theoretische Werk Rita Schobers wird so selbst gerade auch in seiner zeitgeschichtlichen und ideologischen Bedingtheit zu einem oft lehrreichen, ja faszinierenden und lesenswerten Zeugnis von ‚Rezeption und Bewertung‘ intensiver, immer wieder neu ansetzender und fortführender Auseinandersetzung mit kritischen Herausforderungen auf der Suche nach Synthese und ‚Versöhnung‘. Rita Schober war eine große Vertreterin der deutschen Nachkriegs-Romanistik, weil sie - vergleichbar vielleicht nur mit Manfred Naumann - eine nie nachlassende intellektuelle Neugierde und Offenheit für das Neue in eine international vernetzte romanistische Praxis einbrachte. Wie weit ihre attraktive Erscheinung und ihr sehr persönlicher Charme, mit dem sie ihre Freunde immer wieder faszinierte, ihr dabei halfen, steht auf einem anderen Blatt. In dem letzten großen, auf Youtube einsehbaren Interview von 2007 unter dem Titel Die Sprache, die den Gedanken formt, muss uns erhalten bleiben heißt es abschließend: „Die Sie kennen, berichten, dass Sie ‚die schönste Frau der Universität‘ genannt wurden“, wogegen Rita Schober lachend nur ein wenig protestierte. Genauso ist sie mir, die sich zuletzt in ihrer Hinfälligkeit nicht mehr zeigen wollte, in Erinnerung geblieben. 112 Rita Schober Zwei Moskau-Besuche April-Mai 1964, also noch in der ‚Tauwetterperiode‘, kam ich nach Moskau zu einem Studienaufenthalt von drei Wochen und begleitet von zwei Assistenten, Christa Bevernis und Hans-Jürgen Hartmann. Es ging darum zu prüfen, ob es machbar wäre, die vom Gorki-Institut für Weltliteratur bei der sowjetischen Akademie der Wissenschaften unter der Leitung von Akademiemitglied Anissimow herausgegebenen, sehr umfangreichen zwei Bände der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts, 1 die unserem Institut als Manuskript in einer deutschen Rohübersetzung vorlagen, nach entsprechender Bearbeitung entweder in Auszügen oder in gekürzter Form als Handbuch für Studienzwecke zu veröffentlichen, da eine marxistische Darstellung für dieses Jahrhundert - und als solche galten natürlich die beiden Akademiebände - in deutscher Sprache nicht vorlag, dem 19. Jahrhundert aber nach den gültigen Studienplänen zentrale Bedeutung zukam. Dieses Vorhaben erwies sich am Ende insgesamt als nicht realisierbar, so dass wir uns statt dessen, um überhaupt wenigstens eine literaturgeschichtliche Überblicksdarstellung zu haben, für die Bearbeitung der von Jan Ottokar Fischer 1964 in tschechischer Sprache veröffentlichten Geschichte der französischen Literatur entschieden - trotz aller Bedenken gegen ihre als marxistisch gedachten, oft aber nur schematischen gesellschaftlichen Etikettierungen. 2 Nach der Wende bin ich von einer Reihe Kollegen gefragt worden, warum wir angesichts dieser offensichtlichen Mängel nicht eine eigene Arbeit in Angriff genommen hätten. Ich möchte mir zu dieser Frage einen kleinen Exkurs erlauben. Wie wichtig es ist, für das Studium einer Nationalliteratur wenigstens einen relativ kurz gefassten Überblick über die ganze Geschichte zur Verfügung zu haben, wusste ich aus eigener Erfahrung. Wir mussten in Prag nach den ersten zwei Semestern Französischstudium eine Prüfung zur Literaturgeschichte mit Erfolg ablegen, um im dritten Semester an dem Proseminar überhaupt teilnehmen zu dürfen. Bei dieser Prüfung ging es vor allen Dingen um die Kenntnis der wichtigsten Autorennamen, Werktitel, Lebens- und Erscheinungsdaten und damit um ein Gerüst chronologisch geordneter Fakten. Als Grundlage dafür diente die nach jedem Abschnitt ein dementsprechendes Résumé enthaltende Histoire de la littérature française des Akademiemitglieds René Doumic, die, wie auf dem Einband ausdrücklich stand, „à l’enseigne de la Sorbonne“ bestimmt war. 3 Nun kann man ja eine solche ‚Paukerei‘ als unsinnig verteufeln, aber ich bin auch heute noch - trotz aller pädagogischen und sonstigen modernen Einwände - der Ansicht, dass die Kenntnis eines solchen historischen Gerüsts die Voraussetzung für jedes tiefere Verständnis größerer Zusammenhänge und damit letztlich auch der spezifischen Details literarischer Werke ist. Ganz abgesehen davon, dass man eine solche IIn memoriam 113 IIn memoriam Überblicksdarstellung auch als Nachschlagewerk braucht. Also, eine Überblicksdarstellung war auf jeden Fall nötig, mit oder ohne die Übernahme des 19. Jahrhunderts aus dem Moskauer Akademieband. Dass bei unseren Studenten angesichts der damaligen Situation auf dem Gebiet der einschlägigen Sekundärliteratur tatsächlich ein Bedarf für ein solches Buch vorhanden war, zeigt die vom Verlag 1977 trotz aller Mängel des ‚Fischer‘ - allerdings ohne meine Kenntnis und Zustimmung - herausgebrachte Nachauflage. Eine eigene Überblicksdarstellung hätten wir mit dem bescheidenen Mitarbeiterstab unseres Instituts zu jenem Zeitpunkt gar nicht erarbeiten können und die Leipziger Kollegen waren voll in die Aufklärungsforschung von Werner Krauss integriert. Ein bescheidener Versuch jedoch, wenigstens eine Art Überblick über einige Vertreter des ‚Höhenkammkanons‘ des 19. Jahrhunderts, einschließlich des Übergangs zum 20., mit Hilfe gezielt angesetzter Dissertationen zu erarbeiten, war schon in den fünfziger Jahren von mir ins Auge gefasst worden, aber zumindest teilweise gescheitert. Zum einen war die Zahl der möglichen Doktoranden durch die geringen Studentenkontingente sowieso eingeschränkt (Lehramtskandidaten 20 pro Jahr, Diplomanden 5, später alle zwei Jahre je 3). Zum anderen kam gerade in jenen Jahren der nicht vorhersehbare Verlust von Studierenden hinzu, die aus individuell unterschiedlichen, oft politischen Gründen die DDR verließen. 4 Und dass mich theoretische Probleme der Literaturgeschichtsdarstellung seit Ende der fünfziger Jahre beschäftigten, zeigen zwei Beiträge auf internationalen Konferenzen, an denen ich gemeinsam mit Werner Krauss teilgenommen habe: mein Diskussionsbeitrag zu den vor allem von Giuseppe Petronio vorgetragenen Thesen auf dem internationalen Kolloquium 1959 in Bukarest und 1962 meine Bemerkungen „Zur Frage kunsthistorischer Termini“ auf der internationalen Konferenz zur Komparatistik in Budapest. 5 Die einschlägige Gesamtproblematik habe ich schließlich ausführlich in der Rezension zur Literaturgeschichte des Gorki-Instituts für Weltliteratur 1964 in unserer Zeitschrift behandelt. 6 Nun könnte man natürlich noch fragen, ob es angesichts des Scheiterns unseres Plans, die vom Gorki-Institut für Weltliteratur erarbeitete Darstellung des 19. Jahrhunderts als Studienbuch zu übernehmen, nicht möglich war, die seit 1956 vorliegenden beiden Bände Klemperers zum 18. und 19. Jahrhundert als Lehrbuch einzusetzen. Diese Frage berührt u.a. das Verhältnis der beiden führenden Romanisten der DDR in den fünfziger Jahren. Die von Klemperer anfangs der 1920er Jahre geschriebene, noch heute mit Gewinn und auch Vergnügen lesbare Darstellung des 19. Jahrhunderts - die wegen der Behandlung der modernsten Literatur zu ihrer Zeit geradezu ein (oft als Journalismus verschriener) Tabubruch (! ) war - entsprach natürlich nicht der Forderung nach einem marxistischen Lehrbuch. Zwar hatte Klemperer sich redlich bemüht, bei der Neuausgabe, soweit es ihm vertretbar schien, Korrekturen vorzunehmen - es empfiehlt sich dazu seine einschlägigen Tagebucheintragungen aus dieser Zeit, seine Vorworte zu den Wiederauflagen und unseren Briefwechsel zu lesen 7 - aber die Grundanlage, mit Hilfe von 114 Trägerfiguren die Charakteristika der verschiedenen historischen Perioden zu erfassen, war geblieben und wurde vor allem von Werner Krauss, dem führenden marxistischen Romanisten, prinzipiell abgelehnt und als idealistisch kritisiert. Auslöser dieser prinzipiellen Kritik an dem theoretischen Konzept war bereits der 1954 von Klemperer zur französischen Literatur des 18. Jahrhunderts veröffentlichte 1. Band Das Jahrhundert Voltaires, der mit seiner voll auf Voltaire bezogenen Gliederung viel konsequenter als das schon vorher erarbeitete 19. Jahrhundert dieses Prinzip durchhielt und damit dem Verdikt der Unwissenschaftlichkeit anheimfiel. Klemperers Trägerprinzip kollidierte zudem mit der in der Geschichtswissenschaft fast gleichzeitig geführten Diskussion um die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte, deren Überbetonung wiederum vor allem einer schematischen Auffassung autonom abrollender, ökonomisch bedingter historischer Prozesse zuwiderlief. Gegen Klemperers 19. Jahrhundert konnte man auf Grund der aktuellen literaturwissenschaftlichen Diskussion auch noch eine Reihe anderer Einwände ins Feld führen. So fasste er z.B. die erste Jahrhunderthälfte insgesamt unter dem literarischen Schulenbegriff „Romantik“ zusammen und subsumierte in dem Kapitel „Romantik im Umbau“ sowohl Historiker (wie Thiers und Michelet), utopische Sozialisten (! ) (Saint-Simon, Lamennais, Fourier), den Philosophen Auguste Comte, so wie die nach der marxistischen Auffassung als kritische Realisten einzustufenden Prosaautoren Balzac und Stendhal, und pêle-mêle mit ihnen George Sand, Mérimée und den Trivialautor Eugène Sue und hängte auch noch Baudelaire an, dessen Bedeutung nicht auf einem Umbau der Romantik, sondern auf der Begründung der zukunftweisenden neuen Richtung beruhte. Den geforderten Neuansatz für die literaturgeschichtliche Lehre konnte Klemperers Darstellung des 18. und 19. Jahrhunderts nicht erfüllen. Sein bleibendes Verdienst lag auf einem anderen Gebiet, in dem Aufspüren des ideologischen Gehalts der politischen „Sprache des Dritten Reiches“. 8 Durch deren Reinigung von dem Unrat des Faschismus wollte er wie Krauss, der dieses Ziel mit einer marxistisch fundierten Aufklärungsforschung verfolgte, zu einem kulturellen, geistigen Neuanfang beitragen, in anderer Weise, aber von demselben politischen Willen erfüllt. Dass deshalb gerade um die Aufklärungsforschung der Dissens zwischen beiden Gelehrten aufbrach, war ein mehr als bedauerliches Missverständnis. Klemperer sah in dem Insistieren von Werner Krauss auf dem Beitrag der Aufklärung zur „Entstehung des geschichtlichen Weltbildes“ 9 und der damit verbundenen Betonung der philosophischen Schriften der Aufklärer 10 eine Vernachlässigung des poetischen Gehalts dieser Literatur. Aber gerade dessen Herausarbeitung lag Klemperer am Herzen. Er wollte der in der deutschen Romanistik vorherrschenden Verunglimpfung des dix-huitième als „unpoetisches“, folglich vom ästhetischen Standpunkt aus zu vernachlässigendes Jahrhundert als Literarhistoriker entgegentreten. Für Krauss verbarg sich hinter dieser Vernachlässigung vor allem der von der geistesgeschichtlich depravierten deutschen Literaturgeschichte geführte IIn memoriam 115 IIn memoriam Kampf gegen ihren aufbrechenden Materialismus, weshalb er, in der Anfangsphase seiner Forschungen, das philosophische Schrifttum in den Vordergrund rückte. Dass sich in den literarischen Werken ‚inhaltlich‘ gesehen - um diesen z.Zt. obsoleten Ausdruck zu gebrauchen - die Geschichte eines Volkes niederschlägt, stand jedoch für beide Wissenschaftler fest. 1924 - als es, kurz nach dem Ersten Weltkrieg, zur Versöhnung der Nationen um ein gegenseitiges geschichtliches Verständnis ging - verteidigte Klemperer seine moderne Literaturgeschichte in einem offenen Brief an Voßler mit eben diesem Argument. „Literatur als Ganzes [ist] ein Korrelat, eine übergeordnete Ergänzung der Geschichte [ ] In seiner Dichtung spricht ein Volk aus, was es in jedem Augenblick sein möchte [ ], was es zu sein glaubt [ ] und was es nicht sein möchte [ ]. Damit ist mir als Ordnungs- und Inhaltsprinzip der Literaturgeschichte das gleiche vorgeschrieben, was für die Geschichte gilt: [ ] den Ablauf nationaler Entwicklungen im dichterischen Ideal zu verfolgen.“ 11 Und bei Krauss heißt es 1952 gegen Schluss seiner Einführung in das Lesebuch der französischen Literatur zu Aufklärung und Revolution: „In der Literatur ist die unverfälschte Erfahrung einer nationalen Gesellschaft gespeichert.“ 12 Schon 1950 hatte Krauss seinen Grundsatzartikel „Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag“ 13 nach der Diagnose der Krise der Literaturgeschichte mit der Feststellung begonnen, dass „[d]as Problem, wie Dichtung in die Zeit gesenkt ist, [ ] daher im Zentrum aller ernsten literaturwissenschaftlichen Diskussionen“ steht und zunächst einmal alle gegenteiligen Positionen in einem gründlichen Verriss ad acta gelegt, um dann den eigenen marxistischen, gesellschaftswissenschaftlichen Standpunkt den idealistischen geisteswissenschaftlichen Absurditäten - Croce, Walzel, Dilthey (! ) als besonderen Sündenböcken - entgegenzusetzen. Hier, im Geschichtskonzept selbst, liegt aber auch der eigentliche Dissens zwischen Krauss und Klemperer. Für Krauss ist Geschichte ein gesellschaftlicher Entwicklungsprozess, ausgelöst durch Interessenwidersprüche von Klassen, angelegt auf Progress, mit dem Telos der Freiheit des Individuums in der Gemeinschaft und durch sie. 14 Für Klemperer ist Geschichte Wandel, Wechsel und Wiederholung in der Dauer der Zeit, die sich im Werk in Inhalt und Form niederschlagen und auch in Typologien, psychologischen oder ästhetischen, fassbar sind (wie Barock oder Rokoko in Walzels für das Ganze einer Kunstperiode verwandten Terminologie). Vor allem aber war für Klemperer die Spezifik der Literatur ihre Verfasstheit als Sprach-Kunst-Werk und der Weg zu ihrer Entschlüsselung begann mit der Analyse der Sprache. Auf der Sprache eines literarischen Werkes, gefasst als das Gesamt seiner Formstruktur, beruhte sein ästhetischer Wert. In ihr galt es daher für ihn in erster Linie die geschichtliche Position des Autors aufzudecken. Klemperers Betonung des literarisch-ästhetischen Aspekts der Literatur war in einer geschichtlichen Periode, in der die Gefahr bestand, Literatur in falsch verstandenem „Marxismus“ nur noch als Belegmaterial der Ideologiegeschichte misszuverstehen, zumindest eine heilsame, an seine Schüler gerichtete Warnung. 116 Das Nichtbeachten dieser Warnung konnte in Examensarbeiten bei ihm zu vernichtender Kritik führen. 15 Dass Werner Krauss mit seinen Schülern eine völlig neue Aufklärungsforschung auf einem theoretisch hohen marxistischen, nicht dogmatischen Niveau begründet hat, ist eine international längst anerkannte Tatsache. Unter diesem Aspekt ist der Dissens zwischen den beiden Positionen längst Geschichte... Für die Zusammenarbeit der Romanistik in der DDR jedoch war er, mehr oder weniger unterschwellig, zumindest im Hinblick auf beider Schüler, eine gewisse Belastung. Doch zurück zu unserem Studienaufenthalt in Moskau 1964, der zwar nicht den erwünschten Erfolg brachte, aber insgesamt sehr interessant war. Vor allem ging es darum, mit den Kollegen ins Gespräch zu kommen, deren Abschnitte uns für die Auswahl, auf die wir uns konzentrieren wollten, am wichtigsten waren. Das betraf natürlich die Entwicklungslinie des kritischen Realismus, die Samarin verantwortete, die Entwicklungslinie der Arbeiterdichtung bis zur Commune, für die Danilin als zuständig zeichnete, und die Einzelstudie Balaschows über Baudelaire, dessen Bewertung in marxistischer Sicht umstritten war. Da ich Samarin schon kannte, schien es sinnvoll, als erstes mit ihm zu sprechen. Nach diesem Gespräch war klar, dass die geplante Übernahme des zweiten Bandes nicht durchgeführt werden konnte, erstens weil zu umfangreiche Kürzungen gemacht werden mussten und zweitens weil zu befürchten stand, dass auch die anderen Kollegen Schwierigkeiten haben würden, ihre Zitate exakt zu belegen. Im russischen Text waren die französischen Zitate in russischer Übersetzung wiedergegeben. Wir brauchten aber für eine Publikation bei uns die Zitate unbedingt nach dem zugrunde gelegten französischen Originaltext. Bei dem Gespräch mit Samarin stellte sich heraus, dass er z.T. nach Übersetzungen, z.T. nach französischen Texten in russischer Ausgabe gearbeitet hatte und es eines großen Aufwandes bedurft hätte, diese Belegstellen, wenn sie vorhanden wären, ihrerseits aus den nunmehr gültigen französischen Originalausgaben herauszusuchen. In jedem Fall waren sie ad hoc nicht zu ermitteln. Zudem war Samarin mit seinen Zitaten ziemlich großzügig umgegangen. Mehrfach hatte er Stellen aus ganz verschiedenen Passagen zu einem langen Zitatsatz zusammengefügt. Um keine unerfreuliche Verstimmung zu riskieren, blieb nur die Möglichkeit ihm vorzuschlagen, nach ruhiger Durchsicht der einschlägigen Unterlagen auf die ganze Frage zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal zurückzukommen. Auf jeden Fall schien Samarin zu einer Zusammenarbeit bereit und aufgeschlossener als bei einem früheren ersten Besuch. Unerfreulicher war, dass wir Danilin, den Verantwortlichen für die Arbeiter- und Communedichtung, überhaupt nicht erreichen konnten. An der Übernahme dieser Kapitel war uns aber offengestanden mehr gelegen als an Samarins Balzac, denn sie hätte einen echten Informationsgewinn bedeutet. Zur Communedichtung z.B. gab es ebensowenig Textausgaben wie Sekundärliteratur, weder bei uns noch in den westdeutschen oder französischen Verlagen. Lediglich von Eugène Pottier, dem Dichter der „Internationale“, diesem weltumspannenden Lied der Arbeiter- I In memoriam 117 IIn memoriam bewegung (1871), war 1937 in Frankreich ein Gedichtband Chants révolutionnaires erschienen. Sicher ging es bei diesen Gedichten und Liedern nicht um große Dichtung, ihr Interesse war mehr politischer Natur. Aber sie brachten eine neue Weitsicht in die Lyrik ein, die im 20. Jahrhundert z.B. in der Dichtung eines Aragon oder in den Gesängen Pablo Nerudas weltliterarische Bedeutung erlangte. Warum die Begegnung mit Danilin nicht stattfinden konnte, weiß ich nicht mehr zu sagen. Dafür entdeckten wir auf der Suche nach einschlägigem Material zu Danilins Kapiteln die Schätze der Leninbibliothek. Mit ihren reichen Beständen ist sie nach Größe und Bedeutung für das ganze Land der Bibliothèque Nationale vergleichbar. Mit Hilfe dieser Recherchen gelang es, wenigstens Danilins Studie zu Hégésippe Moreau für eine Publikation der ZRPh fertig zu stellen. 16 Überraschend angenehm verlief dagegen die Unterhaltung mit Balaschow. Er lud mich nicht nur, als einziger von allen Kollegen, zu einem Essen nach Hause ein, nach dem wir in zügiger Arbeit den Artikel durchgingen. Er hatte auch alle Unterlagen dafür bereit gelegt, darunter die gültige Gallimard-Ausgabe von Baudelaires Gedichten, nach der er selbstverständlich in seinem Text zitiert hatte. Dass er mir bei diesem Besuch auch seine kleine Gemäldesammlung zeigen konnte, machte ihm sichtlich Freude, denn er betonte bei einigen Bildern immer wieder, dass die Tretjakowgalerie über ihren Besitz sehr stolz sein würde. Ganz nebenbei kam zu Tage, dass er selbst aus einer alten Adelsfamilie stammte und die Bilder folglich Erbstücke waren. Balaschow entsprach in seinem Habitus den Wissenschaftlern, die ich bisher auf meinen Auslandsreisen kennen gelernt hatte und das Gespräch mit ihm war ausgesprochen kollegial und anregend. Wir haben uns später mehrfach auf internationalen Kongressen der Association internationale de littérature comparée getroffen und uns immer über dieses Wiedersehen gefreut. Die zweite und noch viel größere wissenschaftliche Überraschung war das völlig unerwartete Auftauchen von Efim Etkind aus Leningrad in unserem Hotel. Ohne die ‚Tauwetterperiode‘ wäre Etkins Eskapade nicht möglich gewesen. Das galt übrigens auch für Balaschows Privateinladung. Was unseren Kontakt ursprünglich ausgelöst hat, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall beschäftigte er sich, wie ich, mit Übersetzungsproblemen, so dass meine Zola-Ausgabe der Grund gewesen sein kann. Offensichtlich kam es mit ihm zu einem interessanten Gespräch, sonst hätte ich den Kontakt nicht weiter gepflegt und ihn bei meinem dritten Moskaubesuch nicht meinerseits in Leningrad aufgesucht. In diesem Zusammenhang werde ich ausführlicher auf ihn zu sprechen kommen. Die Vorbereitung der offiziellen Gespräche mit den Kollegen wegen des Literaturgeschichtsprojekts, insbesondere die Kürzungs- und Veränderungsvorschläge sowie die Nachbereitung und notwendigen Recherchen in der Leninbibliothek, für deren Organisation der auch in Berlin für unsere Institutsbibliothek zuständige Hans-Jürgen-Hartmann verantwortlich war, nahmen ziemlich viel Zeit in Anspruch, so dass ich in der ersten Woche meine beiden Assistenten durch 118 Nachtschichten - für mich seit langem gewohnheitsgemäß ganz selbstverständlich - ziemlich überforderte und bei ihnen einen kleinen Streik auslöste. [ ] Ein Höhepunkt unseres Studienaufenthaltes war ganz besonderer Art: unsere Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 1. Mai. Nun war die Teilnahme an Aufmärschen und Umzügen nie so recht meine Sache. Sicher, in den ersten Jahren nach dem Krieg bin ich mit meinem Mann aus voller Überzeugung zum Umzug am 1. Mai gegangen. Wir wollten für ein Ziel demonstrieren, ein friedliches, besseres Leben für alle. Aber als die Maidemonstrationen immer mehr zur Legitimationsveranstaltung für die eingeschlagene Politik und damit zur Pflichtübung und Routine wurden, ließ auch die innere Beteiligung nach. Doch 1964 in Moskau und dann noch in der ‚Tauwetterperiode‘ - das war etwas ganz anderes. In Moskau durfte nicht jeder, wie er gerade Lust hatte, an der Maidemonstration teilnehmen, sondern nur im Rahmen einer Delegation von einem Betrieb oder einer Institution, wie wir als Gäste des Gorki-Instituts in dessen Delegation. Eine solche Begrenzung war notwendig, weil in Moskau die zentrale Veranstaltung für die ganze Sowjetunion stattfand und Delegationen aus allen Landesteilen nach Moskau kamen. Es war schon ein eigentümliches Erlebnis, in der Hauptstadt des führenden Landes des Sozialismus an diesem internationalen Feiertag der Arbeiterklasse an der Demonstration teilzunehmen, wenn ich es im perfekten Parteistil formuliere. Doch zum damaligen Zeitpunkt habe ich es sicher auch so empfunden. Im Prinzip natürlich ähnelte dieser Umzug allen Veranstaltungen dieser Art, außer dass man ihn nicht irgendwann und -wo verlassen konnte, denn das hätte bei diesen Massen ein Chaos ergeben. Ich weiß auch nicht mehr, an welchem Ort wir uns nach dem Durchzug über den Roten Platz aufgelöst haben. Nur dass wir auf diese Weise nicht die immer übliche Militärparade sehen konnten, die nach Größe und auch propagandistischer Bedeutung mit unserer in Berlin nicht zu vergleichen war. Ein persönliches Erlebnis ganz anderer Art war die Festveranstaltung des Instituts am Nachmittag. Außer sehr gekonnten musikalischen Darbietungen gab es vor allem den Vortrag von Teilen aus Puschkins Eugen Onegin. Ich kann Dichtung in russischer Sprache nicht lesen und schon gar nicht beim Hören inhaltlich verstehen, wohl aber ihren Klang genießen. Bei dieser Veranstaltung kam als Erlebnis aber noch etwas völlig anderes hinzu. Egal welches Stück vorgetragen wurde, sofort nach den ersten Worten rezitierte der ganze Saal den Text voller Begeisterung auswendig mit. So etwas hatte ich noch nie erlebt und ich stellte mir vor, wie es wohl sein würde, wenn in einer Universitätsveranstaltung bei uns Teile aus Goethes Faust rezitiert würden... Diese Liebe zur eigenen Sprache und Dichtung, welch ein Kulturbewusstsein! Es hat mich immer wieder bei meinen russischen Kollegen überrascht und auch bei meinen Studenten, als ich 1970 ein Gastsemester in Moskau verbrachte, zu dem ich von der Lomonossow-Universität, mit der die Humboldt-Universität einen Freundschaftsvertrag hatte, eingeladen worden war. [ ] I In memoriam 119 IIn memoriam Zu diesem Zeitpunkt [1970] befanden sich die Universitäten der DDR in dem Umbruch der so genannten III. Hochschulreform. Es scheint, dass bei der Ankündigung von Reformen zu allen Zeiten hinsichtlich ihrer zu erwartenden positiven Ergebnisse eine gewisse Skepsis nicht unangebracht ist. Jedenfalls wollte ich angesichts der sich vollziehenden grundlegenden Veränderungen nicht ein ganzes Semester abwesend sein. Deshalb beantragte ich die Verkürzung dieses Gastsemesters auf zwei Monate, d.h. auf die Zeit vom 28. September bis zum 30. November. Zugleich erbat ich die Genehmigung, dass mein Sohn Hans-Robert, der am 4. Juli sein Abitur abgelegt hatte und erst zum 3. November seinen Wehrdienst antreten musste, mich bis zu diesem Zeitpunkt zur Verbesserung seiner Russischkenntnisse nach Moskau begleiten dürfe. Bisher hatte ich für Reisen in die russische Metropole immer die schnelle Flugverbindung genutzt, ganz gleich, ob es sich um einen Gastvortrag oder um eine Urlaubsreise handelte, zu der grundsätzlich stets auch ein bis zwei Tage Moskau-Aufenthalt gehörten. Diesmal aber musste ich den Zug nehmen, einfach schon wegen des notwendigen Gepäcks, und das hieß: Kleidung für Spätherbst und russischen Winter, alle Unterlagen für die Vorlesungen und das Seminar nebst Büchern, Schreibmaschine und entsprechendem Arbeitsmaterial, sowie die dringlichsten Utensilien für Küche und Haushalt, da Gastprofessoren für die Zeit ihres Aufenthaltes von der Universität in einem Gästehaus eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche zur Verfügung gestellt wurde. Zusammen mit dem - gemessen am Einkommensdurchschnitt der Bevölkerung - hohen Gehalt von 400 Rubel pro Monat, wie es sonst nur Mitglieder der Russischen Akademie der Wissenschaften erhielten, waren diese offiziellen Bedingungen sehr großzügig. So machten wir uns mit sieben Koffern, die aufgegeben wurden, und weiteren fünf, die die notwendigsten Dinge für den Anfang enthielten und deshalb zu unserem Glück - wie sich herausstellen sollte - in unserem Schlafwagenabteil untergebracht werden konnten, auf die Reise. Die Eisenbahnstrecke Berlin-Warschau-Brest-Moskau betrug ca. 2000 km und die Fahrt mit dem D-Zug dauerte rund 30 Stunden. Wir fuhren um 8: 45 mit dem „Ost-West-Express“ vom Ostbahnhof ab und erreichten nach den entsprechenden Grenzübergängen, die ohne besondere Aufregungen verliefen, um 0: 53 die Station Brest Central, wo die Wagen auf die Breite der russischen Gleisspur umgestellt werden mussten. Dass es demgemäß hier einen längeren Aufenthalt geben würde, wussten wir. Die Beamten, die unser Abteil betraten, kontrollierten zunächst unsere Ausweispapiere und Fahrkarten und fragten, wie viel Rubel und wie viele Koffer wir mitführten. Wahrheitsgemäß gab ich an, ich hätte 1000 Rubel bei mir - ich hatte sie wegen des mitreisenden Sohnes auf meinen Antrag hin in Berlin eintauschen können - und es befänden sich außer den fünf kleineren Koffern hier im Abteil unser eigentliches Gepäck, also weitere sieben Koffer, im Gepäckwagen. Diese Mitteilung hatte unerwartete Folgen. Ein nicht gerade freundliches „Aufstehen! “ war die erste Reaktion. Hans-Robert kletterte im Schlafanzug, wie er war, herunter, ich 120 stand auf und fuhr in die Hausschuhe. Die kurze Kofferdurchsicht im Abteil förderte offensichtlich nichts Verdächtiges zutage. Nur eine Tasche mit Äpfeln erregte Anstoß. „Alles sofort wegwerfen.“ ‚Maltschik‘ - damit war Hans-Robert gemeint, so der Chef der drei Mann umfassenden Truppe - könne sich wieder hinlegen, ich aber müsse sofort mitkommen, um die auf dem Gepäckwagen befindlichen Koffer zu identifizieren. Von langem Um- und Anziehen konnte keine Rede sein. Das Bahnhofsgelände, das wir nun betraten, habe ich als relativ wenig beleuchtet in Erinnerung. Auf jeden Fall ging es aber nicht, wie ich erwartete, schnurstracks zu dem Güterwagen, sondern erst in einen hellen Raum - ob es der normale Aufenthaltsraum war, kann ich nicht sagen - wo man mir bedeutete zu warten. Und so wartete ich. Als ich nach einer Stunde vergeblichen Wartens anfing zu frieren - schließlich trug ich in jenem Moment nur einen Morgenrock und war außerdem einfach müde und wollte mich wieder in meinem Abteil hinlegen -, versuchte ich mit dem in der Sowjetunion wie eine Zauberformel wirkenden Satz „Ja, akademik“ den Diensttuenden zu beeindrucken und meine Warterei zu beenden. Allerdings ohne jeglichen Erfolg. Diese Frau sollte ein Akademiemitglied sein und dann noch dazu in diesem Alter! - ich war gerade zweiundfünfzig - das sollte glauben, wer wollte. Der in der Sowjetunion mit höchstem sozialen Prestige versehene wissenschaftliche Status eines „akademik“ verband sich unabweisbar mit der Vorstellung von einem würdevollen Herrn in höherem Alter. Selbst wenn ich der russischen Sprache genügend mächtig gewesen wäre, um eine Diskussion zu beginnen, es hätte keinen Zweck gehabt und das Mahlen der amtlichen Mühlen auch nicht beschleunigt Nach einer reichlichen weiteren Stunde Warten erschien ein anderer Beamter und teilte mir mit, der Gepäckwagen wäre nicht zu finden, die Kontrolle der Koffer könne deshalb erst in Moskau nach meiner Ankunft durchgeführt werden, ich dürfe nunmehr in mein Abteil zurückgehen. Um 3: 51 fuhren wir ab. Die restliche Fahrt verlief ohne Zwischenfälle Auf dem bjelorussischen Bahnhof in Moskau, wo wir fahrplanmäßig um 16: 00 ankamen, erwarteten uns ein Mitarbeiter der Botschaft der DDR, Hans Große, der Mann einer mir befreundeten Kollegin und eine von der Universität mir zugeteilte Betreuerin namens Svetlana - eine Germanistin, wie sich herausstellte, und offensichtlich aus ‚gutem Hause‘, wie man in meiner Jugend sagte. Meine erste Frage nach der Begrüßung war natürlich die nach den Koffern auf dem Gepäckwagen. Trotz aller nun einsetzenden Bemühungen unseres ‚Empfangskomitees‘ - sie waren nicht zu finden. Aber meine Betreuerin beruhigte mich, wir würden sie sicher am nächsten Tag abholen können. Also fuhren wir erst einmal mit dem Gott sei Dank vorhandenen ‚Handgepäck‘ in das Gästehaus, in dem wir untergebracht werden sollten. Unsere Wohnung in der Schabulowka sorok schest (46) lag in der Nähe der gleichnamigen U-Bahn-Station der Linie, die in südlicher Richtung weiter zur Station Leninprospekt führte, von wo aus die Lomonossow-Universität auf den Leninbergen mit Straßenbahn und Bus leicht zu erreichen war. Die Gastwohnung war für Moskauer Wohnverhältnisse großzügig: I In memoriam 121 IIn memoriam ein kleiner Vorraum, Toilette, Bad, eine kleine Küche und auf der gegenüberliegenden Seite zwei helle, saubere, mit neuen Möbeln eingerichtete Zimmer, Zentralheizung, kaltes und warmes Wasser und Telefon. So weit, so gut. Nun mussten wir erst einmal auspacken, uns ausruhen und versuchen, auch innerlich anzukommen. Mit Svetlana wurden kurz noch die notwendigen nächsten dienstlichen Schritte verabredet, von Hans Große ließ ich mir die Vorwahlnummer für Berlin geben, damit ich gleich meinem Mann unsere Ankunft und vor allem die offene Kofferfrage mitteilen konnte. Er beruhigte mich in dem Telefongespräch. Spätestens in einer Woche, wenn er für zehn Tage zur Arbeit ins Parteiarchiv käme, würde er sich selbst darum kümmern, falls die Koffer bis dahin noch immer nicht aufgetaucht wären. Und so war es auch. Erst nach seiner Intervention klärte sich die Lage. Die eigentliche Arbeit konnte beginnen. Am meisten Freude bei diesem Aufenthalt an der Universität machten mir die Studenten, mit ihrer Wissbegierde und ihrer erstaunlichen Beherrschung der französischen Sprache. Schließlich lief ja das gesamte Programm in der Fremdsprache. Ich hatte ein Zola-Seminar, eine Einführung in die Nouvelle Critique und eine Vorlesung zur Entwicklung der Poetik von der Renaissance zur Frühaufklärung angeboten, immerhin kein ganz leichtes Brot. Die Studenten nahmen an den Veranstaltungen nicht nur pünktlich teil, sie konnten offensichtlich auch folgen. Ihre Aufmerksamkeit in den Vorlesungen, ihre lebhafte Mitarbeit im Seminar, die sich in Fragen und, wenn sie etwas nicht verstanden hatten, auch in Nachfragen äußerte, zeugte von wirklichem Interesse am Gegenstand. Und wenn einmal Zeit zu einem zusätzlichen Gespräch war, wunderte mich vor allem, wie wach sie das kulturelle Leben in der Stadt verfolgten. Diese kulturelle Interessiertheit war mir bei meinen früheren Besuchen schon bei den Kollegen aufgefallen. In den Gesprächen mit ihnen herrschte auch diesmal ein aufgeschlossenes, intellektuelles Klima. Vielleicht waren es noch die Nachwirkungen des ‚Tauwetters‘. Die größte Überraschung für mich als Kollegin war jedoch die von Roman Michailovitsch Samarin, dem Leiter des Gorki-Instituts für Weltliteratur an der Russischen Akademie der Wissenschaften, ausgesprochene Einladung, auch vor diesem Gremium über die Nouvelle Critique zu sprechen. Die mit diesen vier Sitzungen verbundenen Diskussionen mit den Herren, die von Alter und Äußerem wirklich dem Vorstellungsbild eines russischen Akademiemitglieds entsprachen, waren in vielerlei Hinsicht aufschlussreich. Samarins freundliche Worte: „Wir haben Ihnen mit großem Interesse zugehört wie aufmerksame Schüler“ deuteten allerdings nicht unbedingt darauf hin, dass die Theorien des Moskauer linguistisch orientierten Kreises des Russischen Formalismus aus den 1920er Jahren, mit Roman Jakobson an der Spitze, die ja zu den Grundlagen der Nouvelle Critique gehörten, im literaturtheoretischen Bewusstsein der Anwesenden noch eine Rolle spielten. Ganz anders dagegen die Situation bei meinen Gesprächen mit Efim Grigorevitch Etkind 17 in Leningrad, von wo der Russische Formalismus 18 1915 mit der Gründung der „Gesellschaft zur Erforschung der poetischen Sprache“ (opojaz) durch eine Gruppe junger Philologen 122 und Literarhistoriker eigentlich ausgegangen war und wo in gewissen Kreisen, wie in den Arbeiten Etkinds oder in der Systemtheorie Kagans, dieses Erbe noch zu erkennen war. Mit Etkind verband mich unmittelbar das gemeinsame Interesse an strukturell-stilistischen Fragen und an Problemen der Übersetzungstheorie. Er wurde später durch seine einschlägigen Arbeiten auf diesem Gebiet vor allem in Frankreich und auch bei den deutschen Slavisten bekannt. Bei der ersten Studienreise 1964 war Etkind eigens angereist, um mich persönlich kennen zu lernen. Ein ziemlich ungewöhnlicher Schritt für einen dortigen Kollegen. Also wollte ich ihm unbedingt einen Gegenbesuch abstatten. Von den organisatorischen Mühen, die die Vorbereitung dieser Reise Svetlana zusätzlich bereitete, hatte ich allerdings keine Ahnung. Die mit so vielen Erlebnissen ausgefüllte Zeit verlief viel zu schnell. Früher als mir lieb war, rückte der Abreisetermin näher, es war nötig, an die Modalitäten zu denken. Nach der Erfahrung mit den nicht auffindbaren Koffern auf der Herfahrt riet Hans Große mir für die Rückfahrt zwei Fahrkarten erster Klasse zu kaufen, um so ein ganzes Schlafwagenabteil für mich allein zu haben und darin alle Koffer - einen Teil hatte ja schon mein Sohn auf dem Rückflug am 1. November mitgenommen - unterbringen zu können. Das schien praktikabel und wurde vorbereitet. Zwei oder drei Tage vor dem endgültigen Termin jedoch kam Hans Große von der DDR-Botschaft mit einer anderen, nicht gerade beruhigenden Nachricht. Ein Kollege aus Leipzig - er hatte an der Lomonossow einige Gastvorlesungen gehalten - war auf der Rückfahrt seinerseits an dem Grenzübergang Brest über einen Tag festgehalten worden „wegen unerlaubter Ausfuhr von Rubeln“, d.h. nach sowjetischem Gesetz wegen eines „Währungsdelikts“. Der Tatbestand: Besagtem Leipziger Kollegen war auf dem Bahnhof in Moskau kurz vor der Abreise von einer Zeitschrift, in der er Artikel veröffentlicht hatte, das dafür fällige Honorar überreicht worden, das er offensichtlich, ohne weiter zu überlegen, mitgenommen hatte. Im Grunde musste ich mich darüber nicht beunruhigen. Ich hatte keine Honorare zu erwarten, mein eigenes Geld war aufgebraucht, ‚unerlaubtes Kulturgut‘ wollte ich nicht ausführen, aber Vorsicht, oder besser gesagt, Vorsorge schien mir dennoch geboten. Also setzte ich auf den bei Auslandsgesprächen als sicher anzunehmenden Abhördienst. In einem ausführlichen Ferngespräch teilte ich meinem Mann zuerst die Geschichte von dem Leipziger Kollegen mit und dann den Tag meiner Abfahrt mit der genauen Abfahrtszeit in Moskau und der dementsprechenden Ankunftszeit in Berlin und fügte laut, langsam und deutlich hinzu: „Sollte ich zu besagtem Zeitpunkt nicht in Berlin eintreffen, dann verständige bitte sofort das Ministerium für das Hoch- und Fachschulwesen, die Abteilung Wissenschaft im ZK und alle anderen in Frage kommenden Dienststellen. Denn dann kann ich nur widerrechtlich an dem Grenzübergang Brest zurückgehalten worden sein.“ Zur Abreise mit dem Moskwa-Express am Nachmittag um 16: 30 begleiteten mich nicht nur die Italienisch-Kollegin Potapova, der ich erst diesmal begegnet war, Hans Große und die mir seit unserem gemeinsamen Ausflug nach Leningrad viel vertrauter gewordene Svetlana auf den bjelorussischen Bahnhof, sondern I In memoriam 123 IIn memoriam auch Professor Samarin war höchstpersönlich zu meiner Verabschiedung erschienen. Er sorgte sich vor allem darum, dass ich ja gut untergebracht würde. Tatsächlich ließ sich das gesamte Gepäck mit einiger Anstrengung von den eiligst herbeigerufenen hilfreichen Geistern in dem Abteil unterbringen. Etwas Reiseproviant hatte ich vorsichtshalber für die lange Strecke auch diesmal mitgenommen, und einen heißen Tee konnte man in solchen Fernzügen bei den diensttuenden Zugbegleitern immer bekommen. Eigentlich waren sämtliche Voraussetzungen für eine gute Fahrt gegeben. Die Zurückbleibenden verabschiedeten mich mit allen guten Wünschen aufs herzlichste, im Grunde hätte ich ganz beruhigt abfahren müssen. Aber mir war eher seltsam zumute, als sich die Räder in Bewegung setzten. Zum Teil war es der Gedanke, dass wieder eine Lebensstrecke mit neuen Erfahrungen, Eindrücken, menschlichen Begegnungen zu Ende gegangen war - tatsächlich habe ich keinen der Moskauer Kollegen aus diesen Tagen später noch einmal wiedergesehen -, zum Teil war ich trotz aller Vorkehrungen wegen der Unwägbarkeiten der langen Reise, diesmal allein, mit mehreren Grenzübergängen, vor allem in Brest, etwas nervös. Die drei Beamten, die in den frühen Morgenstunden, um 5: 15, in Brest zur Grenzkontrolle mein Abteil betraten, waren jedoch vom ersten Augenblick an sichtlich bemüht, mich mit größter, fast übertriebener Höflichkeit und Rücksichtnahme zu behandeln. „Nicht aufregen, ganz ruhig bleiben, nicht aufstehen, ruhig liegen bleiben“, waren ihre Worte. Die Koffer interessierten sie überhaupt nicht. Nach einem kurzen Blick in meinen Pass und auf die Fahrscheine wünschten sie mir eine gute Weiterreise und verschwanden ebenso geräuschlos, wie sie gekommen waren. Das Telefongespräch mit meinem Mann hatte sichtlich gewirkt. Doch was sollten die russischen Zugbegleiter, die mich, offensichtlich ebenfalls wohlinstruiert, auch wie eine very important person behandelt hatten, denken, wenn ich nun an unserer Grenze aus unerfindlichen Gründen vielleicht Ärger mit dem Zoll bekäme? Man konnte nie wissen. Auf dem Flugplatz in Schönefeld hatte ich bei der Einreise schon manchmal Unerfreuliches erlebt. Der deutsche Zollbeamte, der in Frankfurt/ Oder in mein Abteil kam, war jedoch ein gemütlicher Sachse, der mich im lupenreinen Dialekt nach Besichtigung meines Passes mit den Worten begrüßte: „Des is aber schen, Frau Professor, dass Se wieder da sind, mer ham Se schon vermisst im Professorenkollegium 19 .“ 1 Cf. zu diesen insgesamt vier Bänden Rita Schober, „Gedanken zur Problematik einer ‚Geschichte der französischen Literatur‘“, ZRPh 11/ 1964, 126-140. 2 Jan Ottokar Fischer, Francouská literatura (Struċý nástin vývoje), druhé, rozŝířené vydání, Praha, Orbis, 1964; Rita Schober et al. (ed.), Französische Literatur im Überblick, Leipzig, Reclam, 1970, 2. Aufl. 1977; cf. die Kritik dieser Literaturgeschichte und meine Stellungnahme dazu in: Dorothee Röseberg (ed.), Frankreich und das andere Deutschland. Analysen und Zeitzeugnisse, Tübingen, Stauffenburg, 1999, 495-541. 124 3 Das „Avertissement de la Première Edition“ beginnt mit dem Satz: „Ce livre a été écrit pour l’enseignement“ (René Doumic, Histoire de la littérature française, Paris, Librairie Classique Delaplane, 1900, V). 4 Promoviert haben: Christa Bevernis (Balzac; Habilitation Flaubert), Gerhard Schewe (Romain Rolland), Horst Müller (Henri Barbusse), Jürgen Papenbrock (Paul Eluard); selbst beteiligt war ich mit den Arbeiten zu George Sand, den Romanen Maupassants, der Habilschrift zu Zola, und zu Aragons Karwoche. Die DDR verließen aus mir im Detail nicht bekannten Gründen Annemarie Pohle (Chateaubriand), Gertraude Cholière und Helmut Keßler (Novellen Maupassants; die Arbeit wurde unter der Leitung von Prof. Maurer in der BRD zu Ende geführt und publiziert). 5 Rita Schober, „Zur Problematik literarhistorischer Perioden (franz.)“, in: Actes du Colloque international de Civilisations et Langues Romanes, Bucarest 1959, 102-107; id., „Zur Frage kunsthistorischer Termini“, in: Acta litterari, Budapest 1962, 93-94. 6 vgl. Anm. 1. 7 Cf. Briefwechsel zwischen Rita Schober, Victor Klemperer und Werner Krauss, in: lendemains, 33/ 2008, Heft 130/ 131, dort Klemperers Brief vom 19.7.54, 231. 8 Cf. Victor Klemperer, LTI: Notizbuch eines Philologen, Leipzig, Reclam, 1947. Mit dieser Arbeit hatte Klemperer anhand der gesprochenen Sprache des Dritten Reiches, gewissermaßen am ‚lebenden Objekt‘, die Richtigkeit des Satzes von Marx in den Grundrissen: „Die Sprache selbst ist ebenso das Produkt eines Gemeinwesens, wie sie in andrer Hinsicht selbst das Dasein des Gemeinwesens und das selbstredende Dasein desselben“ bewiesen. (Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Marx-Engels-Werkausgabe, Band 43, Berlin 1983, 398; Hervorhebung R. Sch.) 9 Diese Formulierung gebraucht Werner Krauss im Titel eines 1968 veröffentlichten Essays „Der Streit der Altertumsfreunde mit den Anhängern der Moderne und die Entstehung des geschichtlichen Weltbildes“, in: Werner Krauss, Essays zur französischen Literatur, Berlin/ Weimar, Aufbau-Verlag, 1968, 130. Der Band beginnt mit einem Essay zu den literarischen Gattungen, dem ein Essay zur französischen Novellistik des 18. Jahrhunderts, zur französischen Romantheorie des 18. Jahrhunderts und zum nouveau roman, der modernsten Romanentwicklung, folgt, ein dezidiert literarhistorisch angelegter Band. 10 Cf. Werner Krauss, Lesebuch der französischen Literatur, Teil I: Aufklärung und Revolution, hg. v. Werner Krauss unter Mitarbeit v. Manfred Naumann, Berlin, Volk und Wissen, volkseigener Verlag, 1952. Natürlich betonte dieses als Auftakt einer neuen Aufklärungsforschung gedachte Studienbuch die philosophisch-ideologischen Schriften. 11 Victor Klemperer, „Positivismus und Idealismus des Literaturhistorikers. Offener Brief an Karl Voßler [sic]“, in: Jahrbuch für Philologie 1/ 1925, 245-268, 257. 12 Werner Krauss, loc. cit., 25. 13 Cf. Werner Krauss, „Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag“, in: Sinn und Form, 2/ 1950, Heft 4, 65-126. Dass Krauss diesen Artikel selbst in einem teils ironischen, teils pathetischen, fast an Nietzsche erinnernden, aber nicht in einem dürren Gelehrten-Stil geschrieben hat, mag wohl Ausdruck der inneren Bewegtheit und Dringlichkeit des persönlichen Anliegens gewesen sein. 14 Cf. ibid., 121, 125, 126. 15 Cf. unseren Briefwechsel, loc. cit. 16 Die Studie von J. I. Danilin erschien in den Beiheften des Jahrgangs 4/ 1965, 53-62, in der Übersetzung von R. Sch. [Anm. Wolfgang Asholt] 17 Etkind war Professor an der Universität in Leningrad und emigrierte 1974 nach Frankreich, wo er Professor für Russische Literatur an der Universität Paris-Nanterre wurde. 18 Cf. Victor Ehrlich, Russischer Formalismus, München, Hanser, 1964. 19 Das „Professorenkollegium“ war eine Livesendung im DDR-Fernsehen, die seit 1964 einmal im Monat ausgestrahlt wurde und auf schriftlich eingegangene Hörerfragen antwortete. An dieser Sendung hatte ich seit Beginn fast regelmäßig teilgenommen. IIn memoriam 125 IIn memoriam Roland Höhne Gilbert Ziebura als Schrittmacher sozialwissenschaftlicher Frankreichforschung Gilbert Ziebura (18.03.1924-21.02.2013) war gelernter Historiker. Er studierte Geschichte, wurde mit einer historischen Arbeit promoviert und habilitierte sich über ein historisches Thema. Auch nach seiner Berufung auf eine Professur für Internationale Beziehungen 1964 blieb er der Geschichte treu. Seit seinem Eintritt in den Hochschuldienst an der damaligen Deutschen Hochschule für Politik (DHfP) als Assistent des Politologen Ernst Fraenkel im Jahre 1955 beschäftigte er sich aber auch mit genuin politologischen Themen, so den Institutionen der IV. und V. Französischen Republik. Er orientierte sich dabei an der damals dominierenden Pluralismustheorie. Unter dem Einfluss seiner akademischen Lehrer, insbesondere von Hans Rosenberg, amerikanischer Gastdozent am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität (FU) Berlin 1949/ 50 sowie Pierre Renouvin, Professor für die Geschichte der Internationalen Beziehungen an der Sorbonne, später auch unter dem Einfluss der erbittert geführten Theorie- und Methodendebatte zwischen Vertretern positivistischer und marxistischer Ansätze am Otto-Suhr-Institut Berlin, löste er sich jedoch mehr und mehr von seiner ursprünglichen Position. An die Stelle der politischen Analyse, insbesondere der öffentlichen Meinung, der Institutionen, der Ideen-, Parteien- und Politikgeschichte trat die gesellschaftliche Analyse politischer Phänomene. Nun suchte er „die Dinge hinter den Dingen“, d.h. die gesellschaftlichen Bedingungsfaktoren politischen Handelns. Gleichzeitig erweiterte er sein Arbeitsfeld. Neben Frankreich trat Europa und schließlich die Weltpolitik. 1 Die entscheidenden persönlichen Voraussetzungen für seinen wissenschaftlichen Werdegang bildete seine „ersten Sozialisation“ durch Familie, Jugendorganisationen, Schule und Kriegserfahrung im NS-Regime und die „zweite Sozialisation“ nach Ende des Krieges durch die Suche nach neuen Orientierungsmustern. Aufgewachsen war Ziebura in einem konservativkatholischen, deutsch-nationalen Elternhaus. Die Eltern stammten aus Schlesien, der Vater war Berufssoldat, der es bis zum Unteroffizier brachte und dann als Verwaltungsbeamter arbeitete. Als Heranwachsender war Ziebura zunächst Mitglied der katholischen Jugend, dann des Jungvolks und der Hitlerjugend. 1943 wurde er zur Wehrmacht eingezogen, erlebte den Krieg an der Ostfront und wurde im November 1943 schwer verwundet. Nach der Entlassung aus der Wehrmacht 1944 begann ein Umorientierungsprozess, der zum völlig Bruch mit dem NS-Regime führte und so den Weg geistig freimachte für die Suche nach neuen Ufern. Er fand sie im westlichen, d.h. demokratischen Wertesystem, hielt jedoch an seinem katholischen Glauben fest. Besonde- 126 IIn memoriam ren Einfluss nahm auf ihn während dieses Neuorientierungsprozesses die Begegnung mit Frankreich und hier besonders mit französischen Linkskatholiken. 2 Wissenschaftlich geprägt hat ihn sein Studium in Berlin zunächst an der Lindenuniversität, dann am historischen Seminar (Friedrich-Meinecke-Institut) der Freien Universität (FU) und in Paris an der Sorbonne sowie seine Lehr- und Forschungstätigkeit an der Deutschen Hochschule für Politik, dem Otto-Suhr-Institut der FU Berlin sowie an den Universitäten Konstanz und Braunschweig. Am historischen Seminar der FU dominierte noch die staatlich-politisch orientierte Sichtweise, vertreten insbesondere durch seinen Doktorvater Hans Herzfeld. Dieser war deutsch-national geprägt und beschäftige sich zunächst vor allem mit den Ursachen des Ersten Weltkrieges, um die alliierte These von der deutschen Alleinschuld am Ausbruch des Krieges zu widerlegen. Seine negativen Erfahrungen im NS-Regime als „Vierteljude“, der 1938 seine Professur in Halle verlor, führten ihn jedoch zu einer kritischen Einstellung gegenüber der traditionellen deutschpreußischen Staatsidee. Er öffnete sich angelsächsisch-amerikanischen Politikvorstellungen, hielt aber an seinem Konzept der Staatengeschichte fest und ging weiterhin vom Primat der Außenpolitik aus. 3 Die Gegenposition dazu vertrat der linksliberale Hans Rosenberg, ein deutsch-jüdischer Gastdozent aus den USA, der 1949/ 50 am Meinecke-Institut lehrte. Er hatte in den zwanziger Jahren bei Friedrich Meinecke eine ideengeschichtliche Doktorarbeit geschrieben, sich dann aber unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zugewandt und nach einer Verbindung von politischer Geschichte, Ideengeschichte und Ökonomie gesucht. 4 Er war dabei auf der Suche nach den realen gesellschaftlichen Machtstrukturen. Ziebura stand seinen Ideen zunächst skeptisch gegenüber, orientierte sich aber später stark an ihnen. Rosenberg übte so langfristig einen wesentlich stärkeren Einfluss auf ihn aus als Herzfeld. Er schrieb jedoch bei diesem seine Doktorarbeit über die deutsch-französischen Beziehungen vor dem Ersten Weltkrieg. Dabei ging es ihm nicht um Diplomatiegeschichte, sondern um eine qualitative Analyse der veröffentlichten Meinungen Frankreichs über Deutschland in den letzten Vorkriegsjahren. 5 Er wollte so ergründen, welche Rolle die „Revanche-Idee“ für den französischen Kriegseintritt gespielt hatte. Bei seinem Forschungsaufenthalt in Paris lernte er durch Vermittlung Herzfelds Pierre Renouvin, den Direktor des Institutes für Neue und Neuste Geschichte, kennen, der sich vor allem mit der Geschichte der Internationalen Beziehungen beschäftigte. Er war wie Herzfeld politisch-staatlich orientiert, berücksichtigte jedoch im Gegensatz zu diesem bereits die forces profondes der Außenpolitik. Wie weit sein Einfluss reichte, lässt sich schwer sagen, aber Ziebura beschäftige sich später ebenfalls mit den Tiefenstrukturen der Politik, allerdings mit einem anderen theoretischmethodischen Ansatz. Mit der Promotion im August 1953 beendete Ziebura seine Lehr- und Wanderjahre. Rückblickend schreibt er in seiner Autobiographie, die innere und äußere Freiheit, mit der er sein Studium gestaltete, die Selbstbestimmung über den eigenen Weg, habe er sich zu bewahren versucht. Die Begegnung mit Frankreich habe 127 IIn memoriam ihm seine nationalen, mentalen und ideologischen Scheuklappen genommen und unmittelbar mit dem Drama der europäischen Geschichte konfrontiert. Praktisches Engagement und wissenschaftliche Arbeit hätten ihn schließlich zu der Überzeugung gebracht, „daß die Geschichte der Zukunft zu wichtig ist, um sie der Realpolitik, dem mühsamen [ ] Pragmatismus der ‚kleinen Schritte‘ zu überlassen. Für mich bleibt bis auf den heutigen Tag das Ringen um eine Vision entscheidend, die es erst ermöglicht, der Politik Orientierung und damit innere Legitimität zu verleihen.“ 6 Besonders die Suche nach einer Vision bestimmte seine weitere wissenschaftliche Arbeit und führte u.a. zum Bruch mit seinem langjährigen französischen Gesprächspartner, Alfred Grosser, der die „Politik der kleinen Schritte“ favorisierte. 7 Nach seiner Promotion wechselte Ziebura vom Meinecke-Institut zur damaligen Deutschen Hochschule für Politik, zunächst als Lehrbeauftragter, ab 1955 als Assistent von Ernst Fraenkel. Entscheidend für diesen Wechsel waren neben beruflichen vor allem inhaltliche Motive. Die deutsche Geschichtswissenschaft der fünfziger Jahre privilegierte noch immer die Analyse staatlich-politischer Prozesse und beschäftigte sich nicht wie Rosenberg mit der Realität gesellschaftlicher Machtverhältnisse. 8 Aber eben diesen galt Zieburas Interesse. Offen war für ihn noch die Frage, wie sie sich wissenschaftlich erfassen ließen. Diese Frage stand im Mittelpunkt einer theoretischen Grundsatzdebatte im Kollegium der DHfP. Ihre Protagonisten waren Franz Neumann und Ernst Fraenkel. Neumann, ein deutsch-jüdischer Emigrant aus den USA, der 1936 bis 1942 dem Institut für Sozialforschung in New York angehörte, aus dem nach dem Kriege die „Frankfurter Schule“ hervorging, bemühte sich um eine Synthese zwischen Marxismus und liberaler Demokratie. Er ging von der Überzeugung antiker Historiker aus, dass politische Macht der Ausdruck ökonomischer Macht sei. Die Demokratie erlaube jedoch in begrenztem Maße ihre Kontrolle und zwinge Interessengruppen, über die Vertretung ihrer partikularen Interessen hinauszugehen. 9 Ernst Fraenkel war wie Neumann gelernter Jurist, der sich während seiner Emigration in Großbritannien und den USA intensiv mit der angelsächsischen Demokratie beschäftigt hatte. Aus dieser Beschäftigung entstand seine Neo- Pluralismustheorie, die auf dem Gegensatz von Pluralismus und Totalitarismus beruhte. Ihren Kern bildete die Annahme, die gesellschaftlichen Gruppen hätten in einem demokratischen System grundsätzlich die gleichen Machtchancen, so dass die Bürger in freier Entscheidung über die Verteilung der Macht entscheiden könnten. 10 Rückblickend schreibt Ziebura, bei den Auseinandersetzungen im Kollegium habe es sich um den „Grundkonflikt zwischen einer Auffassung von Politischer Wissenschaft als kritischer Politischer Ökonomie (Neumann) oder als normativer Institutionenlehre (Fraenkel)“ gehandelt. Sie hätten für die Entwicklung des Faches fruchtbar werden können, wenn sie offen ausgetragen worden wären. Dies aber habe der Ost-West-Konflikt bis zur Studentenrevolte 1967/ 68 verhindert. 11 Ziebura, der den theoretischen Hintergrund der Debatte damals nicht kannte, orientierte sich zunächst an Fraenkel. Er befasste sich mit den französischen 128 IIn memoriam Theoretikern des Frühparlamentarismus und den Institutionen der IV. und V. Französischen Republik. Erst im Laufe der Zeit emanzipierte er sich von ihm und entwickelte eigene, sozialwissenschaftlich orientierte Positionen. Im Rückblick wirft er der an der DHfP vertretenen Politikwissenschaft vor, ihren Auftrag, den mündigen, kritischen Staatsbürger als Basis und Voraussetzung der Demokratie zu formen, nicht erfüllt zu haben. Schuld daran sei die dominierende Pluralismustheorie gewesen. Da sie die Analyse von Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen privilegierte, habe sie sich als unfähig erwiesen, die Dynamik gesellschaftlicher Machtverhältnisse zu erfassen, weil sie von einer grundsätzlich affirmativen, sich mit den Herrschaftsverhältnissen identifizierenden Position ausgegangen sei. 12 Die aus heutiger Sicht berechtigte Kritik übersieht jedoch die politischen Zwänge, denen die Politische Wissenschaft in den 50er und 60er Jahren im Kontext des Ost-West-Konfliktes in West-Berlin unterlag. Diese verhinderten, dass sich eine um akademische Anerkennung ringende und auf politische Rückendeckung angewiesene Disziplin zum Zentrum von Herrschaftskritik entwickeln konnte, selbst wenn dies seine Repräsentanten gewollt hätten. An der DHfP musste Ziebura in Forschung und Lehre historische und politikwissenschaftliche Fragestellungen verbinden. Daraus ergab sich u.a. sein Quellenbuch zum Regierungssystem der IV. Republik. Es war solide politikwissenschaftlich verfasst, ging aber methodologisch nicht über die von Fraenkel vertretene Position hinaus. In seinem Vorwort zum „Leitfaden“ der Publikation, die von François Goguel stammte und von ihm übersetzt wurde, erläuterte er jedoch, dass mit „régime politique“ mehr gemeint sei als nur „Regierungssystem“, d.h. die politischen Institutionen, sondern zugleich ihr Funktionieren unter dem Einfluss mannigfacher politischer, sozialer und wirtschaftlicher Kräfte des Landes in ihren historischen, geographischen und soziologischen Bedingtheiten. 13 In seiner Habilitationsschrift über Léon Blum bemühte sich Ziebura um eine Verbindung von Ideen-, Parteien- und Politikgeschichte. Als Zugang bediente er sich des politischen Denkens und Handelns Léon Blums, des langjährigen Führers der Sozialistischen Partei SFIO und Ministerpräsidenten der Volksfrontregierung in den Jahren 1936-1938. Er schrieb keine klassische Biographie, sondern zeigte anhand einer führenden Persönlichkeit der französischen Arbeiterbewegung exemplarisch die Problematik der Sozialdemokratie auf, die er als Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Kräfte verstand. 14 Gegenüber seiner Dissertation von 1953 war dies ein entscheidender Schritt auf dem Wege der Zusammenführung von Politik- und Gesellschaftsanalyse. Aus praktischen Gründen (Zeitmangel und unbefriedigende Quellenlage) musste Ziebura auf die Untersuchung der Machtausübung in den Jahren 1936-1938 verzichten, die einen Beitrag zur Praxis der französischen Sozialdemokratie leisten sollte. Bei der Beschäftigung mit dem Übergang von der IV. zur V. Republik modifizierte Ziebura Mitte der sechziger Jahre seine wissenschaftstheoretische Position. Nun versuchte er, Gesellschaft, Wirtschaft, Ideologie und politisches System als Einheit zu begreifen, „als Dialektik von Konsens, der Basis für Dauerhaftigkeit, und 129 IIn memoriam Konflikt, der Notwendigkeit von Veränderung.“ 15 Dies war ein entscheidender Schritt auf dem Wege zur gesamtgesellschaftlichen Analyse. „Rosenberg begann, Fraenkel zu verdrängen.“ 16 Aber noch hatte er den Rubikon nicht überschritten. Der grundlegende Paradigmenwechsel vollzog sich erst Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre. Entscheidend dafür waren seine Erfahrungen als Ordinarius für Außenpolitik am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin seit 1964. Um deren Studium theoretisch zu fundieren, machte sich Ziebura wiederum auf die Suche nach neuen Wegen. Die damals aus den USA kommenden Theorien der internationalen Politik interessierten ihn wenig. Er fand sie oberflächlich und positivistisch. Sie legitimierten in seiner Sichtweise lediglich bestehende Herrschaftsverhältnisse, statt diese kritisch zu hinterfragen. Den Neo-Marxismus, der Ende der sechziger Jahre im Gefolge der Studentenrevolte am Otto-Suhr-Institut en vogue war, fand er zu deterministisch und dogmatisch. Stattdessen beschäftigte er sich mit Ansätzen, die sich mit dem Zusammenhang von Gesellschaftssystem und Außenpolitik befassten. Unter diesen begeisterte ihn der Ansatz des linksliberalen Historikers Eckard Kehr. In seinen Arbeiten über den deutschen Imperialismus vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich dieser schon in den zwanziger Jahren mit dem Einfluss innergesellschaftlicher Faktoren auf die Außenpolitik des Kaiserreiches beschäftigt. 17 Ziebura war hell begeistert von dessen Ideen. In seinen Augen bewies Kehr, „wie fruchtbar der Rückgriff auf einen flexibel und intelligent eingesetzten Historischen Materialismus als Forschungsmethode sein konnte, der mit dem vorherrschenden vulgärmarxistischen [ ] Dogmatismus nichts zu tun hatte.“ 18 So orientierte sich auch Ziebura ab Ende der sechziger Jahre methodologisch am Historischen Materialismus, wurde aber nie Marxist, sondern entwickelte einen eigenen Ansatz, der Politik und Gesellschaftssystem eng miteinander verknüpfte, ohne in ökonomischen Determinismus zu verfallen. Rosenberg hatte endgültig über Fraenkel gesiegt. Eine wichtige Rolle bei dem theoretisch-methodologischen Reorientierungsprozess spielten die Theorie- und Methodendiskussionen mit den Mitarbeitern zweier Forschungsprojekte, die Ziebura leitete. Das erste Projekt befasste sich seit 1963 am Institut für Politische Wissenschaft, einem Forschungsinstitut der FU Berlin, mit dem Zusammenbruch des Versailler Systems angesichts der Remilitarisierung des Rheinlandes im März 1936. Bei diesem ging es ursprünglich um „Grundfragen demokratischer und totalitärer Außenpolitik“ durch einen Vergleich des außenpolitischen Handelns der damaligen europäischen Großmächte Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien in den 30er Jahren. Dessen Antriebskräfte wurden sowohl in den Herrschaftssystemen als auch in den internationalen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen gesucht. Im Verlaufe der Forschungsarbeiten verlagerte sich jedoch das Erkenntnisinteresse immer mehr auf die externen Bestimmungsfaktoren außen- und wirtschaftspolitischer Entscheidungen seit der großen Krise des Weltwirtschaftssystems von 1929. Nun ging es um die Interdependenz von Gesellschaftssystem, internationaler Verflechtung und außenpolitischem Handeln. Die einzelnen Länderstudien wurden zwar nicht von Ziebura zu einem 130 IIn memoriam Abschlussbericht zusammengefasst, sie dienten ihm jedoch zehn Jahre später als Grundlage für seine Arbeit Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/ 24-1931. 19 Das zweite Projekt war am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin angesiedelt. Es diente der Vorbereitung eines Antrages auf Einrichtung eines Sonderforschungsbereichs über „Bestimmungsfaktoren der Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“. In diesem sollten die von Ziebura und seinen Mitarbeitern entwickelten Fragestellungen theoretisch weiter entwickelt und empirisch überprüft werden. In einem langen, intensiven Reflexions- und Diskussionsprozess, an dem sich sowohl Marxisten als auch Nichtmarxisten beteiligten, entstand ein theoretisches Konzept, das in bewusster Abgrenzung von amerikanischen Ansätzen die weltgesellschaftlichen Machtverhältnisse, etwa in Gestalt der ungleichen, „gestuften“ internationalen Arbeitsteilung und der sich daraus ergebenden Interdependenz- und Dependenzverhältnisse, als entscheidende Determinante außenpolitischen Verhaltens in den Vordergrund stellte. Der SFB sollte so einen Beitrag zur Erarbeitung einer Theorie der Weltgesellschaft leisten. 20 Mit dieser Zielsetzung verstieß das Vorhaben gegen das damals im Kuratorium der FU vorherrschende Politik- und Wissenschaftsverständnis und wurde von dessen Vertretern abgelehnt. Wenngleich es daher nicht verwirklicht werden konnte, so hat es doch das wissenschaftliche Denken Zieburas nachhaltig geprägt und damit zu dessen theoretisch-methodologischer Entwicklung entscheidend beigetragen. Der sich seit Mitte der 60er Jahre anbahnende Paradigmenwechsel schlug sich auch in Zieburas Frankreichforschung nieder. 21 In seinem noch vor 1969 geschriebenen Essay über die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945 kombinierte er politische Beziehungsgeschichte mit Wirtschaftsgeschichte, untersuchte aber nicht die politischen und sozialen Vermittlungsprozesse zwischen beiden. So erscheinen die deutsch-französischen Beziehungen trotz wachsender wirtschaftlicher Verflechtung noch primär als Werk politischer Akteure, der Elyséevertrag vor allem als Ergebnis der Verständigung von de Gaulle und Adenauer. 22 In seiner zwischen 1968 und 1970 verfassten Untersuchung der internen Faktoren des französischen Hochimperialismus der Jahre 1871-1914 bemühte sich Ziebura dagegen um eine gesamtgesellschaftliche Analyse. Er kam dabei zu dem Ergebnis, dass dieser primär von politischen und nicht von ökonomischen Antriebsfaktoren getragen wurde. Eine „strategische Clique“ aus Politikern, Publizisten und Ideologen habe die Kolonialexpansion als ein Mittel betrachtet, die innere Schwäche der französischen Gesellschaft auszugleichen und so in der europäischen Machtkonkurrenz, insbesondere mit Großbritannien und Deutschland, bestehen zu können. In den Augen ihrer Protagonisten sei sie ein Heilmittel gegen inneren Verfall und Fäulnis gewesen. Damit widerlegte Ziebura die klassischen ökonomischen Imperialismustheorien im Falle Frankreichs, obwohl auch er die ökonomischen Antriebskräfte als wichtig betrachtete. 23 In der gemeinsam mit seinem Schüler Heinz-Gerhard Haupt 1975 herausgegebenen Aufsatzsammlung Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich seit 1789 24 präzisierte er seinen gesamtgesellschaftlichen Ansatz. Sie enthielt wichtige 131 IIn memoriam Forschungsergebnisse französischer Historiker, vor allem der Annales-Schule, um damit die methodologischen und theoretischen Auseinandersetzungen innerhalb der französischen Geschichtswissenschaft dem deutschen Fachpublikum zugänglich zu machen. Die Textauswahl beruhte auf der Überzeugung, „daß eine Geschichte von Wirtschaft und Gesellschaft, die ihrem Anspruch gerecht werden soll, zwangsläufig Totalgeschichte sein muß, da Gesellschaft nur als integrale und integrierte Summe aller ihrer [ ] Segmente denkbar ist. Nur diese umfassende Vision erlaubt den Zugang zu dem, was man sehr wohl das ‚Bewegungsgesetz‘ einer Gesellschaft nennen kann, d.h. die ihr eigentümlichen inneren Strukturen und deren langzeitliche Entwicklungsmodalitäten.“ 25 Ziebura begründete diese Überzeugung mit dem Argument, das zentrale Merkmal moderner, d.h. durch die verschiedenen Etappen der Industrialisierung geprägten Gesellschaften sei die fortschreitende Interdependenz aller Lebensbereiche. Diese ließe sich nur durch einen interdisziplinären Zugang erfassen. Methodologisch legte er sich weder auf einen dialektisch-materialistischen noch auf einen strukturgeschichtlichen Ansatz fest. Entscheidend sei „der von Strukturhistorikern wie von Marxisten geführte „Kampf gegen die sachlich und theoretisch widersinnige Fraktionierung von Realitäten“. 26 Die Suche nach dem ‚Bewegungsgesetz‘ einer Gesellschaft war gewiss das Ergebnis rationalen wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens, sie hatte aber auch eine religiöse Antriebskraft, die sich aus Zieburas Sozialisation ergab, die ihm schon früh den Glauben an eine allumfassende Urkraft vermittelte. Allerdings suchte er sie in der Politik nicht hoch im Himmel, sondern tief in der Gesellschaft. Zieburas theoretisch-methodologischer Wandel seit Mitte der 60er Jahre war eingebettet in sein Engagement für eine demokratische Reform von Staat und Gesellschaft, insbesondere der Universität, für eine Intensivierung der deutschfranzösischen Beziehungen und der europäischen Integration, für die Emanzipation der ‚Dritten Welt‘ sowie gegen den amerikanischen Vietnamkrieg. 27 Dies führte zusammen mit seinem Paradigmenwechsel zum Bruch mit seinem akademischen Lehrer Ernst Fraenkel, zum Zerwürfnis mit seinem langjährigen französischen Ansprechpartner Alfred Grosser und zur Entfremdung von seinen Fachkollegen. Es wurde einsam um ihn. Er verließ daher Berlin und zog zunächst an die Universität Konstanz, dann an die Universität Braunschweig. Dort beschäftigte er sich primär mit Weltpolitik. Außer zahlreichen Artikeln zeugen davon vor allem seine Monographie Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/ 24-1931. 28 Er blieb aber auch seiner alten Liebe, Frankreich und den deutsch-französischen Beziehungen, treu. So verfasste er eine Arbeit über die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich nach 1789 und überarbeitete und aktualisierte seinen Essay von 1970 über die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. 29 Allerdings konnte er sich nicht aufraffen, eine seit langer Zeit von ihm erwartete Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen seit 1870/ 71 zu schreiben. Er hatte das Zeug dazu. Es hätte die Krönung seines Lebenswerkes werden können. In seiner 1979 erschienenen Arbeit über die gesellschaftliche Entwicklung Frankreichs zwischen 1789 und 1870 präzisierte er in kritischer Auseinanderset- 132 IIn memoriam zung mit der von französischen Neomarxisten heftig geführten Debatte über den Begriff „Gesellschaftsformation“ seinen eigenen gesamtgesellschaftlichen Ansatz. Er wollte mit diesem „sowohl eine den Blick verengende strukturalistisch-deterministische wie eine an der Oberfläche der Phänomene verharrende positivistische Betrachtungsweise überwinden“. 30 Zentral in diesem war die These, dass die in einer Gesellschaftsformation vorherrschenden Widersprüche als treibende Kraft ihrer Entwicklung in dem durchaus variierenden Zusammenspiel der verschiedenen „Instanzen“ gesucht werden müsste, vornehmlich auf der Ebene der sozialen Verhältnisse als der entscheidenden Vermittlungsebene zwischen Ökonomie und Politik. 31 Ziebura beabsichtigte, auf der Grundlage dieser Konzeption eine Geschichte Frankreichs seit 1789 in drei Bänden zu schreiben. Erschienen ist jedoch nur der erste Band. Er wurde in der Fachwelt heftig kritisiert, in diskreter Form auch von Hans Rosenberg. Besonders dessen kritische Anmerkungen haben Ziebura hart getroffen. Trotzdem wollte er an dem Projekt festhalten. Da er die erforderliche Arbeit aufgrund seiner zahlreichen akademischen Verpflichtungen alleine nicht bewältigen konnte, suchte er einen kompetenten Mitarbeiter. Da er ihn nicht fand, schrieb er mehrere Aufsätze über den Themenbereich. Aus dem Scheitern seines Vorhabens zog er den Schluss, dass er mit seinem hohen theoretischen Anspruch in eine Sackgasse geraten sei. Um aus dieser herauszukommen, vermied er in Zukunft umfassende Großbegriffe, hielt aber an seinem gesamtgesellschaftlichen Anspruch fest. 32 Zieburas Weg von der Institutionenlehre zur Gesellschaftsanalyse war keineswegs so geradlinig, wie es rückblickend erscheinen mag. Gerade in der Übergangsphase Mitte der sechziger bis Anfang der siebziger Jahre hat er hart mit sich gerungen. Er beschäftigte sich kurzfristig mal mit dieser, mal mit jener Theorie, um sie dann jeweils schnell wieder zu verwerfen. Dies machte die Zusammenarbeit mit ihm nicht ganz einfach. Trotzdem hat er nachhaltige Spuren sowohl in der Frankreichforschung als auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Weltpolitik hinterlassen. Zur Bildung einer eigenen Schule ist es jedoch nicht gekommen. Zieburas wissenschaftlicher Werdegang war das Ergebnis einer permanenten Suche nach Erkenntnis, bei der Zufälle (Rosenbergs Gastprofessur, Frankreichkontakte), Zwänge (Lehr- und Publikationsverpflichtungen), Chancen (Frankreichaufenthalt und Forschungsprojekte) und Zeitumstände (Studentenrevolte, Theoriedebatten) eine wichtige Rolle gespielt haben. Aber letztlich zu verstehen ist er nur vor dem Hintergrund seiner Jugend im NS-Regime und des radikalen Bruches mit diesem 1944/ 46. Dabei brach er auch mit der Welt seines Elternhauses, hielt aber an seinem katholischen Glauben fest. Gesprochen hat er darüber mit seinen Mitarbeitern kaum. 33 Die radikale Ablehnung des Nationalstaates, die Hinwendung zu Frankreich und Europa, das Ringen um eine Vision, die Suche nach den „Dingen hinter den Dingen“, nach dem „Bewegungsgesetz“ der Gesellschaft, die Beschäftigung mit der Internationalisierung des Kapitals (Globalisierung) und der 133 IIn memoriam Weltpolitik waren Folgen dieses radikalen Bruchs. Öffentlich auseinandergesetzt hat er sich mit ihm erst im Alter. Er selbst war am Ende seines Schaffens fest überzeugt, ein Linksliberaler zu sein. 34 Aufgrund der zentralen Rolle, die der Katholizismus trotz seiner Entfremdung von der Amtskirche auf seine Persönlichkeitsstruktur ausgeübt hat, scheint die Charakterisierung als säkularer Linkskatholik treffender. 1 Cf. Schriftenverzeichnis, in: Hartmut Elsenhans et al. (ed.), Frankreich-Europa-Weltpolitik. Festschrift für Gilbert Ziebura, Opladen 1989, 559sqq. sowie www.gilbertziebura. de/ publikationen.html. 2 Cf. Gilbert Ziebura, Kritik der „Realpolitik“. Genese einer linksliberalen Vision der Weltgesellschaft. Autobiographie, Berlin 2009, 3-163. Fortan zitiert als Autobiographie. 3 Cf. Gerhard A. Ritter, Hans Herzfeld. Persönlichkeit und Werk, Berlin 1983. 4 Cf. Hans-Ulrich Wehler (ed.): Sozialgeschichte heute. Festschrift für Hans Rosenberg. Göttingen, 1974, Einleitung. 5 Gilbert Ziebura, Die Deutsche Frage in der Öffentlichen Meinung Frankreichs 1911- 1914, Berlin 1955. 6 Id., Autobiographie, 116. 7 Cf. ibid., 117-131. 8 Cf. ibid., 131sq. 9 Cf. Franz L. Neumann: Die Wissenschaft der Politik in der Demokratie, in: Schriftenreihe der deutschen Hochschule für Politik, Bd.1, Berlin 1950. 10 Cf. Hubertus Buchstein (ed.), Vom Sozialismus zum Pluralismus. Beiträge zu Werk und Leben Ernst Fraenkels, Baden-Baden 2000. 11 Gilbert Ziebura, Autobiographie, 138. 12 Ibid., 139sq. 13 Das französische Regierungssystem. Leitfaden, Quellenbuch, Köln und Opladen 1956 (Die Wissenschaft von der Politik; 3). 14 Gilbert Ziebura, Léon Blum. Theorie und Praxis einer sozialistischen Politik, Bd. 1: 1872- 1934, Berlin 1963. 15 Id., Autobiographie, 150. 16 Ibid. 17 Eckard Kehr, Schlachtflottenbau und Parteipolitik 1894-1901. Versuch eines Querschnitts durch die innenpolitischen, sozialen und ideologischen Voraussetzungen des deutschen Imperialismus, Berlin 1930 sowie id., Englandhaß und Weltpolitik. Eine Studie über die innenpolitischen und sozialen Grundlagen der deutschen Außenpolitik um die Jahrhundertwende, Berlin 1928. Abgedruckt in: Hans-Ulrich Wehler (ed.), Der Primat der Innenpolitik: Gesammelte Aufsätze zur preußisch-deutschen Sozialgeschichte im 19. u. 20. Jahrhundert, Berlin 1965, 149-175. 18 Gilbert Ziebura, Autobiographie, 244. 19 Id., Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/ 24-1931. Zwischen Rekonstruktion und Zusammenbruch, Frankfurt/ M. 1984 (Neue Historische Bibliothek. Es 1261). 20 Gilbert Ziebura, Franz Ansprenger, Gerhard Kiersch, Bestimmungsfaktoren der Außenpolitik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Forschungsstrategie und -programm eines Sonderforschungsbereichs, Berlin 1974 (Schriften des Fachbereichs Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin, Bd. 4). 21 Hans Manfred Bock, „Zur Konstituierung der sozialwissenschaftlichen Frankreich-Forschung in Deutschland“, in: Lothar Albertin et al. (ed.), Frankreich-Jahrbuch 1990, Opladen 1990, 223-234. Hans Manfred Bock, Adolf Kimmel, Henrik Uterwedde, Vom politi- 134 IIn memoriam schen System zur bürgerlichen Gesellschaftsformation. Gilbert Zieburas Beitrag zur Konstituierung der sozialwissenschaftlichen Frankreichforschung in der Bundesrepublik, in: Gilbert Ziebura, Frankreich, Geschichte, Gesellschaft, Politik. Ausgewählte Aufsätze, ed. Adolf Kimmel, Opladen 2003, 325-338. Adolf Kimmel, Gilbert Ziebura: seine Bedeutung für die deutsche sozialwissenschaftliche Frankreichforschung und seine Rolle in den zivilgesellschaftlichen deutsch-französischen Beziehungen, in: François Beilecke, Katja Marmetschke (ed.), Der Intellektuelle und der Mandarin. Für Hans Manfred Bock, Kassel 2005, 461-479. 22 Gilbert Ziebura, Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten, Pfullingen 1970. 23 Id., „Interne Faktoren des französischen Hochimperialismus 1871-1914. Versuch einer gesamtgesellschaftlichen Analyse“, in: Wolfgang J. Mommsen (ed.), Der moderne Imperialismus, Stuttgart 1971, 85-139. 24 Id. (ed.), Wirtschaft und Gesellschaft in Frankreich seit 1789, Gütersloh 1975 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek Geschichte). 25 Ibid., 11. 26 Ibid. 27 Cf. Gilbert Ziebura, Autobiographie, 163-273 28 Id., Weltwirtschaft und Weltpolitik 1922/ 24-1931. Zwischen Rekonstruktion und Zusammenbruch, Frankfurt/ M. 1984. 29 Id., Die deutsch-französischen Beziehungen seit 1945. Mythen und Realitäten. Überarbeitete und aktualisierte Neuausgabe, Stuttgart 1997. 30 Id., Frankreich 1789-1870. Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaftsformation, Frankfurt/ New York 1979, Einleitung, 22sqq. 31 Ibid. 32 Gilbert Ziebura, Autobiographie, 290. 33 Der Autor dieses Beitrages kannte ihn seit seinem Studium an der Deutschen Hochschule für Politik in den Jahren 1954-1958 sowie als sein Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft sowie am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität in den Jahren 1963-1974. 34 Cf. Gilbert Ziebura, Autobiographie, 387sqq. 135 Comptes rendus AURÉLIE BARJONET: ZOLA D’OUEST EN EST. LE NATURALISME EN FRANCE ET DANS LES DEUX ALLEMAGNES, RENNES, PRESSES UNIVER- SITAIRES, 2010, 282 P. Aurélie Barjonet widmet sich in ihrer Bestandsaufnahme der Zola-Rezeption nach Ende des Zweiten Weltkrieges zwei Vermittlungswegen und damit zwei Transpositionsleistungen. Ein Strang befasst sich mit dem gegenseitigen Austausch der deutsch-französischen Forschung und insofern einem interkulturellen Transfer, den Übersetzung und Rezeption zu leisten imstande sind. Der andere Schwerpunkt zielt auf die ideologisch buchstäblich ‚vermauerte‘ Gegenüberstellung ost- und westdeutscher Lektüren in Zeiten des Kalten Krieges. Durch die Editionsarbeit von Rita Schober, deren Neuübersetzung bzw. Herausgabe des Rougon-Macquart-Zyklus bei Rütten & Loening zwischen 1952 und 1976 in dieser Untersuchung im Mittelpunkt steht, stellt sich, so die These Barjonets, eine Revision dieses lange sowohl in Frankreich als auch im geteilten Deutschland verkannten Naturalisten ein. Die Arbeit von Barjonet leistet somit die geistesgeschichtliche Zusammenschau einer prekären Periode: Die Philologien Frankreichs, der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik befinden sich dabei offensichtlich im Stadium des Übergangs. Der etwas wehmütig anmutende Verweis auf eine Zeit des Forschens, in der politische „questions fondamentales“ (257) weiterhin zu intellektuellen Grabenkämpfen führen konnten, mit dem Barjonet ihre Studie schließt, sollte dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Autorin ihrerseits die Untersuchung auch auf den ganz wesentlichen Impulsen theorieorientierter, textimmanenter Relektüren Zolas aufbaut - obwohl diese im Zeichen einer ‚entpolitisierten‘ Nachkriegs-Philologie zu operieren scheinen. Man darf ihrer Herangehensweise daher ein wesentliches Maß an Objektivität bescheinigen, das sich nicht zuletzt in der gewissenhaften Durchsicht zahlreicher Forschungsbeiträge und Dokumente niederschlägt. Mittels der sorgsam aufgearbeiteten Detailbetrachtung (etwa gängiger ‚Zola-Klischees‘) gelingt eine Ausarbeitung der Frage, wie es zwischen 1945 und 1978 zu jener von Rita Schober mitgetragenen, markanten Rehabilitation Zolas - vom enfant terrible zum Klassiker der französischen Literatur - kommen konnte. Zu den besonders lohnenden Ergebnissen der Studie gehört darüber hinaus ein von der Rezeptionsforschung ausgehender Überblick über die intellektuellen Zäsuren romanistischer Forschung nach 1945, 1968 und 1990. Die Untersuchung, die auf einer gekürzten Fassung der 2007 verteidigten Dissertationsschrift Barjonets basiert, ist in vier große Blöcke unterteilt: Im ersten Kapitel, „Zola au lendemain de la Seconde Guerre mondiale: Un patrimoine démocratique“, lässt Barjonet eine Phase Revue passieren, in der zuerst entweder das intellektuelle Engagement des Dreyfus-Verteidigers Zola (u.a. von Jean-Paul Sartre) gegen den faschistischen Antisemitismus ins Feld getragen oder aber der Naturalismus als formbesessener, unpolitischer Utopismus verkannt wird. Die Literaturwissenschaft Ostdeutschlands wird zu dieser Zeit bereits von staatlicher Zen- 136 Comptes rendus sur kontrolliert (cf. 38-52), im Westen wird sie durch den Einfluss französischer Theorie in eine neue Richtung gelenkt. Im Gedenkjahr 1952, fünfzig Jahre nach dem Tod des Romanciers, beginnt in dessen Mutterland schließlich eine neue Auseinandersetzung mit dem scheinbar ‚obszönen‘ Naturalisten. Als „créateur de mythes“ (59) und insofern überzeitlicher Modelle werden Zola und seine Literatur ‚aktualisierbar‘: Vielfach nimmt man dazu eine „parenté d’époque“ (Maurice Druon, zit. 65) an, die sich noch bis zu Rita Schobers Vergleich der westdeutschen Adenauer-Ära und dem Second Empire erstrecken wird (cf. 245); parallel führen die narratologischen Experimente des nouveau roman und das ‚naturalistische‘ Comeback in Form der Filmkunst zu einer neuen Bewertung realistisch-naturalistischen Erzählens insgesamt. Als Meilenstein in der französischen Zola-Forschung gilt „La Terre“ d’Émile Zola von Guy Roberts (1952), der zum ersten Mal in Form eines close reading Struktur und Textualität des Romans über dessen offensichtliche Botschaft stellt (cf. 66). Jean Fréville dagegen trägt zur Rehabilitation Zolas aus marxistischer Perspektive bei (Zola semeur d’orages, 1952), wenn er dessen sozialen Messianismus zum politischen Engagement erklärt. In der DDR avanciert Zola zeitgleich zum Gesellschaftskritiker par excellence (cf. 77), dessen Literatur jedoch im Zuge dessen einseitig als Dokumentation bürgerlicher Dekadenz, eines „déclin de la bourgeoisie“ (ibid.) und Aufstiegs des kämpfenden Proletariats „instrumentalisiert“ (ibid.) wird. Im zweiten - „Du ‚mauvais réaliste‘ au ‚réaliste malgré lui‘ (RDA, 1949-1956)“ - und dritten Kapitel - „La réhabilitation de Zola en ‚novateur‘ (RDA, 1956-1978)“ - steht folglich der ambivalente Status Zolas in der DDR zur Debatte: Barjonet vollzieht dazu den akademischen Werdegang Rita Schobers nach, die sich als Schülerin von Victor Klemperer auf dessen Hinweis hin in ihrer Habilitationsschrift (Émile Zolas Theorie des naturalistischen Romans und das Problem des Realismus, 1954) mit Zolas Ästhetik auseinanderzusetzen begann. Stark geprägt von der Ablehnung Engels’ (cf. den Brief an Miss Harkness, 1888, zit. 18) und vom Diktum Georg Lukács’, dass die Klassenlosigkeit Balzacs dem Reformismus Zolas vorzuziehen sei, geht sie dabei zunächst von der Annahme eines problematischen Naturalismus aus (cf. Kap. „Le problème du naturalisme“, 20-26). Erst über die stärker stilistisch orientierte detaillierte Lektüre einzelner Texte ‚rehabilitiert‘ Schober Zola auch gegen Lukács als „réaliste malgré lui“, der die Epoche des Second Empire ‚wahrheitsgetreu‘ zu dokumentieren verstand (109-113). Trotz einiger Längen, was die akademische Filiation der ostdeutschen Forscherin angeht, beleuchten diese beiden Kapitel in eindrücklicher Weise auch den „autokritischen“ (123) Umschwung von der Parteisprecherin zur heterodoxen Romanistin Schober, die der literarischen Form der Texte Zolas schließlich gegen den sozialistischen Formalismus-Vorwurf vermehrt Rechnung zollt. Dazu tragen in nicht geringem Maße die von Barjonet mit Schober geführten Interviews aus den Jahren 2001/ 2002 und die Sichtung privater Dokumente bei. Auch die editionsgeschichtlich interessanten Entwicklungsschritte Schobers sind wirkungsvoll in dieser Geschichte einer Autokritik platziert: die sozialistisch motivierten Gründe aus dem 137 Comptes rendus Jahr 1952 für und gegen die Publikation einzelner Werke aus den Rougon-Macquart (gegen Le Ventre de Paris sprechen etwa „les descriptions selon le principe naturaliste“, 121, gegen La Curée die exuberante Betonung des Inzests, 120) sowie Schobers eigene Revision aus dem Jahr 1993 gegen ihre „égarements idéologiques de jeunesse“ (zitiert nach Barjonets Übersetzung, 122). Sie münden schließlich ein in die neuen Nachworte, die für die Neuauflagen der Übersetzungen von Schober verfasst worden sind (so z.B. für La Curée im Jahr 1974). Um Zola als „novateur“ in der Beschreibung sozialer Zusammenhänge zu rehabilitieren, konzentriert sich Schober als eine der ersten in der Folge auf Leitmotive und symbolisch-allegorische Elemente seiner Texte. Bereits 1956 wird die nun unselegierte Gesamtausgabe der Rougon-Macquart beschlossen. In der Auseinandersetzung mit Le Docteur Pascal vollzieht Schober endgültig den Wandel zu einer größeren Hochschätzung für den literarisch tiefgründigen Zola, den sie fortan über den vordergründig politischen stellt. Und über die Linie Zola - Lukács - Schober - Barjonet wird zuletzt eine Serie von nur historisch denkbaren Rekontextualisierungen sichtbar, die Interpretation und „situation de réception“ (172) zusammenschließt. Es folgt schließlich im vierten Kapitel der komparatistische Blick auf die Rezeption Zolas in Frankreich, BRD und DDR: „Étude croisée des deux réceptions allemandes et de la réception française (1949-1978)“. Hier werden quantitativ und qualitativ einzelne Publikationen und mediale Organe dokumentiert und verglichen, um schließlich mit der auf beiden Seiten der Mauer einsetzenden Rezeption der 1976 abgeschlossenen Werkausgabe unter Federführung Rita Schobers zu enden. Die Wiederentdeckung des episch-poetisch-lyrischen Zola im Zuge der „mythocritique“ (cf. Gaston Bachelard, Gilbert Durand, Jean Borie), die Revalorisierung seiner Symbolwelten (cf. Gilles Deleuze, Roland Barthes, Michel Butor) und die narratologische Erforschung (Philippe Hamon) führen letztlich in Frankreich zur lange aufgeschobenen „Institutionalisierung“ Zolas als Klassiker (196). Die Aufnahme der Rougon-Macquart in die Pléiade-Ausgabe bei Gallimard (1960-67) beschließt diese Entwicklung. In Deutschland verleihen Hans-Jörg Neuschäfer (Populärromane im 19. Jahrhundert von Dumas bis Zola, 1976) und Hans Ulrich Gumbrecht (Zola im historischen Kontext: Für eine neue Lektüre des „Rougon- Macquart“-Zyklus, 1978) Zola ein neues Gesicht: Seine Texte werden zunehmend als Auseinandersetzung mit modernen Mythemen der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft - dem „Dieu Capital“ (213) und seinen Figurationen in den Pariser Markthallen, der Mine, der Börse - verstanden, und schließlich von Gumbrecht diskursanalytisch gebündelt. Die sozialen Metaphern gewinnen dabei die Überhand über den vielfach kritisierten naturalistischen Pseudo-Szientismus der „hérédité“ (cf. 221). „La thèse des deux Zola“ (26), die über Jahre die Rezeption dominierte und ihn entweder als Schriftsteller oder als Stimme politischen Engagements verstanden wissen wollte, wird ausdifferenziert: Auch die scheinbar ahistorischen mythischen Elemente der Texte Zolas, gegen die sich insbesondere die ostdeutsche Romanistik lange wehrte (cf. 132), können so integriert werden in 138 Comptes rendus eine diskursanalytische Betrachtung, die den Blick auf die Darstellung und Symbolisierung einer konfliktreichen société wendet (cf. dazu aktuell den Band Von der Dekadenz zu den neuen Lebensdiskursen. Die französische Literatur und Kultur zwischen Sedan und Vichy, hrsg. v. Dietrich Scholler u. Stephan Leopold, München, Fink, 2010). Im Übergang von der Soziozur Mythokritik und deren Durchgang durch den strukturalistischen ‚Mut zum Formalismus‘, der in den Analysen Roland Barthes’ und Philippe Hamons zum Tragen kommt, zeigt Barjonet die Rezeptionsgeschichte Zolas als Abschied vom naiven Historismus: Die Autokritik Schobers dient dabei als Spiegel, wenn - wie Barjonet mit Verweis auf die neuere Forschung zeigt - nicht nur die Werke Zolas, sondern auch deren Lektüre diskursanalytisch neu ‚historisiert‘ werden können. Karin Peters (Mainz) —————————————————— STEPHAN LEOPOLD & DIETRICH SCHOLLER (ED.): VON DER DEKADENZ ZU DEN NEUEN LEBENSDISKURSEN. FRANZÖSISCHE LITERATUR UND KUL- TUR ZWISCHEN SEDAN UND VICHY, MÜNCHEN, WILHELM FINK, 2010, 358 P. Cet ouvrage collectif est né d’une section organisée par les éditeurs en 2008 au Congrès des Francoromanistes. Il est porté par une démarche historique d’un grand intérêt et s’appuye sur un postulat que S. Leopold expose en introduction. La France de la fin du XIX e siècle est marquée par une profonde remise en cause: nouvelle conception de l’homme (Darwin), nouvelles idées économiques (Marx & Engels), religion fragilisée par la science, défaite contre la Prusse. Au-delà de leurs différences, le naturalisme et la décadence se font l’écho de tous ces bouleversements et se retrouvent dans un discours marqué par l’idée de la chute, de la mort et de la dégénérescence. C’est avec la III e République que se met en place un discours de régénération qui n’est ni uniforme et ni exclusivement politique. À un discours de la nausée succède donc un discours du salut. 1 L’originalité du volume est d’étendre ce postulat jusqu’à l’époque de Vichy, de suivre les discours de régénération de l’après-Sedan jusqu’à la Seconde Guerre mondiale. Cette proposition néglige forcément l’importance de la Première Guerre mondiale, des figures ou des mouvements artistiques dominants au profit d’autres, et remet quelque peu en cause les découpages chronologiques en vigueur (voir aussi la dissociation réalisme-naturalisme à laquelle l’auteur de l’introduction souhaite retourner, 11). 1 Je joue sur le titre de l’ouvrage de Jean Borie, Zola et les mythes, ou de la nausée au salut, Paris, Seuil, 1971. 139 Comptes rendus La littérature et l’histoire des idées sont approchées par le biais de la pensée foucaldienne. J’y vois un élargissement d’une tendance que j’ai analysée ailleurs et qui s’appliquait aux études ouest-allemandes, puis allemandes, sur Zola et le naturalisme. 2 Dépolitisée jusque dans les années 1970, la recherche ouest-allemande évolue après 1968. La recherche zolienne est emblématique de cette évolution. Conformément à l’appréciation de Rita Schober, grande médiatrice de Zola en RDA mais aussi dans l’ensemble du monde germanophone par son édition allemande des Rougon-Macquart, Hans-Jörg Neuschäfer (1976) et Hans Ulrich Gumbrecht (1978) donnent un nouveau souffle à cet auteur jusque-là négligé. Le premier a réévalué le chef naturaliste dans le cadre de sa réhabilitation de la littérature populaire, le second en proposant une lecture historique des Rougon- Macquart inspirée du Foucault des Mots et des choses. À cette époque, Foucault permettait en RFA d’échapper à l’immanence structuraliste et d’aborder l’œuvre historique sous un angle historique et épistémologique qui n’était pas marxiste. Plus tard, Rainer Warning, disciple de Jauß comme le furent Neuschäfer et Gumbrecht, poursuivit cette lecture foucaldienne de Zola et nous retrouvons un certain nombre de ses disciples dans ce volume. 3 Mais le volume n’est pas consacré à Zola auquel sont dédiés tout de même explicitement trois articles sur quinze. À la pensée foucaldienne (élargie par rapport à Gumbrecht) viennent de surcroît s’ajouter l’approche intermédiatique et l’approche genrée. Ainsi, les lectures sont littéraires mais aussi historiques, épistémologiques et politiques. C’est en effet en croisant les angles théoriques que peut se renouveler le regard sur la fin du XIX e siècle. L’introduction offre d’ores et déjà un exemple de ce nouveau regard. S. Leopold rapproche la littérature décadente et naturaliste dans leur répugnance de la féminité qu’il lit comme le symptôme d’une société qui a perdu sa figure paternelle (14) - expliquant ainsi l’illustration retenue pour la couverture (La Tentation de saint Antoine de Rops, 1878). Les contributions sont organisées en quatre grands ensembles. Le premier intitulé „Discours, perception, pratiques corporelles“ se penche par deux fois sur Zola, Eva Siebenborn pour étudier des métaphores de „combustion vitaliste“ dans deux 2 Aurélie Barjonet, „Zola, die Wissenschaft und die deutsche Literaturwissenschaft“, in: Thomas Klinkert, Monika Neuhofer (ed.), Literatur, Wissenschaft und Wissen seit der Epochenschwelle um 1800. Theorie - Epistemologie - komparatistische Fallstudien, Berlin/ New York, De Gruyter, 2008, 191-216. 3 Les récents ouvrages allemands d’inspiration foucaldienne et qui se penchent sur le réalisme-naturalisme et la science sont ceux d’Elke Kaiser (Wissen und Erzählen bei Zola: Wirklichkeitsmodellierung in den „Rougon-Macquart”, Tübingen, Narr, 1990), Thomas Stöber (Vitalistische Energetik und literarische Transgression im französischen Realismus-Naturalismus. Stendhal, Balzac, Flaubert, Zola, Tübingen, Narr, 2006). En Allemagne, le sujet a depuis quelques années le vent en poupe, avec ou sans Foucault: Marc Föcking, Pathologia litteralis. Erzählte Wissenschaft und wissenschaftliches Erzählen im französischen 19. Jahrhundert, Tübingen, Narr, 2002; Niklas Bender, Kampf der Paradigmen: Die Literatur zwischen Geschichte, Biologie und Medizin (Flaubert, Zola, Fontane), Heidelberg, Universitätsverlag Winter, 2009. 140 Comptes rendus Rougon-Macquart (La Bête humaine et Le Docteur Pascal) et un roman de Marcel Batilliat (ami de Zola, mais écrivain de la décadence); Katja Hettich pour étudier comment, dans La Curée, Zola qui - on aurait pu le rappeler - fut chef de la publicité chez Hachette, sait orienter les émotions de ses lecteurs. Ces romans sont bien connus et ont déjà fait l’objet d’un grand nombre de lectures, ce qui explique sûrement le choix d’Eva Siebenborn pour la comparaison. En les mettant en perspective avec Chair Mystique de Bartilliat, elle peut montrer que tandis que chez Zola, discours vitaliste et discours thermodynamique se mêlent pour exprimer des angoisses devant la nouveauté technique et les mystères médicaux, Batilliat décrit positivement la tuberculose, la plaçant dans une lumière cosmique et salutaire. L’analyse de Katja Hettich vient après les travaux de Hans-Jörg Neuschäfer sur la littérature populaire. Les stratégies zoliennes sont subtilement analysées par le biais de la terminologie des études sur le cinéma et de celle de travaux actuels sur les émotions. C’est par ses résultats que cette étude s’inscrit pleinement dans le thème du volume puisque Katja Hettich montre que le „débordement des appétits“ ne caractérise pas seulement les personnages et l’époque des Rougon-Macquart, il fonctionne aussi positivement comme un „substrat vitaliste“ tout en occupant une fonction dramaturgique (81). Les deux autres contributions de cet ensemble sont consacrées à la „pathologisation“ de l’artiste et du cosmos dans Le Sanglot de la terre de Jules Laforgue (Susanne Goumegou) - c’est-à-dire à sa vision de l’époque sous le signe de l’atrophie et de l’hypertrophie - et à des représentations littéraires de danseuses entre 1890 et 1910 (Guy Ducrey). Dans cette étude rédigée en français - la seule du volume - Guy Ducrey distingue trois moments dans la représentation des danseuses: d’abord pleinement associées à la décadence, elles deviennent, par la référence à l’Antiquité grecque, l’„instrument d’un dépassement de la décadence“ (85) pour enfin, au début du XX e siècle, transformer „la danse en lieu de vie libre“ permettant de „congédier radicalement l’imagerie décadente de la chorégraphie“ (85). Initialement avatars de la prostituée, elles se rapprochent donc progressivement et positivement de la sportive. Le deuxième ensemble intitulé „Genre, épistémè et figures du dépassement“ contient encore trois études sur le réalisme-naturalisme (Judith Frömmer, Robert Folger sur Huysmans, Stephan Leopold). Les deux suivantes portent sur André Gide (Angela Oster) et Alfred Jarry (Kurt Hahn). Celles de J. Frömmer et de S. Leopold sont particulièrement ambitieuses car elles couvrent de longues périodes. La première suit l’évolution du mythe du Paradis chez Balzac, Zola et Huysmans en l’occurrence dans leurs descriptions florales. Il s’avère que „derrière les images de fertilité exubérante point [ ] toujours aussi la peur de la stérilité poétique et de la castration artistique. La biopolitique moderne est ainsi entremêlée à une biopoétique spécifique“ (ma traduction, 100). Si cette étude s’attarde sur les faiblesses de Zola (son scientisme est masculin [111], sa métaphore de la serre lourde [112], sa propre myopie unanimement reconnue [118] et son esthétique a bien du mal à dépasser l’ancienne vision de la fleur féminisée réduite à l’ornement [120sq.]), S. Leopold se consacre au Zola des cycles suivant celui 141 Comptes rendus des Rougon-Macquart, au Zola utopiste sur lequel la critique est très mitigée, tant sur le plan littéraire qu’idéologique. Son étude approfondie permet de définir précisément ce „fond idéologique au-dessus des partis qui favorisa le fascisme“, ainsi que le définissait Ulrich Schulz-Buschhaus en 1977. 4 S. Leopold se montre habile à montrer comment s’incarnent littérairement les idées politiques de Zola et les problèmes de l’époque dans Docteur Pascal et Les Quatre Evangiles, recourant à Foucault mais aussi à Bataille. Il reprend ou poursuit également certaines explications psychologisantes ou freudiennes, ainsi l’image du trou qui chez Zola ne serait pas seulement le surgissement de la mort angoissante dans son tableau vitaliste mais la signature d’une écriture consciente de ses lacunes en dépit de ses exigences totalitaires (143) ou le fétichisme naturaliste à l’endroit du sexe féminin (145sq.). Au trou féminin présent dans Les Rougon-Macquart, toujours négativement connoté, se substitueraient des „chronotopes de la surface“ (154) renvoyant à une souveraineté désirée sur le plan politique et auctorial. Le troisième ensemble appelé „Sacrifice, écriture, esquisses de salut“ rassemble des articles consacrés essentiellement au sacrifice présenté comme une nécessité face à l’idéologie fin-de-siècle dans les œuvres et la pensée de Léon Bloy et Paul Claudel (Xuan Jing), Paul Valéry, Paul Claudel, Georges Bataille (Karin Peters) et Maurice Barrès (Dietrich Scholler). La logique globale du volume émerge grâce à un quatrième ensemble consacré à des projets nés sous le signe de l’extrême, de la souveraineté et de la catastrophe. Linda Simonis se penche ainsi sur Charles Péguy, Reinhard Krüger sur Jarry, Apollinaire et Marinetti, Lars Schneider sur Le Corbusier et Jörg Dünne sur Céline. Cet ensemble déborde de l’analyse purement littéraire pour, conformément aux intérêts de Foucault, se pencher sur des aspects techniques et architecturaux. Ce volume d’actes est remarquable par sa cohérence. Il ‚régénère‘ notre vision du XIX e siècle, le projetant sur le XX e . Doté de nombreuses illustrations, cet ouvrage est aussi pourvu d’un précieux index. Aurélie Barjonet (Versailles) 4 „Werte und Ideen [von Zolas Messianismus] [ ] [weisen] frappante Analogien zu jenen Ideologemen [auf], welche die antibürgerliche, ‚sozialistische‘ Komponente des Faschismus ausmachen. Damit soll mitnichten gesagt werden, Zola sei nun als Faschist oder Präfaschist zu entlarven. Gegen solche Einseitigkeit stünden in der Tat einzelne Romane der Rougon-Macquart, allen voran Germinal, die Dreyfus-Kampagne und der Umstand, daß Zolas charakteristischer ‚Racismus‘ nicht eigentlich nationalistisch akzentuiert ist. Dennoch wirken die Analogien aufschlußreich, indem sie einen breiten, ganz und gar überparteilichen ideologischen Fundus sichtbar machen, der den Faschismus begünstigte und den jede ideologiegeschichtliche Beschreibung der faschistischen Epoche in Betracht ziehen müßte“ (Ulrich Schulz-Buschhaus, „Zola, Adorno und die Geschichte der nichtkanonisierten Literatur. Anmerkungen zu H.-J. Neuschäfers Populärromane im 19. Jahrhundert “, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 214/ 1977, 376-388, ici 388). 142 Comptes rendus HORST F. MÜLLER, STUDIEN UND MISZELLEN ZU HENRI BARBUSSE UND SEINER REZEPTION IN DEUTSCHLAND, FRANKFURT AM MAIN [U. A.], LANG, 2010, 287 S. Horst F. Müller ist - ausgewiesen spätestens seit seiner umfassenden Bio-Bibliographie über den Autor 1 - der genaueste Kenner von Henri Barbusse nicht nur in Deutschland. Mit der vorliegenden Sammlung seit den 1980er Jahren entstandener, zur Hälfte bisher unveröffentlichter Arbeiten unternimmt er es auf eine produktive Art, gegen das zunehmende Vergessen dieses Autors in Öffentlichkeit und Wissenschaft anzuschreiben: Er führt und schlägt neue Sichtweisen auf seinen Gegenstand vor, in denen dessen ursprüngliche Weite gegen das ideologisierende Vergessen der späten Nachfahren rekonstruiert wird. Menschen, die als groß galten, müssen ja eine zumindest zeitcharakteristische Spannung aufgebaut und verkörpert haben, die wiedererkannt werden muss, um ihnen gerecht zu werden. Ausgeführt wird, dass die drei überkommenen Vor-Urteile über Barbusse, die das heutige Vergessen begründen, diesen nicht angemessen erfassen. Zum einen besitze sein Roman Le Feu (1916) Größe nicht einfach als der Erfahrung des Ersten Weltkrieges unmittelbar abgezwungenes Zeugnis für das Werden eines militanten Pazifismus: Le Feu sei Weltliteratur wesentlich auch deshalb, weil der Text ohne die Traditionen des Epos, der Vision und des Mythos, die seiner Heldenwie seiner Höllengestaltung eingeschrieben seien, nicht angemessen interpretiert werden könne - das Buch müsse „gegen den blökenden Realismus“ (85) als Text in „naturalistisch-visionärer Schreibweise“ (95) gelesen werden. Le Feu sei des Weiteren nicht begriffen, wenn die „ideologische Widerspruchsstruktur des Textes“ (45) nicht durch dessen Situierung im „historischen Kontext seiner Genesis“ (49), im Rahmen der zeitgenössischen Positionen zum Krieg in Frankreich, verstanden werde - „Barbusse nahm die offizielle Losung vom Befreiungskrieg [gegen den preußischen Imperialismus und Antidemokratismus] so ernst, dass er mit einer gewissen politischen Naivität durch seine literarische Sinngebung des Krieges sowohl die Ideologie des französischen Imperialismus bediente als ihr auch gleichzeitig entgegenarbeitete, indem er gerade jenen Anspruch auf soziale Emanzipation und definitiven Frieden wach hielt, den einzulösen sich die führenden Kreise Frankreichs gar nicht einfallen ließen“ (45, nochmals 55). Das Beschwören Karl Liebknechts in dem Roman wird damit sozialpatriotisch statt präkommunistisch lesbar. Drittens schließlich erklärt Müller den Barbusse der 1920/ 30er Jahre mit seinem Gesundheit und Literatur aufopfernden Engagement gegen den imperialistischen Krieg und für die Sowjetunion, wie Stalin sie damals formte, für unwesentlich - seinem „in völliger Ahnungslosigkeit“ (174) erfolgten Bruch „mit dem ethischen Sozia- 1 Horst F. Müller, Henri Barbusse 1873-1935. Die Werke von und über Barbusse mit besonderer Berücksichtigung der Rezeption in Deutschland, Weimar, VDG, 2003. Cf. zuletzt auch: id., „A propos de Henri Barbusse. Quelques remarques de philologie barbussiste“, in: Lendemains 141/ 2011, 128-131. 143 Comptes rendus lismus“ (159) zugunsten des Kommunismus der III. Internationale solle als bloßem „Abgesang“ (158) viel Aufmerksamkeit nicht mehr gelten. Letzteres, um damit zu beginnen, erscheint mir fragwürdig. Müller widmet diesem Ende zwei Studien zu Entwicklungen und Texten am Anfang dieses kommunistischen Engagements und am Ende dieses Lebens. Die erste beschäftigt sich mit den Überlegungen von Thomas Mann, Curtius und Gide zu Beginn der 1920er Jahre über geistige Grundlagen für eine Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich, die den pazifistischen Internationalismus der von Barbusse beförderten Clarté-Bewegung meidet. Zwar wird darin „die Unzulänglichkeit und Mißlichkeit“ des „kulturkonservativen Humanismus“ im ersten Nachkrieg benannt (168). Aber das Clarté-Bemühen um „eine grundlegende demokratische Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Welt, die die Verhütung künftiger Kriege garantieren sollte“, erscheint dennoch nur als „illusionär“ (165) und „im Grunde doch ephemer“ (168), und der Polemik von Curtius gegen die „völlig blutleer gewordene Schematisierung der Aufklärungs-Ideologien des 18. und 19. Jahrhunderts“ (167) gilt kein nachdenkliches Wort. Die zweite Studie behandelt die Entstehung der 1935 erschienenen Stalin-Biographie von Barbusse. Sie wertet jene unveröffentlichten Briefe von Barbusse an Alfred Kurella aus, die sich in dessen Berliner Nachlass befinden, und präzisiert dessen Anteil am Entstehen des Buches. Ergänzungsbedürftig ist sie aber nicht nur durch die weiteren Teile der Korrespondenz im Pariser Nachlass von Barbusse und im Archiv des Moskauer Akademie-Instituts für Weltliteratur. Unbefriedigend erscheint mir vor allem, dass die Motive für dieses letzte Buch von Barbusse allein in einer persönlichen Schaffenskrise, Eitelkeit und Ehrgeiz ausgemacht werden (cf. 128sq.). Ausführlich referiert Müller das vergebliche Bemühen von Barbusse, aus Moskau unveröffentlichte Dokumente zu erhalten, die es gestatten sollten, den angeblichen Verleumdungen von Stalins Wirken in der westlichen Öffentlichkeit entgegenzutreten, und am Schluss der Studie weist er darauf hin, dass das schließlich geschriebene Buch weder in der Sowjetunion noch später in der DDR den Stalinisten zur Verherrlichung Stalins geeignet schien. Aber er sieht darin nicht Umstände, die der Vermutung einer blassen Lobrede entgegenstehen. Zweifellos - Barbusse erfasste weder seinen Gegenstand noch erreichte er die erhoffte Wirkung. Aber in seinem Bemühen und Scheitern ist die Geschichte der linken Intellektuellen im 20. Jahrhundert zu wichtigen Teilen enthalten - mit tief falschen Solidarisierungen und unhaltbaren Verkündigungen, die jedoch aus ernstzunehmenden Erfahrungen resultierten und immer auch im Lichte der existierenden und denkbaren Alternativen für menschliches Handeln zu beurteilen sind. Als schwankende Schilfrohre im Sinne Pascals (so 128) sind solche denkenden Kämpfer verkannt. Das bleibt zeit-, nicht nur kommunismuskritisch aufzuarbeiten, und Barbusse bleibt dafür eines der wichtigsten Beispiele. Gelten lässt und zur Geltung bringt Müller seinen Autor dagegen als „Rufer, [...] Prophet“ (140) und „visionären Utopisten“ (159) vor dem kommunistischen Engagement. In einer bemerkenswerten Schicht des Buches wird überzeugend und mit 144 Comptes rendus einer genauen Lektüre auch des Frühwerks gezeigt, dass und wie Barbusse zum „Menschheitskameraden des deutschen Expressionismus“ werden konnte - so der Untertitel der entsprechenden Studie, zu der noch eine im Buch abgesprengt platzierte Miszelle zu einem Brief von Barbusse an Rudolf Hartig 1920, mehrere im Anhang vollständig abgedruckte deutsche Reaktionen auf ihn aus demselben Jahr (von Iwan Goll, O. M. Fontana, Wilhelm Herzog, Kasimir Edschmid u. a.) sowie die Rekonstruktion der Originalzitate aus L’Enfer (1908), Clarté (1919) und La Lueur dans l’abîme (1920) zu rechnen sind, aus denen deutsche Expressionisten 1921 die unter dem Namen von Barbusse erschienene Schrift Auf zur Wahrheit - zu Recht als „außerordentliche Hommage“ (156) bezeichnet - zusammengestellt haben (erläutert 155sq., abgedruckt 226-245). Dieses Erhellen der Rezeption von Barbusse durch deutsche Expressionisten trägt über das Absetzen des ursprünglichen Wirkens einer sozialen Vision von der späteren Fragwürdigkeit eines parteipolitischen Engagements hinaus vor allem zu der zweiten Leistung des vorliegenden Buches bei, von der die Rede war - der Situierung von Le Feu im politischen Denken seiner Entstehungszeit. Müller weist dazu in der das Buch einleitenden Studie belegreich auf den Cornelianismus als jene Form hin, in der rechtskonservative französische Autoren im Ersten Weltkrieg „das Dominantwerden der außerästhetischen Funktionen der Literatur“ (11) propagierten, und setzt dem die Absage an „wie auch immer geartetes literarisches Engagement“ (23) unmittelbar nach dem Krieg in der Zeitschrift Les Marges direkt entgegen - so, ohne das Feld der Auseinandersetzung insgesamt zu analysieren, die Pole markierend, zwischen denen Barbusse damals operierte. Dem folgt der 1988 erstmals vorgetragene, 1989 französisch sowie 1994 deutsch erschienene und bis heute zentrale Beitrag zur Situierung des ersten großen Romans über den Ersten Weltkrieg, „Die Vision des Korporal Bertrand. Plädoyer für eine historische Lektüre von Barbusses Le Feu“. Das Verdienst dieser historischen Lektüre besteht in dem Nachweis, dass Barbusse sich nicht nur, wie seit langem bekannt, im August 1914 freiwillig gemeldet hat, um als Soldat zum Sieg des französischen Republikanismus über die preußisch-deutsche Reaktion beizutragen: Der Text, in dem Vernichtung, Schrecken und Elend dieses Krieges aus eigenem Erleben so eindringlich gestaltet wurden wie noch nie und kaum je, war keineswegs ein Buch gegen den Krieg, sondern könnte fast ein Durchhalteroman genannt werden. Müller analysiert die Rechtfertigung der Union sacrée durch die französischen Sozialisten und die Berichterstattung über Kriegsgegner in der deutschen Sozialdemokratie in ihrer Zeitung L’Humanité seit August 1914 und zeigt, wie der Text von Barbusse „unmittelbar an die jakobinische Ideologie der Kriegszeit gebunden ist, dass dieses zur Zeit der Genesis des Werkes herrschende Normensystem im Text geronnen ist, ungeachtet der Tatsache, dass spätere Leser die ursprüngliche historische Bedeutung des Symbols in der Lektüre nicht zu realisieren vermochten“ (244). Das angesprochene Symbol ist die Weigerung Karl Liebknechts, den Burgfrieden in Deutschland zu unterstützen - von diesem und später als prinzipielle Ablehnung des Krieges verstanden, von den französischen Sozialisten aber 145 Comptes rendus auf eine Ablehnung des deutschen Militarismus reduziert, die aus Liebknecht „schlichtweg einen Verbündeten Frankreichs“ machte (43), und von Barbusse in dieser reduzierten Form auch in seinen Roman gebracht. Sowohl die Vision, in der der Name Liebknecht fällt, als auch jene Passagen, in denen die Soldaten allem Leid zum Trotz weiter ihre Pflicht im Krieg tun, werden so erst angemessen lesbar (was im übrigen auch erklärt, dass der Goncourt-Preis 1916 an Barbusse keineswegs einen Protest gegen den Krieg würdigte). Dass die „pazifistisch-revolutionäre“ Lektüre des Textes die „patriotische“ bald darauf überlagerte (46), erklärt Müller - dabei auch frühere eigene Darstellungen kritisierend (cf. 48) - überzeugend aus den „Ambivalenzen des Textes“ (44). Dass es Le Feu gelang, wie nur in dem in der Sammlung ebenfalls enthaltenen Nachwort zur DDR-Neuausgabe 1986 formuliert ist, „das Kriegsgeschehen aus der Sicht des Volkes darzustellen und eine auf die Emanzipation des Volkes zielende Perspektive zu gestalten“ (55), hätte sich durch eine genauere Fassung des zu Recht zentral gestellten Jakobinismus-Begriffs möglicherweise allerdings noch genauer erläutern lassen. Nach Jules Michelet, den Müller nicht erwähnt, war die Tradition der Französischen Revolution durch die um 1880 siegreichen Republikaner in der nationalistisch aufgeladenen Vorstellung eines einheitlich für die universalen Menschenrechte eintretenden Volkes zur tragenden Staatsideologie verkürzt worden - die Terreur zur Rettung des Vaterlandes zur Not in Kauf nehmend, jedenfalls aber den Krieg, von der Levée en masse bis Napoleon, als Teil dieser menschheitlichen Mission feiernd. Zu Recht nennt Müller diese Ideologie 1914 „abgenutzt“ (46). Sie war das, weil sie zur Rechtfertigung eines auch von französischer Seite imperialistischen Krieges eingesetzt wurde, aber auch, weil die Dimension von Gleichheit, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit bis dahin (auch nach der Wende im Staatsverständnis in der Dreyfus-Affäre) in der sozialen Realität Frankreichs und im politischen Programm der Republik keine angemessene Entsprechung gefunden hatte. Aber der Jakobinismus hatte diese Dimension damit nicht verloren. „Aus ethischen Motiven“, zeigt Müller, hatte sich Barbusse „geistig den Sozialisten seines Landes genähert, als diese auf die Ebene des bürgerlichen Liberalismus abgeglitten waren“ (46), dessen Krieg zu ihrem machten und ihre sozialen Forderungen zurückstellten. Die so - zusammen mit der Ideologie der Union sacrée - in den Roman gelangte „Empörung über soziale Ungerechtigkeit“ und Perspektive der Emanzipation gab der Entwicklung der politischen Positionen von Barbusse ihre innere Logik und jenen Lektüren, die den Text auf das spätere kommunistische Engagement seines Autors bezogen, ihr eigenes Recht. In den durchhaltenden Soldaten des Kriegs, wie Le Feu sie zeigt, „dämmert so etwas wie die Ahnung auf, in unbestimmter Zukunft selbst Subjekt der Geschichte werden zu können“ (56). Angemessen schließt Müller seine wichtige Studie mit dem auf Mukařovský gestützten Hinweis auf die „dialektische Antinomie zwischen der Textstruktur und der historischen Abfolge der von ihr gebildeten Konkretisationen“ und dem Zweifel daran, dass der Leistung des Textes von Le Feu - 146 Comptes rendus wie bisweilen versucht - bereits mit dem Nachweis seiner ästhetischen Modernität Genüge getan ist (48sq.). Der dritte der eingangs genannten Gesichtspunkte, die Müller rekonstruiert hat, betrifft die literarische Qualität von Le Feu. Den naheliegenden Gesichtspunkt des Verhältnisses von Dokumentation, autobiographischer Erfahrung und fiktionaler Gestaltung dieses laut Untertitel Journal d’une escouade spricht Müller in dem 1987 erschienenen Nachwort zu seiner Ausgabe der Briefe Barbusses von der Front an seine Frau an. Dem Nachwort sind auch Aufschlüsse darüber zu entnehmen, wie Barbusse dem „Umkreis des französischen Symbolismus“ noch in der „Entwicklung zum Autor des Feu“ (115) verbunden geblieben ist. Wesentlich erweitert werden diese Aspekte in assoziativ angelegten „Annotationen zu Le Feu“. In ihnen deutet Müller auf ein außerordentliches Ausmaß von intertextuellen Bezügen, die diesen Weltkriegsroman als eigenständige Folge von Visionen und zugleich als Fortsetzung der entsprechenden literarischen Tradition ausweisen. Unter Verweis auf Vergil-Lektüre an der Front konstatiert und zeigt er „eine strukturelle Analogie, die es erlaubt, in Bezug auf Le Feu vom Aeneis-Modell zu sprechen“ (75). Auch das Rolandslied und die Ilias werden herangezogen, um Le Feu als „moderne Epopöe“ (80) zu kennzeichnen. Benannt wird, dass sich Motive des Romans bei Voltaire, Rousseau, Tolstoi, Andrejew, France oder Zola finden (cf. 82-84), und im Anschluss „eine danteske Lektüre des Feu“ (86) unternommen, die frappierend im Detail und überzeugend im Gesamtzugriff nachweist, wie Barbusse den „Krieg als Höllenfahrt“ in der Folge der Göttlichen Komödie gestaltet hat (cf. 86-95). Hier liegt sicher ein wesentlicher Gewinn des vorliegenden Buches. Schließlich wird die Tradition des Kriegsbildes von Giotto über Memling, Dürer, Poussin und Doré bis in die Bataillenmalerei des Weltkrieges angesprochen, die in den Text des genauen Kenners der malerischen Tradition und Gegenwart hineingewirkt hat, der Barbusse auch war (cf. 96-99). Wird Barbusse in diesen Annotationen als Verarbeiter von Weltliteratur eindrucksvoll sichtbar, so sucht eine andere Studie ihn seinerseits als Anreger von Weltliteratur vor Augen zu führen: Müller weist darauf hin, dass die auf einer vorausgehenden Novelle beruhende Eingangsvision von Le Feu mit dem Ende von Thomas Manns späterem Roman Der Zauberberg (1924) übereinstimmt (cf. 175), und führt dann vor allem aus, dass der vorausgehende Roman von Barbusse, L’Enfer (1908), sich sogar „auf weiten Strecken [...] wie ein Kanevas, eine Blaupause zum späteren Zauberberg“ ausnehme, so dass von „verarbeitender“ Rezeption zu sprechen sei (205). Die diesem Bezug gewidmete ausführliche Studie kann Belege einer direkten Kenntnisnahme allerdings nicht beibringen. 2 Statt dessen vergleicht sie daher „Grundkonfiguration und Motive“ (176) der Romane. 2 Von Müller nicht mitgeteilt: Thomas Manns Nachlassbibliothek enthält von Barbusse vier deutschsprachige Ausgaben aus den Jahren 1920 (neben Das Feuer auch Wir andern und Klarheit) und 1926 (Kraft), aber nicht L’Enfer; die ausführlich kommentierte Edition von Der Zauberberg in der Großen Kommentierten Frankfurter Ausgabe 2002 weist auf Barbusse an keiner Stelle hin. 147 Comptes rendus Einzelne, relativ spezielle Motive („das sichtbar schlagende Herz“, 185; „Gestirne der Chaldäer“, 189) finden sich tatsächlich in beiden Texten. Häufiger bleiben die konstatierten Bezüge aber sehr allgemein („Bei beiden Autoren ist der Tod Korrelat des Lebens“, 184) oder werfen die Frage auf, ob nicht eher von zeittypischen Übereinstimmungen zu sprechen wäre. Am Schluss der Studie ist der Nachweis versucht, dass Thomas Mann in Settembrini „ziemlich genau“ die politischen Positionen „des Barbusse vor 1923“ und der Clarté-Bewegung persifliere (201sq.). Weder charakterisiert jedoch die resümierende Formulierung „Fortschrittsglauben“ (202) diese Positionen ausreichend, noch war Barbusse der einzige, der sich damals „in die Tradition der (Renaissance und) Aufklärung [stellte], deren Errungenschaften Persönlichkeit, Menschenrechte, Freiheit“ und „Gerechtigkeit“ hießen (203). Eine Auseinandersetzung mit dem bisherigen Urteil der Forschung erfolgt nicht: Thomas Mann habe Settembrini „vor allem nach dem geistigen Umriss seines Bruder zugeschnitten, die italienischen Konturen Settembrinis nach Mazzinis Schriften.“ 3 Hier bleiben Müllers Anregungen weiter zu prüfen. Insgesamt liegt ein Werk vor, in dem profunde Sachkenntnis und weiter Blick mehrfach zu wesentlichen neuen Erkenntnissen führen und darüber hinaus häufig in Lakonie und Assoziation Perspektiven öffnen, in denen der Leser innere Bezüge wie Kontexte - die in Fülle geboten werden - selbst zu erschließen gefordert ist. Bedauerlich ist, dass der Verlag Peter Lang sich von seinen originären Aufgaben der einheitlichen Einrichtung und der Lektorierung der von ihm veröffentlichten Texte offensichtlich so radikal verabschiedet hat, dass es der Leser auch in diesen Hinsichten nicht immer leicht hat. An wie vielen Stellen über Barbusse tiefer nachgedacht und nachgeforscht werden kann und neue Aufschlüsse möglich sind, hat Müller dennoch überzeugend belegt. Auf die Anthologie „Clarté 1919-1922. Texte zu einer Sozialutopie“, die er z.Zt. vorbereitet, dürfen Leser wie Wissenschaftler gespannt sein. Wolfgang Klein (Osnabrück) 3 Thomas Mann, Der Zauberberg. Roman, Kommentar von Michael Neumann, Frankfurt am Main, Fischer, 2002, 87 (Große Kommentierte Frankfurter Ausgabe, Band 5.2).