eJournals lendemains 34/136

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2009
34136

N. Beaupré: Ecrire en guerre, écrire la guerre

121
2009
Almut Lindner-Wirsching
ldm341360141
141 Comptes rendus außerhalb Frankreichs, auch die der sog. Dritten Welt, empfiehlt, wenn sie in Pariser Verlagen publizieren und in Frankreich reüssieren wollen, anders gesagt: dass die Diskurshegemonie nach wie vor von Frankreich, von Paris ausgeht, wird an vielen Stellen im Schlusskapitel zur frankophonen Literatur außerhalb Frankreichs deutlich. Die Französische Literaturgeschichte kann in ihrer aktuellen Form, so ist zu bilanzieren, auch weiterhin einen prominenten Rang am Markt behaupten, wo sich mittlerweile zahlreiche ‚Mitbewerber’ eingestellt haben. Sie stellt einen attraktiven Kompromiss dar zwischen den gelehrten, vielbändigen, enzyklopädisch angelegten Literaturgeschichten, die vor allem in Italien noch heute geschrieben werden, und den didaktisch aufbereiteten, digest-artigen Kurzpräsentationen, die in den letzten Jahren den Markt erobert haben und die vor allem den Erfordernissen der neuen Studiengänge gerecht werden sollen. Grimms französische Literaturgeschichte ist lesbarer und handlicher als die erstgenannten enzyklopädischen Literaturgeschichten. Sie kommt ohne Fußnoten aus - das erhöht die Lesbarkeit, macht es aber unmöglich, einzelne Informationen zu ihren Quellen zurückzuverfolgen; das ist bedauerlich, denn der Leser stößt auf manche Trouvaille, die er gern belegt fände. Die Französische Literaturgeschichte verzichtet auf all jene typographischen Extras, die die aktuell erfolgreichen basics-Literaturgeschichten zur Aufmerksamkeitslenkung einsetzen und die den Leser entmündigen - statt Schautafeln, Fettdruck, Querverweisen, dekontextualisierten und typographisch aufgeblasenen Zitaten erlaubt sich Grimms Literaturgeschichte nur knappe Marginalien, die Akzente setzen. Der Leser darf sich allerdings an mittlerweile 300 Abbildungen unterschiedlicher Art, unter ihnen vielen Autorenporträts, erfreuen. Als originelle und facettenreiche, ganz anders, nämlich ereignisgeschichtlich angelegte und paradigmatisch verfahrende komplementäre französische Literaturgeschichte empfiehlt sich die von Denis Hollier 1989 in englischer Sprache, 1993 auf Französisch erschienene New History of French Literature, die mittlerweile von David Wellbery auch für die deutsche Literaturgeschichte adaptiert worden ist. Gisela Schlüter (Erlangen) NICOLAS BEAUPRE: ECRIRE EN GUERRE, ECRIRE LA GUERRE. FRANCE, ALLEMAGNE 1914-1920, PARIS, CNRS EDITIONS, 2006, 292 P. Das Buch Ecrire en guerre, écrire la guerre des französischen Historikers Nicolas Beaupré versteht sich als Versuch einer vergleichenden Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs. Gegenstand seiner Untersuchung sind die von den Zeitgenossen als „écrivains combattants“ bzw. „Frontdichter“ bezeichneten Schriftsteller, die als Frontsoldaten für besonders legitimiert gehalten wurden, den Krieg zu beschreiben und zu deuten. Ihre Werke betrachtet der Verfasser weniger als Zeitzeugenberichte und Spiegel tatsächlicher Kriegserfahrungen denn als literarische Texte, in denen die Überzeugungen und Erwartungen bestimmter sozialer Schichten in einem gegebenen historischen Kontext zu Ausdruck kommen (17). Als Schüler von Annette Becker distanziert sich Beaupré damit von Jean Norton Crus normativem Begriff der Kriegsliteratur, der in der Debatte zwischen dem Historial de la Grande Guerre und dem Collectif de recherche 142 Comptes rendus international et de débat sur la guerre 14-18 (CRID 14-18) ein wesentliches Streitobjekt darstellt. Die Grundlage der Arbeit bildet ein breites Corpus von 533 französischen und deutschen Prosa- und Gedichtwerken, die während des Krieges oder in der unmittelbaren Nachkriegszeit veröffentlicht und von 420 wenigstens zeitweise an der Westfront eingesetzten Autoren verfasst wurden. Dabei ergibt sich ein leichtes zahlenmäßiges Übergewicht der französischen Seite. Die deutschen Texte werden in dieser überarbeiteten und gekürzten Druckfassung von Beauprés Dissertation leider nur noch in französischer Übersetzung zitiert. Die Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil („Pratiques“) fragt Beaupré nach den politischen, sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen der Literaturproduktion während der „Sonderzeit“ (16) des Krieges und legt dar, wie sich die ganz neue Kategorie der Frontschriftsteller herausbildete. Angefangen bei der Mobilmachung, die der Verfasser sowohl als militärisches wie als literarisches Phänomen behandelt, geht er zunächst ausführlicher auf die Kriegsfreiwilligen ein, die zwar nur rund 15% der Frontschriftsteller darstellten (33), mit ihrem Engagement jedoch erhebliche öffentliche Resonanz fanden. Beaupré zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie Frontdichter in beiden Ländern regelrecht fabriziert wurden, indem etwa Verleger Soldaten als Autoren zu gewinnen versuchten und durch stilistische Vorgaben am Schreibprozess mitwirkten, oder indem wichtige Literaturpreise wie der Goncourt- und Kleistpreis nur noch an Schriftsteller mit Fronterfahrung verliehen wurden. Wie alle Veröffentlichungen der Kriegszeit unterlagen auch die Werke der Frontdichter der Zensur, deren Rolle als Unterdrückungsinstrument der Verfasser jedoch relativiert. Er weist auf die beträchtliche Anzahl von Schriftstellern unter den Zensoren hin, die sich aktiv an Zensur- und Propagandamaßnahmen beteiligten, im Gegenzug aber auch eine gewisse Nachsicht gegenüber ihren Berufsgenossen übten. Im Mittelpunkt des zweiten Teils („Représentations“) stehen die literarischen Darstellungen von Gewalt und Leiden im Krieg. Beaupré stellt sich hier die schwierige Aufgabe, auch das bloß Angedeutete oder das „bedeutungsvolle Schweigen“ zu interpretieren. Die Deutung der detaillierten Beschreibung von Hieb- und Stichwaffen als metonymischen Verweis auf die im Nahkampf angewendete Gewalt (128-130) erscheint einleuchtend. Zutreffend ist auch, dass die aufeinander bezogenen Feindbilder, bedingt durch die unterschiedlichen Bündniskonstellationen, weder in ihrer Intensität noch in ihrer Zielrichtung vergleichbar waren. Nach Beauprés Ergebnissen trug die Fronterfahrung der Soldaten in beiden Ländern eher dazu bei, vorhandene Feindbilder zu zementieren als zu revidieren (160-162). Allerdings waren die Feindvorstellungen selbst während der Kriegszeit nicht auf das Bild des Barbaren und den Tiervergleich beschränkt; der Feind konnte durchaus auch als Leidensgenosse, als Objekt des Mitleids oder versteckter Sympathie wahrgenommen werden. Es stellt sich hier das grundsätzliche methodische Problem, wie ein so umfangreiches Corpus systematisch auszuwerten ist, um eine Repräsentativität der angeführten Belege beanspruchen zu können. Der dritte Teil („Justifications et interprétations“) geht von der Beobachtung aus, dass der Krieg bis 1918 nicht als absurd dargestellt werden konnte und die Schriftsteller zumindest nach einem Sinn der immensen Opfer suchten (217). In einem ersten 143 Comptes rendus Schritt analysiert Beaupré die in beiden Ländern verbreitete Vorstellung vom Verteidigungskrieg anhand zweier signifikanter Beispiele, dem literarischen Bild des Schützengrabens und der Darstellung der großen Schlachten von Verdun und der Somme. Wie bei der Darstellung kriegerischer Gewalt und der Figur des Kriegsfreiwilligen griffen die Frontschriftsteller auch hier bevorzugt zum Stilmittel der Metonymie bzw. der Synekdoche (192). Zu den Kriegsdeutungen und Sinnstiftungsversuchen gehören auch die eschatologischen Erwartungen und die Auseinandersetzung mit dem Kriegstod als Opfer für eine bessere Welt, die Beaupré zufolge in erster Linie der Beruhigung und Ermutigung dienten. Die Behauptung, auch die eventuelle Niederlage sei in der Literatur nicht sagbar gewesen, lässt sich allerdings so nicht aufrechterhalten - als markantes Gegenbeispiel ließe sich Flex’ Wanderer zwischen beiden Welten anführen. Hinsichtlich der Darstellung des Kriegstodes hätte stärker zwischen Prosa und Lyrik differenziert werden können, die der Verfasser unterschiedslos als „écriture de la guerre“ (22) und Teil einer einzigen großen Kriegserzählung behandelt, ohne auf deren spezifische literarische Mittel und Leserkreise einzugehen. Abschließend setzt sich der Verfasser mit der Verarbeitung des Kriegsendes und dem Übergang zur Nachkriegszeit in den literarischen Werken, im Verlagswesen und in der Literaturkritik auseinander. Wie schon beim Feindbild zeigen sich hier erwartungsgemäß die größten Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland. Aufschlussreich ist vor allem die Geschichte der Association des Ecrivains Combattants (AEC), zugleich Veteranenverband und Berufsgenossenschaft der französischen Frontschriftsteller, die in der Literaturlandschaft der Weimarer Republik kein Pendant hatte, bis die Nationalsozialisten mit der 1936 gegründeten Frontdichtervereinigung „Die Mannschaft“ versuchten, die Kriegsliteratur regimetreuer Autoren zu einer neuen geistigen Mobilmachung zu nutzen. In der Debatte der französischen Weltkriegsforscher über die Kulturgeschichte des Ersten Weltkriegs bezieht Nicolas Beaupré Position, indem er die massive Zustimmung der Schriftsteller zum Krieg und ihre aktive Beteiligung am „Krieg der Geister“ hervorhebt. In seiner Auseinandersetzung mit Jean Norton Crus Werk Témoins (1929) gelangt Beaupré zu einer kritisch-historisierenden Neudefinition des Zeitzeugen-Begriffs, demzufolge die Frontschriftsteller eher Zeugnis von ihrem Engagement im Krieg, ihren Hoffnungen und Überzeugungen ablegten als von tatsächlich Erlebtem (172). Bei einer Arbeit, die auf einem so umfangreichen Corpus beruht und so viele wichtige Erkenntnisse zur Wechselwirkung zwischen Literatur und Gesellschaft während des Ersten Weltkriegs enthält, ist es umso bedauerlicher, dass für die Druckfassung die Bibliografie stark gekürzt und das Verzeichnis der gedruckten Quellen sogar ganz gestrichen wurde. Almut Lindner-Wirsching (Frankfurt/ M.)