lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2010
35140
Phantasma und Tabu in Georges Perecs Roman La disparition
121
2010
Andreas Gipper
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29 Dossier Andreas Gipper Phantasma und Tabu in Georges Perecs Roman La disparition In seinem 1968 erschienenen Essay „Cibernetica e fantasmi“ entwirft Italo Calvino, einer der wichtigsten literarischen Weggefährten Perecs, eine Theorie des Erzählens, die einen eigenen Weg im Spannungsfeld gegensätzlicher Tendenzen der modernen Literatur zu skizzieren versucht. Ausgangspunkt ist der Versuch, Literatur nach dem Modell einer universalisierten Sprach- und Diskurstheorie zu konzipieren, welche die Literatur als sich stetig selbst perpetuierendes kombinatorisches System begreift. Am Anfang der Calvinoschen Überlegungen stehen entsprechend erzähltheoretische Überlegungen, die - gleichermaßen inspiriert von den russischen Konstruktivisten (Propp), der strukturalistischen Anthropologie (Levi-Strauss) wie der modernen Computertheorie (Turing, v. Neumann) - ein kombinatorisches Konzept der Literatur entwerfen, das nicht zuletzt in einer systematischen Austreibung der Psychologie aus der Literatur besteht. Für Calvino trifft sich diese Austreibung der Psychologie nicht zufällig mit bestimmten Tendenzen der zeitgenössischen Literaturtheorie wie Barthes’ Verabschiedung der Autorschaft und der von der Tel Quel-Gruppe propagierten Diskurs- und Intertextualitätstheorie. Die extremen Konsequenzen aus allen diesen Tendenzen sieht Calvino von der Oulipo-Gruppe um Raymond Queneau gezogen, deren kombinatorische Literatur das neuzeitliche Autorprinzip und deren Gründungsmythen wie Inspiration, Originalität und Genie weitgehend verabschiede. Mit der so skizzierten Austreibung des Psychologischen aus der Literatur und der damit verbundenen Tendenz zu ihrer politischen Neutralisierung vermag sich Calvino nun freilich nicht ohne weiteres abzufinden. Kombinatorische, kybernetische, diskurs- oder intertextualitätstheoretische Modelle von Literatur vermögen die Dynamik des Literarischen nicht zu erschöpfen. 1 Das, was die Literatur antreibt und bewegt, ist nach seiner Überzeugung der stetige Versuch, den Raum des Unsagbaren zu besetzen und auf diese Weise die Grenzen eben jener Sprache zu sprengen, in der sie auf immer eingeschlossen scheint. Dieser Raum des Unsagbaren bezeichnet die mythische Dimension der Sprache, die allem kollektiven Sprechen zu Grunde liegt. Die Fülle und Omnipräsenz des Sprechens und des Diskurses schöpft also ihre Bedeutung nur aus ihrem Gegenteil, dem Schweigen. Die Regeln der sprachlichen Grammatik, die Gesetze aller kombinatorischen Verknüpfung ziehen ihre Macht aus dem Umstand, dass jede Regel nicht nur Gebot, sondern auch Verbot markiert. Die Fülle der schier unendlichen und scheinbar beliebigen Permutationen verdeckt damit jenes Unsagbare, dessen Wesen das Tabu ist. 30 Dossier Schien es eben noch, als sei die Psychologie dem Literarischen an sich wesensfremd, so sind mit diesem Bezug zum Tabu die Grundzüge einer Literaturtheorie skizziert, welche die Literatur zum wesentlichen Instrument einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem kollektiven Unbewussten macht. L’inconscio è il mare del non dicibile, dell’espulso fuori dai confini del linguaggio, del rimosso in seguito ad antiche proibizioni; l’inconscio parla - nei sogni, nei lapsus, nelle associazioni istantanee - attraverso parole prestate, simboli rubati, contrabbandi linguistici, finché la letteratura non riscatta questi territori e li annette al linguaggio della veglia. La linea di forza della letteratura moderna nella sua coscienza di dare la parola a tutto ciò che nell’inconscio sociale o individuale è rimasto non detto: questa è la sfida che continuamente essa rilancia.2 Calvino knüpft damit an ein psychoanalytisches Literaturverständnis an, dem sich die aktuelle Literaturtheorie seit den 80er Jahren zunehmend entfremdet hat. Dieser psychoanalytische Hintergrund ist freilich auch für das Verständnis von Georges Perecs erstem großen oulipistischen Roman La disparition, der im Folgenden im Mittelpunkt des Interesses stehen soll und der nur ein Jahr nach Calvinos Aufsatz 1969 erscheint, von zentraler Bedeutung. Wenn dieses Konzept von Literatur im Folgenden näher entfaltet werden soll, so wird es nicht um die Bedeutung der Psychoanalyse für den Autor Perec gehen. Dass sich der Roman La disparition etwa auch als literarische Auseinandersetzung mit jenem Trauma lesen lässt, das in der Biographie des Autors durch die Chiffre ‘Auschwitz’ markiert wird, soll damit nicht bestritten werden. Die Verknüpfung der Psychoanalyse mit einer autobiographischen Problematik läuft freilich Gefahr, die Verankerung des Perecschen Schreibens in bestimmten Formen der Freudrezeption in seiner genuin literarischen Dimension zu dehistorisieren. Das scheint mir besonders deutlich in Bezug auf das Verhältnis zum Surrealismus und zur Technik der ‘E criture automatique ’ , deren entscheidende Bedeutung für die Genese des Queneauschen Konzepts der ‘Contrainte’ nicht nur von den Oulipisten, sondern auch von weiten Teilen der Oulipoforschung mehr oder weniger systematisch verdrängt wird. 3 Zwar ist unbestreitbar, dass das Konzept der Contrainte nicht zuletzt auch in Abgrenzung von einer gewissen surrealistischen Mystifizierung des Unbewussten und des kreativen Prozesses entsteht, gerade der Roman La disparition scheint mir jedoch ganz unverhohlen an surrealistische Traditionen anzuknüpfen. Freilich tut er dies mit den Mitteln einer zum Entstehungszeitpunkt des Romans hochaktuellen Lacan- Rezeption, die auf der einen Seite das Unbewusste als ‘langage’ definiert und auf der anderen Seite das Begehren als Ausdruck eines sprachlich niemals adäquat zu artikulierenden ‘manque’ bestimmt. Auf beide Aspekte wird zurückzukommen sein. Die Contrainte dient in Perecs Perspektive daher nicht nur als Textgenerator, sondern sie begründet wie die ‘E criture automatique ’ auch eine Realität bzw. ein Reales eigener Ordnung. Sie macht es auf der einen Seite möglich, die steuernde Vernunft des Autors, wenn nicht auszuschalten, so doch wenigstens zu umschiffen 31 Dossier und sie begründet ein Werk, das sich in ganz ungeahnter Weise mitten im lacanschen Dreieck von Imaginärem, Symbolischem und Realem ansiedelt. 4 Zwar darf der Begriff des Realen bei Lacan, als erkenntnistheoretischer Grenzbegriff, nicht einfach mit dem Begriff der Realität verwechselt werden, dennoch scheint mir der Rückgriff auf sein Konzept des Realen hilfreich, um den Weg zu verstehen, der vom frühen Perec der Choses zum Perec der Disparition führt. Dazu müssen wir uns zunächst in Erinnerung rufen, dass nicht nur Perecs erster Roman Les choses von 1965, sondern auch die frühen literaturtheoretischen Schriften Perecs belegen, wie sehr sein literarisches Denken in den Jahren vor seinem ersten Kontakt mit Queneau und dem Oulipo-Kreis um einen Begriff des ‘réel’ und der ‘réalité’ kreist, der ähnlich wie beim frühen Calvino offensichtlich politisch motiviert ist. Tatsächlich ziehen die literaturtheoretischen Schriften ihren Reiz vor allem daraus, dass Perec dort in einer sehr grundsätzlichen Kritik den Verfechtern des Nouveau Roman ein erschreckend naives Weltverständnis attestiert, das überspitzt ausgedrückt in einem unreflektierten Naturalismus verwurzelt bleibt. Zu glauben, dass es ausreiche, sich einiger anthropomorpher Metaphern zu entledigen, um über eine wie auch immer geartete „école du regard“ zur reinen Realität, zum „inventaire scrupuleux et tel qu’il tombe sous les sens de ce monde qui existe en dehors de nous“ 5 vorzudringen, erscheint dem frühen Perec erstens absurd und zweitens politisch reaktionär. 6 Zwar ist kaum zu übersehen, dass sich der Perec der oulipistischen Texte vom hier in Anschlag gebrachten und im Wesentlichen von Lukács hergeleiteten Realismusbegriff weit entfernt, festzuhalten bleibt aber zunächst, dass Perec offensichtlich bereits in diesen frühen Texten auf einen konstruktiven Begriff von Realität setzt, der das Reale niemals als unmittelbar gegeben und in keiner „école du regard“ erreichbar, sondern als historisch-sozial konstruiert begreift. Der Übergang von Les Choses zu La disparition lässt sich nun als Übergang vom Lukácsschen Begriff des Realen zum Lacanschen Begriff des Realen deuten. Das Reale erscheint hier gewissermaßen nicht als die Basis der Realität, sondern als deren Grenzbegriff, es ist das, was weder symbolisierbar noch imaginierbar und damit eigentlich unsagbar, ‘ indicible’ ist. 7 Der Roman La disparition, bekanntlich eines der umfangreichsten Lipogramme der Weltliteratur, kann daher - so die These dieses Beitrages - über weite Strecken als eine Umsetzung des Calvinoschen Programms aus „Cibernetica e fantasmi“ und außerdem als eine höchst ironische Parabel über die Lacansche These von der Unsagbarkeit des Realen gelesen werden. 8 Die von Calvino proklamierte Verkoppelung von kombinatorischer Erzähltechnik und einer Entfaltung des Unbewussten in einer Literatur des Fantasmatischen wird von Perec in einer Form umgesetzt, die nicht nur durch ihre artistische Ingeniosität, sondern auch durch eine literaturtheoretische Bewusstheit besticht, die den Roman La disparition zu einer metaliterarischen Programmschrift ganz eigener Art macht. Der Roman La disparition und seine lipogrammatische Fortsetzung Les 32 Dossier revenentes erweist sich als eine Art (psychoanalytische) Parabel des Fantastischen. Drei Aspekte, die in engem Zusammenhang mit den von Calvino dingfest gemachten Ausdrucksformen des Unbewussten stehen („sogni, lapsus, associazioni istantanee, parole prestate, simboli rubati, contrabbandi linguistici”), sollen im Folgenden vertiefend herausgehoben werden: Erstens die Bedeutung psychoanalytischer Figuren des Unbewussten im Roman, zweitens die Bedeutung des Intertextuellen und drittens, die Bedeutung des Fantasmatischen. Bekanntlich präsentiert sich La disparition auf der Oberflächenebene als Kriminalroman. Im Mittelpunkt der Handlung steht ein Fluch, der auf einem umfangreichen Familienclan lastet. Sämtliche Protagonisten des Romans, die im Laufe der Erzählhandlung erfahren, dass sie miteinander verwandt sind, fallen nacheinander diesem Fluch zum Opfer und sterben eines rätselhaften Todes. Als Urheber der Taten erweist sich ein ominöser bärtiger Übervater, der nacheinander die Brüder seines erstgeborenen Erben und deren Nachkommenschaft eliminiert. Am Ende bleiben nur die Squaw und der Kriminalkommissar Aloysius Swann zurück, die sich nunmehr als Komplizen und Erfüllungsgehilfen des ‘barbu’ erweisen, der sich kaum verdeckt als Chiffre des Autors zu erkennen gibt. Wie bei jeder Kriminalgeschichte kreist die Handlung also um die Suche nach der Lösung eines Rätsels. Dieses Rätsel besteht auf der Oberflächenebene in den merkwürdigen Todesfällen und dem rätselhaften Verschwinden einzelner Personen, es erweist sich auf der anderen Seite aber von Anfang an als Chiffre des Rätselhaften überhaupt. Die Suche nach dem verschwundenen Buchstaben ist also stets der Inbegriff des im wortwörtlichen Sinne Unsagbaren, des Calvinoschen „non dicibile“, des Lacanschen „non-dit“. 9 Das Rätsel des Romans ist gleichzeitig Produkt der kombinatorischen Logik des Romans und Ausdruck eines Tabus und Fantasmas. Bereits die Eingangsszene des Romans, die eine Art Reskription des Vorgängerromans Un homme qui dort (1967) bildet und in der der Protagonist Anton Voyl eine rätselhafte Erscheinung hat, macht diesen Zusammenhang deutlich: Son imagination vaquait. Au fur qu’il s’absorbait, scrutant son tapis, il y voyait surgir cinq, six, vingt, vingt-six combinaisons, brouillons fascinants mais sans poids, lapsus inconsistants, obscurs portraits qu’il ordonnait sans fin, y traquant l’apparition d’un signal plus sûr, d’un signal global dont il aurait aussitôt saisi la signification; [...] avatars d’un noyau vital dont la divulgation s’affirmait tabou, substituts ambigus tournant sans fin autour d’un savoir, d’un pouvoir aboli qui n’apparaîtrait plus jamais, mais qu’à jamais, s’abrutissant, il voudrait voir surgir. (S. 19-20) Später im Roman heißt es in einer Formel, die noch näher an die Calvinosche Formulierung gemahnt: Au plus fort du Logos, il y a un champ proscrit, tabou zonal dont aucun n’approchait, qu’aucun soupçon n’indiquait: un Trou, un Blanc, signal omis qui, jour sur jour, prohibait tout discours, laissait tout mot vain, brouillait la diction, abolissait la voix dans la malédiction d’un gargouillis strangulant. (S. 129) 33 Dossier Genau dieses verbotene Feld, dieser Raum des Tabus und der Auslassung, der das Sprechen einerseits erschwert, verdunkelt und mit einem Schleier der Ambiguität verhüllt, es aber andererseits überhaupt erst in Gang setzt und gewissermaßen sein geheimer Motor ist, wird nun bekanntlich im Roman durch den Buchstaben ‘E’ verkörpert. Das ‘E’ symbolisiert genau jenen „vuoto di linguaggio che aspira le parole nel suo vortice e dá alla fiaba una forma“, 10 der von Calvino als das generative Zentrum alles Literarischen markiert wurde. Eine entscheidende Raffinesse der Romankonstruktion besteht nun darin, dass das Gesuchte, der Buchstabe ‘E’, im ganzen Roman mit geradezu besessener Insistenz thematisiert und offen gelegt wird. Diese Insistenz manifestiert sich nicht nur im fehlenden Kapitel 5 (Position des ‘e’ im 26-teiligen französischen Alphabet), im fehlenden Buch 2 im Roman (Position des ‘e’ in der Reihe der Vokale) etc., sondern auch im Hinblick auf die immer wiederkehrende Thematisierung des „E“ z.B. als „harpon à trois dards, ou main à trois doigts, signal maudi du Malin paraphant au bas d’un manuscrit qu’un Faustillon noircit.“ (S. 107), sowie als jenes Zeichen, das die Mitglieder des Clans in den Arm tätowiert bekommen. 11 Das ‘E’ ist also das Zeichen des Teufels, das Zeichen des Fluchs und außerdem nicht zufällig das Zeichen jener Besessenheit, die Jorge Luis Borges in seiner berühmten Erzählung El Zahir literarisch gestaltet hat und die Perec in der Disparition auf verschiedenen Ebenen aufgreift. 12 Während das ‘E’ also auf der einen Seite verborgen ist, bildet es auf der anderen Seite das im Grunde einzige Thema des Romans und ist in ihm omnipräsent. Nicht zufällig wird der Zahir seinerseits von Borges als Chiffre des Bekannten, des Sichtbaren, des Offensichtlichen charakterisiert („Zahir, en árabe, quiere decir notorio, visible“) und erscheint genau in diesem Sinne umgekehrt als Name Gottes, „en tal sentido, es uno de los noventa y nueve nombres de Dios.“ 13 Wie der Zahir ist das ‘E’ also einerseits Chiffre der Verdrängung (bei Borges Verdrängung des Leidens und des Todes) und andererseits Chiffre des Nicht-Verdrängbaren, des Risses im Schleier („rasgadura del Velo“). Das ‘E’ erweist sich damit gleichzeitig als Teufel und Gott, als Zeichen des Verborgenen und Zeichen des Universell-Präsenten. Der Roman ist auf diese Weise eine Art Allegorie des pascalschen ‘Deus absconditus’, der Roman eines Prinzips, das gerade in seiner Unfasslichkeit seine Allmacht manifestiert. Andererseits erinnert die so entfaltete Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Offensichtlichkeit und Verborgenheit in frappierender Weise an jene Theorie des Phantastischen, wie sie Freud in seinem berühmten Artikel über Das Unheimliche (1919) entwickelt hat. Bekanntlich entfaltet Freud dort den Begriff des Unheimlichen auf eine sprachliche Ambivalenz hin, welche auf dem Doppelsinn des ‘Heimlichen’, als dem ‘Heimischen’ und mithin ‘Bekannt-Vertrauten’ und dem ‘Heimlichen’ als dem Versteckten und Verborgenen beruht. Die Pointe liegt dabei darin, dass sich nach Freud die Bedeutung des ‘Versteckten’ und ‘Gefährlichen’ in einer Weise entwickelt, dass sie praktisch mit dem Unheimlichen zusammenfällt. 14 Ohne den Freudschen Überlegungen an dieser Stelle im Detail folgen zu wollen, sei festgehalten, dass Freud in diesem Befund eine überraschende Bestätigung 34 Dossier seiner eigenen Theorie der Verdrängung sieht. Verdrängung erzeugt Angst, weil das Verdrängte stets aus dem Untergrund hervorzubrechen droht. Das Unheimliche repräsentiert für Freud daher genau jene spezifische Angst, in der sich dieses wiederkehrende Verdrängte psychisch Ausdruck verschafft. Es erweist sich nicht als die Angst vor einem Fremden, sondern als die Angst vor einem „von alters her Vertrauten“, 15 welches zum Gegenstand eines Verbots geworden ist. Genau dieser Mechanismus wird nun im Roman durchaus ironisch und mit einer schier erschlagenden Fülle an literarischen Bezügen entfaltet. Tatsächlich wimmelt es im Roman von Geschichten des Tabus und des Tabubruchs, von denen stellvertretend an dieser Stelle nur die Verarbeitung der Thomas Mannschen Erzählung, Der Erwählte, im Kapitel 3 herausgegriffen werden soll. 16 Dass die Erzählung in der französischen Übersetzung „L’élu“ heißt und damit für den Buchstabenjongleur Perec den Reiz hatte, sich als é-lu, als das gelesene ‘e’ deuten zu lassen, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Erzählung auch inhaltlich als Entfaltung einer christlichen Ödipussaga vorzüglich in das Perecsche Romankonzept passt. Tatsächlich wird das Inzest-Tabu in der Geschichte vom guten Sünder (bekanntlich geht der Mannsche Roman auf die entsprechende Bearbeitung des Gregorius- Stoffes von Hartmann von Aue zurück) ja gleich zweimal gebrochen. Erstens weil Gregorius das Kind einer sündhaften Geschwisterliebe ist und zweitens, weil er später seine Mutter Sibylla heiratet. Zwar ist es für den Gang der Romanhandlung durchaus von Belang, dass Aignan bei Perec im Gegensatz zur Mannschen Version am Ende nicht erwählt und auf diese Weise nicht der göttlichen Gnade teilhaftig werden kann. Man kann ihn nicht erwählen (‘e-lire’), weil seine Erwählung eben das ‘e’ erfordern würde. Entscheidend scheint mir aber, dass die Erwählung gewissermaßen die spiegelbildliche Variante des Fluches darstellt, jenes göttlichen Irrationalen, das sich jeder logisch-sprachlichen, sprachlich-logischen Artikulation entzieht. Zwar löst Aignon das Rätsel der Sphinx, „Y a t-il un animal qui ait un corps fait d’un rond pas tout à fait clos finissant par un trait plutôt droit? - Moi! Moi! Cria alors Aignan.“ (S. 44), und erweist sich damit als Personifizierung des romanesken „non-dit“, wie der Antike Ödipus kann er seinem wahren Schicksal dadurch aber nicht entkommen. Der Roman muss unvollendet bleiben. „S’il s’accomplissait, n’ouvrirait-il pas sur un savoir si clair, si pur, si dur, qu’aucun parmi nous l’ayant lu, n’y survivrait un instant? “ (50). Nicht zufällig wird nun Aignan, die archetypische Verkörperung von Tabu und Tabubruch im Roman, von Perec als Lacan-Anhänger charakterisiert („Holà, Sphinx, holà! fit Aignan qui connaissait Lacan mot à mot [...].“ 17 ). Dieser Zusammenhang scheint durchaus nicht nur spielerisch-ironischer Natur. Das liegt zunächst daran, dass es bei Lacan bekanntlich eine ausgearbeitete Neuinterpretation des Ödipus- Komplexes gibt und hat schließlich damit zu tun, dass die Lacansche Auseinandersetzung mit den zentralen Begriffen des Unbewussten, des Realen und des Fantasmas mitten in den Kern der Romanproblematik reicht. Diese hochkomplexe Problematik kann hier nur andeutungsweise skizziert werden. 35 Dossier Im Mittelpunkt der Lacanschen Reinterpretation des Ödipuskomplexes (ausgerechnet) im 5. Buch des Séminaire mit dem Titel Les formations de l’inconscient steht das Konzept des Begehrens. Das Begehren wird dabei eingerückt in jene Dimension des „grand autre“, jene symbolische Ordnung, die das Subjekt beherrscht und deren wichtigster Repräsentant der Vater ist. 18 „Le nom du père“ (le non du père) bezeichnet dabei das Gesetz, welches den Umgang mit dem Begehren und den Übergang von der imaginären zur symbolischen Ordnung regelt. Entscheidend für unseren Zusammenhang ist dabei, dass für Lacan das Begehren vom Subjekt in einer Weise Besitz ergreift, die sich selbst stets der sprachlichen Artikulation und dem Bedeutungsprozess entzieht. Das Begehren ist also mit einer unaufhebbaren „insuffisance du langage“ konfrontiert und insofern der symbolischen Ordnung entgegengesetzt, in die das Subjekt hineingeboren ist und die ihm als Anderes entgegentritt. Auf diese Weise bezeichnet das Begehren gewissermaßen den Einbruch des Realen, ‘le réel’, in die symbolisch verfasste Welt und gleichzeitig das, was sich der sprachlichen Artikulation grundsätzlich und radikal entzieht. Die vielfältigen Bezüge zur Romankonstruktion scheinen evident. Evident erscheint vor allem, dass die Reskription von Thomas Manns Roman Der Erwählte mit seiner expliziten Ödipus-Problematik gewissermaßen eine Mise en abyme des Gesamtromans bildet (wie im übrigen jedes einzelne Kapitel des Romans als eine solche Mise en abyme gelesen werden kann.) Die Protagonisten des Romans begehren also gegen jenes Gesetz des Vaters auf, das im Roman durch die lipogrammatische Contrainte des Autors verkörpert wird. Ihr Problem freilich besteht darin, dass über ihrem ödipalen Begehren jenes Fatum der Unartikulierbarkeit liegt, dem nach Lacan jedes Begehren im Raum der Bedeutungen unterworfen ist. Das fehlende ‘E’ erscheint also als unmittelbare Verkörperung jenes „désir“, das sich der sprachlichen Artikulation entzieht, das aber gerade darin der Inbegriff des Realen ist. Dabei gehört es zu den besonderen Pointen des Romans, dass der Ödipus-Komplex für Lacan im psychischen Entwicklungsprozess die Genese der sexuellen Differenz markiert. Genau diese sexuelle Differenz kann aber im Roman schon deshalb kaum thematisiert werden, weil die weiblichen Endungen im Französischen notwendig das stumme ‘e’ (la voyelle atone = Anton Voyl) benötigen. 19 Um so wichtiger ist es deshalb, den Roman La disparition stets in seiner genuinen Einheit mit dem Nachfolgeroman Les revenentes zu sehen. Dieser zweite und noch radikalere lipogrammatische Roman, in dem das ‘e’ nunmehr der einzige zugelassene Vokal ist, symbolisiert eine Rückkehr des Verdrängten im strikten Sinne einer Neurose. Das verdrängte ‘e’ drängt in einer Weise in den Raum des Sprachlichen zurück, dass es diesen gleichsam vollständig besetzt und kanibalisiert. Nicht zufällig markiert die Rückkehr des Verdrängten in den Revenentes dabei auch eine geradezu obsessionelle Explosion des Sexuellen. Die Revenentes sind also Gespenster in genau dem psychoanalytischen Sinne einer Wiederkehr des Verdrängten, die im Mittelpunkt der Freudschen Theorie des Phantastischen steht. Wir wer- 36 Dossier den am Ende dieses Beitrags sehen, wie sich diese Rückkehr thematisch artikuliert. Da Träume (rêves) aus naheliegenden Gründen im Roman nur eine untergeordnete Rolle spielen können (so am Anfang des Romans, wo der Protagonist Anton Voyl aus unerklärlichen Gründen unter Schlaflosigkeit und gleichsam unter der Abwesenheit von Träumen leidet), gewinnt der zweite klassische Bereich der sprachlichen Artikulation des Unbewussten nach Freud im Roman eine besondere Bedeutung: der Lapsus. Dieser ist im Roman allgegenwärtig über den Fachterminus der Druckereisprache ‘Le bourdon’. „Le bourdon“, eigentlich eine Hummel, bezeichnet in der Fachsprache des Buchdrucks das, was man in einer höchst kuriosen Koinzidenz im Deutschen eine Leiche nennt, d.h. jenen Typus des Druckfehlers, der in der Auslassung eines Buchstabens, eines Wortes oder eines Satzes besteht. Besonders genialisch ist diese Problematik von Perec in seiner Reskription der Poeschen Erzählung The purloined letter umgesetzt, die bei ihm entsprechend „Le vol du bourdon“ heißt und damit eine höchst beziehungsreiche Assoziationskette im Anschluss an Rimski-Korsakovs Hummelflug (frz. ebenfalls „Le vol du bourdon“) ermöglicht. 20 Die zahlreichen ironischen Verwendungen des Bourdon-Motivs, wie die Tatsache, dass der ‘cyprian’/ Wal Jonas im Roman unter anderem mit Hummeln gefüttert wird, könnten fast das Thema einer eigenen Untersuchung sein. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass gerade die Poesche Erzählung noch einmal beziehungsreich die Problematik des Heimlich - Unheimlichen und des Offenbar - Verborgenen aufgreift. Wir hatten ganz am Anfang dieses Beitrages gesehen, wie Calvino neben den Träumen und dem Lapsus den intertextuellen Bezügen, den „simboli rubati“ und „contrabbandi linguistici“, einen besonderen Status einräumt. Dass Reartikulationen, Um- und Überschreibungen, Verfremdungen, Adaptationen und Übersetzungen, kurz, alle Formen der Rekombination vorgefundenen Materials bei dem Verfechter einer kombinatorisch-kybernetischen Literatur auf ein besonderes Interesse stoßen, scheint in der Tat unvermeidlich. Gerade im intertextuellen Bezug fällt nun aber für Calvino das kybernetische Interesse mit dem psychoanalytischen Interesse zusammen. Das Zitat ist gleichzeitig Ausdruck einer kombinatorischen Logik und Ausdruck einer den Raum der Sprache sprengenden Macht. Spätestens in La vie mode d’emploi wird das Zitieren daher selbst zum Teil der oulipistischen Technik. Handelt es sich in Perecs letztem großen Roman freilich zumeist um verdeckte Zitate (die zwar fast immer durch subtile Hinweise angekündigt werden, aber dennoch nur von ausgesprochenen Kennern zu identifizieren sind), so liegen die Dinge in La disparition ein wenig anders. Ein erheblicher Teil der höchst zahlreichen lipogrammatischen Reskriptionen im Roman nämlich wird vom Autor mehr oder weniger deutlich offen gelegt. Das gilt nicht nur für die offenen lipogrammatischen Reskriptionen der Gedichte Brise marine von Mallarmé, Les chats, ... von Baudelaire, Booz endormi von Victor Hugo, Les voyelles von Rimbaud, sowie für die lipogrammatische Übersetzung des Hoheliedes, sondern auch für einen wichtigen Teil der in den Roman integrierten Reskriptionen etwa von Bioy Casares’ 37 Dossier L’invenciòn de Morel, Melvilles Moby Dick, Roussels Locus Solus sowie Maurice Pons’ Rosa. Auf die Reskriptionen von Borges, Mann und Poe sowie auf die Anleihen bei Lacan hatten wir bereits hingewiesen. Gemeinsam mit den zahlreichen, fast immer mehrfach motivierten intertextuellen Querverweisen auf Autoren wie Aragon, Christie, Rabelais, Kafka, Larbaud, Leiris, Proust, Sterne, Verne u.a., entsteht so ein intertextuelles Gewebe von seltener Dichte und ganz außerordentlichem Beziehungsreichtum. Die Offensichtlichkeit der Zitate ist nun deshalb von so grundsätzlicher Bedeutung, als die Zitate im Roman ja einem transformativen Zwang unterliegen, der sich nach dem Gesagten unschwer als Chiffre für psychische Zwänge deuten lässt. Schon aus formalen Gründen sind die aufgegriffenen Stoffe also einer machtvollen Verformung ausgesetzt; einer Verformung freilich, die von den Protagonisten nicht als solche zu erkennen ist und die beim Leser natürlich die Kenntnis der literarischen Modelle voraussetzt. Wir haben es also bei diesen Reskriptionen mit einer Art intralingualer Übersetzungsproblematik zu tun, die allen interlingualen Übersetzungen des Textes immer schon vorausgeht. 21 In welcher Weise diese Reskriptionen die Ausgangstexte transformieren und in welcher Weise sich diese Transformationen im Text als Metaphern einer psychischen Verdrängung präsentieren, kann man besonders anschaulich an den Geschlechterverschiebungen nachvollziehen, die das fehlende ‘E’ erforderlich macht. Auf diese Weise wird aus Brise marine ‘Bris marin’ und aus Blanche ou l’oubli, ‘Blanc ou l’oubli’, etc. Der Text, den wir als ironisch-subtile Auseinandersetzung mit der Problematik des Vaters und des Gesetzes verstehen können, unterliegt nicht zufällig einer machtvollen Maskulinisierung aller Bezüge. Ist ein erheblicher Teil der verarbeiteten Subtexte mit der Thematik des ‘blanc’, d.h. der Auslassung verbunden, so Melvilles Moby Dick (der weiße Wal), so Aragons Roman Blanche ou l’oubli, so der Don Juan Stoff von Mozart/ da Ponte mit dem „uom di sasso, uomo blanco“ (im Übrigen natürlich auch eine klassische Tabubruch und Verdrängungsmetapher), so Roussels Locus Solus (mit den berühmten „signes du blanc sur les bandes du billard“) oder Leiris Biffures, Texte, die auf diese Weise sämtlich eine unorthodoxe Reinterpretation erfahren, soll zum Abschluss der vorliegenden Überlegungen ein besonderer Blick auf solche Autoren geworfen werden, die im engeren Sinne der fantastischen Literatur zugerechnet werden können und schon deshalb ein besonders intimes Verhältnis zur Problematik des Phantasmatischen aufweisen, d.h. Borges, Casares und Kafka. Da auf die Erzählung El Zahir von Borges bereits eingegangen wurde, werde ich mich auf Casares und Kafka konzentrieren. Gleich im zweiten Kapitel der Disparition phantasiert sich der Protagonist Anton Voyl, ohne zu wissen warum („sans savoir tout à fait où naissait l’association“, S. 32), als Teil eines Romans von Isidro Parodi oder Honorio Bustos Domaicq, in dem man unschwer Bioy Casares Roman La invenciòn de Morel erkennt. 22 Die Fantasie des Protagonisten wird also von vorneherein als eine Art Lapsus gekennzeichnet. Die sich über 8 Seiten erstreckende Reskription des Romans beginnt mit den Worten „Il avait nom Ismail, lui aussi.“ (S. 32). Was zunächst rätselhaft wirkt (umso 38 Dossier mehr als der Protagonist in Bioy Casares Roman keinen Namen hat), erklärt sich im weiteren Verlauf des Romans spätestens, wenn Perec den Moby Dick-Stoff nacherzählt, dessen Erzähler bekanntlich ebenfalls Ismail heißt. 23 Wie auch immer, der Roman von Bioy Casares ist bekanntlich die Geschichte einer Art technisch produzierten Halluzination. Der Ingenieur Morel hat auf einer einsamen Pazifikinsel eine Art Cyberparadies erschaffen. Mit Hilfe einer komplizierten technischen Apparatur ist es ihm gelungen, in der Art eines Superhologramms die körperlichen Eigenschaften und Bewegungen von Menschen zu speichern und wiederzugeben. Auf der Insel wird seitdem in einer ewigen Wiederkehr des Gleichen eine Woche im Leben einer Gruppe von Freunden abgespielt, in deren Mittelpunkt der Erfinder Morel selbst und die schöne Faustine stehen. Leider ist diese technische Errungenschaft einer ewigen Cyberexistenz mit dem Verfall der eigentlichen körperlichen Existenz verbunden. Das ewige Leben beruht also auf einer Art Teufelspakt, der schon durch den Namen Faustine in den Text eingespielt wird. Als der zu Unrecht zu Tode verurteilte Erzähler und Protagonist auf der Flucht vor der Polizei zufällig auf die Insel gelangt, findet er sich also mit einer Gruppe von Menschen konfrontiert, die ihm zunächst große Angst einjagen, und von denen er erst langsam begreift, dass sie bereits lange tot sind und nur über eine künstliche Existenz verfügen. Die Menschen auf der Insel sind also gewissermaßen moderne Gespenster, Untote, die dazu verdammt sind, auf Ewigkeit ein verlebtes Leben zu simulieren, und mit denen keinerlei Interaktion mehr möglich ist. Das hindert Ismael bekanntlich aber nicht, sich in eine dieser Gestalten, nämlich die schöne Faustine, zu verlieben. Die Geschichte bekommt dadurch mehr und mehr Züge eines Alptraums und bis zum Ende bleibt unklar, ob es sich nicht bei der ganzen Geschichte um eine Wahnvorstellung des Erzählers handelt. 24 Für unseren Zusammenhang ist die Geschichte um den Erfinder Morel und die schöne Faustine nun zusätzlich deshalb interessant, als hier ebenfalls eine Art ödipale Problematik im Zentrum steht. Tatsächlich erscheint der Erfinder Morel als eine Art Gott und Herr über ein neues künstliches Leben, als ein Übervater, der vom Erzähler herzlich dafür gehasst wird, weil er ihm ein Verhältnis mit der schönen Faustine unterstellt. Nicht umsonst wird Morel von Perec als „individu barbu“ (S.38) charakterisiert und damit unmittelbar mit der Autor- und Vaterfigur des ‘Barbu’ im Roman in Beziehung gesetzt. Das ganze Begehren des Erzählers ist von nun an darauf ausgerichtet, sich an die Stelle Morels zu setzen und seinen Platz an der Seite Faustines einzunehmen. Im wahren Leben ist dies freilich ebenso wenig möglich wie in der Cyberwelt. Erst ein zukünftiger neuer Apparat wird es ermöglichen, wie im Leben fremde Elemente in die Cyberwelt einzuschleusen: Y algún día habrá un aparato más completo. Lo pensado y lo sentido en la vida — o en los ratos de exposición — será como un alfabeto, con el cual la imagen seguirá comprendiendo todo (como nosotros, con las letras de un alfabeto podemos entender y componer todas las palabras). La vida será, pues, un deposito de la muerte.25 39 Dossier Der Erzähler phantasiert also eine neue und noch perfektere Maschine, die wie das Alphabet mithilfe der Buchstaben in der Lage ist, die ganze Wirklichkeit zu umfassen. Da der Erzähler Faustine weder in der Realität noch in der Simulation lieben kann, beschließt er bei Bioy Casares am Ende wenigstens in einer Art Simulation der Simulation als Liebhaber an ihrer Seite zu stehen. Er will also die Vaterfigur verdrängen, indem er sich gleichsam in die Simulation hineinprojiziert. Er eignet sich also die hologrammatische Technik Morels an, um Morel seinen Platz an der Seite Faustines streitig zu machen. Um den Preis seines eigenen Lebens beschließt er Teil einer künstlichen Wirklichkeit zu werden, die sich phantasmatisch an die Stelle der ursprünglichen Wirklichkeit setzt. Es leuchtet ein, dass genau diese Wende dem Perecschen Protagonisten Ismael nicht möglich ist. Der Wunsch, sich an die Stelle des ‘barbu’ zu setzen, ist schlechterdings unartikulierbar und Anton Voyl/ Ismael bleibt ratlos und verwirrt zurück. Eine ähnliche Vaterproblematik scheint mir nun auch den intertextuellen Bezügen zu Kafka zu Grunde zu liegen, der nicht umsonst zu Perecs allgegenwärtigen Bezugspunkten gehört. Wie erwähnt endet der Roman La disparition damit, dass auch noch der letzte Überlebende der Kinder des ‘Barbu’ von Aloysius Swann eliminiert wird. „Il sortit son Smith-Corona. D’un trait, il raya Arthur Wilburg Savorgnan qui s’affaissa, mort.“ (S. 303). Bereits Marc Pareyre hat darauf hingewiesen, dass es sich bei der Mordwaffe, der Smith-Corona, nicht etwa um eine Pistole, sondern um eine Schreibmaschine handelt, die nicht über ein Farbband, sondern - seinerzeit unüblich - über eine Farbpatrone verfügte. 26 Das Romanende unterstreicht damit noch einmal, dass die ödipale Problematik im Roman eine genuin literarische Problematik ist. Ähnlich wie in Pirandellos bekannter Erzählung „Tragedia di un personaggio“ wehrt sich der Autor gegen eine Rebellion seiner Figuren. Wenige Zeilen später spricht der Kommissar und Mörder Aloysius Swann gewissermaßen ein Schlusswort: Oui, affirma Aloysius Swann, voici parcouru jusqu’au bout, jusqu’au fin mot, l’insinuant circuit labyrinthal où nous marchions d’un pas somnambulant. Chacun, parmi nous, offrit sa contribution, sa participation. Chacun, s’avançant plus loin dans l’obscur du non-dit, a ourdi jusqu’à sa saturation, la configuration d’un discours qui, au fur qu’il grandissait, n’abolissait l’hasard du jadis qu’au prix d’un futur apparaissant sans solution, à l’instar d’un fanal n’illuminant qu’un trop court instant la portion d’un parcours, lors n’offrant au fuyard qu’un jalon minimal, fil d’Ariana toujours rompu, n’autorisant qu’un pas à la fois. Franz Kafka l’a dit avant nous: il y a un but, mais il n’y a aucun parcours; nous nommons parcours nos dubitations.27 Sicher nicht zufällig gemahnt das abschließende Kafkazitat 28 aus den Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg (erschienen 1931) an die berühmte Gesetzesparabel im Prozess. Wie für den Kafkaschen Mann vom Lande erweist sich für die Protagonisten der Disparition das Gesetz/ die Contrainte als ebenso undurchdringliches wie unerbittliches Prinzip. Wie der Mann vom Lande begreifen die Protagonisten Perecs zwar die Macht des Gesetzes, aber nicht seine 40 Dossier Logik. Der Weg durch das Tor der Erkenntnis steht weit offen und kann dennoch nicht beschritten werden. Ich hatte bereits weiter oben angedeutet, dass sich der phantasmatische Kern der Disparition vollständig nur erschließt, wenn man den Roman in seiner konzeptionellen Einheit mit dem komplementären Roman Les revenentes von 1972 liest. Die als Opfer eines tabuisierenden Verbots verdrängten ‘e’s drängen hier in einer Weise in den Text zurück, dass sie ihn vollständig ausfüllen und überwuchern. In genau diesem Freudschen Sinne erweisen sich die ‘e’s als Gespenster, als ‘ Revenentes ’ . Das Lipogramm verwandelt sich in einen Monovokalismus. Auch die Revenentes präsentieren sich auf der Oberflächenebene als Kriminalroman. Im Mittelpunkt steht eine Gangsterbande um den Ich-Erzähler Clément, der den Schauspielstar Bérengère de Bremen Brévent bei einem Besuch im Bischofspalais um ihre Brillanten erleichtern will. Während die Vordergrundhandlung in diesem Juwelenraub besteht, dreht sich die eigentliche Handlung in metonymischer Erweiterung, oder metaphorischer Umschreibung freilich eher um jene anderen „bijoux de familles“ („les gemmes des encêtres“, S. 96), als die der Volksmund die Geschlechtsorgane bezeichnet und die spätestens seit Diderot auch Teil des literarischen Erbes sind. Dominieren in der Disparition also wie wir gesehen haben die Figuren des Lapsus und des Intertextes, so werden die Revenentes nicht zufällig vor allem von einem Disseminieren der Bedeutungen und einem Proliferieren von Polysemien und Metonymien geprägt. Fast die Hälfte des Romans wird daher von der minutiösen Beschreibung einer Orgie im Bischofspalast ausgefüllt. Diese Orgie verkörpert gewissermaßen die explosionsartige Entfaltung des unterdrückten Begehrens und bildet nicht zuletzt eine ironische Verbeugung vor dem göttlichen Marquis der Surrealisten und vor der libertinen Literatur des 18. Jahrhunderts, die u. a. über die Figur der Thérèse (Marquis d’Argens: Thérèse philosophe 1748) in den Text eingespielt wird. Wie bei De Sade entfaltet die große Orgie bei Perec ein denkbar breites Spektrum sexueller Deviationen (Inzest, Sodomie, Flagellation, Päderastie etc.), die in vielerlei Hinsicht den bekannten de Sadeschen Inszenierungen auf Schloss Silling folgen. Freilich verbleibt die Explosion des Begehrens bei Perec bewusst im engeren Bereich des Sexuellen, im eigentlichen Sinne sadistische Praktiken sexueller Gewalt finden sich nicht. Eine besondere Pointe des Romans besteht nun darin, dass die strenge lipogrammatische Gesetzmäßigkeit im Laufe der Erzählung zunehmend gelockert wird und bei Beibehaltung des graphischen e-Verbots phonetisch eine Reihe von Umgehungen des Verbots zugelassen werden. So etwa wenn das offene ‘a’ in ‘grand’, graphisch durch das phonetisch ähnliche ‘grend’ ersetzt wird, und wenn französische Wörter in englischer Graphie erscheinen „le sleep“ für „le slip“ und „éveedemment“ für „évidemment“. Das unkontrolliert und obsessiv wuchernde ‘e’ droht also im Verlauf des Romans die lipogrammatische Regel zunehmend zu sprengen. Am Ende finden sich im Text gar ein großgeschriebenes Q für ‘cul’, etwa 41 Dossier in „testeeQles“ für „testicules“, welches den phonetischen Monovokalismus endgültig unterläuft. Wie in La disparition besteht freilich der eigentliche Reiz des Textes wieder in der thematischen Integration der Contrainte-Problematik in die Romanhandlung. Ein besonders eindrückliches Beispiel findet sich an prominenter Stelle auf dem Höhepunkt der Orgie, wo sich eine Kontroverse zwischen den Anhängern einer nach de Sadescher Manier streng regelhaften Inszenierung des Transgressiven und den Anhängern einer laisser-faire Kultur der sexuellen Befreiung entspinnt: Déceedement, pretend ce prêtre, ces enchevêtrements menquent de steel, et le steel, c’est l’être même! Certes, je le sé c’est leebrement qe se leeqeede l’Edeepe, mets qend même, ces scènes ne cessent de dégénérer. Tel bèze et tel se lesse fère, tel se brenle et tel se fêt lécher, mets ce n’est règlé, ce n’est pensé. Z’ètes tels des bêtes! Et, en tent q’esthète, je le regrette extrèmement.29 Der im Roman vorgetragenen Forderung nach sexueller Befreiung und freier Liebe und vor allem nach Liquidierung der autoritären Vatergesellschaft („c’est leebrement qe se leeqeede l’Edeepe“) setzt der Sprecher Père Tencrède also die Überzeugung entgegen, dass Kunst und Kreativität die Regel und das Gesetz benötigen wie der Fisch das Wasser. Auch die Revenentes erweisen sich damit noch einmal als groß angelegte Mise en abyme der oulipistischen Contrainte. Während die Vertreter der 68er Revolution im Roman davon träumen, die Tabus der ödipalen Gesellschaft ein für alle Mal zu verabschieden, bleibt selbst die orgiastische Inszenierung des Begehrens bei Perec ihrem oulipistischen Credo gegen alle Auflösungserscheinungen treu. Nur um diesen Preis erscheint die ästhetische Durchformung der Welt möglich. 1 Italo Calvino: Cibernetica e fantasmi. In: Una pietra sopra. Turin: Einandi 1980, S. 174 „Abbiamo detto che la letteratura è tutta implicita nel linguaggio, è solo permutazione d’un insieme finito d’elementi e funzioni? Ma la tensione della letteratura non è forse rivolta continuamente a uscire da questo numero finito, non cerca forse di dire continuamente qualcosa che non sa dire, qualcosa che non può dire, qualcosa che non sa, qualcosa che non si può sapere? “ 2 Calvino, ebda. S. 175. 3 Charakteristisch hierfür ist Claude Burgelins Studie Les parties de dominos chez Monsieur Lefèvre, Perec avec Freud - Perec contre Freud (Paris 1996), die zwar in vorzüglicher Weise die Bedeutung Freuds für Perecs literarische Techniken in La vie mode d’emploi freilegt, die aber etwa den historischen Zusammenhang mit jener ersten großen Welle psychoanalytisch inspirierter Literatur, wie sie im Frankreich der 20er Jahren durch die Surrealisten um André Breton initiiert wird, völlig ausblendet. Auffälliger Weise wird derjenige Roman Perecs, an dem sich dieser Zusammenhang besonders deutlich nachweisen lässt, nämlich La disparition, von Burgelin in seinem Buch nur ganz an Rande gestreift. 4 Vgl. hierzu den berühmten, die strukturalistische Wende bei Lacan einläutenden Vortrag von 1953 „Le symbolique, l’imaginaire et le réel“. In: Jacques Lacan: Des Nomsdu-Père. Paris: Seuil 2005, S. 9-63. 42 Dossier 5 So Nadeau über Robbe-Grillet in ders.: Le roman français depuis la guerre, Paris: Gallimard 1970, S. 177. 6 „Ce decrassage de notre sensibilité, qu’en tant que tel nous pourrions admettre, dans la mesure où trop de signes, trop d’images, dépourvus aujourd’hui de tout contenu, continuent d’encombrer notre vision du monde, s’accompagne chez Robbe-Grillet d’un tour de passe-passe qui laisse apparaître les véritables fondements de sa tentative: je vous décris la surface des choses - dit-il en substance - car (ou donc) on ne peut connaître que la surface des choses, et elle seulement. Le monde n’est que ce qu’on en voit. Il n’a pas de profondeur. Il est impénétrable. [...] Car le monde ne signifie rien. ‹Il est tout simplement›“ Georges Perec: Le nouveau roman et le refus du réel, in: ders.: LG. Une aventure des années soixante. Paris: Seuil 1992, S. 34. 7 Bekanntlich hat sich Roland Barthes in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France auf genau diesen Lacanschen Begriff des Realen berufen: „Le réel n’est pas représentable, et c’est parce que les hommes veulent sans cesse le représenter par des mots, qu’il y a une histoire de la littérature.“ Roland Barthes: Leçon. Paris: Seuil 1978, S. 22. 8 Damit soll keine kohärente Lacansche Lektüre des Perecschen Romans angestrebt werden. Zwar scheinen mir Lacansche Motive im Roman unübersehbar, das Motiv der Suche nach dem Verschwundenen ‘E’ im Roman entzieht sich aber offensichtlich einer einsinnigen Deutung. Im vorliegenden Kontext kann es insofern neben- und nacheinander als Chiffre für das Lacansche Reale, das Freudsche Unbewußte und das Verdrängte gelesen werden. 9 Es sei nur am Rande erwähnt, dass auch im Rahmen der Lacanschen Theorie das Reale und Unsagbare auf unterschiedliche Weise mit dem Grauen verschmilzt. 10 Calvino, op.cit., S. 175. 11 Perec: La disparition, S. 149. Gerade dieses Detail ist natürlich zu Recht immer wieder mit der Auschwitz-Thematik in Verbindung gebracht worden. 12 „A Azincourt, un chaton d’opalin corindon fut Zahir, un chaton ovoïdal, pas plus grand qu’un lotus, comportant trois poinçons distincts: au haut, on aurait dit la Main à trois doigts d’un Astaroth; au mitan, un huit horizontal à coup sûr signalant l’Infini; au bas, un rond pas tout à fait clos finissant par un trait plutôt droit.“ Perec: La disparition, S.149. 13 Jorge Luis Borges: El Zahir. In: ders.: Obras completas I. Barcelona: RBA - Instituto Cervantes 2005, S. 593. 14 „Also heimlich ist ein Wort, das seine Bedeutung nach einer Ambivalenz hin entwickelt, bis es endlich mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.“ Freud, Sigmund: Das Unheimliche (1919). In: ders.: Der Moses des Michelangelo. Schriften über Kunst und Künstler. Einleitung von Peter Gay. Ffm.: Fischer 1993, S. 145. 15 Freud, op.cit., S. 160. 16 Vgl. Hans Hartje: Cherchez l’intrus: L’élu dans La disparition. In: Jacqueline Sessa (ed.): Figures de l’exclu. Saint-Etienne: Publications de l’université 1999, S. 345-352. 17 Perec: La disparition, S. 43. 18 Jacques Lacan: Les formations de l’inconscient, vol 5 du Séminaire. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Paris: Seuil 1998, S. 143ff. 19 Vgl. dazu Stella Béhar: Masculine/ Feminine: Georges Perec’s Narrative of the Missing One. In: Neophilologus 79.3 (1995), S. 409-419. 20 Vgl. dazu: Heather Mawhinney: „Vol du bourdon“: The Purloined Letter in Perec’s „La disparition“. In: The Modern Language Review, 97.1 (2002), S. 47-58. 43 Dossier 21 Während in der Forschung die interlingualen Perec-Übersetzungen, die verständlicherweise ganz besondere Anforderungen an den Übersetzer stellen, stets besonderes Interesse gefunden haben, sind diese intralingualen Übersetzungen oder Reskriptionen in der Vergangenheit eher vernachlässigt worden. 22 Der Verweis auf Casares gehört zu den kaum verdeckten intertextuellen Bezügen, insofern Isidro Parodi der Titelheld des Kriminalromans Seis problemas para Don Isidro Parodi ist, den Borges und Bioy Casares 1942 gemeinsam unter dem Pseudonym Honorio Bustos Domecq veröffentlicht hatten. 23 Bezeichnenderweise ist Ismael aber in der Bibel gleichzeitig der Sohn Abrahams, der nach der islamischen Tradition an Isaacs Stelle geopfert werden sollte. Wir hätten es also gleichzeitig wieder mit der Vater-/ Gesetz-/ Nom du père-Problematik zu tun. 24 „Estar en una isla habitada por fantasmas artificiales era la más insoportable de las pesadillas; estar enamorado de una de esas imágenes era peor que estar enamorado de un fantasma (tal vez siempre hemos querido que la persona amada tenga una existencia de fantasma).“ Adolfo Bioy Casares: La invención de Morel. Madrid: Alianza editorial 2002, S. 95. 25 Adolfo Bioy Casares: La invención de Morel. Madrid: Alianza editorial 2002, S. 103. 26 Marc Pareyre: Formes de l’énigme dans la Disparition de Perec. In: Bernard Magné/ Christelle Reggiani (eds.): Ecrire l’énigme. Paris: PUPS 2007, S. 147. 27 Perec: La disparition. S. 304. 28 „Es gibt ein Ziel aber keinen Weg, was wir Weg nennen, ist Zögern.“ Franz Kafka: Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg. In: Franz Kafka: Gesammelte Werke, Bd. 7 Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlass, hrsg. von Max Brod. Frankfurt: Fischer 1946, S. 42, 83. 29 Perec: Les revenentes. Paris: Seuil 1972, S. 113-114.
