eJournals lendemains 35/140

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2010
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Reflexionen zu einem roman oulipien und zwei romans d’oulipien(ne): Sphinx und Pas un jour von Anne F. Garréta

121
2010
Astrid Poier-Bernhard
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73 Dossier Astrid Poier-Bernhard Reflexionen zu einem roman oulipien und zwei romans d’oulipien(ne): Sphinx und Pas un jour von Anne F. Garréta 1. Potentialität und Contrainte als Grundlagen der ‘Oulipoetologie’ - in Abgrenzung zum nouveau (nouveau) roman Anstelle von einem roman oulipien zu sprechen, zieht Marcel Bénabou es vor, den Begriff des roman d’oulipien einzuführen: Existe-t-il, dans le paysage littéraire contemporain, quelque chose que l’on pourrait légitimement nommer „le roman oulipien“? Je ne le crois guère. L’OuLiPo n’étant pas, et n’ayant jamais aspiré à être, une école littéraire (avec ce que ces mots comportent de morgue dogmatique), il ne saurait y avoir de „roman oulipien“ comme genre homogène précisément défini. Mais il existe incontestablement, plus conforme à la manière de l’OuLiPo - qui est d’être un atelier d’exploration des ressources du langage - une façon oulipienne d’aborder les problèmes que pose l’écriture romanesque.1 Das Argument, das Bénabou hier anführt, betrifft das Fehlen einer ‘Schule’. Als ‘Schule’ verstanden sich die nouveaux romanciers ebenfalls nicht, auch wenn man sie als „école du refus“ 2 oder „école du regard“ bezeichnete. Innerhalb von beiden Kreisen sind im Hinblick auf die einzelnen literarischen Arbeiten große Unterschiede auszumachen; von einem „genre homogène précisément défini“ wird man auch in Bezug auf den nouveau roman nicht sprechen können; ein wesentlicher Unterschied liegt jedoch darin, dass in der theoretischen Reflexion der nouveaux romanciers - v.a. von Robbe-Grillet - klar herausgearbeitet wurde, wie man sich einen der zeitgenössischen Wirklichkeits- und Subjekterfahrung entsprechenden Roman vorstellte und wodurch sich dieser von der aus dem 19. Jahrhundert übernommenen, ‘ pseudo-balzacschen Erzählweise ’ abzuheben hatte: Eine Ästhetik wurde formuliert, ein mit Abgrenzungskonzepten operierendes Avantgarde-Bewusstsein wurde kultiviert. Wenn es Oulipo dagegen um die „potentialité“ geht, kann eine solchermaßen offene Poetik nicht zu einem beschreibbaren Modell eines ‘oulipotischen Romans’ führen, sondern muss gerade alle erdenklichen, eben potentiellen Romane ermöglichen und noch dazu solche, die durch ihre Realisierung im Schreibprozess die Potentialität nicht aufheben, sondern gewissermaßen als Prinzip in sich tragen. Oulipo wollte und will bekanntlich aus allem schöpfen: Die Literatur der Vergangenheit wird folglich nicht abgelehnt, sondern bildet im Gegenteil einen reichen Fundus von Formen, Motiven und Texten und wird neben Sprache und Imagination zum kombinationsfähigen Material des eigenen Schaffens. Auf das bewusste - nicht 74 Dossier zufällige - Spiel der Möglichkeiten und das Spiel mit den Möglichkeiten kommt es den AutorInnen der weiterhin aktiven Werkstatt für potentielle Literatur an. Eine Festlegung des Erzählmodus, wie Robbe-Grillet sie in der Wahl der geringen Distanz im Beobachtermodus (focalisation externe in der Begrifflichkeit Genettes) vielfach vornahm, hatte - wie er jedenfalls später erklärte - ihren Hintergrund im Konzept, dadurch ein verändertes, im Husserlschen Sinn auf die phänomenale Wahrnehmung eingestelltes Bewusstsein auszudrücken und im Leser möglicherweise auch zu wecken. Queneau hatte schon 1937 mit seinen Exercices de style ein oulipotisches bzw. präoulipotisches Werk geschaffen, das - inspiriert durch Bachs Kunst der Fuge - das Schaffen von Wirklichkeiten im Prisma von verschiedensten Erzählmodi und -haltungen vorführte; in seinem 1965 veröffentlichten Roman Les Fleurs bleues parodierte er Robbe-Grillets ‘Beschreibung im Zoom’ wie z.B. die der Tomatenspalte aus Les Gommes (die den Bruch einer Membran und das Heraustreten einiger Tomatenkerne aus ihrem ansonsten perfekten Viertel zum Gegenstand hat) in einer - das für Robbe-Grillet typische, geometrisch-technische Vokabular aufnehmenden - Beschreibung einer Kappe, die den Kopf des Chefs der „bar Biture“ ziert: […] il porte une casquette carrée semi-ronde ovale en drap orné de pois blancs. Le fond est noir. Les pois sont de forme elliptique; le grand axe de chacun d’eux a six millimètres de long et le petit axe quatre, soit une superficie légèrement inférieure à dixneuf millimètres carrés. La visière est faite d’une étoffe analogue, mais les pois sont plus petits et de forme ovale. Leur superficie ne dépasse pas dix-huit millimètres carrés. Il y a une tache sur le troisième pois à partir de la gauche, en comptant face au porteur de la casquette et au plus près du bord.3 Queneau verwendet hier als Mittel der Parodie nicht nur die übertriebene Präzision, sondern auch ein weiteres Merkmal des nouveau roman: die Widersprüchlichkeit. Die Detailgenauigkeit der Beschreibung ergibt kein kohärentes, sondern ein paradoxes Bild und zieht damit eben die Detailgenauigkeit der Beschreibung ins Lächerliche. Natürlich weckt das Objekt der Kappe auch die Assoziation von Charles Bovarys Kappe, was jedoch indirekt wieder auf die nouveaux romanciers zurückverweist, die Flauberts Ideal eines „livre sur rien […] qui se tiendrait de luimême par la force interne de son style“ 4 auf ihre Weise verfolgten. Widersprüchlichkeit, Lückenhaftigkeit und Fragmentierung hatte Robbe-Grillet 1987, d.h. im Rückblick, als die zentralen Kennzeichen des nouveau roman bezeichnet. 5 Es wäre möglich, Queneaus gesamten Roman Le Vol d’Icare, in dem die Figuren dem Roman abhandenkommen, 6 als parodistische Replik auf eine Aussage zu lesen, die Robbe-Grillet - später „le pape du nouveau roman“ - in seinem grundlegendem Artikel Sur quelques notions périmées getätigt hatte: „Le roman des personnages appartient bel et bien au passé“. 7 Konkret scheint folgende Stelle darauf anzuspielen - wobei Queneau im Monolog der Autor-Figur Hubert Lubert noch eine spielerische Inversion von Pirandellos Sei personnaggi in cerca d’autore unterbringt: 75 Dossier HUBERT (devant une feuille de papier blanc) […] Ah! Icare! Icare! pourquoi fuir le destin que je t’ai fixé? Où as-tu échoué en voulant voler de tes propres ailes? […] Quel sort que celui d’un romancier sans personnages. Peut-être un jour en sera-t-il ainsi pour tous. Nous n’aurons plus de personnages. Nous deviendrons des auteurs en quête de personnages. Le roman ne sera peut-être pas mort, mais il n’y aura plus de personnages. Difficile à s’imaginer, un roman sans personnages.8 Zieht man die Differenzen in den Ausrichtungen und Anliegen der beiden Gruppierungen - nouveau roman versus Oulipo - in Betracht, überrascht nicht, dass Queneau sich explizit und implizit mehrfach vom nouveau roman distanzierte. 9 Wenn man die oulipotische Romanproduktion selbst in den Blick nimmt, zeigen sich dagegen auch einige auffällige Parallelen: Die drei von Robbe-Grillet hervorgehobenen Aspekte - Widersprüchlichkeit, Lückenhaftigkeit und Fragmentierung - lassen sich in vielen Romanen der Oulipiens nachweisen, ebenso wie die für den nouveau roman typischen mises en abyme, aber auch der aktive Part, der dem Leser zugeschrieben wird und nicht zuletzt die vielfältige, bewusst praktizierte intertextuelle Dimension. In beiden „Gruppierungen“ finden sich außerdem zahlreiche Texte, in denen mit Kriminalromanstrukturen gearbeitet oder gespielt wird - ohne dass dadurch „der Krimi“ als eingeführtes Genre erfüllt würde. Dabei handelt es sich natürlich um Gemeinsamkeiten, die nicht nur für den nouveau roman und den roman d’oulipien gelten und sich keineswegs auf den französischen Sprachraum beschränken. Oulipo schreibt sich in die Entwicklung des Romans in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein und wirkt in doppelter Weise auf diese zurück: Erstens durch die Texte selbst, zweitens durch die Ausbildung einer spezifischen Poetologie, die die „potentialité“ als ihr Ziel bezeichnet und sogenannte Contraintes - formale oder semantische Textbildungsregeln - als ihr Mittel. Es gibt heute eine Reihe von AutorInnen außerhalb der Gruppe, die mit „oulipotischen Methoden“ arbeiten. 10 Contrainte bedeutet dabei jedoch keineswegs „nur Methode“. Spielerische und methodische Aspekte fallen in der Contrainte zusammen. Beim Verfassen eines literarischen Textes eine nicht-normative Regel anzuwenden, zeugt von einer implizit ludischen Ausrichtung. Mit dem Ausloten von Möglichkeiten, also der Potentialität in Zusammenhang steht der Umstand, dass viele Texte jedoch auch explizit ludischen Charakter haben und sichtbar mit den Wörtern spielen, den Elementen der Geschichte, den Regeln literarischer Kommunikation, der Gattung usf. In der Ahnengalerie von Oulipo rangieren sowohl „die großen Spieler“ 11 wie Rabelais, Diderot, Sterne, Carrol oder Joyce als auch die „Methodiker“, denen in der Literaturgeschichte eher marginale Bedeutung zugeschrieben wird - Daniel Arnault, dem die Erfindung der bei den Oulipiens so beliebten Sestine zu verdanken ist, die Grands Rhétoriqueurs oder die Vorväter kombinatorischer Literatur, Quirinus Kuhlmann und Raimundus Lullus. Mallarmé und Roussel genießen ebenfalls eine besondere Hochachtung - Roussel dank der verschiedenen „procédés“, die ihn zu 76 Dossier einem oulipotischen „plagiaire par anticipation“ machen, 12 Mallarmé dank seiner subtilen, experimentellen Arbeit mit dem ‘Material’ der Dichtung - der Sprache. „Je crois que notre bon Mallarmé est parfaitement potentiel“, hatte Raymond Queneau bei einem Treffen der Oulipiens im Jahre 1962 konstatiert. 13 Mallarmés „sonnet allégorique“, das er selbst auch als „sonnet inverse“ bezeichnete, da der Ausgangspunkt der Sinnbildung nicht eine ideelle Vorstellung, sondern das Sprachmaterial in seiner suggestiven Lautlichkeit und seinem Bedeutungspotential war (nämlich die festgelegten Reimwörter), stellt aus der Sicht der Werkstatt ebenfalls ein „antizipatorisches Plagiat“ oulipotischer Praxis dar. 14 In seinem frühen, 1937 und damit lange vor der offiziellen Gründung Oulipos verfassten Artikel Technique du roman drückte Queneau seine Unzufriedenheit darüber aus, dass man an das Schreiben von Romanen ohne all die Regeln und Formreflexionen herangehe, die mit dem Verfassen von „poésie“ verbunden seien: Alors que la poésie a été la terre bénie des rhétoriqueurs et des faiseurs de règles, le roman, depuis qu’il existe, a échappé à toute loi. N’importe qui peut pousser devant lui comme un troupeau d’oies un nombre indéterminé de personnages apparemment réels avec une lande longue d’un nombre indéterminé de pages et de chapitres. Le résultat, quel qu’il soit, sera toujours un roman. Je voudrais donc exposer ce que peut être une technique consciente du roman, telle que j’ai cherché moi-même à la pratiquer.15 Queneau, dem es um eine „technique consciente du roman“ 16 geht, legt in der Folge dar, welche Zahlen, Formen und Prinzipien seine Romane Le Chiendent, Gueule de Pierre und Les Derniers Jours bestimmen. Bereits von diesem Zeitpunkt an entwickelt Queneau den später im Rahmen von Oulipo verfolgten Ansatz, (auch) die romaneske Arbeit zu ‘poetisieren’ - durch ein höheres Maß an Aufmerksamkeit für das Detail, für intratextuelle Strukturen, eben die ‘Komposition’, die sich nicht unmittelbar aus der erzählten Geschichte ergibt. Eine weitere Idee zur Erneuerung des Romans, die nicht durch einen Verzicht bzw. eine Verweigerung bestimmter Darstellungsmodi verfolgt wird, liegt in der Integration von formalen Konzepten. Sowohl die ‘Poetisierung im traditionellen Sinn als auch die Schaffung von Ordnungsmustern - welche ästhetisch wirksam werden können oder auch nicht - sind Strategien, die den Artefaktcharakter des literarischen Textes in den Vordergrund rücken. „La littérature est par nature (si l’on ose dire) un artefact“, 17 formulierte der Oulipien Hervé Le Tellier pointiert. Mit dem nouveau roman und auch dem nachfolgenden nouveau nouveau roman hat Oulipo eine nicht-illusionistische, nicht repräsentierende Ausrichtung gemein. 18 Oulipo spielt jedoch nicht - wie spätestens Tel Quel - den Signifikanten gegen das Signifikat aus, nicht den künstlerischen Akt oder „die Sprache“ gegen die Erfahrungswelten, die in narrativen Texten ihren Raum beanspruchen bzw. darin durchaus „lebendig werden“. Im von Robbe-Grillet konstatierten Zeitalter der Matrikelnummer, in der die Figurencharakterisierung mitunter auf den Anfangsbuchstaben des Namens, das Geschlecht und ein paar weitere Informationen reduziert wurde, führt der oulipotische Roman das Erzählen aller Art von Menschen und Handlungen fort, 19 deren Kunst-Charakter jedoch nicht verhehlt wird - wodurch sie vielfach 77 Dossier auf verschiedenen Ebenen lesbar werden. „Personnages“ - ob in 1. Person erzählend oder in 3. Person erzählt - bilden in den romans d’oulipiens nach wie vor eine zentrale Grundkategorie des Textes, ebenso wie die „histoire“, gleichgültig ob in Form persönlicher (fiktiver oder [auto]biographischer) Geschichte oder in Gestalt der „Histoire avec sa grande hache“. 20 Auf keinen Fall zählen die Oulipiens jedoch zu den Autoren, die den Roman auf jene „pseudobalzacsche Weise“ fortsetzen, die Robbe-Grillet im Entwurf des nouveau roman insbesondere kritisiert hatte. Die Oulipo- und insbesondere Perec-Expertin Christelle Reggiani betrachtet die Anwendung von Contraintes geradezu als Mittel, dem Roman zu einem Zeitpunkt der Krise „das Romaneske“ wieder zu eröffnen: Je ferais alors l’hypothèse que l’intervention de contraintes d’écriture peut être comprise comme un moyen de faire revenir le romanesque dans le roman. Ce retour est à replacer dans son contexte historique: il se fait, et est pensé, contre l’économie radicale de l’écriture proposée, dans les années soixante, par les nouveaux romanciers et le groupe de Tel Quel, où le choix comparable à certains égards d’une structuration forte de l’écriture implique en revanche l’éviction totale du romanesque (comme genre aussi bien que comme catégorie). Roger Caillois parlait, chez les nouveaux romanciers, d’un „double renoncement à l’écriture sans contrainte et à l’imagination sauvage“: la réponse oulipienne, tout au contraire, fait de l’écriture sous contrainte le moyen d’une reconquête des prestiges de l’imagination.21 Weder ludische noch methodische Dimension oulipotischer Texte verhindern das Erzählen von Ereignissen, die Entfaltung von Geschichte(n). Gleichzeitig wird durch die ludische Dimension jedoch ein Abstand dazu hergestellt, ein Raum der Bewusstheit, der jedes illusionistische „So war es“ unterläuft; durch die methodische Dimension wird einerseits der Aspekt der Konstruktion hervorgehoben, andererseits drückt sich in der Anwendung vorzugsweise mathematischer Kategorien oder Contraintes auch das Bedürfnis aus, dem Chaos der verflochtenen, undurchschaubaren und in vielfach beliebig erscheinenden Ereignisketten ein Prinzip von subtiler, zum Teil ‘geheimer’, Ordnung entgegenzusetzen. Der ‘Formsinn’ der Contrainte kann jedoch auch ein ganz anderer sein: Sowohl ideologisch als auch ästhetisch ist die oulipotische Poetologie - ‘Oulipoetologie’ würde sich eigentlich als Bezeichnung anbieten - nicht festgelegt, sondern offen. Alle Arten von Themen, die die Autoren bewegen, können in oulipotischen, auf Contrainte beruhenden Texten entfaltet werden, wobei eine wichtige Funktion der Contrainte darin besteht, den Autor aus seiner persönlichen biographischen bzw. psychischen Gebundenheit herauszuführen und den Text auf eine überpersönliche Ebene zu heben. 2. Anne F. Garréta: Sphinx und Pas un jour Ich komme nun auf zwei „romans“ (wie es in der Titelunterschrift heißt) von Anne Garréta zu sprechen: Sphinx (1986), einen roman à contrainte, der erst später zum roman d’oulipienne wurde - Anne F. Garréta ist erst seit dem Jahr 2000 Mitglied von Oulipo - und Pas un jour (2002), einen Text, der ein Spiel mit der Regel insze- 78 Dossier niert und dabei genau genommen auf einer versteckten Contrainte beruht. Beide Texte ordne ich metaphorisch der Gattung „la famille des iridées“ zu, indem ich mir gestatte, diese Formulierung aus ihrem ursprünglichen Kontext - der 8. Strophe von Mallarmés Gedicht Prose pour des Esseintes - herauszulösen. Spielerisch einen typographischen Leerraum und damit eine Wortgrenze überwindend lässt Mallarmé in der Bezeichnung einer botanischen Gattung eine Verknüpfung von désir und idées aufleuchten und kreiert damit einen Begriff, der Garrétas schriftstellerische Aktivität sehr treffend charakterisiert. Garréta schloss 1982 in Fontenay die Ecole Normale Supérieure ab und lehrt seither in Paris und New York französische Literatur(wissenschaft) als Research Professor an der Duke University in den USA (North Carolina) sowie an der Université de Rennes. Von Beginn ihrer literarischen Tätigkeit an bekannte sie sich zu ihrer Homosexualität. Ihre schriftstellerische Aktivität versteht sie zum einen als Erkenntnisinstrument, zum anderen als Versuch, Gender-Stereotypen und tabuisierenden oder vulgären Repräsentationen des allgegenwärtigen und vielfach theoretisierten „désir“ einen zeitgemäßen und differenzierten Diskurs über den Eros entgegenzusetzen und mit einer Reflexion über philosophische Grundfragen und die zeitgenössische Denk- und Lebenskultur zu verbinden. Als Pas un jour von Anne Garréta im Jahre 2002 mit dem Prix Médicis ausgezeichnet wurde, kommentierte der Literaturkritiker Christian Soleil dieses Ereignis mit den Worten: On ne peut que se réjouir qu’il [ce livre] ait obtenu le prix Médicis, puisqu’il n’a rien fait pour le mériter. Non conforme jusqu’au bout des mots, il ne respecte aucune tradition littéraire, pas même le non-conformisme à la mode qui fait arpenter à certains inlassablement les rivages de l’autofiction, du nombrilisme ou du discours militant homosexuel.22 Aber bereits Garrétas Debütroman mit dem Titel Sphinx, 1986 bei Grasset publiziert, 23 erregte Aufsehen und weckte ein bis heute anhaltendes literaturwissenschaftliches Interesse. 24 Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht dabei eine sehr ungewöhnliche Contrainte: Garréta lässt das Geschlecht des erzählenden Ich wie das seines Liebespartners A*** unbestimmt. Hier die erste Textstelle im Rahmen des Incipit, in der A*** beschrieben wird: A*** dansait: j’ai passé des soirées à guetter son apparition sur la scène de l’Eden, cabaret bon ton de la rive gauche. Et qui ne se fut épris de cette charpente élancée, de cette musculature comme modelée par Michel-Ange, de ce satiné de peau dont rien de ce que j’avais connu jusqu’alors n’approchait? (S 10f.) A*** tanzte: Ich habe ganze Abende damit verbracht, A***s Erscheinen auf der Bühne des Eden, eines schicken Ladens auf der Pariser „rive gauche“, abzuwarten. Und wer hätte sich nicht in dieses hohe, schlanke Gestell verguckt, in diese wie von Michelangelo geformte Muskulatur, in den Satinschimmer der Haut, dem nichts von dem, was ich bis dahin gesehen hatte, auch nur annähernd gleich kam? 25 Das Ich studiert Theologie, besucht mit dem Padre, einer Art Mentor, einen Nachtclub, hilft dort, die Leiche eines Drogentoten, des DJ Michel, zu entsorgen und springt unmittelbar darauf in dessen Berufsrolle, wird also selbst zum DJ - übri- 79 Dossier gens in einer Diskothek mit dem doppeldeutigen Namen L’Apocryphe. Wäre das bereits genügend Gender-Konstruktion, um das Ich als männlich zu imaginieren? Für einen Rezensenten war es das offensichtlich - ihm war klar, dass das Ich männlich zu denken war, während A***, die Person, in die sich das Ich verliebt, von Beruf Tänzer oder Tänzerin, eine Frau sein musste. 26 A*** hat keinerlei geistige oder intellektuelle Interessen, kümmert sich v.a. um körperliche Fitness, schminkt sich gern und geht gern einkaufen. Wählt man die charakterisierenden Informationen in der eben genannten Bündelung aus, erscheint die Genderkonstruktion stereotyp und - bei aller damit verbundenen Problematik - eindeutig. Allein, so einfach sind die Figuren nicht angelegt, im Gegenteil. Die genannten Mosaiksteine der Figurencharakterisierung sind nichts anderes als die Fallen, die Garréta dem Leser stellt - wohl in der Hoffnung, dass dieser sie bemerkt. 27 Wer sich nicht festlegt, sondern mit Hypothesen arbeitet, wird diese nicht fortlaufend bestätigt finden, denn Garréta weist ihren Protagonisten ein im Hinblick auf konventionelle Gender- Bilder so widersprüchliche Informationen zu, dass am Ende alle Arten von homo- oder heterosexuellen Beziehungen zwischen den beiden denkbar sind - und keine durch den Text je bestätigt wird. Dass die Verbindung des erzählenden Ich und A*** von ihrer beider Umgebung kritisch betrachtet und als „contre nature“ bezeichnet wird, wird man vermutlich als Hinweis auf eine homosexuelle Verbindung interpretieren. Die Art und Weise, wie das Ich A*** „den Hof macht“, weckt wiederum eher das Bild einer heterosexuellen Beziehung, und der Umstand, dass das Ich und A*** aus gesellschaftlicher Sicht nicht harmonieren, könnte auch durch das unterschiedliche Ursprungsmilieu, das Bildungsgefälle oder die Hautfarbe erklärt werden: Das bürgerliche Ich stammt aus Paris, ist weiß, A*** kommt aus Harlem, ist schwarz - „A noir“ - wie in Rimbauds berühmtem Gedicht Voyelles. Dass die Autorin die Unbestimmtheit der beiden zentralen Figuren im Hinblick auf ihr Geschlecht mit einer Figurenkonzeption verknüpft, die auf einer Reihe sehr deutlicher Oppositionen beruht, rückt gewohnheitsmäßig verankerte Gender-Modelle umso stärker ins Bewusstsein. Während Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen, angeregt durch Lacan, Derrida, Kristeva, Barthes, Foucault, Cixous, Irigaray etc. gerade begannen, literarische Texte auf ihre Körper-Bilder und Gender-Konstruktionen unter poststrukturalistischen Perspektiven zu untersuchen, 28 realisiert Garréta - ebenfalls inspiriert durch die zeitgenössische Debatte, die sie in Frankreich und Amerika verfolgt - einen Roman, der seinen Leserinnen und Leserinnen bei der Lektüre ständig bewusst macht, welchen Anteil sie bei der Konstruktion von Sinn - und Gender - haben. „The reader is led to recognize the way language encloses us in meaning and to accept his or her own complicity with reinforcing such meanings“, 29 bringt Gill Rye diesen Aspekt des Romans auf den Punkt, und Martina Stemberger bezeichnet den Roman als „ein produktiv ‘verstörendes’, vermeintliche Evidenzen zerstörendes Experiment mit der Imagination und der Wahrnehmung der Lesenden“. 30 Aus der Sicht Garrétas erfordert die Lektüre keine durchgängige Festlegung des Geschlechts in der Vorstellung des Lesers: 80 Dossier Il n’y a pas de nécessité. Il y a un impératif qui est à la fois socialement et psychologiquement inscrit dans la plupart des lecteurs et qui les force à s’assimiler à une identité, une qu’ils bétonnent par tous les bouts et tous les moyens. Tout ce qui vient remettre en cause ou en question cette identification, qu’elle soit normative (selon le bon canon de la norme sociale) ou minoritaire, les gens semblent y tenir, dur comme fer, ne pas savoir comment être sans. Ce qu’ils demandent à la fiction, c’est non de remettre en question cela mais de les rassurer alors que la fiction peut être un espace possible dans lequel prendre de la distance, se désadhérer de ces constructions pour voir comment elles sont faites, à quoi elles servent, à qui, se poser la question de leur nécessité et de leur utilité.31 Demnach besteht das Rätsel von Garrétas Sphinx nicht darin, das Geschlecht des erzählenden Ich und seines Liebespartners „herauszufinden“. 32 Aber nicht nur im Hinblick auf die Frage der Geschlechter-Identität ist Sphinx ein pluraler Roman im Sinne von Roland Barthes: Eine ganze Reihe von potentiellen, teilweise miteinander verwobenen, teilweise voneinander unabhängigen Lektüren drängen sich auf; hätte man den Anspruch auf eine einheitliche Interpretation, käme man rasch an seine Grenzen: Zu viele Echos sind in diesem Roman lebendig, zu viele Spuren, Mythologeme und Philosopheme werden aufgerufen und bilden mögliche Rahmungen oder Gesichtspunkte, von denen die - auf der Ereignisebene im Grunde schlichte - Erzählung betrachtet werden könnte. Wenn das Ich einmal feststellt: „Il me parut que je fonctionnais à la manière d’une caisse à résonance, amplifiant involontairement tous les bruits, discours qui giclaient autour de moi“ (S 15), hat man den Eindruck, dass dieser Satz auf den gesamten Text angewandt werden kann. Zahlreiche bekannte Gedankenfiguren der Zeit - Original und Kopie, der Begriff des Simulacrum, das Ich und der Andere, Hybridität - prägen den Roman sowohl in der Anlage der Geschichte als auch in der z.T. mosaikartigen, eine Fülle von Intertexten aktualisierenden Textoberfläche. Auf den ersten Blick erscheint Sphinx somit als ein der Ästhetik der sogenannten Postmoderne verpflichteter Roman, der die Dekonstruktion des Subjekts durch die Unbestimmtheit der Geschlechteridentität auf die Spitze treibt. Auf den zweiten Blick ist die Sache komplizierter. 33 So postmodern der Roman auf der einen Seite erscheint, so sehr zeigt er in einer interessanten Dissonanz zwischen der zeitgenössischen Lebenswelt und einem anspruchsvollen, von mannigfachen Intertexten der Moderne geprägten Innenweltdiskurs die Spannung zwischen Moderne und Postmoderne auf. Vielleicht erzählt er sogar - wenn man den Roman als Metatext liest -, vom „Tod des Subjekts“: Jedenfalls könnte man das Ende des Romans, bei dem das Erzähler-Ich auf den nächtlichen Straßen von Amsterdam wie zufällig ermordet wird - während es nach der Fortsetzung der berühmten Verse Mallarmés „Le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui / Va-t-il nous déchirer avec un coup d’aile ivre“ sucht (S 227f.), in diesem Sinn interpretieren. Als vierfache Thanatographie erzählt der Roman das - auf unterschiedlichen Ebenen interpretierbare - Abhandenkommen von Personen. Die Austauschbarkeit von Menschen, die über ihre Berufsrolle hinaus keine Bedeutung zu haben schei- 81 Dossier nen, wird am krassesten am ersten Toten, dem DJ Michel, vorgeführt. 34 Der oder die zweite Tote ist überraschenderweise A***, welche/ r auf der Bühne stirbt, was jedoch nur zu einer kurzen Unterbrechung der Vorführung führt - die Vorstellung geht weiter. Nur für das Erzähler-Ich scheint A*** eine Bedeutung gehabt zu haben, doch nicht zufällig scheint sich A***s tödlicher Sturz nach einer Auseinandersetzung der beiden zugetragen zu haben, bei der das Ich auf A***s Frage „Comment me vois-tu, hein? “ antwortet: „Je te vois dans un miroir“. 35 Die dritte Tote ist die Mutter von A***, die vom Erzähler-Ich in der letzten Lebensphase begleitet wird; mit ihr verliert das Ich die letzte Person, an der ihr etwas lag. Der (oder die) vierte Tote ist schließlich das erzählende Ich selbst, womit die gesamte Geschichte, erzähllogisch gesehen, zu einer „postmortalen Erzählung“ wird, wie man sie als postmodernes Phänomen kennt: Von einer traditionellen Geschichtsillusion ist man so weit entfernt, dass sich der eigene Tod ohne weiteres aus dem Jenseits erzählen lässt, bei Garréta gewissermaßen aus dem platonischen Reich der Ideen bzw. dem sokratischen Kosmos. Die durch die extreme Intertextualität des Romans forcierte Zeichenhaftigkeit löst, im selben Maß, wie die Bedeutung des Subjekts problematisiert wird, den Eindruck einer fassbaren Wirklichkeit auf - zumindest, wenn man bei der Lektüre einmal beginnt, den unzähligen „links“ des Textes zu folgen. 36 Hält man sich jedoch eng an die erzählte Geschichte, dann ist diese auch als Teil einer individuellen Lebensgeschichte einer Person lesbar, deren Geschlecht zwar nicht festgelegt werden kann, die einem jedoch durch die Ich-Perspektive und Reflexion des Ich im traditionellen Sinn „vertraut wird“. Sphinx leistet eine komplexe und kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen postmodernen Lebenswelt der 80er Jahre und einer von so vielen Diskursen bestimmten und durchgekreuzten Kultur, in der der „Tod des Subjekts“ festzustehen scheint und die für die spirituellen Bedürfnisse des Ich (das nach dem Tod von A*** seine theologischen Studien wieder aufnimmt und sich für apophatische Traditionen interessiert) keinen Raum lässt, während dagegen das Geschlecht der Person in der Gesellschaft eine allzu große, meist unreflektierte Rolle in Wahrnehmung und Kommunikation spielt. Als „insufficiently postmodern“ bezeichnete sich Garréta einmal in einem Gespräch mit Josyane Savigneau. 37 Kritik übt die Autorin mit der Stimme des erzählenden Ich 38 auch an der verbreiteten Haltung des banalen „désir“ - und zwar in einer ironischen réécriture von Descartes’ Cogito ergo sum: Je me faisais cette réflexion ce soir-là: ils énoncent des desiderata, réclament, sans y tenir vraiment, tel disque, afin sans doute de prouver qu’ils ont place et droit en ce lieu où domine l’arbitraire. C’est leur seule preuve ontologique, leur seul cogito, le moyen de leur fondement et justification. Je désire, donc je suis: j’exige, j’existe. Je paie, on doit accéder à mon désir, prendre en considération mes exigences au vu de la valeur que j’offre. (S 106). Im engeren Sinn „oulipotisch“ an diesem Roman ist die anspruchsvolle Contrainte und die komplexe Entfaltung eines ihr entsprechenden Formsinns. 39 Das von 82 Dossier Jacques Roubaud im Atlas de littérature potentielle formulierte Prinzip „Un texte écrit suivant une contrainte parle de cette contrainte“ 40 muss hier gewissermaßen gar nicht eigens angewandt werden, weil die Verknüpfung von formalen und inhaltlichen Aspekten eine natürliche ist: Genaugenommen handelt es sich bei der Contrainte der Geschlechtsneutralität eines Liebespaares um eine semantische Contrainte, die sich nur umsetzen lässt, wenn man ihr sprachlich gerecht wird: „contraintes grammaticales“ ergeben sich schlicht daraus. Neben der impliziten ludischen Dimension, die jeder Anwendung einer literarischen Contrainte zu Grunde liegt, kann auch der spielerische, zum Teil virtuose Umgang mit Intertexten „oulipotisch“ wirken: Einmal mit, einmal ohne Markierung, sind in Sphinx die unterschiedlichsten Spielarten intertextueller Bezugnahmen zu entdecken, vom Einstreuen von Begriffen oder Titeln wie [La] Parure, La chute, Les mains sales oder Les nourritures terrestres bis zur réécriture einzelner Sätze oder ganzer Passagen. Das Engagement, das in diesem Roman implizit sichtbar wird, die Aufforderung an den Leser, ein verantwortungsvolles, (sprach-) kritisches Bewusstsein zu entwickeln und stereotype Begriffe bzw. einengende Konzepte von sexueller Identität zu überwinden kann als „Idiosynkrasie“ der Autorin gelten, die sich mit der bewusst „offenen“ Oulipoetologie bestens vereinbaren lässt. Nun zum roman d’oulipienne Pas un jour. 41 Wie zahlreiche längere Prosatexte oulipotischer Autoren unterliegt der Text keiner systematischen Contrainte auf formaler Ebene. Das Textzentrum bilden zwölf Abschnitte, die auf zwölf Nächte Bezug nehmen und erotischen bzw. sexuellen Begegnungen mit verschiedenen Frauen gewidmet sind; den Rahmen bilden ein Ante scriptum und ein Post scriptum, die als integrale Bestandteile des Textes zu werten sind - nicht als paratextueller Kommentar. Im Gegensatz zum fiktiv erscheinenden Ich, das in Sphinx erzählt, hat man im Ante scriptum von Pas un jour den Eindruck, mit Anne Garréta zu kommunizieren bzw. ihr bei der Entwicklung ihres Schreibprojekts im Gespräch mit sich selbst „zuzuhören“ - auch wenn die Autor-Figur an keiner Stelle namentlich als Anne F. Garréta identifizierbar ist. 42 Das Ante scriptum beginnt mit der doppeldeutigen Frage „Que faire de ses penchants? “ (PJ 9). Der darauf folgende Absatz konkretisiert „penchants“ als die Art und Weise, wie die Autorin gewöhnlich schreibt - und wovon sie sich möglichst entfernen will. Wenn man weiß, dass sich Garréta seit Beginn ihrer literarischen Karriere zu ihrer Homosexualität bekannt hat, ist „penchant“ natürlich auch als Neigung im sexuellen Sinn interpretierbar. Betrachtet man die eingangs gestellte Frage unter diesem Blickwinkel, könnte die Antwort lauten: Als homosexueller Schriftstellerin ist es Garréta ein Bedürfnis, über ihr ‘Anders-Sein’ zu schreiben, gleichzeitig liegt ihr jedoch daran, es ‘anders’ zu tun: Anders, als sie selbst bisher geschrieben hatte, zumal sie sich noch nie so etwas Persönliches wie erotische Begegnungen zum Thema gemacht hatte, anders, als es gemeinhin getan wird, wenn AutorInnen „aus ihren Leben erzählen“. Christelle Reggiani bezeichnete in 83 Dossier ihrer Besprechung die „différence“ als zentrale Figur des Texts 43 - in der Tat ist diese bereits im Incipit auf zwei Ebenen angelegt, betrifft somit zum einen die Differenz der sexuellen Neigung, zum anderen das Schreibprojekt, mit dem sich die Autorin nicht nur von zahlreichen anderen AutorInnen absetzen möchte, sondern auch von ihrem eigenen Zugang zum Schreiben. Vermutlich kann auch die ungewöhnliche Du-Form, die Verwendung der zweiten Person anstelle der ersten, diesem Prinzip der Differenz zugerechnet werden. Denn dieses Du ist Ausdruck eines dialogisch-reflektierenden Verhältnisses zu sich selbst, Ausdruck einer beobachtenden Distanznahme, die Garréta nicht nur in den metatextuellen Abschnitten, sondern - von wenigen Ausnahmen abgesehen - auch in den Erzählungen der zwölf Begegnungen aufrechterhält: Vermieden wird damit eine einfache, gewohnheitsmäßige und synthetisierende Ich-Aussage. 44 Indem Garréta es als Spezifikum ihrer Vorgangsweise bezeichnet, sich das Genre der „écriture intime“ bewusst, gewissermaßen als „contrainte“ aufzuerlegen, schreibt sich die Autorin geschickt in die Geschichte literarischen autobiographischen Schreibens ein - und zwar als methodisch vorgehende Autorin, die gar nicht davon ausgeht, dass das eigene Leben in Form eines Textes erzählbar wäre. Als typische Oulipienne erweist sie sich sogleich in der ironischen Verfremdung eines Rousseau-Zitats, nämlich dem Beginn von Julie ou La Nouvelle Heloïse (die Rousseau’schen Originalpassagen füge ich in Klammern hinzu, die Substitutionen Garrétas setze ich kursiv): Il faut des spectacles dans les métropoles de l’ère postmoderne [dans les grandes villes], et des confessions aux peuples idolâtres [des romans aux peuples corrompus]. J’ai vu les mœurs de mon temps et j’ai publié ces récits [lettres]. Que n’ai-je vécu dans un siècle où je dusse les jeter au feu. (PJ 10) Die erste Substitution versetzt das Ganze in die Gegenwart; inhaltlich ist v.a. die zweite interessant: Anstelle von Romanen für „peuples corrompus“ müsse es für „peuples idolâtres“ Bekenntnisse geben - eine solche kritische Diagnose im Hinblick auf die Gier der westlichen, starverliebten Gesellschaft nach „Bekenntnissen“ wird sicher weithin geteilt. Dass die Autorin mit dem Begriff „confessions“ noch einmal Rousseau ins Spiel bringt, intensiviert den ironischen Effekt dieser intertextuellen Einschreibung. Zwischen Jean-Jacques Rousseau, der an die Möglichkeit glaubte, sein Leben erzählen und seine Person in ihrer ganzen Wahrheit darstellen zu können, und Anne F. Garréta zu Beginn des 21. Jahrhunderts liegt eine Geschichte autobiographischen Schreibens, in dem dieses zunehmend problematisiert worden war - das ist die zeitliche und bewusstseinsgeschichtliche Distanz, die Rousseau und Garréta voneinander trennt; am Schluss des Zitats stellt sich die Autorin dann mit Rousseau auf eine Stufe - indem sie nämlich beide, jeder auf seine Weise, Zivilisationskritik betreiben und ihr Schreiben in Bezug zu den „Lesewünschen“ einer Gesellschaft setzen. 45 Eine genussvolle ironische Distanz zur Mode der „confessions“ kennzeichnet die Erzählhaltung Garrétas: 84 Dossier Cette ironie te réjouit avant même d’avoir écrit une ligne. Tu joueras à ce très vieux jeu devenu la marotte de la modernité qui renâcle à se désenchanter pour de bon: la confession, ou comment racler les fonds de miroirs. (PJ 10) Der zweite große Autor, den Garréta im Ante-Scriptum erwähnt (und dies nicht nur implizit) ist „Stendhal ou Henri Beyle ou Henri Brulard“ (PJ 11). Die Anekdote von den Initialen der von Stendhal geliebten Frauen, die dieser dereinst in den Sand am Ufer eines Sees geschrieben hatte, habe die Autorin zu ihrem Schreibprojekt eines „alphabet bégayant du désir“ inspiriert, das sie in der prägnanten Maxime „pas un jour sans une femme“ (PJ 11) zusammenfasst. Nur auf den ersten Blick scheint diese Maxime ein intensives erotisches Projekt zu repräsentieren, denn es stellt sich sogleich heraus, dass sich der Titel auf das Schreibprojekt bezieht, in dem die Erinnerung an eine Frau, die die Erzählerin begehrt hatte oder die von ihr begehrt worden war, jeweils das Motiv und somit die „semantische Einschränkung“ darstellt, die sich Garréta auferlegt. Zeitlich legt sie sich auf genau fünf Stunden fest. Die Reihenfolge des Schreibens ist beliebig, die Anordnung der Erzählungen alphabetisch. Eine weitere Einschränkung betrifft das „Werkzeug“ - nur das Schreiben auf dem Computer ist erlaubt, was auch den Verzicht auf Notizen und andere Vorarbeiten auf Papier, wie sie üblicherweise dem Schreibprozess vorangehen, impliziert. Die Erzählerin insistiert auf dem Aspekt der Erinnerung als Ausgangspunkt des Schreibens: Ne visant pas à dire les choses telles qu’elles eurent lieu, non plus qu’à les reconstruire telles qu’elles auraient pu être, ou telles qu’il te paraîtrait beau qu’elles eussent été, mais telles qu’au moment où tu les rappelles elles t’apparaissent. (PJ 12) Diese Entscheidung hat zwei Konsequenzen. Zum einen rückt damit die Erzählgegenwart in den Vordergrund, zum anderen wird der Anspruch auf „Wahrheit“ von vornherein von der lebensweltlichen Ebene abgekoppelt. Das Wahrheitskriterium, der auch in klassischen autobiographischen Texten immer nur bedingt einlösbare Anspruch auf Referentialisierbarkeit, wird durch den Eindruck von Authentizität ersetzt. Genau genommen gibt es für ein Erzählen von Dingen „telles qu’au moment où tu les rappelles elles t’apparaissent“ aber nicht nur keine Möglichkeit einer externen „Kontrolle“, einer Vergleichsmöglichkeit sozusagen, sondern auch intern bleibt die Problematik bestehen, wie denn eine komplexe, bildhaft und emotional verankerte Erinnerung in Sprache „übersetzt“ werden könnte. Die Art und Weise, wie sich die Erzählerin dies vorstellt - „Ni rature, ni reprise, ni biffure. Les phrases comme elles viendront, sans les comploter. Et interrompues sitôt que supendues. La syntaxe à l’avenant de la composition“ (PJ 13) - akzentuiert ein weiteres Mal die Spontaneität des Schreibprozesses; das Erinnerte soll in der sprachlichen Form erzählt werden, in der es ‘daherkommt’, in der es, wie durch ein Nadelöhr gedrängt, auf der Ebene der Sprache ‘anlangt’. Nichts garantiert natürlich, dass diese, sozusagen ‘erstbeste’ sprachliche Form die Erinnerung, wie sie sich dem Bewusstsein darstellt, adäquat ausdrückt. Aber es ist offensichtlich, dass der Ver- 85 Dossier zicht auf jedwedes Streichen oder Ausbessern den Eindruck von Authentizität unterstreicht - spontanes Schreiben verspricht authentisches Schreiben. Nach dieser Vorbereitung auf einen „récit“ im Sinne eines „dévidage de la mémoire dans le cadre strict d’un moment déterminé“ (PJ 12) lässt man sich auf die Lektüre ein. Jede „nuit“ bzw. jede Erinnerung verdiente ihre eigene Besprechung, denn die Verknüpfungen von désir und idées sind ausgesprochen vielfältig. Im Zusammenhang mit den erotischen Sehnsüchten und Erfahrungen sind bereits die Gefühle oft kompliziert; Sprache wie Denken sind bei Garréta immer komplex und versehen das Erlebte mit mannigfachen Reflexionsschleifen bzw. tasten es nuanciert ab. In den einzelnen Erzählungen kommt es keinesfalls immer zu einem Liebesakt; Gegenstand ist meist vielmehr der Aufruhr der Sinne, Gedanken und Gefühle, der mit den verschiedenen Begegnungen verbunden ist, und dem sich Garréta mit großer analytischer Wachheit und sprachlicher Virtuosität widmet. 46 Eine zentrale Bedeutung für die dem Text zu Grunde liegende Rezeptionsperspektive kommt dem Post scriptum zu, in dem wiederum von Regeln die Rede ist und reflektiert wird, inwieweit diese die Textproduktion tatsächlich bestimmten. Natürlich, meint Garréta, sei sie nicht in der Lage gewesen, die Regeln einzuhalten, die sie sich selbst auferlegt hatte. In der für die Autorin charakteristischen Art, einen „style littéraire“ mit umgangssprachlichem Vokabular zu versetzen und einer witzigen klanglichen Kombination des Worts „infoutue“ mit einem darauffolgenden passé simple, eröffnet sie: „Et bien entendu, infoutue tu fus de respecter les règles que tu t’étais prescrites à l’origine de ce projet. Ce n’est plus même clinamen, c’est déflexion maximale…“ (PJ 141). Selbst wer den oulipotischen Kontext bzw. den Begriff des Clinamen 47 nicht kennt, kann aus dem Satz schließen, dass es sich dabei um eine geringfügige Abweichung handeln muss - wovon allerdings in Bezug auf Garrétas Schreibprojekt nicht die Rede sein kann, wie sie selbst formuliert. Sie hatte weder vormittags geschrieben, noch täglich, so dass der Schreibprozess, der ursprünglich einen Monat hätte beanspruchen sollen, sich auf mehr als ein Jahr ausdehnte. 48 Das Brechen dieser Vorsätze ist für den Leser allerdings von geringer Relevanz. Die darauf folgende komplexe intellektuelle Reflexion über gewohnheitsmäßige „contrats de lecture“ bereitet aber bereits die überraschende Aufdeckung jener „clauses“ vor, die sie dem Leser/ der Leserin im Ante scriptum bewusst vorenthalten hatte: Pour combler la mesure de ton peu de foi, par-delà les promesses (mais étaient-ce des promesses que faisait cet Ante scriptum? des prédictions, des annonces, des engagements? et qui engageaient-elles? à les rompre, que commettais-tu? une imposture, un crime, une escroquerie? ) que tu n’as pas tenues, les contraintes que tu as détournées, les contrats (soumis à quelle juridiction? passés avec qui? toi-même? un lecteur qui ne dit mot et n’est pas même personne, au plus signe de personne, et certes moins qu’une signature? quid de son consentement? on l’aura réputé tacite… c’est une fiction quasi juridique que ces contrats d’écriture et de lecture, et qui fonde nos usages des discours les plus sérieux…) que tu as rompus unilatéralement, que dire des clauses que tu as tenues secrètes? (PJ 143f.) 86 Dossier Zurecht bezeichnet Garréta den autobiographischen Pakt darin als juridische Metapher bzw. Fiktion, zumal es sich innerhalb des Literatursystems nicht um eine Vertragsverhältnis handelt, in dem Leser das Recht hätten, die Einhaltung der Regeln einzufordern. Auf diesen diskursiven inneren Monolog hin, der den Status der Einschränkungen reflektiert, mit denen die Autorin hatte arbeiten wollen, wird das Geheimnis einer der angesprochenen „clauses“ schließlich gelüftet: Celle-ci en particulier, qui devrait suffire à faire vaciller l’édifice entier: dans la série de ces nuits, il y en a une, au moins une, qui est une fiction. Et tu ne diras pas laquelle. Cherchez la fiction. C’est un tour dont tu te délectais par avance. Car si l’un de ces exercices de mémoire est feint, et qu’on ne sache lequel, comment les lire dès lors? De chacun, le statut et l’interprétation sont suspendus indéfiniment, et de leur série entière, l’abord incertain. Comment les (re)lirez-vous dès lors, lectrice? Comme fable ou comme histoire? Et quel enseignement sur la nature des désirs ici évoqués? (PJ 144) Nach dieser Eröffnung sind die zwölf Nächte neu zu lesen - zumindest könnte man den Imperativ „Cherchez la fiction“ so interpretieren. In jedem Fall erscheint das gesamte Projekt unter einem anderen Licht. Aber Garréta lässt es auch dabei nicht bewenden: Indem sie die LeserInnen nun auch noch in all die Überlegungen einweiht, die sie angestellt hatte, um jene eine Nacht möglichst überzeugend zu fingieren - oder, anders formuliert, deren Fiktivität zu dissimulieren -, lädt sie dazu ein, sich über das „Funktionieren“ von Literatur, insbesondere über die komplexen Bedingungen des Eindrucks von Authentizität, Gedanken zu machen. „Méthode“ steht bei Garréta für sinnstiftende Kohärenz, während sie den Zufall als etwas definiert, was nicht „erdacht“ werden kann - „Il y faut des machines“ (PJ 146). Garréta entscheidet sich im Hinblick auf diese beiden Prinzipien mit ihren jeweiligen Implikationen - „l’invraisemblable coïncidence“ versus „l’implacable consistance“ (PJ 146) - für eine Mischung oder einen Mittelweg: „l’impur serait ton principe“. Garréta wollte die Begegnung, die nicht auf Tatsachen beruht, also weder zu wahrscheinlich, noch zu unwahrscheinlich gestalten. Wer aber sagt uns, dass Garréta nicht vielleicht alle zwölf Nächte fingiert hat? Es könnte ohne weiteres so sein, aber es ist eine Frage, die sich nicht aufdrängt. Interessanterweise gelingt es Garréta - trotz der bewussten Irreführung der LeserInnen im Ante scriptum - weiterhin den Eindruck einer authentischen Reflexion zu erwecken, indem sie über mögliche Verletzungen nachdenkt, die mit der Publikation des Buches verbunden sein könnte. Die Aufdeckung der verdeckten Contrainte führt gedanklich dennoch an den Ausgangspunkt zurück: Wie ist eigentlich die Titelunterschrift bzw. Gattungszuordnung „roman“ zu verstehen? Wäre von Anfang an Skepsis angebracht gewesen? 49 Sollen wir uns nun in einer zweiten Lektüre tatsächlich auf die Suche nach dem „intrus“ - der Fiktion - machen? Oder soll der Rezipient nicht vielmehr von seiner naiven und unreflektierten Sucht nach „wahren Geschichten“ - und „erotischen Bekenntnissen“ befreit werden, indem er einsieht, dass er nicht in der Lage sein wird, den Unterschied auszumachen - beziehungsweise, dass es darum gar nicht geht? 87 Dossier In einem Aufsatz, in dem sich Garréta mit der unbedeutenden französischen Tradition im Bereich von weiblicher homosexueller Literatur auseinandersetzt, zeigt sie kritisch auf, wie sehr die Vorstellung, die sich die Öffentlichkeit „of the author’s persona“ macht, die Rezeption bestimmt: „Authors are called upon to represent their work (book signings, television shows, photo ops, interviews), and their apparent characteristics frame the horizon of the text’s reception“. 50 Garréta knüpft offenbar an die Proust’sche Unterscheidung zwischen dem „moi social“ und dem „moi créateur“ an, wenn sie in einer Reihe von Fragen implizit klar macht, dass weder vom Text auf den Autor noch vom Autor auf den Text geschlossen werden kann: Is the self that writes, reads, moves around in the realm of fiction identical with the self that moves around in the empirical, political, social, sexual realm? Equating them, or worse, conflating them, may be as damaging to both as radically or artificially separating them. In their difference (a difference and not a radical alterity) resides literature’s productivity. Any attempt at turning literature into a mirror of the „real“ is continuous with reading as a way to comfort a self-image: this caricatural „stade du miroir“ cannot but lead to an alienation both of self and literature. What if the image in the mirror displeases me? What if I do not recognize myself in the mirror? Who will get shattered, the self or the mirror? 51 Aufgrund ihrer eigenen Erfahrung als homosexueller Schriftstellerin und ihres geschärften kritischen Bewusstseins will Garréta über erotische Begegnungen bzw. Sehnsüchte schreiben, sieht jedoch das Risiko ihrer schriftstellerischen Unternehmung: nämlich genau zu jener „idolâtrie du désir“ beizutragen, die sie der Gesellschaft vorwirft und von der sie sich eigentlich distanzieren will. Aber, fragt sie: […] est-ce parce que les idolâtres, les fétichistes, les pornographes occupent le terrain, y bâtissent chapelles, totems et bordels, qu’il faudrait leur abandonner l’étendue entière du discours sur le désir? Est-ce parce que tant de tes contemporains s’en sont emparés et l’occupent que tu devrais, crainte d’être surprise en si vulgaire compagnie, en si mauvais quartier, soigneusement t’abstenir de le traverser, et céder ainsi à cette forme radicale, spectaculaire et outre-moderne de censure? “ (PJ 151). Garréta hat sich mit Pas un jour zu dieser Gratwanderung entschlossen, obwohl sie sich nicht sicher ist, der „publicité du désir“ entkommen zu können. Diese wird zum zentralen Gegenstand der letzten Seiten des Post scriptum, in dem der Diskurs plötzlich vehement und polemisch wird. Désirer und jouir seien die Grundpfeiler der „religion universelle“, die die Gesellschaft dominiere. Nichts, was man dem entgegensetzte, würde daran etwas ändern: „Les affres du doutes, le vacillement, l’impuissance, un peu d’anticléricalisme affiché… rien de tout cela, ni l’hérésie, d’ailleurs, ni le schisme, ne porte à conséquence (PJ 156). Der Texte endet mit einem Verweis auf die einzige eingehaltene Regel „au terme de la durée de cinq heures dévolue à l’écriture“. Damit handelt es sich um eine situative Contrainte, die sich einer Überprüfbarkeit zur Gänze entzieht. Es sieht jedenfalls so aus, als wäre Pas un jour, ähnlich wie Sphinx, darauf ausgerichtet, uns von den Entweder-oder-Denkgeleisen wegzubewegen, auf denen wir kol- 88 lektiv so selbstverständlich unterwegs sind, ob dies nun die Opposition zwischen Realität und Fiktion betrifft oder eine binäre Gender-Konstruktion. Sphinx trägt die Widmung „To the third“, Pas un jour „A nulle“. „Dans la famille des iridées“ wird die oulipotische Potentialité durch das erzwungene Überwinden internalisierter Gewohnheitskonzepte und einen Blick in das „in between“ verwirklicht. 1 Marcel Bénabou, „Roman oulipien ou roman d’oulipien? “, in: Page des Libraires, n° 44 (février-mars 1997), S. 31. 2 Vgl. u.a. Bernard Pingaud, „L’Ecole du refus“, in: Esprit (juillet-août 1958), S. 55-59. 3 Raymond Queneau, Les Fleurs bleues, Paris, Gallimard, 1965 (coll. Folio n° 1000), S. 94. 4 Gustave Flaubert, Brief an Louise Colet (16.1.1852). 5 Alain Robbe-Grillet, „Warum und für wen ich schreibe“, in: Karl Alfred Blüher (ed.), Robbe-Grillet zwischen Moderne und Postmoderne, Tübingen, Narr, 1992, S. 17-64. 6 Der Roman mit dem spielerisch-doppeldeutigen Titel, in dem es nicht um den Flug des Ikarus geht, sondern um das Verschwinden von Icare, beginnt wie folgt: „Sur les feuilles, pas d’Icare; entre, non plus. Il cherche sous les meubles, il ouvre les placards, il va voir au cabinet: nul Icare. (Raymond Queneau, Le Vol d’Icare, Paris, Gallimard, 1968, S. 11 (coll. Folio n° 2629). Vgl. zum Bezug zwischen Queneau und Robbe-Grillet bzw. dem nouveau roman Virginie Tahar, Le roman potentiel. Jeux et enjeux du ‚roman d’oulipien‘. Mémoire réd. sous la dir. de M. Pierre Brunel, Paris IV (U.F.R. de Littérature française et comparée), 2007. 7 Alain Robbe-Grillet, „Sur quelques notions périmées“, in: Pour un nouveau roman, Paris, Editions de Minuit, 1961, S. 28 (coll. Critique). 8 Raymond Queneau, Le Vol d’Icare, Paris, Gallimard, 1968, (coll. Folio n° 2629), S. 91. 9 Diese Distanz bezieht sich vornehmlich auf die Theorie und schließt die Wertschätzung von Texten der nouveaux romanciers keineswegs aus. Innerhalb von Oulipo gibt es sehr unterschiedliche Haltungen. Michelle Grangaud betonte in einem Interview, das ich mit ihr führte, die Bedeutung, die die Arbeiten der nouveaux romanciers für sie hatten. 10 Vgl. zur deutschsprachigen Spiel- und Regelliteratur seit den 80er Jahren: A. P.-B., „Littérature à contraintes en Autriche à partir de 1980“, in: Bernardo Schiavetta/ Jan Baetens (eds.), Ecritures et lectures à contraintes. Colloque de Cerisy août 2000, Paris, Ed. Noésis, 2003, S. 123-131. 11 Vgl. z.B. Calvino, der einige der genannten Autoren aufzählt und dabei auf den Effekt des Spielerisch-Komischen fokussiert: „Quel che cerco nella trasfigurazione comica o ironica o grottesca o fumistica è la via d’uscire dalla limitatezza e univocità d’ogni rappresentazione e ogni giudizio. Una cosa si può direla almeno in due modi: un modo per cui chi la dice vuol dire quella cosa e solo quella; e un modo per cui si vuol dire sí quella cosa, ma nello stesso tempo ricordare che il mondo è molto piu complicato e vasto e contraddittorio. L’ironia ariostesca, il comico shakespeariano, il picaresco cervantino, lo humour sterniano, la fumisteria di Lewis Carroll, di Edgar Lear, di Jarry, di Queneau valgono per me in quanto attraverso ad essi si raggiunge questa specie di distacco del particolare, del senso della vastità del tutto“. (Italo Calvino, „Definizioni di territorio: il comico [1967]“, in: I.C., Una pietra sopra. Discorsi di letteratura e società, Turin, Einaudi, 1980, S. 157. Dossier 89 12 Vgl. zur Roussel-Rezeption: A. P.-B., „Raymond Roussels Erbe(n)“, in: Poetologische Umbrüche. Romanistische Studien zu Ehren von Ulrich Schulz-Buschhaus, München, Fink, 2002, S. 355-374. 13 Jacques Bens, OuLiPo 1960-1963, Paris, Bourgeois, 1980, S. 158. Es handelte sich um die „réunion du 24 août 1962“. Dass Mallarmé für Oulipo eine ganz herausragende Rolle spielte, zeigt sich an zahlreichen literarischen Bezugnahmen und Anspielungen auf ihn und wurde explizit von vielen Oulipiens formuliert. Vgl. Marcel Bénabou, „Mallarmé en Oulipie“, in: D. Bilous (ed.), Mallarmé, et après? Fortunes d’une œuvre, Paris, Noésis, 2006 (= Collection Formules), S. 229-231. Direkt mit Texten von Mallarmé gespielt wird z.B. in der ihm gewidmeten B.O. 106 (1999) mit dem Titel La Couronne de Stèphe. 14 Vgl. zu diesem Sonett unter der Perspektive der Contrainte Bernardo Schiavetta: „Mallarmé et sa Méthode du mirage. Philosophie de la composition du sonnet en -ix“, in: D. Bilous (ed.), Mallarmé, et après? Fortunes d’une œuvre, Paris, Noésis, 2006 (= Collection Formules), S. 69-93. 15 Raymond Queneau, „Technique du roman“, in: R. Q., Bâtons chiffres et lettres, Paris, Gallimard, 1965, S. 27-28. 16 Ibid., S. 28. 17 Hervé Le Tellier, L’Esthétique de l’Oulipo, Bordeaux, Le Castor Astral, 2006, S. 45f. 18 Clemens Arts, der in einer 1999 an der Universität Leiden verfassten Dissertation einen Vergleich von Oulipo und Tel Quel Ziele unternahm, hebt als zentrale Gemeinsamkeit den Umstand hervor, dass beide Gruppen keine Verbindungslinien zu realistischer oder engagierter Literatur haben, sondern Literatur als „activité en soi“, als autonome Aktivität, betrachten. Weder „représentation“ noch „expression“ spielten in den jeweiligen Literaturkonzeptionen eine Rolle, die „personnalité psychologique“ stehe weder im Hinblick auf die textinterne Figurenkonzeption noch im Hinblick auf die Rolle des Autors im Zentrum des Interesses. (Clemens Arts, Oulipo et Tel Quel. Jeux Formels et contraintes génératrices, Ridderkerk, Ridderprint B.V., 1999. Vgl. dazu auch die Rezension von Jan Baetens in: Formules 4 (2000), S. 266-268.) 19 Im Grunde macht dies auch noch der nouveau roman; lediglich die Kohärenz der erzählten Welt wird unterlaufen und die Figurendarstellung vielfach auf eine Außenperspektive beschränkt. Das Konzept ist aber insofern wirksam bzw. richtungsweisend, als es bekanntlich zur Entwicklung noch radikalerer Auflösungen dessen führte, was man gemeinhin unter der Gattung Roman versteht; die Bezeichnung „nouveau nouveau roman“ deutet die doppelte Sackgasse der mit dem nouveau roman verbundenen Innovations- und Verweigerungsästhetik an: Zum einen die Vervielfachung und damit Bedeutungslosigkeit des Neuheitswerts an sich, zum anderen die im Verhältnis zu prototypischen Texten wie Sollers’ Nombres paradoxe und damit fragwürdige Bezeichnung „roman“. Das impliziert keineswegs, dass die Texte nicht auf ihre - experimentelle - Weise von Interesse wären; ihre theoretisch-konzeptuelle Verortung jenseits von Zeit verunmöglicht jedoch den Roman, der ja eine genuin narrative und daher ein Zeitkontinuum voraussetzende Gattung darstellt. 20 Georges Perec, W ou le souvenir d’enfance, Paris, Denoël, 1975, S. 17. Vgl. A. P.-B.: „Vergessen - Erinnern - Gedächtnis in Georges Perecs „Oulibiographie“ W ou le souvenir d’enfance“, in: Sprachkunst XXX, 2 (1999), S. 321-331. 21 Christelle Reggiani, „Le romanesque de la contrainte“, in: Bernardo Schiavetta/ Jan Baetens (eds.), Le goût de la forme en littérature, Ecritures et lectures à contraintes. Actes du Dossier 90 colloque de Cerisy 14.-21.8.2001, Paris, Noésis, 2004 (= Collection Formules), S. 230- 245. 22 Christian Soleil, „Pas un jour d’Anne Garréta“, in: www.plumart.com/ vf4802/ html/ body_3148garreta.html [zuletzt besucht: 18.09.2010]. 23 Anne Garréta, Sphinx, Paris, Grasset, 1986. Im Folgenden mit der Sigle S und einfacher Seitenzahl zitiert. 24 Hier die wichtigsten Beiträge zu Sphinx: G. M.M. Colvile, „Plaisir et chorégraphie de l’inter-texte: Sphinx d’Anne Garréta“, in: J. Brami, M. Cottenet-Hage, P. Verdaguer (eds.), Regards sur la France des années 1980. Le roman, Saratoga 1994, S. 110-125; A.-Ph. Durand, „Discothèques. Sur Sphinx d’Anne Garréta“, in: L’Atelier du roman (juin 1999), S. 126-134; M. Fludernik, „The Generization of Narrative“, in: GRAAT 21(1999), S. 153- 175; A. Livia, „Nongendered Characters in French“, in: Pronoun envy: literary uses of linguistic gender, New York 2001, S. 11-58; M.-O. Métral, „Sphinx“, in: Esprit 124 (1987), S. 116-117; G. Rye, „Uncertain readings and meaningful dialogues: Language and sexual identity in Anne Garréta’s Sphinx and Tahar Ben Jelloun’s L’Enfant de sable and La Nuit sacrée“, in: Neophilologus 84 (2000), S. 531-540; M. Stistrup Jensen, Les Voix entre guillemets. Problèmes de l’énonciation dans quelques récits francais et danois contemporains, Odense 2000. Die ersten vier Texte von Garréta - Sphinx (1986), Pour en finir avec le genre humain (1987), Ciels liquides (1990) und La décomposition (1999) werden von F. Dugast-Portes auf Gemeinsamkeiten im Hinblick auf Konzepte und Schreibweise untersucht („Anne F. Garréta: jeux de construction et effets paroxystiques“, in: N. Morello, C. Rodgers, Nouvelles écrivaines: nouvelles voix? Amsterdam/ New York 2002, S. 159- 179. 25 Übersetzung von Jürgen Ritte. 26 R. Nelson, „Anne Garréta - Sphinx“, in: World Literature Today LXI (1987), S. 236-237, hier S. 237. 27 Vgl. zu diesen „pièges“ folgendes Interview: Entretien avec Anne F. Garréta. Propos recueillis par Eva Domeneghini (13 octobre 2000) in: „Anne Garréta, littérature contemporaine. Présentation, bibliographie et analyse des œuvres. Manuscrits et premières de couverture“, http: / / cosmogonie.free.fr/ index2.html [zuletzt besucht: 23.09.2010]. 28 Judith Butler, an die man im Zusammenhang mit Garréta leicht denken könnte, veröffentlichte ihre Dissertation Subjects of Desire. Hegelian Reflections in Twentieth Century France erst 1987. 29 G. Rye, „Uncertain readings and meaningful dialogues: Language and sexual identity in Anne Garréta’s Sphinx and Tahar Ben Jelloun’s L’Enfant de sable and La Nuit sacrée“, in: Neophilologus 84 (2000), S. 531-540, hier S. 533. 30 M. Stemberger, „‚La Disparition‘ oder Auf der Suche nach dem verschwundenen Geschlecht. Anne Garrétas Sphinx‘, in: Weimarer Beiträge 54 (2008) 1, S. 117-133, hier S. 117. 31 Entretien avec Anne F. Garréta, Propos recueillis par Eva Domeneghini, op.cit. 32 In einer meiner Lehrveranstaltungen am Institut für Romanistik in Graz, während der sieben Studierende den Roman lasen, wurden alle vier der möglichen Interpretationen vollzogen: Das Erzähler-Ich war meist männlich, mehrfach aber auch als weiblich erlebt bzw. gedeutet worden, A*** als weiblich oder als männlich, womit auch im Hinblick auf die Frage, ob es sich um eine homosexuelle oder heterosexuelle Beziehung handelte, kein Konsens herrschte: Jeder Leser, jede Leserin hatte Argumente, die ihn bzw. sie über- Dossier 91 zeugten oder hatte sich - um der Lesbarkeit des Romans willen - auf eine Variante eingestellt. Die Literaturwissenschaftlerin Anna Livia, die „nongendered characters“ in der französischen und englischen Literatur untersucht, zweifelt daran, dass es sinnvoll bzw. möglich sei, sich bzw. den anderen geschlechtlich nicht zu identifizieren: „It doesn’t make sense to behave as though we are living in a non-gendered utopia because we may desire one“ (A. Livia, Pronoun envy: literary uses of linguistic gender, New York, 2001, S. 37). 33 In einem Artikel zu Sphinx, der in der Festschrift Das Subjekt in Literatur und Kunst (Tübingen, Francke, 2011) zu Prof. Zimas 65. Geburtstag erscheinen wird, führe ich dies näher aus und entwickle auch unterschiedliche Lesarten der Beziehung zwischen dem erzählenden Ich und A***. Der Titel des Beitrags lautet, „Subjekt- und Körper(de-)konstruktion in Anne Garrétas Roman Sphinx“. 34 Gewissermaßen „nebenbei“ - durch die schlichte Juxtaposition von „chute“ und „Michel“ - wird der konkrete Sturz des DJ allegorisch mit dem Sturz des Erzengels Michael verknüpft: „dans sa chute, Michel - c’était le nom du disquaire […]“ (S 38). 35 Zu diesem Dialog liegen bereits mehrere Interpretationen vor. Er lässt sich auf unterschiedlichen Ebenen interpretieren - nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Ödipusmythos - zumal A*** als Sphinx gesehen werden kann, die zu Tode stürzt, nachdem Ödipus das von ihr gestellte Rätsel richtig beantwortet hat. 36 „Trop, c’est trop, l’intertextualité de Sphinx est inépuisable, se proliférant à la manière de l’entropie pynchonienne...“ konstatiert G. M. M. Colvile („Plaisir et chorégraphie de l’intertexte: Sphinx d’Anne Garréta“, in: J. Brami, M. Cottenet-Hage, P. Verdaguer (eds.), Regards sur la France des années 1980. Le roman, Saratoga 1994, S. 110-125, hier S. 122.) 37 A. F. Garréta and Josyane Savigneau, „A conversation“, in: Yale French Studies 90 (1969), S. 214-34, hier S. 218. 38 Nur selten hat man im Roman jedoch den Eindruck, den vom Erzähler-Ich vertretenen Standpunkt als den der Autorin interpretieren zu dürfen. 39 Vgl. Jacques Jouet, „Avec les contraintes (et aussi sans)“, in: M. Bénabou/ J. Jouet/ H. Mathews/ J. Roubaud, Un art simple et tout d’exécution, Paris, Circé, 2001, S. 33-67. Jouet befasst sich hier mit dem Formsinn seiner „poèmes de métro“ und dem der Anagramme von Michelle Grangaud. 40 Jacques Roubaud, „Deux principes parfois respectés par les travaux oulipiens“, in: Oulipo, Atlas de littérature potentielle, Paris, Gallimard, 1981, S. 90. 41 Anne Garréta, Pas un jour, Paris, Grasset, 2003. Im Folgenden mit der Sigle PJ und einfacher Seitenzahl zitiert. 42 Ob in Pas un jour nun ein „autobiographischer Pakt“ etabliert wird oder nicht, ist keine ganz einfache Frage. Im Sinne Philippe Lejeunes, der diesbezüglich eine Namensidentität zwischen Autor, Erzähler und Figur voraussetzt, ist dies sicher nicht der Fall. Aufgrund der Kongruenz der über Garréta bekannten Informationen mit der erzählenden Autor-Figur im Text wird der Rezipient im allgemeinen von einer „wahrscheinlichen autobiographischen Dimension“ ausgehen. Die gesamte Anlage des Projekts lädt den Leser jedenfalls im Ante Scriptum zu einer autobiographischen Kommunikation ein, weswegen es mir gerechtfertigt erscheint, die textinterne Autor-Figur als Autor-Person Garréta zu interpretieren (Vgl. zur begrifflichen Differenzierung zwischen notwendiger, wahrscheinlicher und evidenter autobiographischer Dimension A. P.-B., Romain Gary - Das brennende Ich. Dossier 92 Literaturtheoretische Implikationen eines Pseudonymenspiels, Tübingen, Niemeyer, 1996 (= mimesis, 26), S. 6-34.) Eine ausführliche Diskussion der Frage nach der Referentialität bzw. Fiktivität unternimmt Bérenger Boulay im Zusammenhang mit Pas un jour in dem interessanten Artikel „Cherchez la fiction. Réponse au „Post Scriptum“ de Pas un jour d’Anne F. Garréta“, in: http: / / www.fabula.org/ atelier.php? Cherchez_la_fiction [zuletzt besucht: 25.11.2010]. 43 Christelle Reggiani, „Anne F. Garréta: Pas un jour“, in: Formules 7 (2003), S. 297-299. 44 Zu dem von Michel Butor in La modification verwendeten „Vous“ kann eine Verbindung hergestellt werden, zumal nur wenige Romane durchgehend in der zweiten Person verfasst sind; Butors „vous“ ist jedoch die unpersönlichere Form. Mit der Wahl des Präsens ist Butor auch sehr stark auf die Deskription der jeweils gegenwärtigen Wahrnehmung fokussiert. Garréta erzählt dagegen in der Vergangenheit (wobei oft auch über längere Passagen das Präsens verwendet wird) und verwendet häufig den style indirect libre, um in das damalige Erleben, das bereits vielfach von Zweifeln und widersprüchlichen Gefühlen geprägt war, hineinzublenden. 45 Im Hinblick auf Garréta kommt beim Schlusssatz natürlich noch der Aspekt der deklarierten Homosexualität hinzu, die ja sowohl in anderen „siècles“ als auch in anderen Gesellschaften nicht lebbar wäre. 46 Eine interessante Untersuchung der theoretischen Positionierung Garrétas, die den einzelnen Darstellungen des „désir“ zugrundeliegt, stammt von Lucille Cairn. Cairn geht es zunächst um das Profilieren der zahlreichen Paradoxa des Textes, dann um Garrétas Verhältnis zu etablierten „queer“-Konzepten und die Frage, inwiefern Garréta „more normative lesbian paradigms“ transgrediert und schließlich um „her convergences with other gay, but exclusively male, and, notably, postmodern, writers and theorists of desire such as Gilles Deleuze, Michel Foucault, Félix Guattari and Guy Hocquenghem“. (Lucille Cairn, „Queer paradox/ paradoxical queer: Anne Garréta’s Pas un jour (2002), in: Lesbian Studies 11 (2007), S. 70-87, hier S. 75.) 47 Der von Epikur eingeführte und Lukrez in De rerum natura verwendete Begriff bedeutet für die Oulipiens eine bewusste Abweichung von der Contrainte. Idealerweise ist sie keine Notlösung, sondern eine bewusste Transgession, die Roubaud zufolge angewandt wird, obwohl man eine Contrainte-konforme Regel parat hätte; weiters sollte das Clinamen einer anderen Contrainte folgen. 48 Andere Bedürfnisse seien letztendlich im realen Leben von Vorrang gewesen, z.B. das zeitaufwändige Bedürfnis, zu lesen. Der Gedanke an den dadurch zustande gekommenen „temps perdu“ fordert Garréta zu einer gelungenen Anspielung auf Proust, genauer den ersten Satz der „Recherche“ „Longtemps je me couchais de bonne heure“ heraus, den die Oulipiens schon als Ausgangspunkt für mannigfache Variationen genommen hatten: „Tu aurais dû te livrer à des orgies d’écriture pour rattraper le temps perdu à te coucher si tard que tu peux de bonne foi assurer n’avoir jamais cessé de te coucher de bonne heure“ (PJ 142). So spät war sie also immer zu Bett gegangen, dass es immer schon (wieder) früh war und sich Garréta wieder mit Proust trifft. Dieses Proust-Zitat ruft La décomposition (1999), einen früheren Roman der Autorin in Erinnerung, in dem der Rekurs auf Figuren und Strukturen der „Recherche“ das dominante Strukturprinzip darstellt. Gleichzeitig weist es auf Eros mélancolique, einen gemeinsam mit Jacques Roubaud verfassten (2009 publizierten) Roman voraus, in dessen Vorwort dasselbe Motiv wieder aufgegriffen wird. Dossier 93 Dossier 49 Lucille Cairn weist auf die Widersprüche zwischen der textexternen Rahmung und dem textinternen „mission statements“ hin: „Although labelled a „novel” on the front of the cover, it does, in fact (as the Ante scriptum establishes), comprise a series of evocations of women whom the real-life author Garréta has desired, or by whom she has herself been desired, only one of which, asserts the Post scriptum, is a fictional evocation. So, from the very incipit of the text, in the tension between its external classification and its internal ‘mission’ statement, the key tenor of the text to come is established: paradox/ contradiction/ subversion”. (L. Cairn, op.cit., S. 76) 50 Anne F. Garréta, „In light of invisibility“, in: B. Mahuzier (ed.), Same Sex/ Different Text? Gay and lesbian writing in French, New Haven, Conn et al., Yale University Press, 1996 (= Yale French Studies 90), S. 205-213, hier S. 211. 51 Ibid.