eJournals lendemains 35/140

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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2010
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Romanistische Abenteuer in den östlichen Gegenden Deutschlands

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2010
Manfred Naumann
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14: 41: 19 112 Actuelles Manfred Naumann Romanistische Abenteuer in den östlichen Gegenden Deutschlands Rede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde des Fachbereichs Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Osnabrück (30. Juni 2010) Die hohe Ehrung, die mir heute zuteil wird, verleitet mich zu einem Rückblick auf meine romanistische Vergangenheit. Für das so schmeichelhafte Bild, das Wolfgang Klein von ihr gezeichnet hat, bedanke ich mich sehr. Es sei mir gestattet, es durch ein paar Episoden zu ergänzen, die eher aus der Privatsphäre stammen und die feierliche Färbung des Gemäldes vielleicht ein wenig aufzulockern vermögen. Vor ein paar Jahren wurde ich von einer Interviewerin gefragt, was mich, den 1925 geborenen Abkömmling einer Chemnitzer Arbeiterfamilie, veranlasst habe, ein so seltsames Fach wie die Romanistik zu studieren. Sie sei etwas lückenhaft informiert, gab ich zur Antwort. Meine Mutter sei damals zwar tatsächlich so etwas wie eine Arbeiterin gewesen, entstamme aber einer durch die Inflation bankrott gegangenen Bauernfamilie. Auf die Idee, mich Romanistik studieren zu lassen, wäre sie nie gekommen. Mein Vater dagegen, der sich mir leider nie vorgestellt habe, könne mir durchaus ein paar Gene, die mir das Romanische und Romanistische nahe gebracht haben, eingepflanzt haben. Der an der Ingenieurschule Mittweida studierende Bürgersohn war nämlich ein Italiener. Dass ich mir schon auf der Oberrealschule vornahm, später einmal Fremdsprachen zu studieren, lag aber wohl weniger an den Genen, sondern an meinen bescheidenen Lernergebnissen in den naturwissenschaftlichen Fächern. Ich glänzte nur in Englisch, Latein und Französisch, und auf meine Vatersprache, die ich zu Hause nie habe sprechen hören, war ich schon als Schüler so neugierig, dass ich mir fürs Italienische den Kleinen Toussaint-Langenscheidt besorgte, dessen Lektionen ich auswendig lernte. Vom Deutschen, in dem ich auch nicht schlecht war, dachte ich, es sei mir schon geläufig. Als ich mich daran gewöhnt hatte, dass ich dem Weltkrieg einigermaßen heil entkommen war, brauchte es daher keiner langen Überlegung, um mich für die Sprachen zu entscheiden. Im Herbstsemester 1946 nahm ich an der Universität Leipzig ein Lehrerstudium in den Fächern Romanistik und Anglistik auf. Den Anglisten, der, glaube ich, ein Herr von Hibler war, habe ich samt seinen Vorlesungen über den Beowulf, Milton und Tennyson so gut wie vergessen. In bester Erinnerung aber ist mir Herr von Jan geblieben, bei dem ich im zweiten Semester ein Proseminar über die moderne französische Lyrik absolvierte. Ich hörte Namen an 113 Actuelles meinem Ohr vorbeirauschen, die ich noch nie gehört hatte. Als ich sah, wie sich zwecks Eintragung in die Vortragsliste neben mir Hände erhoben, wagte irgendwann auch ich, den Arm in die Höhe zu strecken. Die Geste bescherte mir die Aufgabe, ein Referat über Le Cimetière marin von Paul Valéry zu halten, ein Name, den ich mir erst einmal buchstabieren lassen musste. Von Ehrgeiz gepackt, arbeitete ich den Vortrag aus und fügte ihm noch eine Übersetzung des Poems in fünffüßigen Jamben hinzu. Herr von Jan war ein mildgesonnener Lehrer; in einem Brief, den ich für aufhebenswert hielt, lobte er meinen Fleiß, riet mir aber, später, wenn ich noch mehr französische Lyrik in mich aufgenommen hätte, „die Übersetzung nochmals zu übergehen und zu verbessern“. Nachdem ich die Übersetzung von Ernst Robert Curtius, vor allem aber die von Rilke gelesen hatte, zog ich es vor, an die meine nicht wieder zu rühren. Zu Beginn des Wintersemesters 1947 wurde Eduard von Jan nach Jena berufen, und zehn Jahre später machte ich ihm dort als sein Nachfolger meinen Antrittsbesuch. Er hatte meine lyrischen Ergüsse von damals in freundlicher Erinnerung behalten, was mir den Einstieg in mein neues Amt erleichterte. Mein schon leicht ins Romanistische verliebtes Herz (und noch mehr mein Verstand) erglühte, als im Oktober 1947 Werner Krauss ans romanistische Rednerpult trat. Schon vor seiner Ankunft sprach sich herum, dass er bei Karl Vossler in München promoviert, sich bei Erich Auerbach in Marburg habilitiert habe und von den Nazis wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden sei. Nur durch die Fürsprache von Freunden und Kollegen sei er mit dem Leben davongekommen. Nach dem Krieg habe er sich in einer für deutsche Professoren seltenen Weise politisch engagiert. Ich schloss daraus, dass die Verlegung seines Wohnsitzes von Marburg an der Lahn nach Leipzig an der Pleiße nicht bloß ein geographischer Ortswechsel war. Eine solche Vorgeschichte machte den Professor, noch bevor er in Leipzig zu sehen war, zur Attraktion. Auch ich war von dem Mann fasziniert. In seinem Gesicht waren noch die Spuren seines unter Hitler erlittenen Schicksals zu lesen. Das Romanische Institut unter der Ägide des neuen Professors wurde zu meiner akademischen Heimat. Entscheidend für mich wurde das Sommersemester 1949. Ich fieberte jede Woche dem Freitag entgegen, an dem Krauss „Übungen zur Methodenfrage in der modernen Sprach- und Literaturwissenschaft“ abhielt. Man bekam schreibmaschinell hergestellte Textauszüge aus Werken von Denkern in die Hand gedrückt, die seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts direkt oder indirekt den Gang der Literatur- und Sprachwissenschaft in Deutschland bestimmt hatten: von Gervinus, Ranke, Dilthey, Vossler, Curtius, Spitzer bis hin zu Ermatinger, Oppel, Cysarz und noch anderen. Krauss interpretierte die Zitate im freien Vortrag. Ich merke an meinen Notizen von damals noch heute, dass es mir schwerfiel, mich in den wissenschaftsgeschichtlichen Labyrinthen zurechtzufinden. Glaube ich meinen Nachschriften, hat mich ein Satz besonders beeindruckt: „Der Mensch erkennt sich niemals durch Introspektion, nur durch Geschichte.“ Dieser Ausspruch stammte nicht von Krauss selbst, sondern von Dilthey. Doch Krauss hatte ihm hinzugefügt: „Ein 114 Actuelles kühnes und großes Wort! “, und das wohl hatte mir genügt, um den Satz in meinen Aufzeichnungen rot zu markieren. Der Mensch kann sich nur durch Geschichte erkennen an dieser Überzeugung hielt ich fest, und ich vertrete sie noch heute. Parallel zu den methodologischen Übungen veranstaltete Krauss im Sommersemester 1949 ein Hauptseminar über Montaigne, in dem ich einen Vortrag über „Montaigne und die Pädagogik“ hielt. Nach meinem Auftritt bestellte er mich in seine in der Gletschersteinstraße nahe dem Völkerschlachtdenkmal liegende Wohnung. Vor Aufregung, die Schwelle zu diesen heiligen Hallen überschreiten zu dürfen, wo, wie man hörte, nach seiner Ankunft in Leipzig auch Ernst Bloch ein paar Tage gewohnt haben sollte, brachte ich nächtens kein Auge zu. Als erster empfing mich nicht der Professor selbst, sondern ein Hund, der mich bellend begrüßte. Er wurde mir unter dem Namen Knax mit der Bemerkung vorgestellt, dass er außer Deutsch auch Spanisch verstehe. Ich rang mir bei dieser Nachricht ein Lächeln ab, das Krauss womöglich als Geste eines Tierfreunds deutete. Dank des so ganz und gar nicht prätentiösen Empfangs lockerte sich meine innere Spannung. Obwohl mir nicht entging, dass bei seiner Frage nach meinen Berufszielen seine Augen prüfend auf mir ruhten, brachte ich fast ohne Stottern heraus, dass ich nach dem Staatsexamen sicherlich in einer Schule unterkommen werde. Er riet mir, keine voreiligen Beschlüsse zu fassen und lieber das Examen abzuwarten. Als Thema der schriftlichen Hausarbeit schlage er „Die Idee der Nationalerziehung in der französischen Aufklärung“ vor, was mir Gelegenheit biete, mich mit Voltaire, Montesquieu, Diderot, Holbach, Helvétius, Rousseau näher zu befassen, die sich allesamt zu diesem Thema geäußert hätten. Wohl zum Zeichen dafür, dass er es ernst meinte, gab er mir den 1763 erschienenen Essai d’éducation nationale von Caradeux de Chalotais mit nach Hause. Gleich nach dem Examen beförderte mich Krauss zur „wissenschaftlichen Hilfskraft“ und ein paar Monate später zu seinem Assistenten. Damit waren die Weichen für mein weiteres Schicksal gestellt: 1952 die Promotion und drei Jahre später die Habilitierung. Neben Werner Krauss betrachtete ich Ernst Bloch, den Philosophen, Hans Mayer, den Germanisten, und Walter Markov, den Historiker, als meine Präzeptoren. Alle vier waren bald nach 1933 emigriert oder wurden eingesperrt. In ihrer intellektuellen Obhut fühlte ich mich geistig und psychisch geborgen. Die Vorlesungen von Bloch in ihrer Mischung von philosophischer Strenge und ästhetischem Reiz verführten mich dazu, mir anzugewöhnen, die gegenwärtigen Seins- und Denkhorizonte durch antizipatorische Hoffnungen auf ein anderes Morgen zu überschreiten. Durch Markov geriet ich für die französische Geschichte samt ihrer Revolution ins Schwärmen. Als ich in den neunziger Jahren auf einer Germanistentagung über die geistigen Genüsse sprach, die mir die Unterhaltungen mit Hans Mayer bereitet hatten, fragte man mich, ob er denn einen Geist der Goethezeit wie Korff anzubieten gehabt hätte. Das nicht, antwortete ich, aber den Geist von Hans Mayer, und der habe völlig genügt, mich zu fesseln. Die aus Dresden und Berlin ertönende Stimme Victor Klemperers, ihres Leidensgenossen, war in Leipzig nur von weitem zu hören. Meine Begeisterung für seine literargeschicht- 115 Actuelles lichen Abhandlungen hielt sich in Grenzen. Trotzdem gehörte er für mich zu der Familie, in der ich mich heimisch fühlte. Die ersten internationalen Sporen verdiente ich mir 1956 auf dem Romanistenkongress in Florenz. Beim Stöbern in der mit literarischer Massenware des 18. Jahrhunderts bestens ausgestatteten Leipziger Institutsbibliothek waren mir zwei Bände der gesammelten Werke eines gewissen Johann Christian Trömer in die Hände gefallen. Der Mann war in Dresden so etwas Ähnliches wie Hofpoet gewesen und hatte in einem deutsch-französischen Mischjargon abgefasste Dichtungen hinterlassen, die sich kunstlos gebauter Alexandriner bedienten. Der Fund schien mir für den Kongress, der die Herausbildung der romanischen Literatursprachen zum Thema hatte, brauchbar zu sein. Ich stellte die poetischen Narreteien Trömers als einen abstrusen Beleg für den durch die „universalité de la langue française“ geprägten höfischen Zeitgeschmack im damaligen Deutschland dar und fächerte den Vortrag noch mit Zitaten aus Texten anderer Zeitgenossen auf. Der florentinische Romanist Conti nannte meinen Beitrag in seinem Schlusswort „spiritoso“, womit er wohl ausdrücken wollte, dass mein Referat, wenn schon nicht tiefgründig, so doch wenigstens amüsant gewesen sei. Selbst der strenge Fritz Schalk aus Köln war zu mir gnädig; er geruhte, mir nach meinem Auftritt ein paar lobende Worte zu spenden, allerdings verbunden mit dem Ratschlag, mich noch etwas genauer über die europäische Barock- und Rokokoliteratur zu informieren; irgendwann habe ich das nachgeholt. Peter Huchel druckte meinen Vortrag in seiner Zeitschrift Sinn und Form ab, in der auch Krauss, Bloch, Mayer und Markov publizierten; das machte mich stolz und ein bisschen eitel. Das Leipziger Kraussinstitut, mitten in der „DDR“ gelegen, die an manchen Orten auch die „Zone“ genannt wurde, war für viele westdeutsche Romanisten eine exotische Attraktion. Ich erinnere mich, dass dem Institut neben Fritz Schalk aus Köln und Herbert Dieckmann aus den USA auch Harri Meier aus Bonn und Walther von Wartburg aus der Schweiz ihre Aufwartung machten; auch August Bück, damals noch in Kiel, der sich bestens in den Renaissancepoetiken auskannte, war ein paar Mal präsent. Abends lud Krauss seine Gäste, seine Leipziger Freunde und Assistenten zu Speis und Trank in die unteren Schlünde von Auerbachs Keller ein. Die Toasts, mit Wein abgerundet, sorgten für aufgelockerte Stimmung. Krauss duldete sogar, dass sich Hans Mayer ans Klavier setzte und die Runde mit Wagnermusik unterhielt, die Krauss nicht besonders mochte. Noch etwas feuchtfröhlicher ging es in Auerbachs Keller bei anderer Gelegenheit zu. Im Mai 1957 reiste aus der Bundesrepublik eine Gruppe junger Romanisten an, die sich von dem marxistisch infizierten Krauss und seinen Schülern ein Bild aus eigener Anschauung machen wollten, darunter die schon in den wissenschaftlichen Startlöchern sitzenden Hans Robert Jauß, Fritz Nies, Hans-Jörg Neuschäfer, Hans Hinterhäuser, Karl-August Ott und noch ein paar, deren Namen ich vergessen habe. Dass Krauss ausgerechnet einen Vortrag über die sprachwissenschaftlichen Thesen hielt, die unter dem Namen Stalins herausgekommen waren, wirkte, obwohl er ihren antidogmatischen Charakter pries, auf die Gäste vielleicht 116 Actuelles ein wenig befremdlich. Sie hätten wohl lieber etwas Literaturgeschichtliches gehört. Zu ideologischen Kontroversen führte das Thema aber nicht. Beide Seiten waren ganz stillschweigend übereingekommen, das ihnen Fremde beiseite zu legen und stattdessen lieber den kollegialen Dialog zu proben, was auch bestens gelang. Bei dem Empfang, den Krauss in Auerbachs Keller gab, war neben Ernst Bloch und Walter Markov natürlich auch Hans Mayer zugegen, der diesmal nicht Wagner spielte, sondern mit uns im Chor, von Hinterhäuser angefeuert, die Marseillaise sang. Von einem etwas schweren Kopf belastet, sah ich mit Bangen dem nächsten Vormittag entgegen, wo ich turnusgemäß meine Vorlesung halten musste; Rousseaus Nouvelle Héloïse stand auf dem Programm, und ich hatte unsere Gäste nicht davon abhalten können, sich meine Rede anzuhören. Am Ende war ich froh, dass ich mich nicht allzu sehr blamiert zu haben schien. Ein paar Stunden später gingen wir gemeinsam zum Leipziger Hauptbahnhof und nahmen, noch immer ein wenig verwundert, dass wir uns mitten im „Kalten Krieg“ so gut verstanden hatten, voneinander Abschied. Anfang Juni des gleichen Jahres fand eine Tagung des deutschen Romanistenverbandes in Mainz statt. Am besten von unseren Gästen in Leipzig hatte ich mich mit Jauß verstanden, und als er erfuhr, dass ich an der Mainzer Tagung teilnehmen würde, lud er mich ein, ihn anschließend in Heidelberg zu besuchen. Bei meiner Ankunft bot er mir in seiner damals noch nicht sehr geräumigen Wohnung eine Schlafstelle an und stellte mich seiner sympathischen Gattin Helga vor, die gerade ihr romanistisches Studium beendet hatte. Die drei oder vier Tage, die ich in der Neckarstadt weilte, vergingen wie im Fluge. Der unterhaltsame Karl-August Ott kutschierte mich durch den Odenwald und ein junger Historiker, der Reinhart Koselleck hieß, lud mich in ein urwüchsiges Lokal zum Abendessen ein. Das Proust- Buch von Jauß lag schon im Druck vor. Er schenkte es mir zum Abschied mit der Widmung: „Manfred Naumann zur Erinnerung an gemeinsame Tage (und Gemeinsamkeiten) in Leipzig und Heidelberg, 14. Juni 1957, H.R.J..“ Die kollegialen, bald freundschaftlich werdenden Beziehungen zwischen Jauß und mir hielten allen rezeptionsästhetischen Kontroversen stand, die wir später miteinander ausfochten. Im April 1987 unternahmen wir von Berlin aus einen Ausflug zu Theodor Fontane nach Neuruppin. Die Autofahrt zeichnete sich durch die Abwesenheit von Zeugen aus. Umgeben von der märkischen Landschaft wagte Jauß, nicht ohne ein leichtes Beben in der Stimme, mir seinen einstigen Beitritt in die Waffen-SS zu beichten und mich zu fragen, ob das für mich ein Grund sei, mit ihm zu brechen. Obwohl ich die Neuigkeit nicht sehr anziehend fand, ließ mich meine moralische Rigorosität im Stich. Ich hatte keine Lust, Richter oder Henker zu sein, redete ihm seine Befürchtungen aus und versprach ihm, das Gesagte für mich zu behalten. Von nun sagten wir Du zueinander. Natürlich hätte er besser daran getan, sich zu seinen Jugendsünden schon früher und auch öffentlich zu bekennen. Aber als man später daran ging, seine Rezeptionsästhetik als raffiniert getarnte Vertuschungsstrategie zu denunzieren, war ich empört, und das bin ich bis heute geblieben. 117 Actuelles Am 31. März 1959 war in der Zeitung Die Welt zu lesen, das Romanische Seminar in Jena sei ohne Chef, weil der bisherige Leiter Naumann seiner Funktionen enthoben worden sei. Die Meldung war korrekt. Wegen „partei- und staatsfeindlicher Tätigkeit in einer Agentengruppe“ wurde ein Hochschullehrverbot gegen mich verhängt und eine zweijährige Bewährungsstrafe in einem Leipziger Pädagogischen Bezirkskabinett ausgesprochen. Dreißig Jahre später durfte ich in den Geheimakten lesen, dass ich mich des Verbrechens schuldig gemacht hätte, aufrührerische Forderungen erhoben zu haben. „Personelle Veränderungen in Partei- und Staatsführung mit dem Ziel, die Stalinisten aus den führenden Stellungen zu entfernen; Verminderung des hauptamtlichen Parteiapparates unter dem Schlagwort ‘Weg mit den Apparatschiks’; Aberkennung der führenden Rolle der Partei auf kulturellem Gebiet unter der Losung ‘Alle Blumen sollen blühen’; Lockerung der zentralisierten Volkswirtschaft und größere ökonomische Freizügigkeit der volkseigenen Betriebe durch Bildung von Arbeiterräten; Verminderung des Apparates der Staatssicherheit.“ Das stand in dem Protokoll des polizeilichen Verhörs, dem ich mich in einem Raum mit vergitterten Fenstern unterziehen musste. Natürlich spielte ich damals mit dem Gedanken, mich nach dem Westen abzusetzen. Die Mauer gab es ja noch nicht; man brauchte nur nach Ostberlin zu fahren und sich dort für 20 Pfennig Ost eine S-Bahnfahrkarte in die Westsektoren zu kaufen. Als ich Krauss meine Erwägungen beichtete, reagierte er mit dem Satz: „Im Westen gibt es viele talentierte Romanisten deines Alters, im Osten sind sie seltener“. So etwas wie eine DDR-Romanistik, das wusste ich, gab es für Krauss nicht, wohl aber gab es für ihn eine Romanistik auch in der DDR, und diese am Leben zu erhalten und auf ihrer Grundlage vielleicht sogar eine konkurrenzfähige Literaturwissenschaft im allgemeineren Sinne zu entwickeln lag ihm, wie das Land auch sonst beschaffen sein mochte, am Herzen. Offenbar hatte er mit dem Satz sagen wollen, mein Bleiben könne seinen Wünschen förderlich sein. Das munterte mich auf; ich legte meine Fluchtpläne ad acta und beschloss, auf bessere Zeiten wartend, die in Aussicht stehenden Strafarbeiten auf mich zu nehmen. Nach der zweijährigen Frontbewährung in dem Leipziger Bezirkskabinett brachte man mich an der Universität Rostock unter. Das dortige Romanische Institut war gerade dabei, in ein Zentrum für lateinamerikanische Länderwissenschaften verwandelt zu werden. Ich erhielt daher keine Professur für Romanische Philologie wie in Jena, sondern nur eine für die Abteilung Französische Literatur, ein Anhängsel des im Aufbau befindlichen Großinstituts. Ich wurde in Rostock zwar nicht heimisch, war aber froh, wenigsten mit einem Fuß wieder auf romanistischem Boden zu stehen. Die Lehrverpflichtungen in Rostock ließen mir Zeit, mich an der Übersetzung einiger Theaterstücke von Lesage und Diderot zu versuchen, vor allem aber die Aufklärungsforschung fortzusetzen, was Krauss, der inzwischen zu einer internationalen Leuchte der Dix-huitièmistes geworden war, sehr erfreute. Irgendwann gestand ich ihm mein nach den Jenenser Erlebnissen erwachtes Interesse an den literarischen Schicksalen der im 19. und 20. Jahrhundert ansässigen Romanfigu- 118 Actuelles ren, die im Unterschied zu ihren fortschrittsgläubigen Brüdern und Schwestern des Aufklärungszeitalters „problematische Individuen“ seien. Beim Zuhören runzelte er ein wenig die Stirn; offenbar befürchtete er, ich könnte dem 18. Jahrhundert davonlaufen. Aber er sah wohl ein, dass er mich nicht lebenslang an die Aufklärungsepoche fesseln könnte, und registrierte fortan mit Wohlwollen, dass ich mir auch über solche Figuren etwas zu sagen getraute, die die französischen Romane der neueren Zeit bevölkern, von Stendhal, Balzac, Flaubert bis hin zu ein paar Autoren, bei denen ich Mühe hatte, ihnen eine Eintrittserlaubnis in die von der „Dekadenz“ und dem „Modernismus“ abgeschottete DDR überhaupt erst zu beschaffen, zum Beispiel Billetts für Marcel Proust und etliche „nouveaux romanciers“ wie Michel Butor, Alain Robbe-Grillet und Nathalie Sarraute. Am nächsten von allen stand und steht mir Stendhal, der selbst eine problematische Natur war und diese auch auf seine Figuren übertrug. Seine Helden liefern sich zwar dem gesellschaftlichen Getriebe aus, von dem sie umgeben sind, distanzieren sich aber zugleich auch von ihm; sie spielen mit, lehnen aber das Spiel, an dem sie sich beteiligen, zugleich auch ab. Sie unterwerfen sich weder „realistisch“ dem Realen, noch laufen sie „romantisch“ von ihm weg. Sie gründen ihr „Selbst“ auf dem inneren Zwiespalt, der sie beherrscht. So etwa sah das Konzept aus, das ich den Stendhal-Studien zugrundelegte, die ich während meines universitären Exils Ende der fünfziger Jahre zu schreiben begann. Seitdem hat mich Stendhal nie wieder losgelassen: Die Pilgerreisen 1985 und 1989 nach Grenoble, seiner Geburtsstadt; die Stendhalkongresse 1986 in Italien, 1991 in Dijon, 1992 in Stendal, 1995 in Chalons-sur-Saône und Langres, dazwischen die Archivstudien in Paris, Grenoble, Weimar, Dresden, Braunschweig, Wolfenbüttel; und dann schließlich 2001 das Buch Stendhals Deutschland: Henri Beyle blieb durch alle Zeitläufe hindurch mein Weggefährte. Ohne die mit ihm ständig geführten Gespräche wäre es mir schwergefallen, den Beschwernissen des Alltags zu trotzen. In Rostock war ich mir fast wie in sibirischer Verbannung vorgekommen. Bei den Kulturwissenschaftlern der Humboldtuniversität, die mich Mitte der sechziger Jahre engagierten, fühlte ich mich wohler. Unter den Studenten, mit denen ich es dort zu tun kriegte, fiel mir ein junger Mann auf, dessen Fragen so gescheit waren, dass ich ihm zutraute, in seiner Examensarbeit mit einer Stelle aus der Hegelschen Ästhetik fertig zu werden: „Der Roman im modernen Sinne setzt eine bereits zur Prosa geordnete Wirklichkeit voraus“, lautete das Thema. Unter meinem Gutachten stand die Note „sehr gut“. Den Namen des Studenten merkte ich mir: Wolfgang Thierse. Zehn Jahre später meldete er sich im Zentralinstitut für Literaturgeschichte bei mir an. Er war wegen seiner unbotmäßigen politischen Auffassungen aus dem Kulturministerium entlassen worden, wo er nach dem Studium untergekommen war, und suchte einen neuen Arbeitsplatz. Ich setzte durch, dass er in unserem Institut als wissenschaftlicher Mitarbeiter eingestellt wurde, wo er, getragen von der Denkkraft seiner Rede und vom Schutz der Freunde, die er im Institut fand, bis zur Wende überwinterte. Sein Aufstieg zum Bundestagspräsidenten hinderte ihn nicht daran, diskret von Leibwächtern begleitet, auf der Feier zu erschei- 119 Actuelles nen, die die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften zu meinem 75. Geburtstag veranstaltet hatte. Er drückte mir die Hand. Diese Geste bescherte mir noch eine nachträgliche Genugtuung darüber, dass ich ihm zwanzig Jahre zuvor bei der Suche nach einem Arbeitsplatz geholfen hatte. Im geheimen hatte ich mir in Rostock und an der Humboldtuniversität immer gewünscht, an der Berliner Wissenschaftsakademie wirken zu können, wo 1962 Krauss mit etlichen seiner Leipziger Schüler, Freunden von mir, seine Zelte aufgeschlagen hatte. Dieser Wunsch ging 1969 bei der Gründung des Zentralinstituts für Literaturgeschichte in Erfüllung. In ihm waren Romanisten, Germanisten, Slawisten und Anglisten/ Amerikanisten interphilologisch vereinigt, was damals, man denke an Konstanz und Bielefeld, als ziemlich modern galt. Die Abteilung, die ich zu leiten hatte, bestand aus Romanisten, Germanisten und Slawisten und hieß etwas hölzern „Bereich für methodisch-theoretische Probleme der Literaturgeschichte und der Erbeaneignung“. Zum Kernbestand gehörten der mir seit den Rostocker Tagen befreundete Romanist Karlheinz Barck und die Germanisten Dieter Schlenstedt und Dieter Kliche. Unsere wissenschaftlichen (und auch wissenschaftspolitischen) Denkweisen lagen eng beieinander, und so freuten wir uns gemeinsam, dass wir von Aufträgen irgendwelcher höheren Instanzen, Literaturtheorie nach den gängigen dogmatischen Mustern zu betreiben, verschont blieben, stattdessen dazu verurteilt waren, uns ein Projekt nach eigenem Geschmack auszudenken. Bei der Suche danach kam uns meine schon bei den Kulturwissenschaftlern anvisierte Idee zu Hilfe, ein literaturtheoretisches Unternehmen unter Einschluss der Rezeptionsproblematik zu wagen; also keine Theorie, die danach fragt, was in der Literaturgeschichte widergespiegelt worden war, auch keine, die den lebenden Autoren Anweisungen für politisch korrektes Schreiben erteilt, sondern eine Theorie, die neben dem literarischen Produzenten auch jenen Anonymus ernst nimmt, der die Literatur bloß liest, sein Wesen also in der literarischen Konsumtionssphäre treibt, etwas burschikoser ausgedrückt: Anstatt uns mit den Problemen der Weltaneignung durch die Literatur zu befassen, sollten die Probleme der Literaturaneignung durch die Welt im Mittelpunkt stehen. Heraus kam ein Buch, das wir Gesellschaft-Literatur-Lesen und im Untertitel Literaturrezeption in theoretischer Sicht nannten. Das Buch erregte in der nationalen und internationalen Zeitschriften- und Zeitungswelt ziemliches Aufsehen. Fritz J. Raddatz zum Beispiel würdigte es in der Wochenschrift Die Zeit als „eine ungewöhnliche Leistung von intellektueller Brisanz wie logischer Stringenz“, und selbst in der gestrengen Frankfurter Allgemeinen Zeitung erregte es Wohlwollen: „Dieser Sammelband, der einen langverzögerten Sprung nach vorne signalisiert, ist ein Manifest jener DDR-Literaturtheorie, die sich mit intellektueller Energie und bewunderungswürdigen Detailkenntnissen [...] den gröblichen Vereinfachungen der fünfziger und der frühen sechziger Jahre zu entziehen sucht.“ Den nachhaltigsten Eindruck hinterließ das Buch verständlicherweise bei Hans Robert Jauß, der mir seine Konstanzer Antrittsvorlesung Literaturgeschichte als 120 Actuelles Provokation der Literaturwissenschaft mit der Widmung zugeschickt hatte: „Für Manfred Naumann in Erinnerung an ein denkwürdiges Gespräch! “ Worum es bei dem Gespräch genau gegangen war, ist mir entfallen. Sicher aber ist, dass ich mich durch seine „Provokation der Literaturwissenschaft“ provoziert fühlte, an der von mir angestrebten literaturtheoretischen Rangerhöhung des Lesers weiterzuarbeiten, allerdings, im Unterschied zur Jauß’schen Privilegierung des ästhetisch gebildeten Ideallesers, dem er zutraute, Genuss an der Zerstörung seines Erwartungshorizontes zu haben, an einem Modell, das auch dem gemeinen Leservolk einen Platz gönnt. Im April 1974 schickte mir Jauß einen Brief, in dem er sich für Gesellschaft-Literatur-Lesen ganz im allgemeinen und für die Erörterung und Kritik seiner Theorie darin im besonderen bedankte: „Als Ihr Widersacher kann ich Sie zu diesem Unternehmen nur beglückwünschen: das Buch geht über alles hinaus, was mir aus Ihrem Lager [...] über Rezeptionstheorie bekannt geworden ist. Gerne folge ich Ihrer Einladung zur Fortsetzung der Debatte.“ Natürlich wussten wir, dass wir in zwei Staaten lebten, die verschiedenen Lagern angehörten. Aber zu einer Spaltung wollten wir es deswegen nicht kommen lassen. Jauß nahm meine Einladungen nach Berlin an und ich die seinen nach Konstanz. Die Divergenzen wurden nicht unter den Teppich gekehrt, aber wir hielten an den „Gemeinsamkeiten“ der Tage von Leipzig und Heidelberg fest und gaben uns Mühe, Brücken zu bauen. Ein paar Jahre später, auf dem Kongress der Association Internationale de Littérature Comparée in Innsbruck, traten wir gemeinsam coram publico auf. Uns wurde die Ehre zuteil, die Sektion „Ästhetik der Rezeption und der literarischen Kommunikation“ zu leiten. Wer Hahnenkämpfe von uns erwartete, wurde enttäuscht. Aus den einstigen West-Ost-Kontrahenten waren längst Verbündete geworden. In meinem Schlusswort merkte ich an: „In der Wissenschaft gibt es nichts Schlimmeres, als keine Probleme zu sehen oder alle Probleme für gelöst zu halten.“ Das hatte Anklang gefunden. Die internationale Komparatistenvereinigung wählte mich in Innsbruck in ihr Leitungsgremium. Auf dem Kongress der A.I.L.C. 1982 in New York hielt ich einen Vortrag mit dem Titel „L’événement littéraire et l’histoire littéraire“. Mir wurde der Kongress durch eine Begegnung zum Ereignis, das mir nicht durch, sondern nach meinem Vortrag beschert wurde. Eine junge Kollegin stellte sich mir als Literaturwissenschaftlerin aus Tel Aviv vor und teilte mir mit, sie beschäftige sich mit dem Verhältnis zwischen kulturell kanonisierten und peripher dazu liegenden Textsorten. Die von mir angedeuteten Differenzen zwischen Text und Werk wiesen ihrer Meinung nach in das Zentrum ihrer Problemstellung. Darüber würde sie sich gern mit mir unterhalten. Da im Moment keine Zeit dafür da war, weil noch andere Gesprächspartner nach mir verlangten, verabredeten wir, uns nach Sitzungsschluss in einem nahe dem Washington Square gelegenen Coffeeshop zu treffen. Ich würde also zum ersten Mal in meinem Leben ein Tête-à-Tête mit einer Bürgerin aus Israel haben. Das ließ mein Herz höher schlagen, verunsicherte mich aber zugleich auch. In dem Programmheft war hinter meinem Namen „Berlin“ angegeben. Wie würde die Dame 121 Actuelles reagieren, wenn ich ihr verriete, dass es eigentlich „Ostberlin“ heißen müsste? Nachdem der wissenschaftliche Meinungsaustausch erledigt war und wir über allgemeinere Dinge ins Plaudern kamen, gestand ich ihr meine Herkunft und meinte, ihr mitteilen zu müssen, dass sich auch die Ostdeutschen der Verbrechen schämten, die an den jüdischen Menschen von den deutschen Nazis begangen worden waren. Lächelnd antwortete sie, wir hätten ja gerade erlebt, dass Gespräche auch Menschen unterschiedlicher Herkunft miteinander verbinden können. So war das Rendezvous im Coffeeshop noch nicht unser letztes. Ein Jahr später, auf einer Tagung der A.I.L.C. in Paris, steckte mir jemand aus Tel Aviv ein Briefchen zu, auf dessen erster Seite zu lesen war: „Cher Monsieur, en réponse à votre demande je vous fais parvenir cet article“, und dann auf der zweiten Seite, „qui n’est qu’un prétexte pour te dire que j’essaie de t’oublier, mais je n’y arrive pas“. Auch mir ist das nie gelungen. Auf den Kongressen 1985 in Paris und 1988 in München sahen wir uns wieder. Die Begegnung in New York war uns noch ganz gegenwärtig, und mir ist sie es bis heute geblieben. Nach dem Tod von Krauss hatte es sich im Zentralinstitut für Literaturgeschichte eingebürgert, in regelmäßigen Abständen ein wissenschaftliches Kolloquium in memoriam Werner Krauss zu veranstalten. Das von 1989 war dem zweihundertjährigen Jubiläum der Französischen Revolution gewidmet; es fand am 8. und 9. November statt. Wie immer waren der Einladung auch diesmal viele Gäste aus dem östlichen und westlichen Ausland gefolgt und natürlich auch aus der Bundesrepublik und Westberlin. Aus meiner Eröffnungsrede seien ein paar Sätze zitiert: „Es würde mich nicht wundern, wenn unsere Konzentration auf das, was in diesem Saale vorgetragen wird, hier und da ein wenig abgelenkt würde durch das, was zu gleicher Stunde außerhalb der akademischen Wände geschieht. Ein Ärgernis wäre solche Zerstreutheit für meinen Geschmack aber nicht. Ich würde in der Berührung von geschichtlicher Reminiszenz und gegenwärtigem Geschehen eher die Chance einer Horizontverschmelzung sehen, die unsere Konferenz ein wenig vom Makel möglicher akademischer Unverbindlichkeit entlasten könnte. [...] Falls Ihnen meine Begrüßungsworte ein wenig zu politisch klingen sollten, bitte ich um Vergebung. Es ist nichts Geringeres als die Zeitgeschichte selbst, die mich diesen Verstoß gegen die guten akademischen Sitten begehen ließ. Werner Krauss, das weiß ich, hätte an solcher Art von Zeitgeschichte seine Freude gehabt.“ Vor der Mittagspause des letzten Konferenztages nahm ich mir heraus, nochmals gegen die guten akademischen Sitten zu verstoßen. Vor dem ZK-Gebäude, das zwei- oder dreihundert Meter von dem Plenarsaal in der Akademie entfernt lag, wo wir tagten, hatte sich eine Menschenmasse versammelt, die, wie schon am Samstag zuvor auf dem Alexanderplatz, gegen die Herrschaft des politbürokratischen Parteiapparats protestierte und eine „Deutsche Republik“ forderte, die „demokratisch“ nicht nur dem Namen nach war. Ich erklärte das Kolloquium für beendet und schlug den Teilnehmern vor, anstatt über eine vergangene Revolution zu reden, sich eine heutige aus der Nähe anzuschauen. So ging ich Arm in Arm mit 122 Actuelles Hans Robert Jauß und Fritz Nies die Jägerstraße entlang, die damals noch Otto- Nuschke-Straße hieß, und tauchte mit ihnen in der Menschenmasse unter, die immerzu nach einer anderen Politik rief. Nach einiger Zeit ließ sich der Nachfolger von Honecker vor dem Gebäude blicken und stammelte ein paar der üblichen Phrasen. Ich war optimistisch und prophezeite meinen beiden Mitdemonstranten, der peinliche Auftritt dieses Generalsekretärs läute das Ende der Parteiherrschaft ein. Ich hatte Recht, am Abend des gleichen Tages, das war der 9. November, fiel die Mauer. Fast genau ein Jahr später, zu meinem 65. Geburtstag, wurde ich emeritiert. Meine letzte Amtshandlung bestand darin, vor einer hochkarätigen Evaluierungskommission Rede und Antwort über den Zustand des Instituts zu stehen, dessen Arbeiten ich zu verantworten hatte. Nicht nur die Romanisten und meine rezeptionstheoretischen Mitstreiter schnitten gut dabei ab. Ich war zufrieden; mein Verbleiben in den Gefilden rechts der Elbe damals 1959 war offenbar doch nicht ganz sinnlos gewesen. Heute nun, 2010, hat mich eine Universität, die links von der Elbe liegt, mit dem Titel eines Dr.h.c. dekoriert, und Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen, haben mir gestattet, Ihnen ein paar Episoden aus meiner romanistischen Vergangenheit zu erzählen. Dafür danke ich Ihnen und der Universität Osnabrück von Herzen.