lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2010
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Textlust im Quadrat: eine neue Lektüre von Roland Barthes’ Le plaisir du texte
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2010
Mart Winters
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135 Débats Mart Winters (Leiden) Textlust im Quadrat: eine neue Lektüre von Roland Barthes’ Le plaisir du texte Im Verlauf der beiden zurückliegenden Jahrzehnte ist Roland Barthes, der nach seinem Unfalltod im Jahre 1980 anders als der im gleichen Jahr verstorbene Jean- Paul Sartre kein purgatoire erleiden mußte, zweifellos zu einem paradoxen Meisterdenker ebenso im Bereich der Literaturwie der Kulturtheorie geworden. Die Veröffentlichung der Barthes gewidmeten umfangreichen dreibändigen Werkausgabe der Œuvre complètes 1 auf Bibelpapier, die erstmals einem breiteren Publikum den Zugang auch zu seinen nicht in Buchform erschienenen Schriften und damit einen Einblick in die Komplexität seines gesamten Denkens ermöglichte, aber auch die Publikation seiner teilweise legendär gewordenen Vorlesungen am Collège de France, wie sie mit den sorgsamen Editionen insbesondere seiner Cours zu den Themen Comment vivre ensemble, 2 Le Neutre 3 oder La Préparation du roman 4 im Rückgriff auf jene Dokumente und Unterlagen vorgelegt wurden, die sich im Fonds Roland Barthes des IMEC befinden, haben in den Jahrzehnten nach seinem Tod ein vieltausendseitiges Gesamtwerk entstehen lassen, das den Verfasser von Le Degré zéro de l’écriture (1953) von seinen frühesten Texten der vierziger Jahre bis hin zu seinen nachgelassenen Schriften als einen wichtigen Motor und Impulsgeber für die unterschiedlichsten Ausprägungen und Entwicklungen von Strukturalismus und Poststrukturalismus, von Kulturtheorie und Geschlechterforschung erscheinen läßt. Beim Überblick über die so entstandene Schriftenlage wird - wenn es dessen denn noch bedurft hätte - rasch klar, daß Roland Barthes (wie er selbst einmal verärgert an einen italienischen Verleger schrieb, der sich vertraglich abgesichert die Freiheit nehmen wollte, seine Variations sur l’écriture 5 nach Gutdünken umzustellen, zu kürzen und umzuschreiben) keinesfalls ein simpler Vulgarisator, sondern vielmehr im eigentlichen Sinne ein écrivain, ein wirklicher Schriftsteller war. 6 Mit der Veröffentlichung der soeben aus Anlaß des dreißigsten Todestages im Berliner Suhrkamp Verlag erschienenen Neuübersetzung und ausführlichen Kommentierung von Le Plaisir du texte 7 scheint die hier kurz skizzierte Entwicklung insgesamt in eine neue Phase eingetreten zu sein. Denn mit diesem Band wird erstmals die Edition eines Einzeltextes von Barthes zusammen mit einem Kommentar vorgelegt, der das kommentierte Werk um ein Vielfaches an Umfang übersteigt und als eine eigentliche édition critique angesprochen werden darf. Und kritisch darf man diese Edition in der Tat sehr wohl sehen. Denn nimmt die von Ottmar Ette, einem bereits seit sehr langen Jahren in Potsdam tätigen Romanisten, vorgelegte Neuübersetzung von Barthes erstmals 1973 erschienenen Le Plaisir du texte gerade einmal achtzig Seiten ein, so bildet der Rest des insgesamt 136 Débats über fünfhundert Seiten starken Bandes einen Kommentarteil, der oftmals in die feinsten Verästelungen des Barthesschen Denkens einführt, der in seiner Gesamtheit aber - so steht wohl zu befürchten - jenseits der Barthes-Gemeinde kaum von der Mehrheit der Leser mehr als nur durchblättert werden dürfte. Der Verdacht liegt also nahe, daß Ette, der bereits eine ebenfalls die Fünfhundert-Seiten-Marke übersteigende Barthes-Monographie im Suhrkamp Verlag vorlegen konnte, 8 des Guten etwas zuviel getan hat. Ginge es denn - wie man mit Pier Paolo Pasolini sagen könnte - nicht ein wenig kürzer? Wäre denn Barthes’ Denken nicht auch auf - sagen wir zur Güte - hundertundfünfzig Seiten darstellbar? Doch beschäftigen wir uns zunächst mit der vom Herausgeber und Kommentator selbst vorgelegten Neuübersetzung. Sie bildet fraglos den philologischen Glücksfall einer Übersetzung insofern, als sich translatorische, editorische und kommentierende Tätigkeit hier in einem symbiotischen Verhältnis wiederfinden, insoweit die Übersetzung den Kommentar und der Kommentar die Übersetzung wesentlich befruchtet haben dürften. Zieht man die bisherige Übersetzung von Traugott König 9 vergleichend hinzu, so zeigt sich, wie sehr sich die neue Übersetzung darum bemüht, ebenso in ihrer Begrifflichkeit wie in ihrer theoriegesättigten Metaphorik erkennbar präziser am Barthesschen Original zu bleiben und nicht zuletzt auch jene Paratexte wiederherzustellen, die in der bisherigen Übersetzung einfach als überflüssig und unwichtig weggelassen wurden. Sie aber bilden den eigentlichen Schlüssel zu diesem Schlüsseltext von Roland Barthes, in dem die Fäden des gesamten Œuvre virtuos zusammenlaufen. Kein Zweifel: Bei der Lektüre dieser Übersetzung wird ein ganz anderes, neues Buch von Barthes zugänglich, das voller Überraschungen steckt und Lust zum Weiterlesen macht. Die Wirkung freilich wird auf den deutschsprachigen Raum beschränkt bleiben. Denn wer wollte schon hoffen, daß ein französischer Barthes-Spezialist diesen Band zur Hand nähme? So neu auch dieses Leseerlebnis, das uns die hier zu besprechende Ausgabe beschert, sein mag: Bisweilen erhält man doch den Eindruck, daß dem Übersetzer an manchen entscheidenden Stellen der Mut fehlte, sich mit letzter Radikalität für eine einzige Lesart zu entscheiden und damit zugleich mit den bisherigen übersetzerischen Konventionen zu brechen. Bei aller Leidenschaft für Barthes leidet man hier als Leser, der mit dem französischen Original und der Wortgewalt dieses großen écrivain français vertraut ist. Das vielleicht deutlichste Beispiel hierfür gibt uns die Übersetzung des Titels selbst an die Hand. Wir werden im Kommentarteil zwar wortreich auf die Vieldeutigkeit des sogenannten ›Titelfraktals‹ aufmerksam gemacht und erfahren, daß Le Plaisir du texte als die Lust im Text, die Lust des Textes, die Lust am Text oder die Lust zum Text übersetzt werden könnte; tatsächlich bleibt der Übersetzer aber angesichts dieser Textlust im Quadrat bei der bisherigen Lösung ›Die Lust am Text‹ stehen. Wäre es hier nicht mutiger gewesen, entschlossen wie auch an anderen Stellen mit der bisherigen Übersetzungspraxis zu brechen und einen neuen Titel durchzusetzen, auch wenn hier der Verlag sein Veto gewiß hätte einlegen können? 137 Débats Wäre es nicht konsequenter gewesen, Le Plaisir du texte ohne wenn und aber und ein für allemal mit ›Die Textlust‹ zu übersetzen? Eine ähnliche Kritik, ja einen ähnlichen Vorwurf könnte man bei aller Zustimmung im Detail wohl auch gegenüber dem Kommentarteil ins Feld führen und kritisch geltend machen. Denn der Übersetzer, Herausgeber und Kommentator hebt zwar in vielen Passagen seines Kommentars - und darin besteht nicht zuletzt die Innovation gegenüber der bisherigen Barthes-Forschung - die enorme Bedeutung des Lexems ›Leben‹ hervor und bemüht sich, auch in seiner Übersetzung dem bei Barthes bisher so häufig überlesenen Wörtchen vie zu seinem Recht zu verhelfen. Doch hätte er mit aller philologischen Radikalität in seinem Kommentar, der die Ergebnisse der bisherigen Barthes-Forschung zu Le Plaisir du texte ausführlich diskutiert und nicht zuletzt auch viele Erkenntnisse der lange Zeit eher unbeachtet gebliebenen Studie von Armine Kotin Mortimer 10 integriert, die ungeheuer erhellende Dimension des Lebensbegriffes, der das gesamte Schaffen von Roland Barthes ausleuchtet, privilegieren sollen, um mit aller Entschlossenheit mit bisherigen Deutungsmustern zu brechen. Etwas mehr souveräne nietzscheanische Philologie wäre dem Unternehmen hier gut bekommen. Etwas weniger Editionsphilologie und etwas mehr Philosophie, mit aller Courage und Leidenschaftlichkeit vorgetragen, hätten dem Kommentarteil gut getan und deutlicher markiert, warum wir es in dieser Edition - zumindest der (allzu versteckt gehaltenen) Intention des Verfassers nach - mit einer veritablen Neuperspektivierung der Forschungen zum gesamten Schaffen des Pariser Intellektuellen und Schriftstellers zu tun haben. Oder unzeitgemäß und ohne jeden Anflug von Kryptographie gefragt: Wäre die Lust am Text ohne die Lust am Leben denkbar? Ein Neuanfang, so akademisch er auch sein mag, ist also signalisiert, vielleicht sogar gemacht. Nur gilt es, ihn mit größerem Mut künftig voranzutreiben, um deutlich zu machen, daß Roland Barthes in der Tat - wie im Kommentarteil immer wieder nahegelegt wird - einer der entscheidenden Vordenker einer Lebenswissenschaft ist, die sich ihres Namens als würdig erwiese, die nicht - und entgegen der Bedeutung von gr. bios - wie die sogenannten Life Sciences alles Kulturelle aus dem Lebensbegriff ausblendet, sondern kompromißlos eine Neuorientierung literaturwissenschaftlichen Tuns betreibt. Wäre es nicht eine Lust, die Barthessche Ästhetik der Lust genau an dieser Frontlinie gegenwärtiger Epistemologie in Theorie und Praxis weiterzuentwickeln? Dem Suhrkamp Verlag ist dafür zu danken, mit der Aufnahme von Le Plaisir du texte in die Studienbibliothek konsequent einen neuen Weg in der Barthes-Forschung eröffnet zu haben und nicht davor zurückgeschreckt zu sein, einen so außergewöhnlich umfangreichen Kommentar in diese Reihe aufzunehmen. Wenn man mit Fug und Recht behaupten darf, daß sich Roland Barthes mit Le Plaisir du texte für viele Zeitgenossen, die in ihm noch 1973, zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses schmalen Bandes, einen Vertreter strukturalistischer Wissenschaft erblickten, aus der Wissenschaft endgültig herauskatapultierte, so zeigt der fast vierzig Jahre später erschienene Band doch in aller Deutlichkeit, wie effizient und wir- 138 Débats kungsvoll der französische Zeichentheoretiker als Schriftsteller eine Literatur-Wissenschaft in einem Sinne betrieb, die Wissenschaft und Literatur in einer neuen und höchst kreativen Verschränkung schreibbar und lesbar macht. Ist dies aber, so muß man wohl kritisch anmerken, heute noch zeitgemäß? Eine klare Antwort ist auf diese Frage zum gegenwärtigen Zeitpunkt (noch) nicht zu geben. Das Beispiel des Verfassers von Roland Barthes par Roland Barthes könnte zeigen, wie fruchtbar es ist, unter heute grundlegend veränderten Bedingungen wiederum neue, schöpferische Antworten auf einige jener dringlichen Herausforderungen zu finden, denen sich die Literaturwissenschaft in den Zeiten ihrer weiter voranschreitenden gesellschaftlichen Marginalisierung gegenüber sieht. Nach der Lektüre dieses Bandes möchte man vielen - auch dem Kommentator selbst - zurufen: mehr Textlust! Vielleicht könnte der paradoxe Vordenker einer erst in Umrissen erkennbaren Ästhetik der Lust mit seinen Schriften sicherlich nicht vor-schreiben, wohl aber kreativ vor-leben, wohin sich eine Wissenschaft bewegen könnte, die es ernst meinte damit, ihr Wissen nicht nur in geschlossenen Zirkeln von Initiierten salonfähig, sondern als Textlust für möglichst breite Kreise gesellschaftsfähig zu machen. Dann wäre mehr Leben, mehr Lust im Text. 1 Barthes, Roland: Œuvres complètes. Edition établie et présentée par Eric Marty. 3 Bde. Paris: Seuil 1993-1995. 2 Barthes, Roland: Comment vivre ensemble. Simulations romanesques de quelques espaces quotidiens. Notes de cours et de séminaires au Collège de France, 1976 - 1977. Texte établi, annoté et présenté par Claude Coste. Paris: Seuil - IMEC 2002. 3 Barthes, Roland: Le Neutre. Notes de cours au Collège de France 1977 - 1978. Texte établi, annoté et présenté par Thomas Clerc. Paris: Seuil - IMEC 2002. 4 Barthes, Roland: La Préparation du roman I et II. Notes de cours et de séminaires au Collège de France 1978-1979 et 1979-1980. Texte établi, annoté et présenté par Nathalie Léger. Paris: Seuil - IMEC 2003. 5 Vgl. hierzu die zweisprachige Ausgabe von Barthes, Roland: Variations sur l’écriture. Variationen über die Schrift. Französisch - Deutsch. Übersetzt von Hans-Horst Henschen. Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. Mainz: Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung 2006. 6 Vgl. hierzu Carlo Ossola, „L’instrument subtil“, in: Roland Barthes: Le Plaisir du texte, précédé de Variations sur l’écriture, S. 15. 7 Barthes, Roland: Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Ottmar Ette. Kommentar von Ottmar Ette. Berlin: Suhrkamp Verlag (Suhrkamp Studienbibliothek 19) 2010. 8 Vgl. Ette, Ottmar: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (edition suhrkamp 2077) 1998. 9 Barthes, Roland: Die Lust am Text. Aus dem Französischen von Traugott König. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974. 10 Vgl. Mortimer, Armine Kotin: The Gentlest Law. Roland Barthes’s The Pleasure of the Text. New York: Peter Lang 1989.