lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2010
35140
S. Neiva (ed.): Déclin & confin de l’épopée au XIXe siècle
121
2010
Beate Langenbruch
ldm351400141
141 Comptes rendus des CEG und fehlende Öffnung gegenüber anderen Institutionen angemahnt. Als das CNRS 2001 seinen Vertrag mit dem CEG nicht verlängerte, bedeutete dies das Aus für die Institution. Ein Teil der Dokumentations- und Zeitschriftenbestände wurde vernichtet, die Bücher wurden in die Straßburger Universität übergeben. Die Revue d’Allemagne konnte dank einer Statuten-Änderung ihr weiteres Erscheinen sichern. Corine Defrance bietet mit ihrer klar aufgebauten und präzise argumentierenden Studie weitaus mehr als einen Überblick über die Geschichte des CEG. Indem sie die disziplingeschichtlichen Entwicklungen der französischen Germanistik, die wandelnden politischen Konstellationen im deutsch-französischen Verhältnis, die jeweilige Anbindung an unterschiedliche Förderinstitutionen und Adressatengruppen, die Veränderungen in der deutsch-französischen Wissenschaftslandschaft sowie schließlich auch institutsinterne Prozesse berücksichtigt, verschafft sie einen erhellenden Einblick in die verschiedenen Bedingungsfaktoren, die auf die Entwicklung und Dynamik des Zentrums einwirkten. Ihre Arbeit ist somit ein wichtiger Baustein zur Geschichte der französischen Deutschlandforschung, die in mustergültiger Weise die Spannungsfelder untersucht, innerhalb derer Wissen über ein anderes Land gesammelt, produziert und verbreitet wird. Katja Marmetschke (Austin, Texas) SAULO NEIVA (ED.), DECLIN & CONFINS DE L’EPOPEE AU XIX E SIECLE, TÜBIN- GEN, NARR, 2008 (= ETUDES LITTERAIRES FRANÇAISES, 73). Das Epos, ein bereits im 19. Jahrhundert oft als sterbend betrachtetes, wenn nicht bereits totgesagtes Genre, darf als sehr reizvolles Forschungsobjekt bezeichnet werden - vor allem, wenn der Untersuchungszeitraum eben jene Epoche umfasst, in welcher vermehrt Kritik an der Gattung geäußert wird, die einst an der Spitze des literarischen Kanons stand. Gleichzeitig mit der Infragestellung der epischen Literatur im Zeitalter der anbrechenden ästhetischen Moderne beginnt jedoch auch die Zeit der Experimente. Kann die Heldenliteratur eine erfolgreiche Wandlung vollziehen? Welches sind ihre neuen Merkmale, welches ihr Prestige und welche Rezeption erfährt sie? Die sich mit diesen Fragen befassende Sammelschrift ist der chronologisch erste von drei parallel erscheinenden Bänden, die sich unter der Koordinierung von Saulo Neiva (Univ. Clermont II) der Veränderlichkeit oder gar der Abnutzung (usure) der epischen Literatur widmen. Während dann die Désirs & débris de l’épopée au XX e siècle 1 die Reflexion ins folgende Jahrhundert verlängern, beschäftigen sich die Avatars de l’épopée dans la poésie brésilienne 2 mit einem Teilbereich lateinamerikanischer Nationalliteratur. Die vorliegende, im Rahmen eines Forschungsprogramms entstandene Publikation vereint zweiundzwanzig Beiträge, die sowohl den Majores als auch einigen Minores der Weltliteratur Augenmerk schenken. In ihren drei Teilen sollen sukzes- 1 Bern, Lang, 2008. 2 Saulo Neiva, Avatares da epopéia na poesia brasileira do fim do século XX, Übersetzung Carmen Cacciocarro, Recife, Massanga/ Ministério da Cultura, 2008. 142 Comptes rendus sive die Grenzbereiche des Epos, die Anzeichen seines Verfalls und schließlich die Neuaufwertung durch seine Anhänger im 19. Jahrhundert beleuchtet werden. Nach einer kurzen Präsentation des Herausgebers eröffnet Claude Millet mit ihrem Aufsatz zu den „Tränen des Epos“ die Abteilung „L’épopée et ses confins“. In der breit angelegten Untersuchung, die von den Martyrs Chateaubriands bis zur Légende des siècles Hugos reicht, legt die Autorin wichtige Grundsteine zur Analyse der Gattung und ihrer historisch bedingten Veränderungen. Drei grundsätzliche Tendenzen werden nachgewiesen: Das Epos neigt zur Hybridisierung mit dem Drama, vermag sich als persönliches Epos zu verinnerlichen, kann sich jedoch auch, wie es die Werke Quinets oder Lamartines zeigen, als „philosophisches“ oder „humanitäres Epos“ der Geschichtsschreibung annähern. Allen drei Neuausrichtungen ist die generelle Verstärkung des Pathos gemein, dessen Merkmale und Wirkung präzise charakterisiert werden. Diese Überlegungen stellen insofern einen der wichtigsten Beiträge des Werkes dar, als in zahlreichen Beispielen neue Grundzüge des Epos in der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts aufgezeigt werden, die sich in den folgenden Artikeln auch auf die Beispiele anderer Kulturkreise übertragen lassen. Anhand von zwei dem Hauptwerk Walt Whitmans gewidmeten Beiträgen beginnt anschließend die Auseinandersetzung mit den persönlichen Poetiken verschiedenster Autoren. Während zunächst Delphine Rumeau anhand eines formellen Ansatzes die epischen Aspekte der Leaves of Grass analysiert und ihre Originalität darlegt, konfrontieren Saulo Cunha de Serpa Brand-o und José Wanderson Lima Torres dieses „Epos des Ich“ und „Elegie des Wir“ mit dem theoretischen Genrediskurs unter Bezugnahme auf Croce, Blanchot und Todorov. Das Gattungsverständnis, das den ihrerzeit neuartigen short stories Edgar Allan Poes zu Grunde liegt, behandelt Anne Garrait-Bourrier mit ihrer Frage nach der Länge als Charakteristikum epischer Schriften, wobei der Schwerpunkt ihrer Arbeit jedoch eindeutig der Ästhetik der Kurzform Erzählung gewidmet ist. Der Aufsatz von Chantal Maignan-Claverie untersucht den kreolischen Roman auf seine Beeinflussung durch die Mündlichkeit des Epos, das auf die von barocken Elementen gezeichnete Inselliteratur eingewirkt haben könnte, wie es u. a. die ideologisch sehr unterschiedlich orientierten Beispiele Victor Hugos (Bug-Jargal), Louis Maynard de Queilhes (Outre-Mer) oder Jules (Joseph) Levillouxs (Les Créoles ou La Vie aux Antilles) zeigen. In einem überzeugenden Beitrag machen David Chaillou und Benjamin Pintiaux mit einem musikwissenschaftlichen Brückenschlag deutlich, in welchem Spannungsverhältnis auch Oper und Epos stehen können: Die Selbstverherrlichung des Empire zu Beginn des 19. Jahrhunderts lässt sich sowohl institutionell, durch die Neubenennung der Musikakademien, als auch künstlerisch von der Geschichte und den Techniken der Barockoper Lullis unter Ludwig XIV. inspirieren; das „lyrische Epos“ von 1800-1815 kündigt jedoch bereits seinen Nachfolger an, die große historische Oper (z. B. Robert le Diable von Meyerbeer, 1831). Den Werdegang eines typischen Vertreters des französischen Epos, der chanson de geste, veranschaulicht Magali Lachaud mit ihrem Aufsatz zur jahrhundertelangen Überlieferung der Heldenlieder, über ihre Prosaformen im Herbst des Mittelalters, die Kolportageversionen der Bibliothèque bleue bis zu den Romanadaptationen, welche im 19. Jahrhundert Eingang in die Kinder- und Jugendliteratur der Bibliothèque rose finden. Der diesen ersten Teil abschließende Artikel von Michel Brix begründet das historische Wiederaufleben des Genres im europäischen Kontext mit der zeitgenössischen Homer- und Ossianrezeption (und der Debatte über die Authentizität von Ilias und Odys- 143 Comptes rendus see) sowie der romantischen Rückbesinnung auf die poetisch-musikalische Folklore und das mittelalterliche Heldenlied, in denen man den dem Epos zugeschriebenen ursprünglichen Volksgeist zu finden glaubte. Am Anfang der zweiten Abteilung führt Cédric Chauvin in die Untersuchungen zu den Abnutzungserscheinungen der Gattung mit der Frage ein: Wer erfindet im 19. Jahrhundert den Mythos vom „Tod des Epos“ und zu welchem Zweck? Die seit Hegel festgestellte Abwendung vom Epos könnte durch die scheinbare Inaktualität seiner ursprünglichen Funktionen (mythische und etiologische Erzählweisen) begründet sein; im Zeitalter von Rationalität und Positivismus vermag die Geschichtsphilosophie sich in gewissem Umfang an seine Stelle zu setzen. Dass die Epen dem Zeitalter der Moderne auch durch die gesteigerte Berücksichtigung des Individuums Rechnung tragen, beweist Jean-Christophe Valtat mit seinem Beitrag zum „mentalen Epos“ am Beispiel Fausts, Peer Gynts und der Tentation de saint Antoine: Da ihr Absolutheitsanspruch nicht mehr zeitgemäß erscheint, muss die epische Literatur fortan den ihr eigenen Ausdruck von Gesamtheit und Objektivität mit Subjektivität und Diskontinuität koppeln, um zu überzeugen. Die ablehnende Haltung Jules Janins den romantischen Epen gegenüber analysiert Joanna Augustyn anhand der literaturkritischen Texte des Autors sowie seines hybriden Romans L’Ane mort et la femme guillotinée. Seinerseits könnte Mathilde Bertrand zufolge das längste Werk Jules Barbey d’Aurevillys, der oft ironische katholische Roman Le Prêtre marié, als „travestiertes romantisches Epos“ und somit als Antithese sowohl zu Lamartines Jocelyn als auch zu der nach Kürze und Präzision trachtenden Lyrik der Parnassiens oder Baudelaires gelesen werden. Schließlich widmet sich Maria Aparecida Ribeiro einigen Vertretern der brasilianischen Literatur im 19. Jahrhundert. Die kritische Tätigkeit José de Alencars, die in seinen fünf an den Diario do Rio de Janeiro gesandten Leserbriefen zum epischen Gedicht A Confederaç-o dos Tamoios von José Gonçalves Magalh-es zum Ausdruck kommt, enthüllt die Poetik des Autors. Diese theoretischen Forderungen werden konsequent in den eigenen Romanen de Alencars umgesetzt: Iracema (ein Anagramm von América) und O Guarani. Die Möglichkeit einer Neubewertung der Gattung zeigen die Beiträge der dritten Abteilung. Elodie Saliceto demonstriert am Beispiel Chateaubriands und seiner Märtyrer, inwiefern das romantische Epos die neoklassische Doktrin mit eigenem Inhalt füllt. Für den katholischen Autor lässt sich durch eine Rückbesinnung auf die Geschichte des Christentums und die mit ihm assoziierten Werte die gewünschte epische Synthese von Vergangenheit und Gegenwart verwirklichen. Unmittelbar an das Werk Chateaubriands anknüpfend beschäftigt sich Stéphanie Tribouillard auf sehr kritische Weise mit Louis de Bonald, der als konterrevolutionärer Kommentator den sozialen Nutzen erkennt, der aus den Märtyrern und dem Epos generell zu ziehen ist: Für den Philosophen ist das Genre weniger aufgrund seiner literarischen Werte als vor allem durch die Tatsache von Interesse, dass es mittels seiner Themen, seiner Absicht und seiner politischen und religiösen Aussagen eine direkte Wirkung auf die Leser erzielen kann. Auch der belgische Romantiker André van Hasselt möchte mit seinem „sozialen Gedicht“, den Vier Inkarnationen Christi, ein „humanitäres Epos“ im Sinne Lamartines schaffen, wie Estrella de la Torre Giménez beschreibt. Arnaud Vareille widmet sich hingegegen einem anderen Typ epischer Lyrik, nämlich der relativ unbekannten „wissenschaftlichen Poesie“ René Ghils, dessen Ambition die Realisierung eines Gesamtwerks, der „Œuvre-Une“ ist. Durch das ideale Zusammenspiel von Phonetik und Se- 144 Comptes rendus mantik sollen in ihm der universelle Charakter des Epos und dessen Totalitätsanspruch berücksichtigt werden. In seinem die formellen Kriterien der Gattung analysierenden Aufsatz wendet sich Vladimir Kapor einem Autor zu, der verschiedensten epischen Tradition der Weltliteratur verpflichtet ist: Lecomte de Lisle, dessen Poèmes antiques und Poèmes barbares auf originelle Weise den oralen Stil ihrer indischen, griechischen, bretonischen oder skandinavischen Vorbilder imitieren. Bernadette Hidalgo-Bachs erweitert ebenfalls den geographischen Rahmen der Untersuchungen, indem sie die epische Sequenz El canto épico a las glorias de Chile (1887) des nicaraguanischen Dichters Rubén Darío mit seinem Anspruch auf formelle und thematische Modernität konfrontiert. Der letzte, das 19. Jahrhundert teilweise schon überschreitende Beitrag von Paulo Motta Oliveira befragt die neue portugiesische Literatur nach dem Verhältnis zur einer ihrer Vaterfiguren: Wie stehen Autoren von Almeida Garrett bis Fernando Pessoa zum Verfasser der Lusiaden? Während sich die Bewunderung des Erstgenannten in seinem Gedicht Camões (1825) Raum schafft, zieht es der unter vielen Pseudonymen verfassende jüngere Dichter vor, in seiner poetischen „Botschaft“ (Mensagem), welche ausgerechnet die portugiesische Glanzzeit der maritimen Entdeckungen als zeitlichen Rahmen hat, die Person Camões gänzlich zu übergehen - eine bemerkenswerte Tatsache, die von José Saramago im Todesjahr des Ricardo Reis maliziös aufgegriffen wird. Florence Goyet setzt mit ihrem Nachwort den Schlusspunkt des Werks, indem sie der gängigen Lehrmeinung, das Epos sei das statische Genre par excellence, ihre eigene Hypothese der Dynamik entgegenstellt, die mit der Gesamtaussage der Publikation im Einklang steht. In der durchaus einnehmenden Sichtung der epischen oder episch geprägten Weltliteratur im 19. Jahrhundert zeigen sich gelegentlich Schwächen. Neben einigen orthographischen Lässlichkeiten treten auch kleinere inhaltliche Mängel zu Tage: So interessant die Schlaglichter auf die Poetiken einzelner Autoren sind, so groß ist auch der unerfüllte Wunsch des Lesers nach einer abschließenden Synthese. Nicht alle Beiträge weisen die gleiche Qualität auf, nicht immer dominiert der Bezug auf das Epos und nicht immer ist der Einordnung in eine Abteilung des Werks zuzustimmen. Andererseits ist der editorialen Leistung Anerkennung zu zollen, da viele Artikel auf überzeugende Art und Weise ineinandergreifen und sich auch von einem zum anderen Teil der Arbeit Überschneidungen ergeben und Echos vernehmen lassen. Der weite geographische und literaturtheoretische Bogen, der durch die behandelten Werke, ihre Autoren und auch ihre Kritiker gespannt wird, ebenso wie der Bezug auf unterschiedlichste Textsorten, die mit dem Epos in einen spannenden Dialog treten, machen die Désirs & confins zu einer wichtigen Arbeit. Die Forschung zur Epik, zur allgemeinen Gattungstheorie, zur Produktion des 19. Jahrhunderts und zur Literatursoziologie, insofern sie sich mit der historisch bedingten Wandelbarkeit von Poetiken und Rezeptionsmustern beschäftigt, werden von ihr Nutzen ziehen können. Beate Langenbruch (Lyon, Rouen)
