eJournals lendemains 36/141

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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/31
2011
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Identität als politische Strategie und als ‘Plastikwort’: Zur französischen Diskussion um die „identité nationale“

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2011
Hartmut Stenzel
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12: 50: 59 91 Discussion Hartmut Stenzel Identität als politische Strategie und als ‘Plastikwort’: Zur französischen Diskussion um die „identité nationale“ I. Im März 2010 äußerte sich Gérard Longuet, langjähriger Abgeordneter, Minister und derzeit Vorsitzender der Fraktion der UMP im Senat, in einem Rundfunkinterview zu dem in den Medien zirkulierenden Gerücht, nach dem der von algerischen Eltern abstammende Sozialist Malek Boutih an die Spitze der Halde, einer Behörde mit dem pathetisch wirkenden, so wohl nur in Frankreich denkbaren Namen Haute Autorité de lutte contre les discriminations et pour l’égalité, berufen werden solle. Boutih hatte sich als Mitinitiator der Marche pour l’égalité von 1983 wie als Vorsitzender von SOS-Racisme einen Namen im Kampf gegen ethnische Diskriminierung in Frankreich gemacht. Longuet kommentierte die mögliche Berufung, die dann nicht zustande kam, folgendermaßen: Malek Boutih est un homme de grande qualité mais ce n’est pas le bon personnage parce que la Halde, cela veut dire que c’est la France qui s’ouvre aux populations nouvelles. […] Il vaut mieux que ce soit le corps français traditionnel qui se sente responsable de l’accueil de tous nos compatriotes. […] Schweitzer [der scheidende Präsident der Behörde], c’est parfait. Un vieux protestant, la vieille bourgeoisie protestante, parfait. […] Si vous mettez quelqu’un de symbolique, extérieur, vous risquez de rater l’opération. (Le Monde, 12.3.2010) Das unmittelbare Motiv für diese Kritik war sicherlich der in den Mehrheitsfraktionen der Parlamente verbreitete Unmut über die Politik des Präsidenten Sarkozy, die aus politischem Kalkül Parteigrenzen bei der Besetzung mancher Ämter und Funktionen außer Acht gelassen hatte. Zugleich ist jedoch offensichtlich, dass der politische Routinier mit den seine Kritik begründenden Wertungen auf die Vorurteile einer konservativ orientierten Wählerschaft abzielt, die ja, wie die unmittelbar danach stattfindenden Regionalwahlen zeigen sollten, der Regierung Sarkozy zur Zeit in Scharen die Gefolgschaft aufkündigt. In dieser Hinsicht kann man die Kritik Longuets als nachträgliche Intervention in der groß angelegten, kurz zuvor fürs erste abgeschlossenen Diskussion über nationale Identität verstehen, die Eric Besson, seines Zeichens Minister „de l’immigration, de l’intégration, de l’identité nationale et du développement solidaire“ Anfang November 2009 initiiert hatte. 1 Longuet greift auf eine traditionelle Identitätskonstruktion zurück, die mit einer selbstverständlich erscheinenden Ordnung nationaler Identität und einer daraus abgeleiteten Hierarchie der Zugehörigkeit zur französischen Nation arbeitet. Boutih ist zwar französischer Staatsbürger, aber für Longuet zugleich „extérieur“, Bestand- 92 Discussion teil der „populations nouvelles“, denen Frankreich sich zwar öffnen soll, denen Longuet aber keine institutionelle Macht zuerkennen mag. Die Metaphorik des ‘Außen’ und damit implizit eines ‘Innen’ operiert mit klaren Grenzziehungen zwischen ‘neuen’ Franzosen wie Boutih und den ‘alten’, die der bisherige Präsident der Halde als Repräsentant der „vieille bourgeoisie protestante“ verkörpere (immerhin protestantisch und nicht katholisch, aber das zumindest ist ja eine etablierte Tradition der politischen Eliten der Republik 2 ). Dieser erscheint Longuet als vollkommener Repräsentant des „corps français traditionnel“, der für den „accueil de tous nos compatriotes“ zuständig sei. Boutih hingegen versteht er als Symbol für eine Relativierung der traditionellen Identitätshierarchie („quelqu’un de symbolique, extérieur“), die für diesen Prozess der Assimilation ungeeignet sei, ihn geradezu gefährde („vous risquez de rater l’opération“). Longuets etwas gewundene Erklärungen übertragen die Hierarchien der kolonialen Vergangenheit Frankreichs auf die identitäre Ordnung der postkolonialen Gesellschaft. Noch in der politisch ‘korrekten’ Integration der Abkömmlinge der Immigration in die Nation („nos compatriotes“) grenzt er diese zugleich aus. In dieser nicht explizit formulierten Identitätskonstruktion ist der Begriff des „corps français traditionel“ zentral. Er fungiert als Bezeichnung der republikanischen Elite, bringt zugleich aber assoziativ eine ethnisch verschiedene Körperlichkeit ins Spiel, die die Ausgrenzung des Franzosen algerischer Abstammung unausgesprochen rassistisch begründen würde. Es ist offensichtlich, dass mit dieser Implikation ein weit verbreitetes Unbehagen bedient werden soll, die Verunsicherung angesichts der ethnischen und kulturellen Diversifizierung der französischen Gesellschaft, auf die auch die Identitätsdiskussion berechnet ist. II. Longuets Äußerung zeigt, dass die kaum aufgearbeitete koloniale Vergangenheit Frankreichs in dieser Diskussion eine wichtige Rolle spielt. 3 Die öffentlichkeitswirksame Konjunktur des Begriffs „identité nationale“ selbst beginnt mit dem Erstarken des Front national in den 1980er Jahren und er impliziert auch da, wo er nicht die politischen Ziele der extremen Rechten verkörpert, eine Abwertung kultureller Alterität innerhalb der Nation, die von kolonialem Hierarchiedenken bestimmt wird. 4 In ihrer Uneindeutigkeit hat Longuets Abgrenzung der gesellschaftlichen Elite letztlich ähnliche Implikationen wie der in den letzten Jahrzehnten gängig gewordene Begriff „Français de souche“, der ja auch ‘neue’ und ‘alte’ Franzosen voneinander abgrenzen soll und der, indem er die Abstammung als Kriterium nationaler Zugehörigkeit ansetzt, eine rassistische Konnotation beinhaltet, die nicht offen artikuliert wird. Deutlicher als der zugleich auf eine funktionale Ordnung verweisende Begriff des „corps français traditionnel“ macht dieser Begriff den ethnischen Zusammenhang zu einem Selektionskriterium. Er steht damit in der Tradition eines kolonialen 93 Discussion Denkens, mit der gewissermaßen nationale Identität erster und zweiter Klasse begründet wird. Die Konjunktur des Begriffs „Français de souche“, der es mittlerweile zu einer eigenen Internetseite (http: / / www.fdesouche.com) wie zu Internetforen auf Facebook und bei Yahoo gebracht hat, 5 ist eines der vielen Anzeichen für die Identitätskrise oder zumindest die identitäre Verunsicherung, die von der zunehmend multikulturellen Realität der französischen Gesellschaft seit den 1980er Jahren ausgelöst worden ist. Frankreich ist schon seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer ein Einwanderungsland gewesen, doch hat sich diese Entwicklung nach der Auflösung des Kolonialreichs und durch die Immigration in der Zeit der „trente glorieuses“ intensiviert - mit gesellschaftlichen und kulturellen Folgen, die erst nach und nach deutlich werden. Wenn man bedenkt, dass nach den von Borel/ Simon (2006) zusammengestellten bzw. hochgerechneten Zahlen um die Jahrtausendwende fast ein Sechstel der französischen Staatsbürger der ersten oder zweiten Generation von Immigranten angehört und etwa ein Viertel zumindest von einem immigrierten Großelternteil abstammt, so wird deutlich, dass die ethnische und kulturelle Diversifizierung der französischen Gesellschaft eine langzeitliche Entwicklung ist, deren Konsequenzen für das nationale Identitätsbewusstsein erst allmählich spürbar wurden und werden. 6 In dieser Entwicklung ist der Begriff „Français de souche“ einer der vielen Versuche, Orientierung in der multikulturellen Gesellschaft durch die Affirmation des ‘Eigenen’ zu ermöglichen. Er steht im Kontext ähnlicher ethnischer und kultureller Abgrenzungsversuche, etwa der schon seit den 1990er Jahren geführten Schleierdiskussion, 7 die ihren jüngsten Höhepunkt in der Kontroverse um die Burka gefunden hat. Diese sei, wie es in einem Resolutionsentwurf der Nationalversammlung heißt, „contraire aux valeurs de la République“ (Le Monde, 20.1.2010). Gerade die Wertordnung der Republik bildet, wie diese Formulierung, aber auch die gesamte Schleierdiskussion zeigt, eine der Grundlagen für die Begründung einer ‘eigene’ Traditionen sichernden Identitätskonstruktion. Diese ermöglicht es, die - im Falle der Burka höchst marginale - kulturelle Alterität der der Immigration entstammenden Franzosen zu delegitimieren. Zudem bietet der Rekurs auf den republikanischen Universalismus - anders als implizit oder explizit ethnische Konstruktionen nationaler Identität - den Vorteil, nicht des Rassismus verdächtig zu sein. Auch seine Affirmation soll der tief gehenden Verunsicherung angesichts des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels und der Erosion lange selbstverständlich präsenter identitärer Orientierungsmöglichkeiten entgegenwirken. Der von der Regierung Sarkozys betriebene „grand débat sur l’identité nationale“ wird von seinen Initiatoren mit eben diesem Verlust eindeutiger Ordnungen legitimiert, die nationale Identität begründen sollen. Mit der sarkastischen Bemerkung des Sozialpsychologen Horst-Eberhard Richter könnte man über diese Diskussion sagen: „Wer von Identität redet, zeigt, dass er keine hat.“ 8 Die mediale Inszenierung der Diskussion über nationale Identität soll Orientierung anbieten in einer Gesellschaft, deren Pluralität nicht in einer kohärenten identitären Ordnung 94 Discussion aufgeht. Man kann diese Diskussion als politische Antwort auf die bereits angesprochene Entwicklung verstehen, in der die multikulturelle Vielfalt nationaler Identität, die unterschiedlichen Identitäten sozialer und ethnischer Gruppierungen französischer Staatsbürger immer deutlicher hervortreten. Die Identitätsdiskussion folgt einer politischen Strategie, die aus dem Angebot identitärer Geborgenheit im nationalen Zusammenhalt Kapital schlagen und das Identitätsbewusstsein als imaginären Garanten nationaler Kohärenz gegen die disparat erscheinenden kollektiven Identitäten setzen will. Sichtbar ist diese Entwicklung einer Pluralisierung der Identitäten insbesondere in den marginalisierten Bereichen der Gesellschaft, für die exemplarisch die Banlieueproblematik steht. 9 Eine Konsequenz dieser Marginalisierung ist nämlich - insbesondere in den dort bestimmenden Gruppierungen Jugendlicher - die Ausbildung einer partikularen Identität, die sich auf die Lebenswelt der Banlieue bezieht und sich in Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft konstituiert. 10 Die aufsehenerregenden Unruhen vom November 2005 sind gerade in Hinblick auf ihre Bedeutung für die republikanische Ordnung und die auf sie gegründete Identität breit diskutiert und teilweise als Absage an die nationale Identität bewertet worden - so etwa durch einen der intellektuellen Stars der aktuellen Medienszene, Alain Finkielkraut, dem zufolge es unmöglich sei „[…] d’intégrer des gens qui ont tendance à ne pas aimer la France dans une France qui ne s’aime pas, ou qui s’aime de moins en moins.“ 11 Diese bei Finkielkraut ethnisch und religiös begründete Deutung der Unruhen - als Ausgrenzung des Fremden, für das vor allem der Islam steht, aus der identitären Ordnung der Nation - zeigt exemplarisch, welche Abwehrreaktionen die manifeste Präsenz konkurrierender identitärer Orientierungen auslöst und wie das daraus resultierende Bedürfnis nach der Festigung und Sicherung einer ‘eigenen’ Identität Bedeutung gewinnt. Im offiziellen Identitätsdiskurs wird der Gegensatz zwischen solchen partikularen Identitäten und dem Angebot nationaler Identität gerne mit dem Begriff des „communautarisme“ gedeutet. Die Denunziation des „communautarisme“ wird zu einem wesentlichen Bestandteil der oben angesprochenen politischen Strategie. Die eben erwähnte Burka-Affäre etwa erscheint auf dem Internet-Portal der Identitätsdiskussion ausdrücklich als ein Beispiel für die Probleme des „communautarisme“, die eine Diskussion über nationale Identität nötig gemacht hätten: „Ce débat répond aux préoccupations soulevées par la résurgence de certains communautarismes, dont l’affaire de la Burqa est l’une des illustrations“. 12 Der an sich neutrale soziologische Begriff wird in den politischen Diskursen über nationale Identität in den letzten Jahren zunehmend zu einer Allzweckwaffe, die - in ihrer Funktion durchaus dem Begriff des „Français de souche“ vergleichbar - kollektive Orientierungen oder Beziehungsmuster diskreditieren soll, die in die Traditionen der Konstruktion nationaler Identität nicht integrierbar erscheinen und nicht den Normen republikanischer Wertvorstellungen entsprechen. De facto bezeichnet der Begriff vor allem die kulturellen und religiösen Traditionen der Immigranten, die in Schleier wie Burka besonders sichtbar werden (während seine politische Verwendung etwa die 95 Discussion Alterität regionaler Traditionen und Disparitäten innerhalb des Hexagons nicht mit einbezieht 13 ). Da in diesen beiden Elementen kultureller Alterität die geschlechtsspezifische Diskriminierung evident ist, können sie besonders gut dazu funktionalisiert werden, kulturelle Alterität im Namen einer hegemonialen nationalen Identität als „communautarisme“ aus dem Konsens der Nation auszugrenzen. 14 In einem Beitrag für Le Monde (9.12.2009) setzt Sarkozy selbst diesen Begriff exemplarisch zur Rechtfertigung der Identitätsdebatte ein. Er postuliert dort einen durch Globalisierung und multikulturelle Realität ausgelösten „besoin d’ancrage et de repères“, auf den der „communautarisme“ durch eine Spaltung der Nation reagiere („le communautarisme c’est le choix de vivre séparément“). Auf die Suche nach Orientierung gebe die Diskussion über nationale Identität hingegen die ‘richtige’ Antwort: Ce besoin d’appartenance, on peut y répondre par la tribu ou par la nation, par le communautarisme ou par la République. L’identité nationale, c’est l’antidote au tribalisme et au communautarisme. C’est pour cela que j’ai souhaité un grand débat sur l’identité nationale. Die metaphorische Gleichsetzung „tribu-communautarisme“ (die als ‘falsches’ Identitätsmuster dem ‘richtigen’ Begriffspaar „nation-République“ entgegen gesetzt wird) gibt den mit diesem Sammelbegriff höchst pauschal bezeichneten, auf eine partikulare Identitätsfindung jenseits des Kollektivs der Nation ausgerichteten Orientierungen den Anschein vormoderner Verhaltensweisen. Sie transportiert kolonialistische Konnotationen („tribu“ bezeichnet dem Robert zufolge Gruppenbildungen „chez les peuples à organisation primitive“) und diskreditiert den „communautarisme“ so zugleich als überholt und als ‘unzivilisiert’. Diese Bezeichnung wird damit zum Inbegriff einer fehlgeleiteten partikularen Identität, die die ‘richtige’, nationale gefährde. 15 Wie andere Elemente der Identitätsdiskussion verdeutlicht ihre Verwendung, dass kolonialistische Verstehensmuster in das Selbstverständnis der Nation involviert sind und es legitimieren. Diese werden zwar nicht offen artikuliert, aber das hierarchisierende Selbstverständnis der kolonialen Vergangenheit beeinflusst doch die Wertungen, die die Identitätsdiskussion strukturieren und begründen sollen. Der Konsens der Nation über ihre Identität gilt in der offiziellen Begründung der Identitätsdiskussion als unabdingbar. Die Frage, ob ein solcher Konsens möglich, ob er gar sinnvoll und wünschenswert ist, wird gar nicht erst aufgeworfen. Er wird in der Darstellung der Ziele nicht als offenes Problem verhandelt, sondern als notwendig vorausgesetzt: Ce débat doit tout d’abord favoriser la construction d’une vision mieux partagée de ce qu’est l’identité nationale aujourd’hui. Il doit aussi faire émerger, à partir de propositions mises en débat par les différents participants, des actions permettant de conforter notre identité nationale, et de réaffirmer les valeurs républicaines et la fierté d’être Français.16 96 Discussion Es geht also um die Herstellung einer Gemeinsamkeit in der Konstruktion nationaler Identität („une vision mieux partagée“), deren Inhalt (die „valeurs républicaines“) jedoch bereits vorgegeben ist und nur der Erneuerung und Bekräftigung bedürfe („conforter“, „réaffirmer“). Im Grunde wird in dieser ‘regierungsamtlichen’ Perspektive nationale Identität als eine immer schon vorhandene Evidenz hingestellt, die es nur in Erinnerung zu rufen und zu intensivieren gelte, um ihre Einheit stiftende und stabilisierende Funktion für das Kollektiv (die „fierté d’être Français“) zu garantieren. Bereits die Anlage der Diskussion impliziert somit einen Zirkelschluss, in dem ihre Ziele bereits feststehen und durch das Diskussionsforum lediglich eine öffentlichkeitswirksame Legitimität erhalten sollen. Es liegt zunächst nahe, aus den Konturen dieses an den Traditionen der Republik (zu denen eben auch der verdrängte Kolonialismus gehört) orientierten Identitätsdiskurses Rückschlüsse auf die politische Funktion der Diskussion zu ziehen. Dass Sarkozy das Problemfeld der nationalen Identität 2007 zu einem Kernthema seines Wahlkampfs gemacht hat und mit dem Angebot einer stabilen identitären Orientierung auf Stimmenfang gegangen ist, 17 belegt die Bedeutung, die er dieser Thematik für die Bindung seiner Wähler zuschreibt. Zweifellos folgten der Präsident und seine Berater auch bei der Einrichtung eines Ministeriums, das zugleich für die Integration der Immigranten und die nationale Identität zuständig sein soll, diesem zunächst erfolgreichen, bei den jüngsten Regionalwahlen angesichts des neuerlichen Erstarkens des Front National dann allerdings gescheiterten wahltaktischen Kalkül, Diskursfelder und Begriffe des rechten politischen Spektrums zu besetzen. Die Verbindung der Aufgabenfelder des Ministeriums, die im Mai 2007 heftige Proteste ausgelöst hat, soll programmatisch verdeutlichen, dass nationale Identität und Immigration nicht nur politische Prioritäten darstellen, sondern dass sie einander bedingen, mehr noch, dass die Immigration ein zentrales Problem für die nationale Identität der Franzosen darstelle. 18 Damit wird eine Sicht der gesellschaftlichen Wirklichkeit aufgegriffen, die über den Kern der Wähler des Front National (mit seinem Slogan von der „préférence nationale“, der ja die Priorität der „Français de souche“ meint) hinaus in Frankreich verbreitet ist und die zweifellos aus der schon mehrfach angesprochenen identitären Verunsicherung durch den wachsenden Anteil an Immigranten mit französischer Staatsbürgerschaft zu erklären ist. 19 Wenn in einer Umfrage 49% der Befragten der Ansicht zustimmten, die Identitätsdiskussion „tourne essentiellement autour de la question de L’Islam“ (während nur 40% sie nützlich finden 20 ), so zeigt dies, dass in der öffentlichen Meinung die wahltaktischen Motive die Wahrnehmung dominieren. Noch deutlicher zeigt sich dieser Zusammenhang in der Position eines Provinzpolitikers der regierenden UMP, der am Rande einer der von den Präfekturen zur Unterstützung der Identitätsdiskussion organisierten Veranstaltungen in Verdun einem Reporter von France 2 den Sinn der Identitätsdiskussion knapp und bündig erklärte: „Je pense […] qu’il est temps qu’on réagisse, parce qu’on va se faire bouffer“ und auf Rückfrage erläuterte: „Par qui? […] Y en a déjà dix millions. Dix millions que l’on paie à ne rien foutre“. 21 Die politische Funktion 97 Discussion der Identitätsdiskussion, die Kanalisierung sozialer Ängste, die auf kulturelle und ethnische Alterität projiziert werden können, wird daran schlaglichtartig deutlich. Dieser Funktion liegt eine Strategie zugrunde, die dem schwindenden Konsens mit der Politik der Regierung Sarkozys dadurch begegnen will, dass sie ein Diskussionsfeld besetzt, in dem die Fiktion nationaler Einheit ihr neue Legitimität verleihen soll. III. Dennoch geht die Bedeutung der von Besson und seinem Ministerium im Herbst 2009 in Gang gebrachten Identitätsdiskussion über solche wahltaktischen Zusammenhänge hinaus. Sie bietet Aufschluss über die politische Funktion und gesellschaftliche Relevanz eines Begriffs, der in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion ebenso wie in seinem politischen Gebrauch häufig mit selbstverständlicher Evidenz verwendet wird. Darüber hinaus kann man in ihr auch die fortdauernde Wirksamkeit einer kulturellen Tradition erkennen, in der die Frage des Nationalbewusstseins seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich ihre besondere Ausprägung und Funktion erhalten hat. Im Gefolge der Instrumentalisierung des Begriffs „identité nationale“ in den Ansprachen des Präsidentschaftskandidaten wie des Präsidenten Sarkozy sind in Frankreich eine Reihe von Büchern erschienen, die aus verschiedenen Perspektiven seine historische, kulturelle und wissenschaftliche Bedeutung behandeln. 22 Diese Publikationen umreißen unter anderem eine historische Perspektivierung der Diskussionen um nationale Identität im Horizont einer Geschichte der Immigration. Die Entstehung des „roman national“, der mythischen Geschichtserzählung, die seit der Festigung der Dritten Republik für das kulturelle Gedächtnis Frankreichs grundlegend wird, steht in engem Zusammenhang mit dem Strukturwandel des Landes und den Legitimationsproblemen der jungen Republik. 23 Der Identitätsdiskurs antwortet schon um die Wende zum 20. Jahrhundert auf die Auflösung tradierter identitätssichernder Strukturen und legitimiert die Republik mit dem Identitätsangebot, das er zu deren Kompensation bereitstellt. Zugespitzt könnte man sagen, dass die moderne Begründung eines Nationalbewusstseins in Frankreich als Gegenerzählung gegen die traumatischen Erfahrungen der ersten Jahrzehnte der Dritten Republik entsteht. Dazu gehört natürlich die Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg und die Begründung des Revanchegedankens, aber auch die beginnende Auflösung der traditionellen Sozialstrukturen des ländlichen Frankreich durch Landflucht und Urbanisierung sowie durch die erste große Welle von Arbeitsimmigranten im Zuge der Industrialisierung. 24 Das nationale Selbstverständnis, das die Republik als Ziel einer Geschichte der französischen Nation begreift und darauf eine kohärente nationale Identität begründet, hat so schon in seiner Entstehung eine kompensatorische Funktion. Es steht zugleich aber auch in einer Erinnerungskonkurrenz mit national-konservati- 98 Discussion ven Deutungen der Geschichte, die ein antirepublikanisches Nationalbewusstsein begründen sollen. Schon die Zeitgenossen haben diesen Konflikt mit dem Deutungsmuster der „deux France“ erfasst, das sich in der Folge der Dreyfus-Affäre etabliert. 25 Die aus diesem Konflikt resultierenden konkurrierenden Entwürfe nationaler Identität divergieren vor allem in der Frage der Bedeutung der historischen Tradition, die die traditionalistische Rechte als unabdingbare Grundlage einer Identifikation mit der Nation ansieht (der Begriff „identité nationale“ spielt Ende des 19. Jahrhunderts natürlich noch keine Rolle). Die Positionen von Ernest Renan und Maurice Barrès kann man trotz mancher Gemeinsamkeiten als repräsentativ für die gegensätzlichen Konstruktionen eines Nationalbewusstseins in den ersten Jahrzehnten der Dritten Republik ansehen. Der Konflikt der „deux France“ wie der der konkurrierenden Konstruktionen nationaler Identität durchzieht die gesamte Geschichte der Dritten Republik und findet seinen letzten Höhepunkt mit der Vichy- Regierung. 26 Barrès geht von einem historischen Determinismus aus, der die Zugehörigkeit zur Nation begründe und den er in der berühmten Formel „la terre et les morts“ fasst. Aus dieser Annahme folgt seine Definition: „Nationalisme est acceptation d’un déterminisme.“ 27 Nationalbewusstsein wäre demnach eine Art Einsicht in die Notwendigkeit, in die Unterordnung des Individuums unter sein historisch vorgegebenes Schicksal (durch das man dann Energie zum Handeln für die Nation gewinnt, wie der Titel von Barrès’ berühmter Romantrilogie indiziert). Damit wird eine Abgrenzung begründet, in der die Nation alles ‘Fremde’ aus ihrem Zusammenhang ausschließen und durch Rückzug auf das ‘Eigene’ zu sich selbst finden muss. Die Sicherung des ‘Eigenen’ als historisch begründete Exklusivität ermöglicht so eine imaginäre Abschottung gegen die gesellschaftlichen und politischen Umbrüche der Jahrhundertwende. Renan hingegen verbindet in seiner Bestimmung der Nation Vergangenheit und Gegenwart durch die Notwendigkeit eines „consentement actuel“, weshalb er die Zugehörigkeit zu einer Nation von einem „plébiscite de tous les jours“ abhängig macht und auch die Existenz der Nationen selbst in ihrer historischen Relativität denken kann. 28 Das Nationalbewusstsein ist damit nicht ein dem Individuum vorgegebener Zusammenhang, in den es sich einzufügen hätte, sondern Resultat seiner - mehr oder weniger - bewussten Wahl, die dann auch die eines historischen Traditionszusammenhangs ist („la volonté de continuer à faire valoir l’héritage qu’on a reçu“ 29 ). An die Stelle der historischen Schicksalsgemeinschaft tritt damit die im Prinzip freie Entscheidung für (oder auch gegen) die Zugehörigkeit zur Nation. Daraus lässt sich ein Nationalbewusstsein begründen, das den Umbrüchen der Jahrhundertwende durch die Integration des ‘Fremden’ begegnet. 30 Die Nation wird damit nicht nur als offenes, sondern auch als historisch wandelbares Projekt gedacht, das keinem Determinismus unterliegt. Die Idee von der Zugehörigkeit zur Nation kraft freier Willensäußerung ist für das republikanische Nationalbewusstsein in Frankreich grundlegend geblieben. Das hat allerdings die Republik gerade in der Auseinandersetzung mit den sukzes- 99 Discussion siven Phasen der Immigration im 20. Jahrhundert keineswegs daran gehindert, nationale Identität als ein Verfahren der Ausgrenzung und Ausschließung einzusetzen. 31 Auch die gegenwärtige Diskussion bleibt gespalten zwischen der Öffnung auf das ‘Fremde’ und dessen Ausgrenzung, in einer Tradition, deren Gegensätze sich letztlich auf die Konstruktionen der Nation bei Barrès und Renan zurückführen lassen. Diese Tradition der Konflikte um die Grundlagen von Nation und Nationalbewusstsein wird allerdings in der politischen Legitimation der Identitätsdiskussion nirgendwo auch nur angedeutet; jeder Anschein eines im Begriff der „identité nationale“ möglicherweise enthaltenen Konfliktpotentials wird sorgfältig vermieden. Dass es konkurrierende Auffassungen von nationaler Identität geben könnte, ideologische, soziale oder kulturelle Gegensätze, die sich nicht ohne weiteres oder gar überhaupt nicht in einheitliches Bewusstsein der Nation von sich selbst zusammenführen lassen (ganz davon abgesehen, ob ein solches überhaupt möglich und erstrebenswert ist), liegt jenseits der die Identitätsdiskussion strukturierenden Vorgaben. Angesichts dieser Verdrängung des Konfliktpotentials der Diskussion um nationale Identität könnte man sagen, dass die Affirmation ihres Pluralismus eine Fassade darstellt, hinter der die Zwangsjacke einer vereinheitlichenden nationalen Identität zum Vorschein kommt. Diese Logik kann man etwa in der Rede Sarkozys zum Gedenken an die Widerstandskämpfer des Vercors beobachten, die in weiten Passagen eine Rechtfertigung der Identitätsdebatte darstellt (und die Opfer der deutschen Barbarei in befremdlicher Weise zu Kronzeugen seiner Auffassung von nationaler Identität macht). Dort sagt er unter anderem: La France, c’est l’un des pays les plus divers au monde. […] Cette diversité est une richesse. Chaque culture, chaque tradition, chaque langue a une valeur infinie. […] Rien n’est plus étranger au génie de notre peuple que l’uniformité, l’embrigadement. Mais une culture millénaire, par des voies mystérieuses, imprègne tout.32 Hier wird noch in der vordergründigen Anerkennung kultureller Vielfalt zugleich deren Unterordnung unter die ‘eigene’ Kulturtradition deutlich, deren ‘wundersame Wege’ das Fremde zum Verschwinden bringen sollen. Dass die Affirmation einer einheitlichen und konfliktfreien nationalen Tradition das eigentliche Ziel der Identitätsdiskussion ist, zeigt in wünschenswerter Deutlichkeit eine an herausragender Stelle auf dem Internetportal platzierte Stellungnahme von Sarkozys Premierminister Fillon: Nous sommes les héritiers d’une Histoire exceptionnelle dont nous n’avons pas à rougir. Nous sommes les dépositaires d’une culture brillante, dont le rayonnement international doit être fermement défendu. [….] C’est cette longue trajectoire avec nous-mêmes, c’est ce roman national, que nous devons prolonger et actualiser.33 Den Begriff des „roman national“, diese kritisch-ironisch gemeinte Bezeichnung des traditionellen Geschichtsmythos verwendet Fillon in vollkommen ernsthafter Weise, um das Ziel der Identitätsdiskussion zu charakterisieren: die Fortführung 100 Discussion einer Heldengeschichte vom Glanz Frankreichs. Nicht nur die ‘dunklen’ Seiten dieser Geschichte (insbesondere natürlich der Kolonialismus) verschwinden in diesen pathetischen Worten, sondern vor allem auch ihre inneren Konflikte, der Konflikt der „deux France“, der sich mutatis mutandis in den Banlieues fortsetzt. Hauptsache, der „roman national“ produziert das Bewusstsein einer nationalen Identität, einer imaginären Gemeinsamkeit, die die Nation stabilisiert. Damit steht die Regierung Sarkozys allerdings in einer etablierten französischen Tradition, nämlich der der Geschichtslegende von der Einheit der Nation, deren Figurationen von der Konstruktion einer Nationalgeschichte in der Dritten Republik („nos ancêtres les gaulois“) zumindest bis hin zum gaullistisch-kommunistischen Résistancemythos reichen. 34 Das Erinnerungsmarketing in den Reden Sarkozys steht - anders als so manches seiner politischen Ziele - ganz im Horizont dieser Tradition. In diesem Eklektizismus lehrt dann die gesamte französische Geschichte, dass die Diskussion über nationale Identität nichts anderes ist als die konsequente Vollendung des „Roman national“ in der Gegenwart. 35 Mit der prägnanten Formulierung von Paul Valéry wäre zu kommentieren: „L’histoire justifie ce que l’on veut. Elle n’enseigne rigoureusement rien, car elle contient tout, et donne des exemples de tout.“ 36 IV. Aus der identitären Verunsicherung der gegenwärtigen Gesellschaft wie aus der besonderen Bedeutung des Nationalbewusstseins in der französischen Kultur erklärt sich der Umstand, dass die Identitätsdiskussion ein mediales Echo und eine Beteiligung hervorgerufen hat, die bemerkenswert und wohl kaum in einem anderen europäischen Land vorstellbar sind. Dies zeigt ein offensichtliches Bedürfnis an Orientierung und Verständigung über Fragen nationaler Identität. 37 Nicht nur Politiker, Intellektuelle und Journalisten haben sich an der drei Monate andauernden Debatte beteiligt, sondern ein relativ breites Spektrum der Bevölkerung. Die rege und - wie schon Stichproben zeigen - sehr kontroverse Beteiligung auf dem dafür eingerichteten Internetforum ebenso wie die von allen Präfekturen organisierten Diskussionsveranstaltungen lassen die Debatte geradezu zu einem kulturwissenschaftlichen Großversuch werden, in dem der ja zumeist in höchst vager Allgemeinheit verwendete Identitätsbegriff deskriptiv fassbar wird. Es gibt zwar keine Informationen darüber, wie repräsentativ die Beteiligten sind, über ihre Motive und die - bei summarischer Durchsicht einzelner Foren offensichtliche - Mehrfachbeteiligung von (vermutlich besonders engagierten) Teilnehmern. Doch angesichts der Anzahl der Beiträge und Beiträger (trotz dieser Probleme wohl mehr als 1% der erwachsenen französischen Bevölkerung) kann man zumindest festhalten, dass der Mobilisierungseffekt der Identitätsdiskussion beachtlich ist. Das offensichtlich vorhandene (oder durch die mediale Inszenierung erzeugte) kollektive Bedürfnis, sich über das eigene Nationalbewusstsein zu verständigen, 101 Discussion wird allerdings auf dem Internetportal dadurch gelenkt, dass die Bedeutungsmöglichkeiten des Begriffs „identité nationale“ wie schon angedeutet stark vorstrukturiert sind. Bereits durch das Angebot von „textes de référence“ 38 und herausgehobene Stellungnahmen von - mehr oder weniger - prominenten Persönlichkeiten („Ils prennent position“) werden die Beiträge der Nutzer kanalisiert und gelenkt. Die vorgegebenen Rubriken für diese Beiträge setzen nicht nur den zu diskutierenden Begriff wie selbstverständlich als allgemeinverbindlich gegeben voraus („notre identité nationale“), sondern schränken auch die mögliche Bandbreite seiner kritischen Problematisierung ein. 39 Ein als „Les grands thèmes du débat“ bezeichnetes, recht einseitiges Begriffsspektrum, das den Benutzern zur Orientierung angeboten wird, privilegiert die Wertordnung der Republik, 40 nimmt damit das Ergebnis der Diskussion vorweg oder neutralisiert zumindest abweichende Meinungsäußerungen. Die Lenkung durch die vorgegebenen Strukturelemente verweist auf die bereits mehrfach angesprochene Bestätigungsfunktion der Diskussion. Deren Zirkelschluss leistet der politischen Intention Vorschub, die Existenz wie die wesentlichen Inhalte des Identitätsbewusstseins vorzugeben. Der Begriff der „identité nationale“, weist damit - zumindest so, wie er in der Diskussion gebraucht wird - alle Charakteristika auf, die der Historiker Lutz Niethammer im Anschluss an Uwe Pörksen mit der Qualifizierung des Identitätsbegriffs als „Plastikwort“ zusammengefasst hat. 41 So zeigen Struktur und Inhalte des Internetportals, dass dem Identitätsbegriff hier die selbstverständliche Evidenz zugeschrieben wird, die für Stereotype charakteristisch ist (obwohl oder gerade weil er der Wissenschaftssprache entstammt), und wichtiger noch, dass er einen umfassenden Geltungsanspruch hat, die Vielfalt der Phänomene, die er erfasst, jedoch zugleich extrem reduziert. Wenn es eine der gängigsten Überzeugungen der wissenschaftlichen Diskussion über den Identitätsbegriff ist, dass dieser nur in einer „durchgehenden Entontologisierung und Entessentialisierung“ sinnvoll verwendet werden kann, 42 dass es nicht Identitäten gibt, sondern nur Prozesse und Strategien der Aushandlung, Bildung und Auflösung von Identitäten, 43 dann läuft die Anlage der französischen Identitätsdiskussion solchen Einsichten direkt zuwider. Sie ist auf die Fixierung einer Substanz ausgerichtet, die der Nation als kollektive Orientierung angeboten werden kann. Das „Plastikwort“ Identität soll in ihr gesellschaftlich virulente Affekte und Ängste kanalisieren und bündeln, die von der Disparität der Mitglieder des imaginären Kollektivs Nation, von den gesellschaftlichen und kulturellen Widersprüchen ausgelöst werden, die ihr zu Grunde liegen. Letztlich geht es wohl gar nicht so sehr um das Aushandeln gemeinsamer Inhalte (die ja ohnehin schon mehr oder weniger vorgegeben sind), sondern um die Propagierung der Notwendigkeit eines Identitätsbewusstseins als solches. Welche Inhalte es dann begründet, ist letztlich egal, wenn man nur seine Existenz behaupten kann. Die Problematik einer Vereinheitlichung der in der Identitätsdiskussion präsenten Positionen wird in den sie begleitenden Meinungsumfragen und Analysen deutlich. Eine am 4. Januar 2010 vorgelegte quantitative und qualitative Analyse der 102 Discussion bis Anfang Dezember 2009 eingegangenen Beiträge durch das Meinungsforschungsinstitut TNS-SOFRES verdeutlicht die Heterogenität der darin präsenten Positionen, deren wichtigste Schwerpunkte die Legitimität der Diskussion selbst (29% des „discours global“) und die Immigrationsthematik (27%) sind. 44 Die Inhalte, die nationale Identität begründen sollen, liegen quantitativ deutlich dahinter und sind im übrigen, wie schon das Spektrum der meistverwendeten Wörter zeigt, 45 eher auf der Ebene von Allgemeinplätzen angesiedelt: „respecter des normes“ (19%), „adhérer à des valeurs“ (16%) und „partager un même patrimoine“ (9%). Die Beispiele, die für Beiträge zu diesen Themenfeldern angeführt werden, verdeutlichen die undifferenzierte Normativität der Identitätskonzeptionen, die viele Diskussionsbeiträge leiten. So werden etwa für das Themenfeld „respecter des normes“ Äußerungen wie „adhérer pleinement aux us et coutumes de France“ oder die Forderung nach Verehrung von Trikolore und Marseillaise als Illustration angeführt (16/ 17). Noch deutlicher wird diese normative Tendenz in den Beispielen zu dem Themenfeld „partager un même patrimoine“, in denen mehrfach eine ethnische Begründung nationaler Identität explizit postuliert wird, die „composition ethnique quasi inchangée jusqu’au début des années 1970“ (21) oder gar die „race blanche“, die zugleich mit der „civilisation européenne“ identifiziert wird (22). Wenn aber solchen Stellungnahmen andere gegenüberstehen, die auf die Unmöglichkeit hinweisen, angesichts der kulturellen und ethnischen Pluralität des heutigen Frankreich und seiner sozialen Probleme nationale Identität mit dem Rekurs auf tradierte kulturelle und historische Kontinuitäten zu begründen, 46 liegt die Schlussfolgerung nahe, dass in der Debatte Konstruktionen nationaler Identität verhandelt werden, die ebenso heterogen sind wie die gesellschaftliche und kulturelle Realität Frankreichs selbst. Dies konzediert das Meinungsforschungsinstitut implizit, indem es in seiner qualitativen Analyse der Beiträge (25 ff.) deren inhaltliche Bandbreite darstellt, die von einem „repli sur soi“ und damit einem rigiden Ausschluss der „nouveaux arrivants“ aus der Nation (26) bis zu einer „identité supranationale“ und einem Selbstverständnis der Beiträger als „citoyen du monde“ (29) reiche. Dennoch konstruiert es aus dieser Bandbreite ohne klare quantitative Gewichtung einen „socle commun“ nationaler Identität, dessen Kern - kaum überraschend - aus den Werten der Republik (insbesondere ihrer Devise und der Menschenrechtserklärung) und den sie verkörpernden Symbolen bestehe. Hinzu komme die gemeinsame Sprache und die Gemeinsamkeit eines - nur ganz vage umschriebenen - „héritage patrimonial“ (31 ff.). Wie diese beiden Befunde aus der quantitativen Analyse (etwa der verwendeten Begriffe) abgeleitet werden, wird ebenso wenig näher dargestellt wie die Verfahren, mit denen aus der oben angeführten Disparität der Konstruktionen nationaler Identität der „socle commun“ abgeleitet werden kann. Probater scheint in dieser Hinsicht eine repräsentative Meinungsumfrage zu sein, die von demselben Institut Ende Januar mit einem Fragebogen durchgeführt wurde, der zugleich auch von den Besuchern des Internetportals beantwortet wer- 103 Discussion den konnte. 47 Deren Ergebnisse konnte Besson zum Abschluss der Diskussion mit stolzgeschwellter Brust zusammenfassen: „Il existe bien une identité nationale; […] Elle se définit en premier lieu par l’adhésion à des valeurs.“ 48 Auch wenn zwei Drittel der Befragten der Meinung sind, diese Identität werde derzeit schwächer, versteht Besson dieses Ergebnis als Legitimation seines Unternehmens, denn jeweils drei Viertel der Befragten erklärten in unterschiedlichen Nuancen der Antwort, die nationale Identität existiere und sie seien stolz darauf, Franzosen zu sein. Ob die Aussage, dass eine nationale Identität existiert auch bedeutet, dass und wie die Befragten sich selbst mit ihr identifizieren, ob und inwieweit zudem beide Aussagen miteinander zusammenhängen, wird allerdings nicht weiter erörtert. Besson wie die TNS-SOFRES gehen auch nicht auf den offensichtlichen Widerspruch ein, der dadurch entsteht, dass der Umfrage zufolge der Inhalt dieser nationalen Identität - ganz anders als in der oben zitierten Analyse des Internetportals - nicht vorrangig aus den republikanischen Werten und Symbolen (20% der Befragten), sondern aus kulturellen (30%) geographischen (28%) und historischen (24%) Bestandteilen besteht (bei möglichen Mehrfachantworten). Letztlich aber kommt es aus der Perspektive des Politikers auf solche inhaltlichen ‘Details’ gar nicht an, sondern darauf, dass er sein Projekt medial verkaufen und rechtfertigen kann. Ein Element der Umfrage allerdings hätte ihn vielleicht doch nachdenklich stimmen können, die Antworten auf die Frage nämlich „quand vous vous définissez, que mettez vous en priorité en évidence? “ Bei drei möglichen Antworten auf diese Frage nämlich rangiert die „nationalité“ nur an dritter Stelle (30%), weit abgeschlagen hinter „vos convictions, vos valeurs“ (49%) und „vos passions, vos centres d’intérêts“ (39%) und gleichauf mit „là où vous vivez“ (30%), „votre travail“ (29%) sowie „vos origines familiales“ (29%). Dieses Ergebnis verweist auf eine Pluralisierung und Individualisierung der Identitätsfindung sowie auf die bereits seit langem schwindende Bedeutung kollektiver Orientierungen für Selbstverständnis und Verhalten der Individuen insgesamt. Beide Tendenzen sind in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung verschiedentlich herausgearbeitet worden, 49 und im Grunde liefert auch die großangelegte französische Diskussion einen weiteren Beleg für die Schwächung und Banalisierung des kollektiven Gedächtnisses in der Gegenwart. Die Inhalte, die in dieser Diskussion verhandelt werden, bleiben so vage, dass sie jedenfalls nicht als Beleg für die Gemeinsamkeit eines Nationalbewusstseins in Frankreich oder für dessen Erneuerung taugen. Wohl aber können aus der französischen Diskussion Folgerungen für sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen der Bedeutung kollektiver Identitäten und Identitätsbildungsprozesse in der Gegenwart abgeleitet werden. Wenn Jan Assmann, einer der Begründer solcher Forschungen, kollektive Identität als „das Bild, das eine Gruppe von sich aufbaut und mit dem sich ihre Mitglieder identifizieren“, als „reflexiv gewordene gesellschaftliche Zugehörigkeit“ fassen will, 50 so impliziert diese Bestimmung, dass er die Identifikation der Subjekte mit kollektiven Sinnsetzungen für selbstverständlich und auch für notwendig hält. Dass aber eine sol- 104 Discussion che Identifikation, wenn sie denn stattfindet, zumindest in der Gegenwart zunehmend instabil werden, dass sie unterlaufen, spielerisch verwendet, pluralisiert oder fragmentarisiert werden kann, spielt für die Konstruktion des Althistorikers keine Rolle. 51 Sinnvoll aber kann man mit dem Begriff „nationale Identität“ jedenfalls in der Gegenwart keine stabilen Orientierungen des Einzelnen oder seine fraglose Unterordnung unter kollektive Deutungsmuster fassen, sondern allenfalls einen Prozess, ein Patchwork aus unterschiedlichen kollektiven oder individualisierten Sinn- und Identitätsangeboten, deren provisorische Resultate immer wieder in Bewegung kommen und revidiert werden können. Nationale Identität, das zeigt die französische Debatte, ist ein Deutungsmuster, das in Frankreich offenbar seine Faszinationskraft nicht eingebüßt hat. Zugleich zeigt die Debatte aber auch, dass dieses Deutungsmuster ebenso heterogene wie umstrittene kollektive Gedächtnisinhalte und Beziehungen aufruft, so dass es beliebig bleibt und keine praktisch wirksame Gemeinsamkeit für die Angehörigen der Nation zu begründen vermag. Mit Claude Lévi-Strauss könnte man bilanzieren: L’identité est une sorte de foyer virtuel auquel il nous est indispensable de nous référer pour expliquer un certain nombre de choses, mais sans qu’il ait jamais d’existence réelle. Son existence est purement théorique.52 1 Am 8. Februar fand eine Sitzung des Ministerrats statt, die eine erste Bilanz der Diskussion ziehen sollte und die nach einem Bericht des Canard enchaîné (10.2.2010) höchst vergnüglich verlaufen sein soll (man könnte auch sagen, dass sie zumindest nach den Informationen des Canard enchaîné kaum das Niveau von Stammtischgesprächen über nationale Identität überboten hat). 2 Zur Bedeutung des Protestantismus für das republikanische Denken und die Eliten der Dritten Republik vgl. Patrick Cabanel, Le Dieu de la République. Aux sources protestantes de la laïcité, Rennes 2003. 3 Vgl. dazu Pascal Blanchard u. a. (eds.), La fracture coloniale. La société française au prisme de l’héritage colonial, Paris 2005 sowie zur Diskussion um den „rôle positif de la présence française outre-mer“, der einem ein Jahr später suspendierten Artikel eines Gesetzes vom 23.2.2005 zufolge im Geschichtsunterricht gewürdigt werden sollte Romain Bertrand, Mémoires d’empire. La controverse autour du fait colonial, Paris 2006 und Benjamin Stora, La guerre des mémoires. La France face à son passé colonial, Paris 2007, 18 ff. 4 Zu den Anfängen der politischen Verwendung des Begriffs der „identité nationale“ in den 1970er Jahren vgl. Gérard Noiriel, A quoi sert l’identité nationale? , Marseille 2007, 70 ff. 5 Auf Facebook findet sich die Seite „Mémorial des Français de souche“ (http: / / www.facebook.com/ pages/ Memorial-des-francais-de-souche/ 304077015279, 22.3.2010), die den lebhaft befolgten Aufruf veröffentlicht: „Nous sommes encore nombreux à posséder de vieilles photos de famille. A l’heure où notre identité est insultée par les uns, niée par d’autres, il nous semble salutaire de participer au travail de conservation de notre héritage populaire.“ Bei Yahoo (http: / / fr.answers.yahoo.com/ question/ index? qid=20070323012727AAtnHvd, 23.3.2010) findet sich unter anderem eine Diskussion zu der Frage „Qu’est-ce qu’un Français de souche? “ (darin die zu erwartende Ant- 105 Discussion wort „nous avons des ‘racines’ profondément ancrées dans notre terre de France, aussi loin que l’on puisse remonter dans les siècles précédents“ wie die ironische Reaktion „ya des cons de souche et des cons immigrés“). 6 Vgl. dazu die grundlegende Darstellung von Gérard Noiriel, Le creuset français, Paris 1988 sowie aus der Fülle der jüngsten einschlägigen Untersuchungen etwa Patrick Weil, La France et ses étrangers, Paris 2004; Catherine Borel/ Patrick Simon, Histoires de famille, histoires familiales, Paris 2006; Evelyne Ribert, Liberté, égalité, carte d’identité. Les jeunes issues de l’immigration et l’appartenance nationale, Paris 2006. 7 Deren Genese und Konfliktlinien analysiert ausführlich Pierre Bouretz, La République et l’universel, Paris 2000, 163 ff. 8 Zit. nach Lutz Niethammer, Kollektive Identität: heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbeck 2000, 36. 9 Vgl. dazu die Beiträge in Hugues Lagrange/ Marco Oberti (eds.), Émeutes urbaines et protestations, Paris 2006; insbesondere Nathalie Kapko, „Communauté d’expériences et diversité des trajectoires“ (81-104). 10 Vgl. dazu etwa Daniel Lepoutre: Cœur de banlieue. Codes, rites et langages, Paris 2001; Stéphane Beaud/ Michel Pialoux: Violences urbaines, violences sociales. Genèse des nouvelles classes dangereuses, Paris 2003. 11 Diese Äußerung entstammt einer der von ihm auf France Culture geleiteten Diskussionsrunden, die er unter dem programmatischen Titel Qu’est-ce que la France? herausgegeben hat (Paris 2007, 58). Vgl. zum Kontext der Diskussion um die Banlieue-Unruhen meinen Beitrag „Gewalt ohne Transzendenz? Die französischen Intellektuellen und die Banlieue-Unruhen vom November 2005“ in Isabella von Treskow/ Susanne Hartwig (eds.), Bruders Hüter - Bruders Mörder. Intellektuelle und innergesellschaftliche Gewalt, Tübingen 2010, 163-182. 12 http: / / www.debatidentitenationale.fr/ organisation/ les-objectifs-du-debat.html, 22.3.2010. 13 Die sind nämlich letztendlich alle in der Gemeinsamkeit guter Nachbarn und Kollegen überwindbar, wie uns der unsägliche Film Bienvenue chez les Ch’tis (2008) lehrt. 14 Die Burka ist denn auch eines der meistdiskutierten und kontroversesten Themen des Diskussionsforums. Vgl. etwa die zahlreichen Stellungnahmen unter: http: / / contributions.debatidentitenationale.fr/ identite-et-burka sowie http: / / contributions.debatidentitenationale.fr/ contre-le-port-de-la-burka, (30.3.2010). 15 Dies gilt auch angesichts der entsprechenden Instrumentalisierung dieses Begriffs in den Reden Sarkozys. Vgl. dazu Laurence de Cock u.a. (eds.), Comment Nicolas Sarkozy écrit l’histoire de France, Marseille 2008, 54 ff. 16 http: / / www.debatidentitenationale.fr/ organisation/ les-objectifs-du-debat.html, 22.3.2010. 17 So entwirft er in einer Rede in Rouen (24.4.2007) nach dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen ein ebenso breites wie heterogenes Panorama identifikationsstiftender Figuren und Wertvorstellungen aus der französischen Geschichte, um dann zu erklären: „ La France de toujours, la vraie France, celle qui s’inscrit dans une longue histoire, celle qui est la somme de tous ces destins individuels, ne peut pas mourir parce que chacun d’entre nous veut qu’elle vive. [...] J’ai voulu remettre la France au cœur de la politique parce que la crise de l’identité française devenait préoccupante. J’ai voulu remettre la France à l’honneur dans la politique française, parce qu’on ne peut intégrer personne quand on ne sait plus qui on est. On ne peut pas faire aimer aux autres ce qu’on n’a pas appris à aimer soi-même.“ (http: / / sites.univ-provence.fr/ veronis/ Discours2007/ transcript.php? n=Sarkozy&p=2007-04-24, 20.3.2010). 106 Discussion 18 Acht Historiker, die aus Protest gegen die Einrichtung dieses neuen Ministeriums aus dem historischen Beirat der Cité nationale de l’histoire de l’immigration zurücktraten, erklärten in ihrer Rücktrittsbegründung u. a.: „Associer ‘immigration’ et ‘identité nationale’ dans un ministère […] c’est, par un acte fondateur de cette présidence, inscrire l’immigration comme ‘problème’ pour la France et les Français dans leur être même.“ (http: / / www.ldh-toulon.net/ spip.php? article2047, 22. 3. 2010). 19 In einer Umfrage Anfang Januar 2010 bejahten 44% aller Befragten die Aussage „Il y a trop d’immigrés en France“, und 37% stimmten dem Satz zu „On ne se sent vraiment plus chez soi en France“ (Le Monde, 15.1. 2010). 20 Le Monde, 15.1.2010. 21 Le Monde, 4.12.2009 22 So etwa Gérard Noiriel, A quoi sert l’identité nationale? , Marseille 2007; Patrick Weil, Liberté, égalité, discriminations. L’identité nationale au regard de l’histoire, Paris 2008; Daniel Lefeuvre/ Michel Renard, Fautil avoir honte de l’identité nationale? , Paris 2008; Jean Viard, Fragments d’identité française, La Tour d’Aigues 2010. Auch Mona Ozoufs autobiographische Reflexionen in La Composition française, Paris 2009 umkreisen schon mit der Doppeldeutigkeit des Titels den Prozess der lebensgeschichtlichen Genese eines nationalen Identitätsbewusstseins im Lichte der aktuellen Diskussion. 23 Vgl. dazu auch Gérard Noiriel, Population, immigration et identité nationale en France (XIX e -XX e siècle), Paris 1992. 24 Vgl. dazu Noiriel, A quoi sert l’identité nationale? , 23 ff. und Viard, Kap. 3. 25 Vgl. Paul Seippel: Les deux France et leurs origines historiques, Paris 1905. - Der Begriff findet sich bereits in Chateaubriands Deutung der Revolution in den Mémoires d’outretombe, wird aber erst um 1900 zu einer gängig gebrauchten Bezeichnung für die beiden Lager der Dreyfus-Affäre und allgemein für den Gegensatz zwischen republikanischen und antirepublikanischen Kräften. 26 Vgl. dazu Henry Rousso, Le syndrome de Vichy de 1944 à nos jours, Paris 2 1990, 14 f. 27 Scènes et doctrines du nationalisme (1902), in: L’œuvre de Maurice Barrès, hrsg. von Philippe Barrès, Paris 1966, Bd. V, 17-466, hier: 23-25. 28 Œuvres complètes de Ernest Renan, hrsg. von Henriette Psichari, Paris 1947, Bd. 1, 903 f., vgl. auch 905: „Les nations ne sont pas quelque chose d’éternel. Elles ont commencé, elles finiront.“ 29 Ebd., 903 f. 30 Es liegt dabei auf der Hand, dass Renan zugleich, ohne explizit darauf einzugehen, auch gegen die Annexion von Elsaß-Lothringen argumentiert und gegen das damals im Deutschen Reich vorherrschende, der Barrèsschen Konzeption eng verwandte rassische Nationalbewusstsein. Das ‘Plebiszit’, das er als Begründung der Nation ansetzt, verweist auf die von Frankreich geforderte und von Bismarck abgelehnte Volksabstimmung in den annektierten Gebieten. Dieser Zusammenhang kann hier nicht weiter verfolgt werden. 31 Dieser Zusammenhang wird in der gegenwärtigen Diskussion an einer Reihe von Beispielen dargestellt von Patrick Weil, Liberté, égalité, discriminations. L’identité nationale au regard de l’histoire. Vgl. dazu ausführlich auch ders., Qu’est-ce qu’un Français, Histoire de la nationalité française depuis la Révolution, Paris 2002 sowie La France et ses étrangers, Paris 2 2004. 32 „Discours de M. le Président de la République française, La Chapelle-en-Vercors (Drôme) - Jeudi 12 novembre 2009“ (http: / / www.elysee.fr/ president/ les-actualites/ discours/ 2009/ discours-de-m-le-president-de-la-republique.1678.html, 13.5.2010). 33 http: / / www.debatidentitenationale.fr/ actualites/ contribution-du-jour-francois.html, 17.5.2010. 107 Discussion 34 Diese Traditionslinie, aus der sich auch Sarkozy in seinen Reden in bedenkenlosem Eklektizismus bedient, ist denn auch in vielen Beiträgen auf dem Internetportal präsent. Dort heißt es etwa in dem Beitrag „l’identité nationale: c’est notre histoire„: „[la France] c’est avant tout l’histoire du peuple de gaule, de Clovis, de Jeanne D’arc, de Charles Martel, louis 14, De Gaulle, notre drapeau“ (http: / / contributions.debatidentitenationale.fr/ lidentite-nationale-cest-notre-histoire, 17.5.2010). Viele ähnliche Stellungnahmen wären zu zitieren. 35 Vgl. dazu die Beiträge in Laurence de Cock u.a. (eds.), Comment Nicolas Sarkozy écrit l’histoire de France sowie Nicolas Offenstadt, L’histoire bling-bling. Le retour du roman national, Paris 2009. - Für diesen Umgang mit der Geschichte ist es auch bezeichnend, dass zwei Apologeten von Sarkozys Identitätsdiskurs nichts besseres zu tun haben, als zu seiner Rechtfertigung diese Geschichtslegende von den Anfängen bis zur Gegenwart in einem ganzen Buch noch einmal zu erzählen - mit der These, ein Nationalbewusstsein präge die französische Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, weshalb sie dann das Streben nach oder die Verwirklichung nationaler Identität zur eigentlichen Triebfeder der französischen Geschichte erklären (Daniel Lefeuvre/ Michel Renard, Fautil avoir honte de l’identité nationale? , Paris 2008). 36 Regards sur le monde actuel (1931); Paris 1966, 40f. 37 Besson zählt in seiner vorläufigen Bilanz am 8. Februar 2010 neben 350 Diskussionsveranstaltungen in allen Départements vor allem die Frequentation des Diskussionsforums in dem Internetportal www.debatidentitenationale.fr auf, die 760000 Besuche verzeichne und auf der 56000 Beiträge eingestellt worden seien (http: / / www.immigration.gouv.fr/ spip.php? page=discours2&id_rubrique=307&id_article=2 096, 17.3.2010). 38 Dort werden unter der Rubrik „Auteurs classiques“ Textauszüge aller üblichen Verdächtigen der romantisch-nationalen und republikanischen Geschichtsschreibung und -deutung von Victor Hugo über Michelet bis hin zu Jules Ferry und Ernest Renan angeboten (vgl. http: / / www.debatidentitenationale.fr/ bibliotheque/ les-auteurs-classiques/ ; 30.3.2010). Unter den „Auteurs contemporains“ (http: / / www.debatidentitenationale.fr/ bibliotheque/ lesauteurs-contemporains/ , 30.3.2010) findet sich eine deutlich Konzentration auf Texte gaullistischer Provenienz, von dem General selbst, der mit drei unverhältnismäßig langen Textauszügen vertreten ist bis hin zu Max Gallo oder - ebenfalls mit einem sehr langen Textauszug - Daniel Lefeuvre und Michel Renard, deren Apologie von Sarkozys Identitätsdiskurs oben bereits angeführt wurde. 39 Es gibt nur die folgenden Rubriken: „Ce qui fait/ Ce qui interroge/ Ce qui conforte notre identité nationale“ sowie „Vos témoignages sur l’identité nationale“. Alle anderen Beiträge lassen sich nur in der Rubrik „Autre“ einordnen. 40 Nämlich: „Assimilation, Cohésion, Citoyen, Carte d’identité, Burqa, Communautarisme, Culture, De Gaulle, Démocratie, Discrimination, Diversité, Drapeau, Droits/ Devoirs, Ecole, Education, Egalité, Etat, Etranger, Europe, Européen, Famille, Fierté, Force, Fraternité, Gouvernement, Hymne, Immigration, Impôts, Intégration, Laïcité, Langue, Liberté, Marseillaise, Monde, Musulmans, Nation, Patrie, Religion, Républicain, République, Rêve, Sang, Territoire, Tradition, Travail, Valeurs“ (http: / / www.debatidentitenationale.fr/ organisation/ les-objectifs-du-debat.html, 22.3.2010). Dieses Begriffskonglomerat verweist in über der Hälfte der Fälle auf die Republik, ihre Devise, ihre Werte und Symbole (die Nationalhymne erscheint gleich zweimal), bezieht aber auch eine historisch-ethnische Identitätskonstruktion bzw. deren Grenzziehungen teilweise ein (Burqua, Immigration, Musulmans, Religion, Sang, Territoire, Tradition). Die koloniale Tradition der Republik ist 108 Discussion hier wie in den weiter unten aufgeführten Analysen und Umfragen ‘natürlich’ völlig ausgeblendet; sie spielt daher auch in den Beiträgen zur Diskussion zumindest nach einer Analyse von Stichproben kaum eine Rolle. 41 Niethammer, Kollektive Identität: heimliche Quellen einer unheimlichen Kultur, 33 ff. 42 So Peter Wagner, „Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität“, in: Aleida Assmann/ Heidrun Friese (eds.), Identitäten, Frankfurt 1998, 68. 43 Vgl. Jean-François Bayart, L’illusion identitaire, Paris 1996, 10: „Il n’y a pas d’identité naturelle qui s’impose à nous par la force des choses. […] Il n’y a que des stratégies identitaires.“ 44 http: / / www.debatidentitenationale.fr/ IMG/ pdf/ 100104_-_Debat_Identite_Nationale_-_Analyse_TNS_Sofres.pdf, 5, 13.4.2010). 45 Zwischen 5- und 7000mal werden verwendet: Droit, Culture, Débat, Ègalité, Histoire, Langue, Liberté und Vivre, 4-5000mal Aimer, Fier, Fraternité, Homme, Loi, Monde, Nation, Parler, République, Respect (4). Den einzigen Schwerpunkt in diesem heterogenen Spektrum bildet die Devise der Republik; allerdings ist ein Vergleich mit den oben (Anm. 22) angeführten Leitbegriffen aufschlussreich, die die Diskussion strukturieren sollen und die de facto die meisten inhaltlich bedeutsamen Begriffe vorgeben. 46 Vgl. etwa http: / / contributions.debatidentitenationale.fr/ francais-francais-francais-francaisdorigine oder die in der TNS-SOFRES-Studie zitierten Äußerungen, 13 f. 47 http: / / www.debatidentitenationale.fr/ IMG/ pdf/ 100205_-_Debat_Identite_Nationale_-_Etude_TNS_Sofres.pdf (22.4.2010). - Bei diesen beiden Quellen der Umfrage wird allerdings die Frage nicht erörtert, in welcher Weise ihre Ergebnisse gewichtet und zusammengeführt worden sind. 48 http: / / www.immigration.gouv.fr/ spip.php? page=discours2&id_rubrique=307&id_article=2096, 17.3.2010 (Erklärung Bessons vom 5.2.2010). 49 Vgl. die Darstellung von Günter Oesterle, „Kontroversen und Perspektiven in der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung“, in: Judith Klinger/ Gerhard Wolf (eds.), Gedächtnis und kultureller Wandel, Tübingen 2009, 11 ff. 50 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 132 und 134. 51 Vgl. dazu etwa die Überlegungen von Douglas Kellner zur Instabilität und dem Spielcharakter moderner und postmoderner Identitätskonstruktionen: „Populäre Kultur und die Konstruktion postmoderner Identitäten“, in: Andreas Kuhlmann (ed.), Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt 1994, 214-216. 52 Claude Lévi-Strauss (ed.), L’identité, Paris, 2 1987, 332.