lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2012
37146-147
Zerstreuung und Versammlung bei Mallarmé und George – Zwei Entwürfe des Dichterischen im Zeitalter der Gesellschaft
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2012
Martin Urmann
ldm37146-1470078
78 Dossier Martin Urmann Zerstreuung und Versammlung bei Mallarmé und George - Zwei Entwürfe des Dichterischen im Zeitalter der Gesellschaft „Le Livre [...] au fond il n’y en a qu’un, tenté à son insu par quiconque a écrit, même les Génies. L’explication orphique de la Terre, qui est le seul devoir du poëte et le jeu littéraire par excellence“. 1 Der absolute Ton des Dichterpriesters, der kraft seines Werkes über die Dinge zwischen Himmel und Erde gebietet, auch Mallarmé war er alles andere als fremd. 2 Aber der Meister aus Frankreich sagt ebenfalls, ausgerechnet in den sublimen Beobachtungen zu La Musique et les Lettres, man könne das ästhetische Thema nicht verstehen, wenn: „sa contrepartie sociale (est) omise“; und dann die fulminante Feststellung: „Tout se résume dans l’Esthétique et l’Economie politique“. 3 Das erste Diktum Mallarmés stammt aus einem persönlichen Brief an den Freund und Dichterkollegen Verlaine, das zweite aus einer seiner zentralen poetologischen Schriften, die erstmals als Beitrag in (der Aprilausgabe 1894) der Revue blanche erschien. Ihre unterschiedlichen Adressierungskontexte und medialen Formate 4 sind durchaus von prinzipieller Bedeutung für Anspruch und Wesen der poetischen Botschaft Mallarmés. Allein im Privaten beziehungsweise als persönliche Meinung bleibt für ihn das hieratische Anrecht des Dichters, mit seinem Werk, le Livre, die Deutung von Sein und Welt zu leisten, noch formulierbar. Eine Position im sozialen Raum ist damit unter den Bedingungen der Moderne nicht mehr zu beziehen. Hieraus ergibt sich das Thema, das Stefan George und Stéphane Mallarmé, von dem für den deutschen Dichter unter den Lyrikern seiner Zeit anfänglich die größte künstlerische Herausforderung ausging, miteinander verbindet - und trennt: das Eindringen des Sozialen in die Kunst, und zwar noch in jene Sphären, wo die Reinheit der Form oberster ästhetischer Maßstab und ethisches Gesetz zugleich ist. Aus dieser Perspektive lässt sich mithilfe der Kategorien von „Zerstreuung“ und „Versammlung“ die Konstellation Mallarmé-George nochmals in aufschlussreicher Weise erhellen. 5 Mit dem Eindringen des Sozialen in die Kunst ist wohlgemerkt nicht einfach nur die gewachsene Relevanz von gesellschaftlichen Motiven in der künstlerischen Produktion der Moderne bezeichnet. Vielmehr geht es um den Aufstieg der Gesellschaft zur untranszendierbaren Letztinstanz aller lebensweltlichen Vollzüge, um das Dominantwerden eines Weltverhältnisses, das vollständig sozial vermittelt ist - mit allen korrosiven Effekten für das Paradigma der Identität, die daraus resultieren. 6 Von diesem fundamentalen Transformationsprozess, der die Bande der Tra- 79 Dossier dition unwiderruflich kappt, ist das Œuvre Mallarmés und auch Georges elementar geprägt. Für beide steht fest, dass der Radikalität des sich vollstreckenden Strukturwandels mit keiner Form herkömmlicher Kultur- oder Sozialkritik, ob sie sich nun auf Entfremdung, Vermassung oder umgekehrt auf Egalisierungsdefizite richtet, mehr beizukommen ist. 7 Dies gilt, auch wenn die soziale Dimension dieses Wandels im Werk der Dichter freilich nicht explizit thematisiert wird, ja scheinbar noch weiter in den Hintergrund tritt als bei Baudelaire. 8 Dass sich auch in der Lyrik Georges ein gesellschaftlicher Strukturzusammenhang meldet, hat schon Max Weber mit Nachdruck hervorgehoben, als er bemerkte, dass „ein solches Maß von Besinnung auf die letzten [...] uneinnehmbaren Festungen rein künstlerischen Formgehalts gar nicht errungen werden konnte, ohne daß der Lyriker die Eindrücke der modernen Großstadt, die ihn verschlingen und seine Seele zerrütten und parzellieren will, [...] dennoch voll durch sich hat hindurchgehen lassen“. 9 Der liebgewonnene Rekurs auf Weber führt jedoch am Kern der eigentlichen Problematik vorbei. Denn die Gesellschaft besteht nicht aus handelnden Individuen, sondern aus Kommunikationen - so zumindest, wenn wir der Modernitäts-Analyse Mallarmés und ihrem Axiom eines anonymen Textes folgen, „parlant de lui-même et sans voix d’auteur“. 10 Dieser unausgesetzte Kommunikationsprozess bewirkt nicht nur die vom Dandy ebenso gesuchte wie geflohene Nivellierung der Individualität in der Masse, sondern bar eines stabilen Zentrums arbeitet seine Vermittlungsdynamik unwiderstehlich an der Zerstreuung jedweder Form von Identität. Insbesondere ist er nicht mehr tragisch einholbar weder im säkularisierten „Kampf der Götter“, den Weber im Zusammenprall konkurrierender Wertordnungen ausmacht, die das Individuum zur Entscheidung fordern, 11 noch in der auffahrenden Freude an der „Zertrümmerung der Aura im Chockerlebnis“, welche offenbar wird, wenn der baudelairesche Flaneur sein Selbst lustvoll in den Energieströmen des Boulevards verliert. 12 Solches Heroentum ist für die radikalisierte Décadence Mallarmés und auch Georges, der den Habitus des Dandy bald abgelegt hat, nicht mehr anschlussfähig. Dies hat nicht nur ästhetische, sondern eben auch soziologische Gründe, denen nun in ihrem Wechselverhältnis nachgegangen werden soll. Nur vor diesem doppelten Hintergrund erklärt sich auch Georges unerschütterliche Distanz zur Tat, wie er sie zeit seines Künstlerdaseins an den Tag legte und wie sie sich insbesondere in seiner Haltung zum Ersten Weltkrieg und schließlich noch 1933 gegenüber den neuen politischen Machthabern in Deutschland äußerte. 13 Diese Distanz zur Tat ist also alles andere als eine Einkehr oder ein Rückzug in die Innerlichkeit. Incipit societas - die französische Erfahrung Von der neuen Qualität der „Assimilierung des Literaten an die Gesellschaft“ 14 durch die Vermittlungsdynamik eines sich entgrenzenden Kommunikationsprozesses konnte Mallarmé ein besonders ambivalentes und reflektiertes Lied singen. 80 Dossier Denn er war ein Lyriker nicht nur im „Zeitalter des Hochkapitalismus“ (Benjamin), sondern vor allem auch, wenn die Formulierung gestattet ist, des ‚funktionalen Hochdifferentialismus’. Die operative Schließung des literarischen Feldes, die sich in Paris im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, wie von Christophe Charle und Pierre Bourdieu vorgeführt, in nuce beobachten lässt, 15 brachte ihn als Lyriker in eine prekäre und zugleich privilegierte Beobachterposition. Vom literarischen Markt, auch dem schmalen Segment für Hochliteratur, spätestens durch die enormen Verbreitungszahlen des naturalistischen Romans strukturell abgekoppelt, drohte das poetische Wort, nicht nur seine literarische Relevanz, sondern mit seiner sozialen Resonanz auch seine Realität schlechthin zu verlieren und regelrecht aus der Welt zu fallen. Mallarmés buchstäbliche Inexistenz als Autor illustriert dieses Schicksal äußerst eindrucksvoll: Der dauerhaft an seine Tätigkeit als Gymnasiallehrer gebundene Dichter konnte bis zur Entdeckung durch Huysmans und Verlaine 1883/ 84 (in À rebours und den Poètes maudits) - neben einigen frühen Gedichten im Parnasse contemporain und seiner Übersetzung von Edgar Allan Poes The Raven (Le Corbeau, erschienen 1875 bei Lesclide) - lediglich auf eine eigenständige lyrische Publikation, nämlich den vom Parnasse missbilligten L’Après-midi d’un faune in der limitierten Sonderausgabe bei Derenne aus dem Jahre 1876, verweisen. 16 Dabei haben wir es wohlgemerkt nicht mit einer strategischen Marktabsenz zur Steigerung des Werts der eigenen Produktion wie am Beginn der Karriere von George zu tun. 17 Dem noch von so vergleichsweise sensiblen Lesern wie François Coppée, Théodore de Banville und Anatole France, der Jury des Parnasse contemporain von 1875, abgelehnten Mallarmé gebricht es schlichtweg an der Möglichkeit, seine Gedichte in die Öffentlichkeit zu bringen. Die ungewohnt direkte Äußerung im Interview mit Jules Huret aus der Enquête sur l’évolution littéraire (1891) bezeugt die Härte dieser Marginalisierungserfahrung: „Le cas d’un poète, en cette société qui ne lui permet pas de vivre, c’est le cas d’un homme qui s’isole pour sculpter son propre tombeau“. 18 Jedoch auch hier steht Mallarmé nicht an, das eherne Los des Dichters aus spezifisch moderner Perspektive zu reformulieren. Mit seinem „travail secret“, so fügt er unmittelbar hinzu, befindet sich der Poet „en grève devant la société“. 19 Zu diesem Zeitpunkt beginnt die neue Lyrik aber auch, aus der Not eine Tugend machend, auf die alternativen Öffentlichkeitsformate und Publikationsmedien zu setzen, die ab den 1880er Jahren in Paris vor allem in Gestalt der neu entstehenden literarischen Revuen und Zeitschriften einen schnellen, wenn auch im Einzelfall zumeist recht kurzlebigen Aufschwung erfuhren. Auf diese Weise nutzte man die Vorteile eines hoch differenzierten und spezialisierten Öffentlichkeitsspektrums, um sich im Wettstreit der literarischen Gruppen mit ihren divergierenden Programmatiken noch Gehör zu verschaffen. In der Tat konstituieren sich ab den 1870er Jahren in immer schnellerer Folge die Naturalisten um Zola, die Psychologen um Bourget, die Décadents um Verlaine, die Symbolisten um Mallarmé, die sogenannten Magier um Sar Péladan etc... Die Auffächerung des Feldes literarischer Mög- 81 Dossier lichkeiten gelangt nirgends prominenter zur Erscheinung als in Jules Hurets Enquête sur l’évolution littéraire, 20 einem symptomatischen Zeugnis des Selbstreferentialisierungsprozesses, insofern sich in ihr das literarische Feld als autonome und eigengesetzliche Sphäre mit den Mitteln der modernen Kommunikationsgesellschaft und als Teil ihrer präsentiert. Immer deutlicher zeichnet sich dabei ab, dass im relationalen Spiel der Definitionen des Schönen alle substantiellen Gehalte dessen, was Kunst ist, aufgelöst werden. Insbesondere zeigt sich am Kommen und Gehen der literarischen Gruppen und ihrer ästhetischen Entwürfe, wie in einem Feld, in dem die Generierung des Neuen und der Individualität zum Systemprogramm geworden ist, alle Formen von Innovation, die meinten (und meinen durften), außerhalb der Matrix des bis dato künstlerisch Sagbaren zu stehen, über kurz oder lang von der Feldentwicklung eingeholt und anschlussfähig werden. 21 Der Lyriker Mallarmé nimmt im literarischen Feld seiner Zeit eine besondere Position ein: Er steht zugleich im Zentrum der avantgardistischen Erneuerung der Kunst mit, seit den späten 1880er Jahren, höchster feldinterner Akzeptanz 22 und in prekärer Nähe zum äußersten Rand der Gesellschaft, wodurch die Radikalität seiner sozio-ästhetischen Grundlagenreflexion nachhaltig befördert wurde. Was für Mallarmé am forciert modernen Fall des Pariser Kunstsystems um 1900 einsehbar wird, ist die paradoxe Doppeldynamik einer sozialen Kommunikation, die sich über die primären Objekte der Welt gelegt und im Rückbezug auf ihre eigenen Formen zunehmend entgrenzt hat: ihr Zug zur Organisierung umfassender Anschlussfähigkeit in immer feiner getakteten Bahnungen des Sinns und zugleich jedoch auch ihr für den Dichter unüberhörbarer Sog in Richtung der irreduziblen Leerstelle am Grunde des Sinns. Mit Blick auf letztere könnte man sagen, dass sich für Mallarmé im Rauschen der sich voll entfaltenden Kommunikationsmaschinerie ihr Dionysisch-Anderes zeigt, „le néant“, wie es bei ihm heißt beziehungsweise in der noch markanteren Metaphorik des Spätwerks: „le blanc“. 23 In seinen bewusst im journalistischen Rahmen platzierten Werken, den später auch unter dem Titel „Grands faits divers“ zusammengefassten Variations sur un sujet, etwa der grandiosen Persiflage auf den Panama-Skandal Or, findet die performative literarische Philosophie des Sozialen im Zeichen des Nichts ihren vollendet ironischen Ausdruck. 24 Der Bruch mit der Tradition, er hätte kaum eklatanter vollzogen werden können als mit dem Erbleichen des Phantasmas, dem Erscheinen des Dionysischen in weißen Gewändern bei Mallarmé. Die Kontraintuitivität dieser Wendung ist elementar auf den historisch beispiellosen Kontext des Sozialen zu beziehen, welchen Mallarmé in seiner ganzen Unwahrscheinlichkeit und Künstlichkeit markieren will: die De-ontologisierung des Realen durch eine sich von ihren humanen Trägern ablösende, selbsttätige Kommunikation. 25 Wenn die Gesellschaft sich aber zum untranszendierbaren Letzthintergrund einer ganz in anschlussfähiger Kommunikation aufgegangenen Welt entwickelt hat, dann kann die Kunst nach Mallarmé nicht mehr bleiben, was sie noch bis zur Romantik und Baudelaire zumindest der Reminiszenz nach war. Sie muss endgültig von Identität auf Differenz umschalten, um einen innerweltlichen - weder metaphysischen noch utopischen - Ort zu eröff- 82 Dossier nen, an dem das Unsagbare am Grunde allen Sagens seine unmögliche Stätte findet. Wenn es jedoch kein Außen der Gesellschaft mehr gibt, dann tut sich dieser Ort gemäß der mallarméschen Ecriture nur auf, wenn die kommunikativen sozialen Abläufe von innen her irritiert, das heißt buchstäblich gestört werden. 26 Durch das Moment der Störung, das die Anschlussfähigkeit der Kommunikation aussetzt, entsteht kurzzeitig ein äußerst spannungsgeladener Zwischenbereich, 27 in dem die Welt abseits der Vermittlung des Sozialen erfahrbar wird und dennoch nicht mit der Identität eines Sprechers zusammenfällt. Unvermeidlich wird ein solches Sagen angesichts der Ubiquität des Sozialen an seine eigenen Grenzen getrieben, an die Grenze der Verstehbarkeit im Dialog mit dem Anderen, ja an die Grenze des Verstummens. Es muss versuchen, alle normalen Abfolgen der Kommunikation zu unterlaufen, ihre Fokussierung zu zerstreuen, um das, was sich ihrer Formgebung radikal entzieht, sich zeigen zu lassen. Das heißt aus der Perspektive des Individuums in der Gesellschaft, das Rauschen am Grunde der sozialen Kommunikation irritierend in diese eindringen zu lassen. Dann realisiert sich mit dem genuin Dichterischen - und nur dort - eine Art individuelle Freiheit. Dies gilt noch für Mallarmé, der mit seiner abseits des Menschen konzipierten Ästhetik scheinbar am weitesten auf die neuen Schaffensbedingungen der systemisch vergesellschafteten Welt zugegangen ist. Diese Idee von Irritation qua Störung hat Komposition und Struktur des mallarméschen Œuvre von Grund auf verschoben. Am deutlichsten wird dies sichtbar in der finalen Abkehr vom vermeintlich ehernen Plan des „Livre“. 28 Stattdessen erscheinen die Divagations (1897), das „livre […] épars et privé d’architecture“, 29 in dem Mallarmé sein essayistisch-journalistisches Werk vereint hat, schließlich noch vor der definitiven Ausgabe der (erst posthum veröffentlichten) Poésies (1899), die trotz der immensen Konstruktivität ihres Aufbaus einem bekennend offenen Organisationsprinzip folgen. Vor allem jedoch ist die Ästhetik der Zerstreuung in den Gedichten Mallarmés selbst wirksam. Sie bestimmt deren Vollzüge von innen her, vollends ab dem reifen Werk seit den 1880er Jahren. Allein im Moment der Störung scheint Mallarmé der dichterische Traum der Präsenz noch realisierbar zu sein - unter freilich radikal postmetaphysischen Prämissen, in der eminenten Erfahrung einer Absenz. Die Ästhetik der Zerstreuung ist in der Poesie Mallarmés verbürgt in der Differenz-Figur der lebendigen Metapher und dem „semantischen Schockeffekt“, der von ihr ausgeht. 30 In ihr ist die „Zertrümmerung der Aura“ 31 ganz Sprache geworden. Welchen Weg der Leser auch immer wählt, um die mallarmésche Metapher, die den herkömmlichen rhetorischen Rahmen der Trope und mit ihm die Opposition von wörtlicher und übertragener Geltung hinter sich gelassen hat, in sagbaren Sinn einzuholen, er scheitert. Stets wird die initial eingeschlagene Perspektive durch die inkongruenten, aber im Spiel der Metapher zu einander spannungsvoll in Beziehung gesetzten poetischen Sinneffekte blockiert, in ihrer bedeutungskonstitutiven Schließung gestört. So etwa, wenn wie im letzten der Triptyque-Sonette sich: ‘ein Vorhang aufhebt, im Zweifel des höchsten Spiels, nur um eine lang verlassene 83 Dossier Stätte der gescheiterten Zeugung in ihrer Absenz: halb zu eröffnen/ halb zu verbergen.’ 32 Genau in dem von der Störung evozierten kurzen Augenblick des Übergangs zwischen dem scheiternden Sinn und der Schließung des neuen Sinnhorizonts wird eine radikale Transgressionsbewegung erfahrbar. Ein Unsagbares wird blitzartig zum Aufleuchten gebracht: der reine Vermittlungsgrund - besser der „Resonanzgrund“ der Sprache selbst. 33 Zwischen den kollabierenden Formen des Sinns, die in den Störungssog der paradoxen metaphorischen Kopplung um den klangmagischen „creux néant musicien“ geraten, wie es im Triptyque-Sonett heißt, lässt der Resonanzgrund sich kurzzeitig erahnen als die Sphäre der radikalen Präsenz, von der alle Oberflächenmanifestationen ihre poetische Energie beziehen. 34 Am Grund der Form Das Experimentieren mit diesen Energien hat George nachhaltig beeindruckt. Die biographischen Fakten der Beziehung zu Mallarmé sind bekannt 35 auch Georges ausdrücklich bekundete Wertschätzung für die stilistische Perfektion des Dichterhandwerks, für das hohe Credo von der Sprache als exklusivem Material der Poesie und insbesondere für den Gestus von Dichtung als gelebter Haltung, wie sie von Mallarmé und seinem - offenen - Kreis 36 gepflegt wurden. 37 Auch war George nicht entgangen, welch große Aufmerksamkeit für Fragen der Edition und der visuellen Textgestaltung - bereits mit der von Manet illustrierten L’APRÈS-MIDI D’VN FAVNE-Ausgabe und ihren changierenden typographischen Setzungen hatte Mallarmé diesen Pfad beschritten - 38 unter diesen Lyrikern herrschte. Worauf es hier ankommt, ist zu zeigen, dass Georges Dichtkunst ebenfalls im Zeichen einer Ästhetik der Irritation steht. In der Tat ist auch sein lyrisches Schaffen von der postmetaphysischen Einsicht in die Differenz, in die dynamische Vermittlung am Grunde der Identität, geleitet. Gleichwohl erwächst die irritierende Kraft der georgeschen Poesie nicht wie bei Mallarmé aus der Sperrung gegen den Sinn, wie sie in der Störung so eklatant zu Tage tritt. Vielmehr wird hier die Überfülle des Sinns aufsässig und dringt entgrenzend in den vermeintlichen Gehalt des Gesagten ein. Gerade durch die konzentrierte und konzertierte „Zusammenballung“ der semantisch wie klanglich-rhythmisch voll ausgereizten, aus ihren herkömmlichen Bezügen ‚herausgebrochenen’ Sprachmittel will George das Sagbare an seine Grenzen treiben, 39 so dass sich das Andere der Realität in seiner ganzen Offenheit und Dynamik zeigt. Die Ausschöpfung der Polysemie der Sprache ist für das Werk Mallarmés freilich ebenso typisch. Sie ist bei ihm jedoch anders ausgerichtet, auf die mit beispiellosem künstlerischen Kalkül verfolgte Torpedierung der Scharniere der Sinnvermittlung selbst. Diese werden in der weniger dissonanten Lyrik Georges eher intakt gelassen. Ihre Vollzüge gestalten sich freilich nicht minder künstlich, aber doch an der Oberfläche im herkömmlicheren Sinne kunstvoll und anschaulich. 84 Dossier Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Ästhetik der „Versammlung“, wie man im Anschluss an die heideggersche Sprachphilosophie das georgesche Unterfangen nennen könnte, 40 ebenfalls auf die genuin aisthetische Dimension des Sinnes zielt: Aus einer Überbietung aller sagbaren Formen heraus trachtet sie danach, die Präsenz zu evozieren, die im Walten des Resonanzgrunds der Sprache herrscht. Dies gilt wohl gemerkt nicht nur für den frühen George. Wie Ernst Osterkamp in seiner Lektüre der Gedichte aus Das neue Reich betont hat, stehen auch diese Kreationen im Bann einer leer gewordenen Mitte und eines metaphysisch nicht mehr gedeckten „diskontinuierliche[n] Kontinuum[s] erfüllter Augenblicke“. 41 Diese extreme sprachliche Verdichtungsleistung erreicht die georgesche Lyrik durch ihre mit äußerster Präzision gehandhabte „Bogenführung“, wie Hans-Georg Gadamer in seiner sprachsensiblen Georgedeutung dargelegt hat. 42 Der neue Tonfall, den die Poesie Georges in die deutsche Sprache eingeführt hat, ist zunächst und zuerst durch seine spezielle Musikalität und die suggestive Vermengung von Klang und Bedeutung gekennzeichnet. Mithin ist hier eine massive Desemantisierung der Sprache am Werk. Will man sich der ‚neuen Mache’ weiter vom formalen Standpunkt her annähern, so fällt unweigerlich die signifikante Abschwächung, ja fast Suspendierung des Gewichts des Endreims bei George ins Auge. 43 Durch das Verweisungsspiel der Vokale, die die erlesene Wortwahl der georgeschen Lyrik so eminent zur Geltung bringt, insbesondere die reich gesäten, klangintensiven Assonanzen wird der Hauptakzent ins Versinnere verlagert und dieses als regelrechtes Gravitationszentrum verankert. Diese Bewegung kann, wie das in den modernsten Wendungen des Frühwerks der Fall ist, auch eine betont horizontale Dimension annehmen, etwa in „Der saal des gelben gleisses und der sonne“ aus Algabal 44 oder in „Hain in diesen paradiesen“ aus dem von Arnold Schönberg so geschätzten Buch der hängenden Gärten: Hain in diesen paradiesen Wechselt ab mit blütenwiesen Hallen · buntbemalten fliesen. Schlanker störche schnäbel kräuseln Teiche die von fischen schillern · Vögel-reihen matten scheines Auf den schiefen firsten trillern Und die goldnen binsen säuseln - Doch mein traum verfolgt nur eines.45 Jedes Wort gewinnt in dieser feste syntaktische Fügungen auflösenden Konstellation, die mit der verwirrenden Zusammenführung von Verben und Substantiven auch elementare grammatische Klassifikationen angreift, einen extrem gesteigerten Eigenwert. Durch die sich von Vers zu Vers weiterreichende, in ihrer eigenen Klanglichkeit genügende Vokalschaukel, die scheinbar unaufhörlich weiterschwingen könnte, werden die prädikativen Unterordnungen der normalen Satzlogik nahezu vollständig aufgehoben, so dass jede der (für georgesche Verhältnisse unty- 85 Dossier pisch unsonor gewählten) Silben ihre maximale, nach allen Richtungen gehende Strahlkraft zu entfalten beginnt. Die anfangs auf verstärkende Wiederholung gestellte und dann ganz in sich verflochtene Reimstruktur unterstützt diese Wirkung, die, was ihre Binnenkonzentration anbelangt, noch beziehungsweise schon in der markanten (druck-)graphischen Gestalt des Gedichts offenbar wird. Was so im Ganzen entsteht, ist ein dynamischer Raum von ineinandergreifenden Übergängen, kraft derer die Worte aus ihrer linearen Ausrichtung herausgebrochen werden und in ein schwebendes Kontinuum überführt werden. Eben darin scheint jedoch in voller Gleichzeitigkeit mit den von ihm getragenen Formen die Spannung des poetischen Resonanzgrundes auf. Tonangebend ist im Werk Georges jedoch eine sich ästhetisch bewusst weniger avanciert, weil entdifferenzierend geben wollende Evokation des Resonanzgrunds geworden, die auf die totale Immersion setzt. Diese Akzentuierung ist eng mit der Tendenz zur einfachen Form verbunden - von der Vermeidung von Komposita über den Satzbau bis hin zur auffälligen Gleichsetzung von Vers- und Sinnzusammenhang, etwa in Wendungen wie: „Die gärten atmen schwer von duft beladen / Die schatten wachsen fester in den pfaden“. 46 Nichtsdestotrotz zielt auch diese transgressive Konstellation genuin auf die andere Seite der Form ab. Sie findet ihren prägnantesten Ausdruck in jenem gewaltigen sonoren Dröhnen, das der Dichtung Georges klanglich eignet. Von ihm durchwirkt, wird jeder Vers als tönende Sinneinheit regelrecht zu einer liturgischen Formel, getragen von einer vorthematischen (Hoch-)Stimmung, die sich in der streng gemessenen, zeremoniellen Nennung von Klang-Substanzen artikuliert. 47 Unterschiedlich vehement zeigt sich dies in „Er liess sich einsam hin auf hohem steine“ und in „Kindliches Königtum“. 48 Beide Gedichte stammen aus dem Buch der hängenden Gärten, in dem die maßgebenden Tonalitäten und Themen der georgeschen Lyrik bereits durchgebildet sind. Gerade in letzterem wird auch deren Zug zur steigernden Wiederholung, ja zum hymnischen Anschwellen offenbar, insbesondere in der Schlussstrophe, in der die Klangbewegung dem fast refrainartig vorgetragenen Sinn performativ den Weg weist: „Das weisse banner über dir sich spannte/ Und blaue wolke stieg vom erzgestell/ Um deine wange die vom stolze brannte/ Um deine stirne streng und himmelhell.“ Dies ist ein Musterbeispiel für die voll entfaltete Ästhetik des „Hersagens“, die mit der harten Fügung Georges so unvermittelt in die deutsche Lyrik eindringt, welche von Kloppstock bis zu Hofmannsthal und selbst bei Hölderlin vom protestantisch geprägten Tonfall der Innerlichkeit und seinem meditativen melodischen Duktus bestimmt ist. 49 Entscheidend ist es, die Doppelbewegung zu erkennen, die auch hier am Werk ist. Denn die gleichsam Substanzen schaffende Nennung der einzelnen Wortformationen stellt wie im weniger kompakten, gleitenderen Hersagen von „Hain in diesen paradiesen“ freilich nur die Oberflächenerscheinung eines dynamischen Vermittlungsprozesses dar, der sich zwischen den fest gefügten Formen meldet und sich als das beschwörende „Rauschen“ (bezeichnenderweise zwischen den sonst stillen Dingen der Natur) in „Er liess sich einsam hin auf hohem steine“ auch 86 Dossier auf der thematischen Ebene äußert. Mithin wird ein radikal formtranszendierendes Moment in den georgeschen Versen vernehmbar. Sie sind wie vom dumpfen Vibrieren eines entgrenzten Kontinuums durchzogen. Jenes ist der tragende, aber unsagbare Resonanzgrund, der die einzelnen Worte gleichsam aufstellt und, indem er sie zum Stehen bringt, immer auch über sie hinausschwingt. Die markanten Randungen der individuellen Formen sind weder substantielle Entitäten noch Selbstzweck, sondern primär dazu da, diese Dynamik erfahrbar zu machen. In jedem der hart gefügten Verse Georges spürt man sie, gegen dessen Grenzen stoßend, nachzittern. Diese eminente Differenzerfahrung manifestiert sich auf der visuellen Ebene nicht minder elementar als auf der akustischen. So wie das Hersagen den Sprachfluss im Zeichen einer gesteigerten Materialität des Wortes unterbricht und überbietet, um einen ganz eigenen Sprachrausch zu evozieren, so unterbricht die spezielle Schriftart Georges als optischer Garant dieser auf Irritation gestellten Kunst den linearen Vorgang des Lesens, um die Simultaneität des Wortraums zu stiften. Dabei wird zugleich die unhinterfragte Einheit von Schriftlichkeit und Stimmlichkeit ausgesetzt und neu entworfen. 50 Individualität, so bekommt der Leser damit nicht zuletzt auch zu hören und zu sehen, realisiert sich abseits einer nur subjektiven Innerlichkeit in der Intensität der Durchdringung der Texturen, in denen sie Gestalt gewinnt. Dass George die leitende Kunstform in der Skulptur und nicht in der Musik erblickte, passt zum Wesen eines Dichtens, dem Form als Einkerbung in eine sich gleichzeitig öffnende wie verbergende Substanz von unausschachtbarer Tiefe gilt. Man täusche sich indes nicht über den unwiderstehlichen Sog der Beschleunigung, den dieser dionysische Sprachgestus entfesselt, wenn die kristallin-apollinischen Formen sich in ihrer Reihung (vorzugsweise von Substantiven) so hoch auftürmen, dass diese überspröde Panzerung zu reißen beginnt. „Ästhetischer Fundamentalismus“ ist dieses Trachten nach dem Resonanzgrund, das ja gerade auf den Riss durch die Vermittlungsstätte der Identität abhebt, seiner poetischen Natur nach nicht. 51 Allerdings bringt die kontinuierliche Zurücknahme der Mittel reflexiver Brechung seit dem Teppich des Lebens die georgesche Lyrik schließlich durchaus an die Grenze dessen, was nach westeuropäischen Maßstäben als modern zu gelten hat. Schwer wiegt in dieser Hinsicht auch der unübersehbare Effekt der De-intensivierung, der aus der generellen Ausweitung der Formen im Neuen Reich resultiert - von der Versgebung bis hin zur Gesamtlänge der Gedichte. 52 Damit droht die Gleichzeitigkeit von Form und Resonanzgrund, zugunsten eines ästhetisch wesentlich weniger radikalen Modells zweier stärker von einander geschiedenen Ebenen abzusinken, in dem die Spannung aufgelöst und eine hypostasierte Tiefe gegen die Oberfläche ausspielbar wird. Auch auf künstlerischem Terrain deutet sich also an, dass die Zurückweisung des Fundamentalismus-Verdikts nicht das letzte Wort zu einer Erscheinung wie Stefan George und seinem Absolutheitsanspruch sein kann. Dieser Dichter wird sich ab der Wende zum 20. Jahrhundert immer mehr im Duktus der äußersten 87 Dossier abendländischen Identitätsprätention als Einheit von „Zeichen“ und „Sinn“ beschreiben und noch die ultimative „Entrückung“ als sagbaren Zustand ausgeben. 53 Man könnte nun zwar in rein ästhetischer Hinsicht immer noch vorbringen, dass diese apollinischen Oberflächenformationen durch die Spezifik der georgeschen Lyrik - trotz der zurückgenommenen Modernität des Spätwerks - weiterhin in ihrer Kontingenz gegenüber dem dionysischen Grund markiert und damit relativiert sind; so wie sich auch die „poetische[n] Rollenspiele“ und die Mimung von Sprechinstanzen in Das Neue Reich in ihrer verwirrenden Vielfalt selbst zu entwerten beginnen. 54 Dennoch setzt hiermit unübersehbar das ein, was als Georges dichterische Identitätspolitik gelten muss. 55 Diese erhebt er wider besseres poetisches Wissen um die Differenz zu seiner Doxa und der seines Kreises und verwischt, seinen Anspruch ins Außerdichterische tragend, ganz bewusst die Grenze zwischen Kunst und Leben. Verwischt wird damit ebenfalls, dass die ‚Wahrheiten’ Georges ihre Substanz nur in der Performanz des dichterischen Wortes haben. 56 Dann aber verblasst die ästhetische Relativierung der Herrengebärde aus dem Geiste der Kunst - kalkulierterweise - bis zur Unkenntlichkeit und erscheint als der reine Wille zur Herrschaft. Hier beginnt die politische Unlauterkeit der Person Stefan Georges. Die bewusst eingesetzte „Auffüllungsbedürftigkeit“ 57 seiner immer mehr ins Spruchhafte sich wandelnden Lyrik nutzt dieser ultimative Zyniker, um alles und nichts zu sagen, aber so, dass die Richtung des unausweichlichen Missverständnisses präjudizierbar bleibt. Diese Haltung erklärt sich nur aus Georges fundamental polemischem Verhältnis zur Emergenz des Sozialen. Das Zeitalter der Gesellschaft will George handstreichartig aushebeln im Vertrauen darauf, dass sein Entwurf des Dichterischen einen Raum abseits des Nur-Sozialen freilegen kann; einen Raum, der als solcher sagbar und in Identität bewohnbar, gar zum ‚Staate’ ausgestaltbar sein soll. Somit ist klar, wo George sich dezidiert vom mallarméschen Vorbild absetzt. Anschlussfähig ist für ihn nur der hieratische Meister, der über die Menge erhaben im wahren Reich des Geistes waltet. Aber dieses Bild ließ Mallarmé, welcher an die Hérésies artistiques in keinem Rahmen mehr angeknüpft hat 58 und dessen höchste Tugend die leise verwundene Härte war, immer weiter hinter sich. 59 Während ihm die Kunst als Spiegel der Unmöglichkeit eines Lebens in Identität und damit des Lebens schlechthin galt, machte sich George daran, das Leben entlang der Kunst im Zeichen von Herrschaft und Dienst’ umzuformen. Den Weg in die Zerstreuung, zur „démontage impie de la fiction“, wie es in La Musique et les Lettres heißt, 60 ist George bezeichnenderweise nicht mitgegangen. Die Kritik des Mythos aus dem Geiste der Ironie, die Bejahung des uncharismatischen journalistischen Formats, die subversive Freude an der Ephemerität der Mode 61 - mit dieser Seite des französischen Meisters wollte George nichts anzufangen wissen. Und niemals wäre er - bei aller Liebe für poetische Rollenspiele - auf den Gedanken gekommen, hinter sein Werk einen derart ironischen Schlusspunkt zu setzen wie Mallarmé, wenn dieser am Ende der Poésies den Leser als 88 Dossier geradezu satirische Gegenfigur zum auratischen „Maître“ der Plusieurs Sonnets auftauchen und ihn mit dem Schließen seiner Bücher das dunkle Treiben der Poésies für ebenso abgründig ernst wie lächerlich erklären lässt. 62 Dieser finale Gestus Mallarmés ist symptomatisch. Im Zeitalter der Gesellschaft, in dem die im Anonymen entstandenen Sinnproduktionskapazitäten der Kommunikation alle konkurrierenden Quellen des Sagens überbieten, in dem sich ironischerweise als ‚Subjekt’ der Poiesis das Rauschen der entgrenzten sozialen Kommunikation dort draußen enthüllt - kurz: „à une époque qui survit à la beauté“, 63 hat für eine Ästhetik der Versammlung, die im Zeichen der Identität auftreten will, die Stunde geschlagen. 1 So Mallarmé im sogenannten autobiographischen Brief an Verlaine vom 16.11.1885, in: Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes [OC], 2 Bde., hg. v. Bertrand Marchal, Paris, Gallimard, Bibliothèque de la Pléiade, 1998/ 2003, Bd. 1, 786-790, 788. 2 Nicht minder markant auch Mallarmés Äußerung gegenüber Léo d’Orfer: „La Poésie est l'expression, par le langage humain ramené à son rythme essentiel, du sens mystérieux des aspects de l'existence: elle doue ainsi d'authenticité notre séjour et constitue la seule tâche spirituelle“, Brief vom 27.6.1884, OC I, 782. 3 Mallarmé: OC II, 53-77, 76. 4 Zwar entspricht Mallarmé im zitierten Brief an Verlaine dessen Bitte, ihm einige biographische Auskünfte und unveröffentlichtes Material für den von ihm geplanten Artikel über den Poeten in Les Hommes d’Aujourd’hui zukommen zu lassen. Mallarmés lange Antwort mit ihren grundsätzlichen Gedanken zum Wesen des Dichterischen ist jedoch nicht mit Blick auf eine potentiell öffentliche Position geschrieben, sondern erscheint vielmehr wie eine persönliche Aussprache unter Dichtern im Stile von „une de ces bonnes conversations d’amis à l’écart et sans éclat de voix“, Mallarmé: OC I, 790. Unvermeidlich an ein breiteres Publikum adressiert war die erwähnte Stellungnahme gegenüber Léo d’Orfer, der sie in der von ihm gegründeten Zeitschrift La Vogue veröffentlichte (n° 3/ 1886). Allerdings, und das ist entscheidend, steht Mallarmés Ausspruch, bedingt durch die allzu zudringliche Frage des Herausgebers nach einer direkten ‚Definition’ der Poesie, unter ebenso polemischen wie ironischen Vorzeichen. 5 Dieses Begriffspaar erinnert unwillkürlich an Walter Benjamins Rede von „Zerstreuung und Sammlung“ im Kunstwerksaufsatz (cf. id.: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. I/ 2, 3. Aufl., Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1990, 471-508, 504), und, wie im folgenden gezeigt werden wird, es ergeben sich zumindest im Hinblick auf die genuin mallarmésche und von dort her entwickelte Kategorie der Zerstreuung („éparpillement“) durchaus bestimmte Konvergenzen. Das Konzept der Versammlung hingegen - die benjaminsche „Sammlung“ ist bewusst nur der polemische Gegenbegriff zur Zerstreuung - wird im Anschluss an Heidegger zu gebrauchen sein. 6 Zu dem im folgenden entfalteten Problemzusammenhang cf. in theoretischer Perspektive die grundlegenden Ausführungen von Jean Clam zur Frage nach „einem Außen der Sozialität“, in: id.: Was heißt, sich an Differenz statt an Identität orientieren? Zur De-ontologisierung in Philosophie und Sozialwissenschaft, Konstanz, UVK, 2002, 93sqq. und die Einleitung von Johannes Weiß, in: id. (ed.): Die Jemeinigkeit des Mitseins. Die Daseinsanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziologischen Vernunft, Konstanz, UVK, 89 Dossier 2001, 11-56. Eröffnet wird die Problematik freilich durch Niklas Luhmanns Konzeption von Gesellschaft als „umfassendem Sozialsystem“ im Sinne eines operativ geschlossenen, autopoietischen Kommunikationszusammenhangs. Cf. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde., Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1998, insb. 78sqq. und 743sqq. 7 Wie souverän George die Register dieser Kritik aus konservativer Warte anzuzitieren weiß - sein Werk schöpft aus solchen Topoi, erschöpft sich aber eben nicht darin - darf man in einen so einfachen Vers wie jenen aus „Die Tote Stadt“ im Siebenten Ring: „Endlosen strassen drin mit gleicher gier/ Die menge tages feilscht und abends tollt“ eingelassen sehen, durch den in gewissem Sinne die soziostrukturelle Determinierung der Masse aus dem Geiste des einen ‚kapitalistischen’ Produktionsprozesses erfasst ist. Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden [SW], hg. von der Stefan-George-Stiftung, bearbeitet von Georg Peter Landmann und Ute Oelmann, Stuttgart, Klett-Cotta, 1982sqq., hier SW VI/ VII, 30sq. 8 Als „verborgene Figur“ sieht Walter Benjamin dem Schaffen Baudelaires die Formierung der Gesellschaft - in Gestalt der unruhig pulsierenden Großstadtmasse - implizit eingeschrieben. Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt/ M., Suhrkamp, 1974, 114. 9 So Max Weber in einem Diskussionsbeitrag zu Werner Sombarts Vortrag über „Technik und Kultur“ auf dem Soziologentag in Frankfurt 1910, in: Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, hg. v. Marianne Weber, 2. Aufl., Tübingen, Mohr Siebeck, 1988, 449-456, 453. Cf. dazu auch Thomas Karlauf: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma, 4. Aufl., München, Blessing, 2007, 211sq. 10 So Mallarmé im bereits zitierten Brief an Verlaine: OC I, 789. 11 Max Weber: „Wissenschaft als Beruf“, in: id.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, 7. Aufl., Tübingen, Mohr Siebeck, 1988, 582-613, 604. Diesen Kampf sieht Weber auf dem Boden der Kunst ausdrücklich bei Baudelaire und Nietzsche ausgetragen. 12 Benjamin: Charles Baudelaire, op. cit., 149. 13 Cf. dazu auch Armin Schäfer: Die Intensität der Form. Stefan Georges Lyrik, Köln, Weimar, Wien, Böhlau, 2005, 33-35, 280sqq. 14 Benjamin: Charles Baudelaire, op. cit., 26. 15 Cf. Christophe Charle: La crise littéraire à l’époque du naturalisme. Roman, théâtre et politique, Paris, Presses de l'Ecole normale supérieure, 1979 und Pierre Bourdieu: Les règles de l’art. Genèse et structure du champ littéraire, 2. verb. Aufl., Paris, Seuil, 1998, insb. 192sqq., 439sqq.; ferner Joseph Jurt: „Les mécanismes de constitution de groupes littéraires: l’exemple du symbolisme“, in: Neophilologus, 70, 1986, 20-33. 16 Cf. dazu sowie zur Ablehnung des Faune von der dritten Lieferung des Parnasse contemporain 1875: Jean-Luc Steinmetz: Stéphane Mallarmé. L’absolu au jour le jour, 2. Aufl., Paris, Fayard, 1998, 168sqq., 220sqq. 17 Zur „Publikationspolitik“ Georges cf. das Nachwort von Ernst Osterkamp in der von ihm besorgten Ausgabe von Stefan George: Gedichte, Frankfurt/ M., Leipzig, Insel, 2005, 225- 258, 231sq., 248-250. 18 Mallarmé, in: Jules Huret: Enquête sur l’évolution littéraire, hg. v. Daniel Grojnowski, Paris, Corti, 1999, 100-107, 104. Dieser Ton ist zweifelsohne auch dem Umstand geschuldet, dass Mallarmé ebenfalls auf die prekäre Situation der jungen, sich um ihn gruppierenden Symbolisten aufmerksam machen will. 19 Ibid. 90 Dossier 20 Bei der Umfrage, einem der zeitgenössisch ersten Beispiele für diese neue, sich bald größter Beliebtheit erfreuende journalistische Reportagepraxis, handelt es sich um eine Serie von Interviews, die Jules Huret mit insgesamt 64 Schriftstellern und Kritikern führte und die vom 3. März bis 5. Juli 1891 als geschickt aufgemachte Fortsetzungsreihe im Echo de Paris erschienen. Im Spiegel ihrer zeichnet sich trotz des sozusagen kulturindustriellen Formats und seiner Kontingenzen ab, wie sehr sich die Beantwortung der Frage: Was ist Kunst? in der Moderne von der auf verallgemeinerbare Begriffe abzielenden Theorieebene in Richtung der autologischen Nähe zur künstlerischen Praxis verschiebt. Bemerkenswert ist schon die Figur Hurets selbst, insofern dieser neue Journalistentypus die signifikant gestiegene Bedeutung der Vermittlungsinstanzen, die den Zugang zum literarischen Markt regeln, indiziert. Cf. dazu kritisch Daniel Grojnowski: „Préface: Jules Huret ou le temps des médiateurs“, in: Enquête sur l’évolution littéraire, op. cit., 7-38. 21 Was freilich nichts anderes heißt, als dass sie im strengen künstlerischen Sinne obsolet werden. 22 Ablesbar wird dies nicht zuletzt auch an der Enquête sur l’évolution littéraire, in der selbst Zola Mallarmé seine Reverenz erweist, ibid., 192. 23 Zum Motiv des „blanc“ bei Mallarmé und der Verbindung zur Duplizität des Apollinisch- Dionysischen bei Nietzsche cf. auch den Versuch des Verfassers: „Paradoxologisches Sprechen als Triumph der Sprache. Mallarmés Lyrik des ‚blanc‘“, in: Emmanuel Alloa, Alice Lagaay (eds.): Nicht(s) sagen - Strategien der Sprachabwendung im 20. Jahrhundert, Bielefeld, Transcript, 2008, 171-185. Die Gedankenfigur des Rauschens der Kommunikation, auf die weiter unten noch zurückzukommen sein wird, wird von Jean Clam entfaltet: „Was ist ein psychisches System? Zum Vollzug von Bewusstsein zwischen rauschender Kommunikation und geminierter Individualität“, in: Soziale Systeme, 12, 2006, 345-369, insb. 357sqq. 24 Cf. dazu Damian Catani: The poet in society. Art, consumerism and politics in Mallarmé, New York e. a., Peter Lang, 2003, 131sq., 175sqq. Catanis Studie, ein frühes Beispiel für den mittlerweile stark ausgeprägten Forschungsstrang einer soziologischen Mallarmé- Lektüre, führt - auch wenn sie bisweilen zu sehr nur soziale Korrelate in dessen Texten nachzeichnet - dennoch eindringlich vor Augen, wie intensiv diese analytische Dimension im Werk Mallarmés ausgebildet ist und an welch unerwartet plastischen, ja tagespolitisch brisanten Themen sie sich in seinen journalistischen Essays entzündet. Dem Ansatz Bourdieus folgend, für den Mallarmé in Les règles de l’art noch nicht diskutabel ist (cf. ibid.: 450-455), nähert sich auch Pascal Durand der soziologischen Seite Mallarmés an: Mallarmé. Du sens des formes au sens des formalités, Paris, Seuil, 2008. Die Exklusivität eines Ansatzes, kraft dessen der Autor meint, Deutungen des mallarméschen Œuvre, die über den "sens des formalités" des Dichters hinausgehen, verabschieden zu können (cf. insb. ibid.: 11sq. mit der auftrumpfenden Wendung gegen Hugo Friedrich), ist jedoch mindestens ebenso fragwürdig wie die Methodik der von Durand ob ihres Formalismus kritisierten rein literaturwissenschaftlichen oder philosophischen Studien. 25 Zur „Enthumanisierung“ in der mallarméschen Lyrik cf. in poetologischer Perspektive schon Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von Baudelaire bis zur Gegenwart, 2. durchges. Aufl., Reinbek bei Hamburg, Rowohlt, 1958, 83. 26 Zu Theorie und Ästhetik der Störung cf. Markus Rautzenberg: Die Gegenwendigkeit der Störung. Aspekte einer postmetaphysischen Präsenztheorie, Zürich, Berlin, Diaphanes, 2009 und Fabian Goppelsröder: Zwischen Sagen und Zeigen. Wittgensteins Weg von der literarischen zur dichtenden Philosophie, Bielefeld, Transcript, 2007, insb. 44sqq., 81sqq. 91 Dossier 27 Die sprachliche Transgressionsstätte des „entre“, die freilich alles andere als einen stabilisierbaren Gleichgewichtszustand darstellt, hat Jacques Derrida zum Ausgangspunkt seiner Mallarmé-Interpretation gemacht. Die Frage nach den präsenztheoretischen Implikationen dieser Sphäre, um die es im folgenden gehen soll, kann sich vor dem Hintergrund von Derridas philosophischen Prämissen allerdings nicht mehr stellen. Cf. Jacques Derrida: La dissémination, Paris, Seuil, 1972, insb. 270sqq. 28 Zur komplexen Verwerfungsgeschichte dieses den Dichter zeitlebens verfolgenden Projekts cf. Eric Benoit: Mallarmé et le mystère du „Livre“, Paris, Champion, 1998. 29 So Mallarmé in der ironischen Einleitungsnotiz zu Divagations, in: OC II, 82 (Hervorhebung durch den Autor M.U). Die Rede von der Zerstreuung knüpft also an eine genuin mallarmésche Motivik („épars/ éparpillement“, „disséminer“, „dispersion“) an, cf. dazu auch die zentralen poetologischen Schriften „Crise de vers“, in: ibid.: 204-213, 210, 212 und „Le Mystère dans les lettres“, in: ibid.: 229-234, 234 sowie die „Préface“ zu Un coup de dés jamais n’abolira le hasard, in: OC I, 391sq. 30 Vom „choc sémantique“ spricht Paul Ricœur: La métaphore vive, Paris, Seuil, 1975, 376. 31 Benjamin: Charles Baudelaire, wie oben Anm. 12. 32 So ließe sich ungefähr die erste Strophe von Une dentelle s’abolit paraphrasierend wiedergeben. Das Sonett lautet: „Une dentelle s’abolit/ Dans le doute du Jeu suprême/ À n’entr’ouvrir comme un blasphème/ Qu’absence éternelle de lit./ / Cet unanime blanc conflit/ D’une guirlande avec la même,/ Enfui contre la vitre blême/ Flotte plus qu’il n’ensevelit./ / Mais, chez qui du rêve se dore/ Tristement dort une mandore/ Au creux néant musicien/ / Telle que vers quelque fenêtre/ Selon nul ventre que le sien,/ Filial on aurait pu naître.“, in: OC I, 42f. 33 Der Begriff des Resonanzgrunds („fond de résonance“) wird von Jean Clam und dessen philosophischer Grundlegung der Sprache in einer Theorie der Artikulation übernommen. Jean Clam: Sciences du sens. Perspectives théoriques, Straßburg, PUS, 2006, 196sqq., 319sqq. 34 Für eine detaillierte Deutung des Sonetts unter diesen Prämissen cf. Urmann: „Paradoxologisches Sprechen“, op. cit., 177-179. 35 Cf. Karlauf: Stefan George, op. cit., 78sqq. und Steinmetz: Stéphane Mallarmé, op. cit., 328, 421, 459. Während seines ersten Parisaufenthalts erhielt George Ende 1889 über den Lyriker Albert Saint-Paul Zugang zu den berüchtigten Mardi-Soireen bei Mallarmé, wo er die persönliche Bekanntschaft des Meisters machte, mit dem er bis zu dessen Tod im Jahre 1898 in (Brief-)Kontakt bleiben sollte. Er übertrug und veröffentlichte mehrere Gedichte Mallarmés in den Blättern für die Kunst und sandte diesem seine eigenen Werke von den Hymnen bis zum Jahr der Seele, aus denen sich der des Deutschen unkundige Mallarmé von seiner Gattin Maria Gerhardt übersetzen ließ. Auch der französische Dichter äußerte mehrfach seine Wertschätzung für George, so wenn er diesen in seinem ersten Brief als „mon cher exilé“ anredet oder in der „Enquête sur les relations intellectuelles et sociales entre la France et l’Allemagne“ (Mercure de France, 1895) Georges Baudelaireübersetzungen lobt, Mallarmé, OC II, 661. 36 Bezeichnend hierfür der Ablauf der Soireen im Hause (beziehungsweise der bescheidenen Wohnung) Mallarmés in der Rue de Rome, die, wenn auch auf den leisen Auftritt des Gastgebers zugeschnitten und in gewissem Maße inszeniert, von der Spontaneität des Austauschs geprägt und dem Geist der Konversation und der freien Improvisation verpflichtet waren - was auch bedeuten konnte, dass die Szene zuweilen von redseligen Persönlichkeiten wie Gauguin oder Oscar Wilde vereinnahmt wurde, durchaus nicht zum Verdruss Mallarmés. Cf. Steinmetz: Stéphane Mallarmé, op. cit., 328sq. sowie Patrick 92 Dossier Besnier: „La séance du mardi soir“, in: Magazine littéraire, 368, 1998 (=Mallarmé. La naissance de la modernité), 40-43 und id.: Mallarmé, le théâtre de la rue de Rome, Paris, Limon, 1998. 37 Cf. Osterkamp: „Nachwort“, op. cit., 235sq. 38 Cf. Steinmetz: Stéphane Mallarmé, op. cit., 179. 39 Durch die georgesche Lyrik wird so noch das mobilisiert, was Armin Schäfer die „Protosemantik der Phoneme“ nennt, Die Intensität der Form, op. cit., 69. Von „Aufbrechung und Zusammenballung“ sprach George bekanntlich in Bezug auf die für sein Spätwerk richtungweisende Ästhetik Hölderlins, zitiert nach: ibid., 159. 40 „Die Sprache erörtern heißt, nicht so sehr sie, sondern uns an den Ort ihres Wesens bringen: Versammlung in das Ereignis“, Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache, 14. Aufl., Stuttgart, Klett-Cotta, 2007, 12. Zu diesem Schlüsselbegriff der heideggerschen Spätphilosophie und seiner Operationalisierung für die Ästhetik cf. den brillanten Aufsatz von Fabian Goppelsröder: „Irritation als Methode? Von störendem und versammelndem Philosophieren“, in: Markus Rautzenberg, Andreas Wolfsteiner (eds.): Hide and Seek. Das Spiel von Transparenz und Opazität, München, Fink, 2010, 97-107, 103sqq. 41 Ernst Osterkamp: Poesie der leeren Mitte. Stefan Georges Neues Reich, München, Hanser, 2010, 122. 42 Hans-Georg Gadamer: „Der Dichter Stefan George“, in: Gesammelte Werke, Bd. 9, Ästhetik und Poetik II. Hermeneutik im Vollzug, Tübingen, Mohr Siebeck, 1993, 211-228, 222. Cf. auch id.: „Hölderlin und George“, in: ibid., 229-244. 43 Cf. auch Gadamer: „Der Dichter Stefan George“, op. cit., 221. 44 SW II, 61. 45 SW III, 83. 46 So in „Friedensabend“ ebenfalls im Buch der hängenden Gärten, SW III, 81. 47 Auf diese Dimension der georgeschen Lyrik hat vor allem Wolfgang Braungart hingewiesen: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur, Tübingen, Niemeyer, 1997, insb. 173sqq. 48 SW III, 76, 97. 49 Cf. dazu im Anschluss an den von Robert Boehringer verbreiteten Ausdruck: Gadamer: „Der Dichter Stefan George“, op. cit., 220. 50 Es kann kein Zweifel bestehen, dass es sich beim Hersagen um eine durch das Medium der Schrift neu entdeckte Oralität handelt. Zugleich spielt George mit Blick auf die interpretatorische Offenheit seiner Lyrik im mündlichen Vortrag, welcher in der konkreten Performanz der Stimme eine der Möglichkeiten des ob der Schrift in seiner ganzen Sinnfülle niedergelegten Textes auswählen und damit die jeweilige Bedeutung des Gedichts konstituieren muss, bewusst mit der Differenz zwischen diesen beiden Erscheinungsformen der Sprache. Cf. Schäfer: Die Intensität der Form, op. cit., insb. 132-135 und 142-144. Zur George-Schrift cf. ibid., 98sqq. 51 Cf. Stefan Breuer: Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995. 52 Cf. Osterkamp: Poesie der leeren Mitte, op. cit., 75. 53 So in: „Ich bin der Eine und bin Beide“ in Der Stern des Bundes, SW VIII, 27 beziehungsweise in „Entrückung“ aus dem Siebenten Ring, SW VI/ VII, 111. Cf. auch Schäfer: Die Intensität der Form, op. cit., 202-204. Letzteres Gedicht muss in dem genuin an Novalis erinnernden musikalischen Entgrenzungsszenario, wobei Bogenführung und inhaltliche Botschaft der dezentrierenden Konstellation bei Novalis jedoch extrem zuwiderlaufen, wie die identitäre Umdeutung und Verkehrung der Frühromantik durch George erscheinen. 93 Dossier 54 Osterkamp: Poesie der leeren Mitte, op. cit., 27sqq. 55 Stellvertretend für den breiten Forschungsstrang zur „Politik der Form“ bei George cf. Schäfer: Die Intensität der Form, op. cit., 233sqq. 56 Zur vollzugsbestimmten Geltungskraft des Wortes bei George cf. auch Wolfgang Braungart: „‚Was ich noch sinne und was ich noch füge / Was ich noch liebe trägt die gleichen züge‘. Stefan Georges performative Poetik“, in: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur, 168, 2005, 3-18, 14. 57 Gadamer: „Der Dichter Stefan George“, op. cit., 225. 58 Auch propagiert Mallarmé in dieser frühen Schrift aus dem Jahre 1862 weniger die Verachtung der breiten Masse, als er für eine Trennung der Sphären von Kunst, Politik und öffentlicher Moral plädiert, OC II, 360-364. 59 Dies verkennt Ludwig Lehnen, der in seinem methodisch fragwürdigen Aufsatz: „Politik der Dichtung: George und Mallarmé. Vorschläge für eine Neubewertung ihres Verhältnisses“, in: George-Jahrbuch, 4, 2002/ 2003, 1-35, eine im schlechtesten Sinne wörtliche Lektüre zur Repolitisierung Mallarmés, der fast ausschließlich mit seinen theoretischen Schriften (und im Zuge der Argumentation immer mehr auf deutsch(! )) zu Worte kommt, bemüht, um so an allen Stellen Konvergenzen mit George zu konstatieren. Die mallarmésche „Cité“ aus La Musique et les lettres gar zum georgeschen „Staat“ einzuebnen, ist ästhetisch wie ideengeschichtlich schlicht inkorrekt. 60 Mallarmé: OC II, 67. 61 Cf. Michel Draguet: „D’écume et de silence“, in: id. (ed.): Stéphane Mallarmé, Ecrits sur l’art, Paris, Flammarion, 1998, 7sqq. 62 Mallarmé: „Mes bouquins refermés“, in: OC I, 44sq. 63 Mallarmé: „Le phénomène futur“, OC II, 83sq., 84. Résumé: Martin Urmann, Eparpillement et concentration chez Mallarmé et George - Deux conceptions du poétique à l’époque de la société présente les œuvres de Stéphane Mallarmé et de Stefan George comme profondément marquées par ce qu’on pourrait appeler, dans un sens luhmannien, „l’émergence de la société“. Celle-ci aboutit chez les deux poètes à une esthétique de l’irritation. Alors que Mallarmé, dans ses poèmes, met en œuvre l’irritation comme un mouvement fondamentalement paradoxal de „dérangement“ et d’„éparpillement“, George l’interprète de manière exactement contraire en se dévouant à un art poétique de la „concentration“ irritante. Face à une communication sociale en voie de devenir englobante, l’esthétique georgienne touche, dans ses prétentions d’identité, à ses limites.