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0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/31
2013
38149
Storytelling. Zu Kritik und Kulturtheorie des Erzählens
31
2013
Charlotte Krauss
Urs Urban
ldm381490006
6 Dossier Charlotte Krauss und Urs Urban Storytelling Zu Kritik und Kulturtheorie des Erzählens Erzählen - so wird seit geraumer Zeit vermutet - strukturiert die Wahrnehmung von und den tätigen Umgang mit der Welt. Sollte diese Vermutung stimmen, so verspricht die Analyse des Erzählens uns etwas über Strategien theoretischer und praktischer Weltbegegnung zu verraten. Als Literatur- und Kulturwissenschaftler die kulturelle Logik ihrer Gegenwart noch in den Begriffen von Moderne und Postmoderne auszubuchstabieren versuchten, 1 da schien die Erzählung sowohl Medium der Sinndeutung als zugleich auch ein probates Kriterium für die Konstruktion einer Philosophie der Geschichte zu sein: Die Moderne, das galt der Kulturkritik spätestens seit Hegel als ausgemacht, manifestierte sich nicht zuletzt in einer Krise des Erzählens, die sichtbar wurde im Übergang vom Epos zum Roman; während ersteres erzählerisch wie gesellschaftlich Einheit und Kontinuität verbürgte, vermochte letzterer die Komplexität der Gegenwart und die aus dieser resultierende Kontingenzerfahrung des Subjekts nur mehr mit Mühe erzählerisch zu bewältigen und machte zunehmend gerade die Problematizität des Erzählens zu seinem eigentlichen Thema. Diese Krise schien sich jedoch aufheben zu lassen in systematisch verfassten Metanarrativen - den so genannten großen Erzählungen -, die ihrerseits erst gegen Ende der 1970er Jahre in Misskredit gerieten, weil ihnen spätestens zu diesem Zeitpunkt mit der Illusion einer Einheit ihres Gegenstands auch die Mittel zu seiner sprachlich-konzeptuellen Bewältigung abhanden gekommen waren. Solche geschichtsphilosophisch inspirierten Gemeinplätze beschreiben nur unzulänglich die Besonderheiten bestimmter, etwa literarischer, Texte, sind jedoch aufschlussreich, begreift man sie als Indikatoren einer ‚politischen Poetik‘ (Heiko Christians), die gesellschaftliche Verwerfungen durch die Verdrängung in ideale Gattungskonventionen neutralisieren zu können glaubt: Auf diese Weise kann man zeigen, dass die Behauptung, das Epos sei eine formal bestimmbare Gattung mit integrativer Funktion, weder literaturnoch sozialgeschichtlich haltbar ist, sich aber deuten lässt als Wunsch nach größerem gesellschaftlichen Zusammenhalt (cf. Krauss/ Urban 2013). Was indes bislang weniger bemerkt wurde, ist die Tatsache, dass das Ende der großen Erzählungen nicht nur, und zwar zeitgleich, begleitet wurde von einer Rückkehr zum literarischen Erzählen, 2 sondern dass der Verlust sozialer Kohäsion (der ja in eben diesem Kollaps der Metanarrative zum Ausdruck kommt) bei vielen offenbar zu einem dringenden Bedürfnis nach ‚erzählerischer Resozialisierung‘, nach einer Kompensation der Kontingenzerfahrung durch die Erzählung also geführt hat (cf. Urban 2009) - und zwar in Bereichen, in denen diese bislang, wenn überhaupt, bestenfalls mit Argwohn zur Kenntnis genommen wurden, nämlich in Wirtschaft und Politik (McCloskey 1990). Im Jahre 2007 veröffentlichte 7 DDossier der französische Soziologe Christian Salmon ein Buch über den gezielten Einsatz von Erzählstrategien außerhalb des literarischen Feldes, in dem er dieses Dispositiv - Salmon spricht mit einem viele Franzosen ohnehin Unheil erwarten lassenden englischen Wort von Storytelling 3 - als eine „machine à fabriquer des histoires et à formater les esprits“ kritisierte; seine eingängige These (die in Frankreich schnell große Verbreitung fand) lautete, dass diese Erzählungen ausschließlich zur Manipulation der Arbeiter, Konsumenten und Wähler dienten, und dass die politische Aufgabe einer kritischen Erzähltheorie mithin darin bestehen müsse, diesen ‚Verblendungszusammenhang‘ (Adorno) sichtbar und das getäuschte Subjekt diesseits der Erzählung handlungsfähig zu machen. 4 Was Salmon hier auf in vieler Hinsicht etwas saloppe Weise vorträgt, ist etwas anderes und dabei zugleich weniger und mehr als das Programm einer ‚postklassischen‘ Narratologie, die auf die Ubiquität des Erzählens mit einer transgenerisch, intermedial und interdisziplinär orientierten Neuperspektivierung reagiert (so Nünning/ Nünning 2002; cf. aber auch Stromaier 2013): weniger, weil Salmon sich mit der formalen Bestimmung des Erzählens 5 (genau wie mit einer Analyse der Mechanismen der Macht) nicht lange aufhält, mehr, weil er mit größerem Nachdruck als die Narratologie, die sich gerne mit dem allgemeinen (und letztlich schwer zu belegenden) Hinweis auf ein anthropologisch induziertes Erzählbedürfnis des homo narrans (Koschorke) begnügt, 6 nach der Funktion des Erzählens fragt und so einer kulturanalytisch informierten Erzähltheorie doch zumindest den Weg ebnet. 7 Geht man diesen Weg weiter als Salmon selbst es tut, so führt er zu einer Kulturtheorie des Erzählens, die die (klassische) Narratologie in entscheidender Hinsicht transzendiert. Die narratologische Analyse setzt die Unterscheidung und die Unterscheidbarkeit von Fiktion und Wirklichkeit voraus. Dabei erweist sich eben diese Unterscheidung, mit der die Literaturwissenschaft sich so lange beschäftigt hat und in der ein oder anderen Weise immer noch beschäftigt, 8 als unbrauchbar oder doch zumindest als problematisch - wenn man, mit oder ohne Derrida, davon ausgeht, dass es „kein Außerhalb des Textes“ gibt. Wenngleich wohl niemand das Vorhandensein des Faktischen außerhalb des Textes bestreiten wird, so wird dieses doch erst begreifbar und also bedeutend in seiner Vermittlung durch Sprache oder andere medientechnische Dispositive: Dass da (ontologisch) etwas ist, scheint zumindest plausibel, was es ist und was es also (für mich) bedeutet erschließt sich nur mittelbar und also im (sprachlichen) Medium (zur „Einsicht in die sprachliche Verfasstheit des menschlichen Weltbezugs“ cf. auch Koschorke 2012: 10). 9 Nun sind die Modalitäten dieser Vermittlung nicht zwangsläufig narrativ - allerdings scheint die erzählerische Vermittlung von Faktizität in besonderer Weise effektiv zu sein. Die Literatur der Moderne - wenn man ein solches Konzept heuristisch einmal als gegeben annimmt - verweigert sich dieser Effizienz, indem sie Vermittelbarkeit problematisiert oder neutralisiert und auf diese Weise das Ästhetische in den Dienst einer Logik der Unverwertbarkeit stellt (die, das wissen wir spätestens seit Bourdieu, gerade aufgrund ihres ästhetischen Wertes letztlich in besonders gewinnbringender Weise auch ökonomisch verwertbar ist). Außerhalb der Literatur sind indes die me- 8 DDossier dialen Programme der Wirklichkeitskonstitution auf Effizienz dringend angewiesen, weil sie andernfalls schlicht nicht wahrgenommen werden - denn im ‚mentalen Kapitalismus‘ ist Aufmerksamkeit eine äußerst knappe Ressource (Franck 2005). Will man dies mit bedenken, dann verschiebt sich die analytische Aufmerksamkeit vom Kriterium der Wahrheit (fiktional / real oder möglich / wirklich) zu dem der Effizienz (funktional / dysfunktional). Die Kulturtheorie des Erzählens, so wie Salmon sie anregt, fragt denn auch weniger nach (Inhalten und) Formen des Erzählens (und muss sich daher von der Narratologie den Vorwurf gefallen lassen, mit einem naiven, intuitiven oder doch zumindest wenig komplexen Erzählbegriff zu operieren), als nach seiner Funktion - und zwar vor allem außerhalb der Literatur. Denn gerade dort erweisen Erzählungen sich offenbar als besonders effizient, und gerade dort kann mithin auch die für die Analyse von Form und Funktion des Erzählens genuin zuständige Literaturwissenschaft, „der indessen ihr unverhofftes Glück, über einen so spannenden Begriff zu verfügen, erst allmählich gedämmert ist“ (Koschorke 2012: 19), etwas leisten (cf. auch Krauss/ Rentel/ Urban 2013). Dabei ist die Verwendung von Erzählungen außerhalb der Literatur eine kulturelle Praxis, die wesentlich älter ist, als es die theoretische Aufmerksamkeit, die dem Phänomen jetzt (erst) zuteil wird, vermuten ließe: Nicht nur wird vermutlich seit jeher in alltäglichen lebensweltlichen Zusammenhängen erzählt (cf. hierzu aus soziolinguistischer Perspektive schon Ehlich 1980 und, kulturanthropologisch, Gumbrecht 1980, sowie zuletzt Klein/ Martínez 2009), auch in vielen nicht-alltäglichen und mehr oder weniger stark institutionalisierten Zusammenhängen hat das Erzählen eine zentrale Funktion: „Wo immer sozial Bedeutsames verhandelt wird, ist das Erzählen im Spiel“ (Koschorke 2012: 19). Man denke diesbezüglich nur an die (erzählerische) Produktion subjektiver Identität (cf. Ricœur 1985 und Linde 1993) - etwa in Psychoanalyse oder Arzt-Patienten-Kommunikation -, an die (erzählerische) Vermittlung von (kognitivem und affektivem) Wissen im Kontext pädagogischer Kommunikation oder an die (erzählerische) Konstruktion von Täterprofil und Tathergang vor Gericht. Über die konkrete Kommunikationssituation hinaus, lässt indes gerade dies letzte Beispiel sich mit Fritz Breithaupt auch als Paradigma einer ganzen Erzähltheorie begreifen - „eine[r] Erzähltheorie, die sich aus der Form der Ausrede speist“ (Breithaupt 2012: 10). Denn, so Breithaupt: „Ausreden säen Zweifel, wo zuvor Gewissheit war, und liefern eine zweite Version, wo vorher alles klar schien. Eben hier [...] beginnt Narration: dort, wo es mehr als eine Version eines Sachverhaltes gibt“ (ibid.: 12). Indem aber mit der Ausrede „eine alternative Wirklichkeit [...], die neben der scheinbar einzigen Wirklichkeit der Anklage besteht“ (ibid.: 8), ins Spiel kommt, verschiebt sich die Aufmerksamkeit (auch hier) von der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Fiktion hin zu der unterschiedlichen Verfasstheit eben dieser Erzählungen, über deren Stellenwert und Gültigkeit es nun zu verhandeln gilt. Dieses erzählerische Verhandeln aber ist eine (vielleicht gar die) zentrale kulturelle Praxis - zumindest jener abendländischen Gesellschaften, die sich in der ein oder anderen Weise auf den um Adams Ausrede gegenüber Gott herum organisierten biblischen Gründungmythos berufen (ibid.: 7). Der erzählerische Kommunikationsraum aber, 9 DDossier der sich auf diese Weise öffnet, ist zugleich ein Handlungsspielraum, denn hier wird nicht nur über die Gültigkeit von sich auf vergangene Ereignisse beziehenden Erzählungen entschieden, sondern hier werden spielerisch zugleich Möglichkeiten künftigen Handelns erprobt - Yves Citton spricht in diesem Zusammenhang von ‚Szenarisierung‘ (Citton 2010: 65sq.). Dies performative Moment des Erzählens (cf. auch Bruner 1991) erschließt den aktiv und passiv am Erzählvorgang Beteiligten ein enormes emanzipatorisches Potential; darüber hinaus jedoch weist es die Erzählung als ein mediales Dispositiv aus, das kulturelle Praxis nicht allein dokumentiert, sondern eben selbst vollzieht: Erzählungen sind, ob auf die Zukunft bezogen oder retrospektiv, sprachliche Artikulationen von Veränderlichkeit. [...] Es genügt deshalb nicht, das Vorkommen narrativer Elemente auch in literaturfernen sozialen Bereichen nachzuweisen und in einer der bestehenden Terminologien durchzudeklinieren. Damit allein ist noch nichts erklärt. [...] Erzählen [...] interveniert in die Welt, die es scheinbar nur widerspiegelt, und lässt sie in einem kreativen Aneignungsprozess in gewisser Weise überhaupt erst entstehen. (Koschorke 2012: 22) Genau das aber ermöglicht und erfordert eine Verschiebung auch der theoretischen Perspektivierung des Erzählens: „Dass [...] Erzählen [...] in die gesellschaftliche Praxis hineinwirkt und selbst ein bestimmendes Element dieser Praxis ist, stiftet die Verbindung zwischen Erzähl- und Kulturtheorie. Das Erzählen ist Organon einer unablässigen kulturellen Selbsttransformation“ (ibid.: 25). Die Beiträge unseres Dossiers tragen aus unterschiedlicher Perspektive zu der hier skizzierten Diskussion bei. Gemeinsam ist ihnen die Bestimmung der Funktion von Erzählen, insbesondere für die Vermittlung zwischen Ästhetik und Lebenskunst. Für die Auseinandersetzung mit dem Phänomen Storytelling erweist sich zunächst die Frage nach der Existenz einer Grenze zwischen literarischem und alltäglichem Erzählen als grundlegend. Die Antworten sind jedoch unterschiedlich: So kommt für Françoise Lavocat der klaren Abgrenzung eine politische Funktion zu, die gerade die durch Salmons Publikation ausgelöste Diskussion in Frankreich aufzudecken vermochte. Der Beitrag definiert die Besonderheit literarischen Erzählens durch die Form sowie eine nuancierte Herangehensweise an den Stoff, das Geschehen und/ oder das Objekt. Die Existenz einer Grenze begründet die Fiktionstheorie und ihre spezifischen Analysekriterien, die der Mannigfaltigkeit fiktionaler Welten gerecht werden: Das ästhetische Lesevergnügen des Lesers wird gerade durch das Spiel mit unbegrenzten erzählerischen Möglichkeiten und Techniken begründet. Für Yves Citton hingegen ist die Existenz exakter Kriterien für literarisches, ‚gutes‛ Erzählen einerseits und alltägliches, ‚schlechtes‘ Erzählen andererseits nicht gegeben. Ihm zufolge ist der Auslöser ästhetischen Kunstgenusses nicht im Artefakt selbst angelegt, sondern auf Seiten des Rezipienten, der auf einen kulturellen Hintergrund und persönliche Erfahrungen zurückgreift. So steht die produktive Aneignung der Erzählung immer auch in Abhängigkeit zu bereits gemachten Erfahrungen: Jede Erzählung bereitet auf neue Erzählungen vor und knüpft an alte Erfahrungen 10 DDossier an. Erzählen, welcher Art auch immer, kann daher die unterschiedlichsten Reaktionen auslösen, diese jedoch nur bedingt vorhersehen und steuern. Neben den beiden bereits erwähnten Beiträgern verweist auch Martina Stemberger auf die für den Rezipienten bedeutsame Kenntnis verschiedener Erzählstrategien. Gerade die erzählerische Reaktion auf die aktuelle französische Storytelling- Diskussion greift zurück auf das Vermögen von Literatur oder Film, sich selbst und die eigene Vorgehensweise zu thematisieren, zu inszenieren und den Leser bzw. Zuschauer auf diese Gedankenreise mitzunehmen. Nun ist die Entdeckung von Metafiktion und mise en abyme nicht neu (cf. etwa Waugh 1984), ihr Einsatz jedoch offenbar besonders häufig, wenn erzählerisch Mechanismen plump-manipulativer Marketinggeschichten aufgedeckt und verarbeitet werden sollen. So wird die erzählte Erfahrung allgegenwärtigen Erzählens zum Mittelpunkt des autofiktionalen Werks von Chloé Delaume. Durch seine Verortung im Genre der Autofiktion thematisiert gerade dieser Text auch eindringlich die Frage der Autorschaft, die im Zentrum des Beitrages von Dieter Thomä steht: Welche Beziehung besteht zwischen der Erzählung und ihrem Autor, zwischen Leben und Schreiben? Muss dem Leser die Möglichkeit geboten werden, eine Grenze zwischen dem Erlebten und dem Erfundenen zu ziehen? Martina Stemberger beschreibt die Autofiktion als ein in Frankreich derzeit populäres, jedoch durchaus ambivalentes Genre zwischen ‚Wahrheit‘ und ‚Fiktion‘. Indem es das als erzählenswert erachtete Leben des Autors thematisiert, lockt es den Leser - auch dies ein spätestens seit dem Briefroman des 18. Jahrhunderts produktives literarisches Verfahren - mit der vermeintlichen ‚Wahrheit‘ und muss sich im Extremfall gar vor Gericht für die zu große Nähe zur Realität anderer lebender Personen verantworten. Unter dem Titel Erzähle dich selbst analysierte Dieter Thomä in einem 2007 veröffentlichten Band die „Lebensgeschichte als philosophisches Problem“ (Thomä 2007): Wenn das schriftstellerische Werk das ‚reale‘ Ich zum Thema und das „gelingende Leben“ (Stemberger) zum Ziel hat, dann ist die in Thomäs hier vorliegendem Beitrag angesprochene Gefahr der „ästhetischen Allmachtsphantasie“ eines Jean-Paul Sartre nicht weit entfernt, droht das Schreiben zu einem - mutmaßlichen - Ersatzleben zu werden. Vielleicht lässt sich der Autor des Schwellengenres Autofiktion gerade so als „Schwellenwesen“ bezeichnen, wie Thomä dies anhand von Äußerungen Foucaults vorführt. Von der Geschichte des Autors führt der Blick zur Konfrontation des Lesers mit seiner eigenen Geschichte. Besonders deutlich wird dies durch die Nutzung moderner interaktiver Spielereien wiederum im Werk von Delaume, die das von Yves Citton beschriebene, durch den Dialog des Rezipienten mit dem literarischen Produkt erreichte Eigenleben der Erzählung produktiv umsetzt. Die dem zugrunde liegende Frage nach der unumgänglichen Aktualisierung jeder Erzählung durch die Rezeption stellt Mieke Bal ins Zentrum ihres Beitrages, der von der Idee einer notwendig „anachronistischen“ Lektüre ausgeht. Am Beispiel der transmedialen Adaptation des Flaubertschen Klassikers Madame Bovary in einem aktuellen Videoprojekt zeigt sich, dass die Treue zur literarischen Erzählung letztlich gerade durch eine vermeintliche Untreue erreicht werden kann: Im Gegensatz zu üblichen Verfilmungen 11 DDossier der Romanhandlung vor möglichst historischer Kulisse unternimmt das beschriebene Projekt eine konsequente Umsetzung der Erzählweise des Romans und kommt so der anachronistischen Aktualisierung durch einen aktuellen Leser nahe. Dabei gibt der die Aktualisierung vollziehende Medienwechsel zugleich Antwort auf die Frage, warum und wie der Rezipient literarische Erzählungen als ‚klassisch‘ im Sinne von ‚zeitlos‘ empfinden und sich selbst angesprochen fühlen kann. Bal, Mieke, Narratology. Introduction to the Theory of Narrative [1985], Toronto, UP, 2009. Barthes, Roland, „Introduction à l’analyse structurale des récits“ [1966], in: id., L’aventure sémiologique, Paris, Seuil, 1985, 167-206. 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Fritz Breithaupt, der dabei selbst eine fragwürdige Position einnimmt, bringt dies wie folgt auf den Punkt: „Anstelle postmoderner Selbstreflexion scheinen biologische Fundierungsgesten wieder gefragt zu sein“ (Breger/ Breithaupt 2010: 11). 2 Um es einfach zuzuspitzen: Lyotards Condition postmoderne erschien 1979, Ecos Name der Rose 1980. Hier verortet übrigens auch Millet den Beginn einer nicht nur die Literatur sondern die gesamte Gesellschaft affizierenden ‚Narrativierung‘ („la narratique, ce barbare néologisme [...] me paraissant convenir à l’état exclusivement narratif de la postlittérature“, Millet 2012: 22) und Verarmung (‚paupérisation‘) der abendländischen Kultur - denn hier entstünde die „idée, post-post-moderne, que la narration (l’‚intrigue‘), et non plus la littérature, est la valeur non seulement heuristique de l’Occident mais aussi son ultime forme de transcendance“. (ibid.: 11) 3 Im Englischen hingegen ist das Wort nicht negativ besetzt, sondern bezeichnet schlicht die Kunst des Erzählens, deren Beschreibung und Analyse sich die Narratologie widmet; cf. hierzu im Folgenden auch Lavocat. 4 Salmon schreibt sich mithin ein in die lange Tradition der Kulturkritik - wie man sie aktuell in besonders perfider und wenig konstruktiver Form eben auch bei Richard Millet, 13 DDossier oder, wesentlich anspruchsvoller, in der Analyse der Blödmaschinen, die Georg Seeßlen und Markus Metz sich vornehmen (Metz/ Seeßlen 2011), findet. 5 Eine systematische Darstellung der formalen Bestimmungsversuche durch die Narratologie kann auch hier nicht geleistet werden. Es sei daher verwiesen auf die ‚klassischen‘ Beiträge (etwa Propp 1928, Barthes 1966, Genette 1991) sowie auf Einführungen (etwa Bal 1985 oder Fludernik 2010) oder Überblicksdarstellungen (etwa Martínez/ Scheffel 1999, welch letztere sich, wie nicht anders zu erwarten, zuallererst der Frage nach den Merkmalen fiktionalen Erzählens widmen...). Es ist im Übrigen nicht zu übersehen, dass Salmons Kritik an der Erzählung sich einschreibt in eine weit in die Vergangenheit europäischer Geistesgeschichte zurückreichende Tradition des Misstrauens gegenüber dem Mythos bzw. gegenüber der Fiktion (cf. hierzu im Folgenden auch Lavocat). Koschorke weist indes darauf hin, dass es dieses Rückblicks gar nicht bedarf um die mangelnde Pertinenz der Unterscheidung festzustellen: „Man muss [...] nicht zu den Ursprüngen hinabsteigen, um Zweifel an der Durchsetzbarkeit einer glatten Trennung zwischen Vernunft & Wahrheit einerseits, Erzählung & Lüge andererseits anzumelden. Statt mit der zweieinhalb Jahrtausende alten Teilung des epistemischen Feldes einschließlich ihrer institutionellen, macht- und wissensgeschichtlichen Folgen zu hadern, kann man es bei der schlichten Feststellung belassen, dass sie nicht funktioniert. Das Erzählen hat sich nicht ins Reservat der schönen Künste einsperren lassen“ (Koschorke 2012: 18; Hervorhebung U.U./ Ch.K.). 6 Koschorke bezieht sich diesbezüglich auf Barthes (Koschorke 2012: 10). Nünning/ Nünning sprechen mit Graham Swift vom ‚storytelling animal‘ (2002: 1), Nancy Huston (2008) von der ‚espèce fabulatrice‘ (Huston 2008), und Fritz Breithaupt beruft sich auf die Evolutionsbiologie (Breithaupt 2012: 10-12). Das bestätigt nun aber vor allem die oben festgestellte Tendenz zum Versuch der biologischen Konsolidierung kulturwissenschaftlicher Theoreme - denn während Nünning/ Nünning tatsächlich klassisch (oder postklassisch) narratologisch argumentieren, bemühen sich Koschorke und Breithaupt ja gerade (und zwar erfolgreich) um eine darüber hinausgehende kulturtheoretische Problematisierung des Erzählens. 7 Ansätze zu einer diskursanalytisch informierten Narratologie finden sich bereits bei Kolkenbrock-Netz 1988. 8 Zur Fiktionstheorie cf. etwa Schaeffer 1999 aber natürlich auch Lavocat im Folgenden (und an anderer Stelle). Eher zur Praxis literarischen Erzählens (How Fiction Works) das erfolgreiche Buch von James Wood (2008). Äußerst kritisch hingegen Esposito 2007, die darlegt, dass die Annahme, die Realität sei wahrscheinlich, ihrerseits eine Fiktion ist. 9 Das gilt auch, wenn schlechterdings nicht bestritten werden kann, dass ein Ereignis tatsächlich stattgefunden hat: Wer Auschwitz überlebt hat, dem hat sich das dort Erfahrene unmittelbar in den Leib eingeschrieben und der verfügt über ein dies dokumentierendes Körpergedächtnis; was das bedeutet, kann auch er oder sie indes nur mittelbar kommunizieren: auch das kommunikative Gedächtnis ist angewiesen auf und konstituiert durch Medialität (Borsò/ Krumeich/ Witte 2001). Das heißt aber gerade nicht, dass es einerlei wäre, was und wie erzählt wird: Stellenwert und Gültigkeit einer Erzählung unterscheiden sich vielmehr durch die Modalitäten der Diskursivierung und gerade diese gilt es zu beschreiben und zu analysieren - analytisch zu unterscheiden also nicht zwischen Fiktion und Wirklichkeit sondern zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen. Das Freiburger GRK (1767) scheint sich dies zur Aufgabe gemacht zu haben (Näheres unter: http: / / www.grk-erzaehlen.uni-freiburg.de/ ).
