lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2013
38150-151
Peter V. Zima: Texte et société. Perspectives sociocritiques
91
2013
Walburga Hülk
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163 Comptes rendus PETER V. ZIMA: TEXTE ET SOCIÉTÉ. PERSPECTIVES SOCIOCRITIQUES, PARIS, L’HARMATTAN, 2011, 223 P. Das 2011 im Verlag L’Harmattan, Paris, erschienene Buch des Klagenfurter Komparatisten Peter V. Zima, Texte et société. Perspectives sociocritiques versammelt unter Hinzufügung von zwei Originalbeiträgen („Introduction“, „Indifférence et violence à l’âge postmoderne - ou la désémantisation du langage“) eine Reihe von Aufsätzen aus mehr als dreißig Jahren, die auf die von Zima erarbeitete Methode der Literaturwissenschaft, die sociocritique, konzentriert sind. Das vorliegende Buch kann solcherart verstanden werden als eine Bestandsaufnahme der Erträge dieser Forschungsrichtung und als eine Reflexion auf zahlreiche vorausgehende, seit Beginn dieses Jahrtausends verstärkt in Frankreich erschienene und rezipierte Bände, darunter Pour une sociologie du texte littéraire (1978/ 2000) und Manuel de sociocritique (1985/ 2000). Im Rückblick auf das von Zima in jahrzehntelanger Arbeit ausgefaltete Konzept der sociocritique kann man hier auch ein Stück Wissenschaftsgeschichte einer Literaturwissenschaft mitverfolgen, die ältere und gleichzeitige Tendenzen in sich aufnimmt oder auch ausschließt und die vor allem die Validität des Formalismus, des Marxismus, der Psychoanalyse, der Systemtheorie und der Feldtheorie für die literaturwissenschaftliche Erkenntnis aus dem eigenen Blickwinkel heraus beleuchtet und beurteilt. Das ist ein umfangreiches intellektuelles, anspruchsvolles, ja kühnes Unternehmen, das ganze Theoriefelder in äußerster Kürze kontrastiert (Luhmann gegen Bourdieu, Eco oder Apel) und bilanziert, die Lektüre vorausgegangener Arbeiten zur sociocritique erwartet, aber auch die eine oder andere Frage offen lässt sowie manch nahe liegende und zweifellos in diesem Zusammenhang brauchbare Ansätze ausblendet, z. B. diejenigen Barthes’ oder Genettes. Das Buch ist eingeteilt in drei große Abschnitte: „Perspectives théoriques“, „analyses modèles“, „perspectives historiques“, und es ist ratsam, immer wieder vor- und zurückzuschlagen. Zimas Methode - noch einmal zur Erinnerung - umfasst im Wesentlichen folgende Voraussetzungen, Verfahren und Ziele: Zum einen den Rekurs auf den osteuropäischen Formalismus (Tynjanow, Bachtin, Kristeva); sodann die Zusammenführung linguistisch und semiotisch basierter Theorien (Coseriu, Greimas) mit gesellschaftlichen (z.T. marxistisch grundierten, auch von der Frankfurter Schule inspirierten) und psychoanalytischen Ansätzen (Freud, Lacan) in der Literaturwissenschaft, zuletzt die These, die gesellschaftliche Substanz und Funktion des Literarischen sei überhaupt nur vermittels der genauen Beobachtung der Sprache auszumachen. Mit der sociocritique oder auch sociologie du texte grenzt sich Zima zunächst einmal ab: von der Soziologie der Literatur, aber auch von der klassischen, auf Struktur-Homologien einzelner gesellschaftlicher Schichten fokussierten Literatursoziologie, wie sie sich seit dem Ende der 1950er Jahre (u.a. mit den Arbeiten Erich Köhlers) herausgebildet hatte. Zimas Aufmerksamkeit gilt der über Sprache (nicht über Motive, Themen, Weltanschauungen) vermittelten und lingu- 164 Comptes rendus istisch überprüfbaren (Lexik, Syntax, Semantik) Welthaltigkeit, Subjektivität und Gesellschaftlichkeit von Literatur, und sein Interesse gilt theoretisch der über das Literarische hinausgehenden, gleichfalls sprachlich basierten Soziologie von Texten und Soziolekten, denen einzelne Autoren zugehörig sind. Was heißt das im Einzelnen? Die Soziologie von Texten konzentriert und reduziert sich zunächst auf die Beobachtung von Worten (11): Das können begriffsgeschichtliche Aspekte, Re- und Neucodierungen („bourgeoisie“, „situation“, „refoulement“, Neologismen wie „écrivaine“) sein, aber auch das interessante Gebiet der Konversation in Texten (Proust, Wilde, Hofmannthal), an dem sich soziale Verhältnisse, Machtverhältnisse als Diskursdistinktionen ablesen lassen; das kann ebenso gut Ideologiekritik (Sartre, La Nausée) oder „Indifferenz“ (Camus, L’Etranger) sein, so weit sie sich auf der Ebene der Sprache manifestieren. Eine Soziologie des Textes hat Intertextualität vorauszusetzen, und eigentlich auch Paratextualität, obgleich von dieser hier nur indirekt die Rede ist (cf. 40ssq.). Die Soziologie von Texten aber versucht auch, den Spielräumen der Subjektivität und des Imaginären gerecht zu werden, die kritisches Potenzial haben, und sie versteht sich, im Gegensatz zu den meisten Methoden bis hin zum Dekonstruktivismus (cf. 56), ihrer großen Offenheit wegen, als frei von Ideologie. Es ist der zweite Teil des Buches, „analyses modèles“, der die Rigidität und Lakonie der theoretischen Kapitel aufbricht und Perspektiven eröffnet, die neugierig machen. Hier geht es um Einzellektüren (Calvino, Se una notte d’inverno un viaggiatore), um die soziale Rolle des Imaginären im europäischen Künstlerroman, um die reizvolle Annäherung von „Sartre et Hesse: entre nature et culture“, die im Zuge der aktuellen Hesse-Revision gespannt macht auf diese beiden Nonkonformisten, die radikale Sprach- und Ideologiekritiker waren. Der dritte Teil, „perspectives historiques“, ist, vermittelt über die Kategorien Mimesis, Kontingenz, Konstruktion, Spiel, eine Auseinandersetzung mit der Postmoderne (Derrida ebenso wie Rorty). Zima, so wird hier deutlich, offenbart sich als der Moderne, der er stets war. Sein Plädoyer für den kritischen Auftrag von Literatur, Philosophie und Wissenschaft, der sich auf die Epistemologie und Ethik der Frankfurter Schule stützt und gegen die wachsende ‚Indifferenz‘ der Postmoderne Stellung bezieht (cf. auch „Indifférence et violence à l’âge postmoderne “), wird zurückgebunden an die Ansprüche der eigenen Methode, die dieses Buch resümiert. Wie gesagt: Texte et société. Perspectives sociocritique ist eine autoreflexive Bilanz auf Zimas jahrzehntelange Arbeit an der Literaturtheorie. In dieser Funktion eröffnet der Band keine neuen Felder (hier ist auch die Literaturliste aufschlussreich, die im wesentlichen Arbeiten vor 2000 berücksichtigt) und beansprucht das auch nicht. Das eine oder andere Argument - z.B. das der „Kultur als Text“, wie es der New Historicism vorgeschlagen hat - könnte aber für die sociocritique durchaus von Interesse sein und diese bereichern. Wer freilich in Frankreich und Deutschland Aufschluss erhalten möchte über die Wissenschaftsgeschichte der sociocritique oder den state of the art der „Soziologie des Textes“, wird ‚diesen‘ 165 Comptes rendus Zima lesen. Nur: Fortgeschritten in der Literaturtheorie sollte der Leser oder die Leserin sein. Walburga Hülk (Siegen) —————————————————— OTTMAR ETTE: ZUSAMMENLEBENSWISSEN. LIST, LAST UND LUST LITERA- RISCHER KONVIVENZ IM GLOBALEN MASSSTAB, BERLIN, KADMOS, 2010, 400 S. „Wer also spricht, wenn es ums Leben geht? Und von welchem Leben ist die Rede, wenn die Rede von der Lebenswissenschaft ist? “ (25) 1 Diese Schlüsselfragen stehen im Zentrum von Ottmar Ettes aktuellem Buch ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab - eine, um es gleich vorweg zu sagen, ideenreiche und von beeindruckender Belesenheit getragene Studie, die seine breit rezipierte Lebenswissen-Trilogie beschließt. Es liegt auf der Hand, dass dieses Buch nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang der Trilogie (Über- Lebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, 2004, ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, 2005) und der vieldiskutierten Programmschrift „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“ zum Jahr der Geisteswissenschaften 2007 und der zahlreichen Repliken, 2 die diese hervorgerufen hat, gewürdigt werden kann. Zweifelsfrei haben wir es mit einem größeren Diskursfeld zu tun, daher erlaube ich mir vereinzelte Seitenblicke auf weitere Denkrichtungen und Intellektuelle, die wie Ottmar Ette in Auseinandersetzung mit (post)kolonialer Geschichte eine kontrapunktische Modernitätstheorie zu entwickeln versuchen. In seiner kämpferisch-lustvollen „Grundlagenforschung einer Philologie der Zukunft“ (63) illustriert Ette detailreich, inwiefern Menschheitsgeschichte von Anfang an durch Fiktion vermittelt wurde, sei es das Gilgamesch-Epos oder Tausendundeine Nacht. Zugleich lässt er keinen Zweifel daran, dass gerade in transatlantischer Perspektive die weltweite Zirkulation und Repräsentation von „Wissen vom Leben, Überleben und Zusammenleben“ (87) keineswegs symmetrisch, sondern „von Beginn der okzidentalen Globalisierung an“ mit einem „Fehler im System“ (111) verlief. Materielle und diskursive Aneignung des Anderen, Wissen und Macht gingen im kolonialen Diskurs stets Hand in Hand. Der Triade von Wissen, Fortschritt und Zivilisation sei daher mit größtem Misstrauen zu begegnen, denn innerhalb der europäischen Expansion, so Ette, „[vergegenständlicht] die Geste des Entdeckens den Anderen als Objekt des eigenen Wissens [ ], ohne dieses Wissen über das Leben des Anderen in ein Wissen zum Leben mit dem Anderen - und damit in ein ZusammenLebensWissen - zu übersetzen“ (110). Ein Grund mehr für Ette, den 1 In der Folge zitiere ich aus dieser Studie nur noch mit Nennung der Seitenzahl. 2 Cf. Wolfgang Asholt / Ottmar Ette (ed.), Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm - Projekte - Perspektiven, Tübingen, Narr, 2010.