lendemains
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0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2013
38150-151
Ottmar Ette: ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab
91
2013
Natascha Ueckmann
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165 Comptes rendus Zima lesen. Nur: Fortgeschritten in der Literaturtheorie sollte der Leser oder die Leserin sein. Walburga Hülk (Siegen) —————————————————— OTTMAR ETTE: ZUSAMMENLEBENSWISSEN. LIST, LAST UND LUST LITERA- RISCHER KONVIVENZ IM GLOBALEN MASSSTAB, BERLIN, KADMOS, 2010, 400 S. „Wer also spricht, wenn es ums Leben geht? Und von welchem Leben ist die Rede, wenn die Rede von der Lebenswissenschaft ist? “ (25) 1 Diese Schlüsselfragen stehen im Zentrum von Ottmar Ettes aktuellem Buch ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab - eine, um es gleich vorweg zu sagen, ideenreiche und von beeindruckender Belesenheit getragene Studie, die seine breit rezipierte Lebenswissen-Trilogie beschließt. Es liegt auf der Hand, dass dieses Buch nicht isoliert, sondern nur im Zusammenhang der Trilogie (Über- Lebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, 2004, ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, 2005) und der vieldiskutierten Programmschrift „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“ zum Jahr der Geisteswissenschaften 2007 und der zahlreichen Repliken, 2 die diese hervorgerufen hat, gewürdigt werden kann. Zweifelsfrei haben wir es mit einem größeren Diskursfeld zu tun, daher erlaube ich mir vereinzelte Seitenblicke auf weitere Denkrichtungen und Intellektuelle, die wie Ottmar Ette in Auseinandersetzung mit (post)kolonialer Geschichte eine kontrapunktische Modernitätstheorie zu entwickeln versuchen. In seiner kämpferisch-lustvollen „Grundlagenforschung einer Philologie der Zukunft“ (63) illustriert Ette detailreich, inwiefern Menschheitsgeschichte von Anfang an durch Fiktion vermittelt wurde, sei es das Gilgamesch-Epos oder Tausendundeine Nacht. Zugleich lässt er keinen Zweifel daran, dass gerade in transatlantischer Perspektive die weltweite Zirkulation und Repräsentation von „Wissen vom Leben, Überleben und Zusammenleben“ (87) keineswegs symmetrisch, sondern „von Beginn der okzidentalen Globalisierung an“ mit einem „Fehler im System“ (111) verlief. Materielle und diskursive Aneignung des Anderen, Wissen und Macht gingen im kolonialen Diskurs stets Hand in Hand. Der Triade von Wissen, Fortschritt und Zivilisation sei daher mit größtem Misstrauen zu begegnen, denn innerhalb der europäischen Expansion, so Ette, „[vergegenständlicht] die Geste des Entdeckens den Anderen als Objekt des eigenen Wissens [ ], ohne dieses Wissen über das Leben des Anderen in ein Wissen zum Leben mit dem Anderen - und damit in ein ZusammenLebensWissen - zu übersetzen“ (110). Ein Grund mehr für Ette, den 1 In der Folge zitiere ich aus dieser Studie nur noch mit Nennung der Seitenzahl. 2 Cf. Wolfgang Asholt / Ottmar Ette (ed.), Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm - Projekte - Perspektiven, Tübingen, Narr, 2010. 166 Comptes rendus vielbeschworenen „Perspektivwechsel als Programm“ (136) in den Studiencurricula der Philologien zu verankern. Denn Literatur sei ein besonders geeignetes „interaktives Speichermedium von Lebenswissen, das [ ] Modelle von Lebensführung simuliert und aneignet, entwirft und verdichtet und dabei auf die unterschiedlichsten Wissenssegmente und wissenschaftlichen Diskurse zurückgreift“. 3 Mit den Mitteln der Literatur könne nicht nur ein experimentelles Lebenswissen entfaltet werden, sondern darüber hinaus könne - ein m. E. ebenfalls wichtiger Punkt - aus einer „perspektivische[n] Spiegelung von anderer Seite“ (126) ein dritter epistemologischer Raum etabliert werden, der eine Neufassung des Begriffs der Modernität mit Blick auf Kolonialismus und Hegemonie vornimmt. In diesem Zusammenhang sei der Hinweis auf Walter Mignolos „Grammatik der Dekolonialität“ 4 erlaubt, die eine sich weiterhin positiv universalisierende europäische Moderne radikal herausfordert; ebenso wie die von Ette erwähnte Studie The History of White People (2010) der US-amerikanischen Historikerin Nell Irvin Painter, die die übliche Gleichsetzung von Vernunft, Kultur, Zivilisation und ‚Weißsein‘ grundlegend hinterfragt. Kulturelle Beschreibungssysteme des Westens und deren Repräsentationspraktiken (Wissenschaften, Ausstellungen, Museen, Literaturen, etc.) waren und sind nie ‚unschuldig‘, sondern zutiefst mit Strategien der Macht, mit Imperialismus und Kapitalismus verbunden, wie wir spätestens seit Saids Studie Orientalism wissen. Der Frage, wie stark Eurozentrismus und Rassismus im Kern der europäischen Wissenskultur verankert ist, geht seit 2009 unter der Leitung von Markus Messling an der Universität Potsdam auch ein Emmy-Noether-Projekt zu den Verflechtungen von „Philologie und Rassismus“ nach. Messling plädiert für eine kritische Geschichte der Philologie, um die „Inkonsistenz und innere Widersprüchlichkeit des philologischen Diskurses aufzuarbeiten“, um so dem „mit dem postmodernen Machtpessimismus einhergehende[n] Eindruck der Optionslosigkeit“ 5 zu begegnen. Von Anfang an sei in der Moderne das Vermögen angelegt gewesen, so Messling, sich selbst kritisch zu reflektieren. So stellten Karl Marx, Max Weber oder Sigmund Freud bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert Prämissen der Aufklärung grundlegend in Frage. Der Prozess einer Provincializing Europe 6 und einer aktuell vehement geforderten Dekolonialisierung des Wissens, der Sprachen, des Imaginären, insgesamt der Humanities, eine solche Dekonstruktion des Westens und eine kritische Aufarbeitung der europäischen Wissenschaftsgeschichte stehen noch weitestgehend aus; 3 „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften“, in: Asholt / Ette, op. cit. (Anm. 2), 11-38, 17sq. 4 Epistemischer Ungehorsam: Rhetorik der Moderne, Logik der Kolonialität und Grammatik der Dekolonialität, Wien / Berlin, Turia+Kant, 2011. 5 „Zum Lebenswissen der Textwissenschaften. Für eine kritische Geschichte der Philologie“, in: Asholt / Ette, op. cit. (Anm. 2), 127-136, 134sq. Cf. auch Markus Messling / Ottmar Ette (ed.), Wort Macht Stamm. Rassismus und Determinismus in der Philologie (18. / 19. Jh.), München, Fink, 2013. 6 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton/ Oxford, Princeton University Press, 2000. 167 Comptes rendus Ottmar Ettes Überlegungen sind daher innerhalb der Literaturwissenschaften gewichtige, national und international wahrgenommene Meilensteine. Vergleichbar mit Ettes philologischem Engagement betont Hans-Ulrich Gumbrecht in seiner Rede Warum soll man die Geisteswissenschaften reformieren? die „Komplexität steigernde Denkpraxis der Geisteswissenschaften“. 7 Die genuine Aufgabe der Universitäten sei es, neues Wissen zu produzieren statt bloße Wissensvermittlung zu fördern. 8 Die zu gestaltende Re-Perspektivierung von Philologie- und Wissenschaftsgeschichte müsste sich m. E. dabei idealerweise aus den Erfahrungen anti-kolonialer, anti-imperialer Kämpfe, aus subalternem Wissen, aus postkolonialer Theorie aber auch aus postmoderner Philosophie und europäischen Humanities gleichermaßen zusammensetzen. Andernfalls könnte man im Anschluss an Messling fragen: „Sind die europäischen Philologien nicht eine moralisch stark verbrauchte Wissenschaft, deren Aussagekraft über die sprachlichen Grundlagen und kulturellen Formen des menschlichen Lebens nachhaltig diskreditiert ist? “ 9 Gekonnt verknüpft Messling seine Kritik mit Ettes zentralem Begriff Über-Lebenswissen: „[W]ie [kann] eine Philologie, die sich der historischen Alternativen zu ihrer eurozentrisch strukturierten Vergangenheit nicht oder wenigstens nur prinzipiell bewusst ist, sich selbst überhaupt als ‚Ort‘ der Genese eines nicht-zynischen Wissens über das Leben begreifen? Kritische Wissenschaftsgeschichte wird hier schlicht zum eigenen ‚(Über-)Lebenswissen‘“. 10 Bei dieser zutiefst transkulturellen, transversalen Dimension setzen Ettes Studien programmatisch an. Für ihn liegt in der (post)kolonialen Relationalität ein nicht zu unterschätzendes Potenzial, welches insbesondere in der Literatur wirksam werde. Im Falle der Literaturwissenschaft zielt dieses Potenzial auf eine ästhetische Überwindung kultureller Inferiorisierung und einer absoluten Alterität, wie sie der koloniale Diskurs instauriert hatte. Gerade in der Literatur seien Wissensformen unterschiedlicher Logiken, auch jenseits asymmetrischer geopolitischer Machtstrukturen, verdichtet und abrufbar. Die Literaturen der Welt sind für Ette der privilegierte Ort, um in Kontakt mit einem Wissen über multiple kulturelle, soziale und sprachliche Zugehörigkeiten von Subjekten zu kommen. Ette zitiert als Beleg für diese neue „Geopolitik des Wissens“ (110) aus dem „Laboratorium der Literaturen der Welt“ (111sqq.): „Das Wissen der Literatur projiziert und bildet einen Kosmos der Redevielfalt, innerhalb dessen sich eine mobile, gleichsam bewegliche Traversen bildende Relationalität zu entfalten vermag“ (113). Ettes emphatisches Literaturverständnis leugnet keinesfalls die Verstrickungen von (kolonialer) Macht und Wissen(schaft). Zugleich ist ihm jedoch daran gelegen, den Blick für die der 7 Warum soll man die Geisteswissenschaften reformieren? , Osnabrück, V&R Unipress, 2010, 25. 8 Cf. ibid, 15. 9 Messling, „Zum Lebenswissen der Textwissenschaften. Für eine kritische Geschichte der Philologie“, op. cit. (Anm. 5), 128. 10 Ibid., 136. 168 Comptes rendus Literatur inhärenten Migrationsbewegungen zu schärfen und ihre besondere Fähigkeit, Subversion, Widerständiges, diverse Formen von Subjektivität und transkultureller Erfahrung zu artikulieren. Ette verabschiedet - wie auch Cécile Wajsbrot in ihrem Essay Pour la littérature (1999) - ein postmodernes Konzept, welches Literatur als selbstreferenzielles System präsentiert. Er fordert stattdessen den „Begriff des Lebens wieder für den Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften fruchtbar zu machen“ (142). Auch wenn im deutschen Feuilleton mit Blick auf Ettes philologischen Kampfgeist von einer „aufgeregte[n] Selbstverständigungsdebatte“ 11 innerhalb der Literaturwissenschaften die Rede ist, so geht es Ette um nichts Geringeres als um die lebenswissenschaftlich ausgerichtete Aufgabe der Philologie. Bereits in ÜberLebenswissen forderte er die Geistes- und Kulturwissenschaften auf, sich um eine „Biodiversität im kulturellen Sinne“ 12 zu bemühen. Vergleichbar postuliert er in ZusammenLebensWissen, den „Begriff bios in seiner Mannigfaltigkeit einschließlich seiner kulturellen Dimension auszuleuchten“ (28). Messling spricht treffend von einer „textbasierten kulturwissenschaftlichen Erforschung des Lebens“, die letztlich auf eine „Resozialisierung des Literaturbegriffs“ 13 abziele. Ettes Arbeit an Begriffen und am Selbstverständnis von Disziplinen ermutigt zu mehr literaturwissenschaftlichem Selbstbewusstsein, denn der Alleinvertretungsanspruch auf den Lebensbegriff durch die medizinisch-biotechnologisch ausgerichteten Life Sciences greift seiner Meinung nach viel zu kurz und sollte mindestens genauso maßgeblich von den Geisteswissenschaften und ihren reichen Wissensbeständen miterhoben werden (cf. 33). Gerade die Humanities, darunter insbesondere die Philologien, böten ein ‚querendes‘ Lebens-, Überlebens- und Zusammenlebenswissen an, welches der Ethik aufs Engste verbunden sei und das „Zusammenleben verschiedenster Kulturen in Differenz und gegenseitiger Achtung“ 14 speichere und prospektiv entwerfe: „Die Fähigkeit der Literatur, in verdichteter Form unterschiedliche Sprachen, Kulturen sowie Denk- und Wertesysteme gleichzeitig zu Gehör zu bringen und miteinander zu verschränken, kann in ihrer Bedeutung für das individuelle wie für das kollektive Leben heute wie in Zukunft schwerlich überschätzt werden“ (63). Für Ette offeriere Literatur durch ihre fiktionalen „Spiel- und Erprobungsräume für ein anderes, für ein besseres Leben“ (60) weit mehr als bloßes Handlungswissen. Dank dieses Potenzials komme die Literatur auch ihrer „gesellschaftliche[n] Bringschuld“ 15 nach. Die Fiktion halte ein Wissen von Formen der Konvivenz bereit und, so Ette weiter, sie sei jener „Treibstoff [...], der die Menschheit seit ihren frühesten Anfängen vorangebracht und einem langsamen, aber stetigen Prozeß der Zivilisa- 11 „Wer erklärt den Menschen? “, in: Die Zeit 25, 17.06.2010, online unter http: / / www.zeit. de/ 2010/ 25/ L-S-Lebenswissenschaft (aufgerufen am 23.09.2013) 12 ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin, Kadmos, 2004, 277. 13 Messling, op. cit. (Anm. 5), 127. 14 Ette, op. cit. (Anm. 3), 13. 15 Ette, op. cit. (Anm. 3), 15. 169 Comptes rendus tion entscheidend zugeführte habe“ (61), dabei nicht selten auf den „narrativen wie diskursiven Treibstoff der Liebe“ (34) setzend. Inwiefern Fiktionen Ideen von einem ‚besseren‘ Leben parat haben, sei einmal dahin gestellt. Unbestreitbar ist, dass Fiktionen immer wieder Fakten geschaffen haben (cf. 54). Dies wissen wir spätestens seit Columbus ‚Entdeckung’ der Neuen Welt, die er für die Alte Welt hielt; Amerika stand Columbus bei seiner Reise nach Indien bekanntermaßen im Wege: „So war die mit auf die Reise genommene Kartographie des Vorwissens eine - freilich nützliche - Fiktion“ (75). Dieser Irrtum war vornehmlich textuell motiviert: „Die erste Reise eines Europäers durch die Karibik war in erster Linie eine Reise des Lesens. [...] Columbus’ Fahrt durch die karibische Inselwelt war [ ] eine Reise [ ] durch das Buch des Marco Polo sowie anderer literarischer und kartographischer Quellen: eine Lese-Reise also, Lektüre live“ (54). Die dann einsetzende gewaltvolle Ausbreitung der Europäer/ innen über die Welt und deren Strategie des Othering, die vom Westen geschaffenen Repräsentationen über ‚Andere‘, haben hinlänglich gezeigt, dass Wissen nur dann zu mehr ‚Zivilisation‘ führt, wenn subalternes Wissen und Grenzdenken 16 sowie eine konsequente hegemoniale Selbstbefragungen des Westens - Gabriele Dietze spricht von „Kritischem Okzidentalismus“ 17 - als zentrale Erkenntnisstrategien zugelassen werden; die Grenzen des europäischen Wissens dürfen nicht geleugnet werden. Außerdem erzählt uns Literatur nicht nur etwas über das Leben, sondern vermittelt uns auch eine Idee des Todes und der geschichtlichen ‚Abwesenheiten‘. So sind Zivilisationsbrüche wie die transatlantische Sklaverei oder die Shoa weitestgehend ‚Ereignisse ohne Zeugen‘, wie Giorgio Agamben hinsichtlich der Unmöglichkeit der Zeugenschaft über die Shoa formuliert hat. 18 Da die Toten ihre Geschichte nicht mehr bezeugen können, kann man nur von den Umständen sprechen, die den Untergang herstellten. Und genau das ist eine unschätzbare und ethisch dringliche Aufgabe, nicht nur von Literatur. Zivilisation zielt auch bei Ette auf einen ambivalenten Prozess von „Größe und Gräuel, Glanz und Grauen“ (100). Trotz des diagnostizierten geopolitischen Ungleichgewichts ist Ette davon überzeugt, dass Literatur mit einem global zirkulierenden, nicht-hierarchischem Wissen aufwarten kann. Der alliterative Untertitel der Studie „List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab“ weist uns den Weg. Ettes verführerische Perspektive ruft dazu auf, den historischen Lasten mit ästhetischer List zu begegnen, um so Lust an einem ‚ZusammenLebensWissen‘ zu entfalten: 16 Mignolo spricht vom „border thinking from the perspective of subalternity“ (Mignolo 2000, 10), welches u.a. inspiriert ist von Khatibis „pensée-autre“ (ebd., 67). 17 „Critical Whiteness Theory und Kritischer Okzidentalismus. Zwei Figuren hegemonialer Selbstreflexion“, in: Martina Tißberger / Gabriele Dietze / Daniela Hrzán (ed.), Weiß - Weißsein - Whiteness. Kritische Studien zu Gender und Rassismus, Frankfurt/ Main, Lang, 219-247. 18 Cf. Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt: Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt/ Main, Suhrkamp, 2003, 31. 170 Comptes rendus Dieses verdichtete ZusammenLebensWissen der Literatur kann dazu beitragen, dem auf eklatante Weise fehlenden Vorstellungsvermögen nicht nur im politischen und religiösen Diskurs entgegenzuwirken, um uns künftige Formen der Vertreibung, der Verbannung und des Exils zu ersparen. Denn die Listen der Literatur stellen uns ein Wissen bereit, das auf dem Erleben und der Erfahrung vieler Generationen, vieler Kulturen beruht und uns erlaubt, neue Formen des Umgangs mit unseren nicht weniger historisch akkumulierten Lasten im Spannungsfeld der Kulturen und der Kulte, der Kalamitäten und Katastrophen, der Konflikte und der Kontroversen zu erproben (145). Eben hierin besteht die List, welche die Last kolonialistischer Vergangenheit in die Lust künftiger Konvivenz überführt (246). Konvivenz ist für Ette ein bislang unbelasteter Horizontbegriff; er nutzt ihn im Anschluss an Paul Gilroys Identifizierungskonzepte einer pluralen, postnationalen Convivial Culture, die jenseits der üblichen Zuschreibungen wie Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht operiere (58). 19 Dieser Verzicht auf eine Fixierung kategorialer Grenzen zwischen Gruppen von Menschen führt dennoch keineswegs zur Enthistorisierung und einem schlichten Übergehen der Geschichte in zeitgenössische Konvivienz, denn Gilroys Conviviality denkt das verbindend Menschliche konsequent von der Erfahrung der Unterdrückung, der Gewalt und des damit verbundenen Leidens her. Ette wagt weiterhin die These, dass die Literatur in ihren Fragestellungen stets dem voraus sei, was die anderen Wissenschaften sich erst noch erarbeiten müssten. 20 Hier ließe sich einwenden - wie von Jörg Dünne 21 bereits vorgebracht -, dass Ette sich kaum mit dem Lebensbegriff der Biowissenschaften auseinandersetzt und somit seine Position mehr auf subjektiven Setzungen basiert als auf einem nachvollziehbaren Vergleich. Eine thematische und institutionelle Zusammenarbeit zwischen HistorikerInnen, Wirtschafts- und NaturwissenschaftlerInnen mit Literatur- und KulturwissenschaftlerInnen würde sicherlich nicht nur zum Begriff „Lebenswissen“ ganz neue Erkenntnisse zu Tage fördern, sondern auch zu diversen Wissens-, Kultur- und Technologietransfers innerhalb von Disziplinen, Räumen und Zeiten. Sicher, literarische Texte inszenieren als Medium der aktiven Weltaneignung und -erzeugung mit fiktionalen Darstellungsmitteln eigenständige Wirklichkeitsmodelle, in besonderer Weise in den von Ette privilegierten translingualen Literaturen ohne festen Wohnsitz (2005). Lokales Lebenswissen geht dort mit debzw. translokalisierten Lebenspraktiken einher. Durch die weltweite Rezeption und Aneignung von Literatur in unterschiedlich kulturellen Umfeldern werden neue Verbindungen zwischen Kulturen geschaffen; dies führt zu einer „ungeheuren Delokalisierung von Wissen“ (56), welches auch die Machtabhängigkeit von Kultur- 19 Cf. Paul Gilroy, After Empire. Melancholia or Convivial Culture? , Abingdon, Routledge, 2004. 20 Cf. Ette, op.cit. (Anm. 3), 34. 21 „Von Listen und Lasten der Philologie für das Leben. Nicht mehr ganz zeitgemäße Betrachtungen zu der von Ottmar Ette initiierten Debatte um Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“, in: PhiN, 57, 2011, 72-84. 171 Comptes rendus beschreibungen und das Dilemma der Repräsentationsautorität mitreflektiert. So könne eine neue Weltliteratur zu einer transkulturellen Kulturanthropologie beitragen. 22 Es darf aber nicht vergessen werden, dass durch die Migration von Lebenswissen auch beträchtliche Bereiche des Gewussten und Erlebten funktionslos werden können (cf. 141), was eine schmerzvolle Erfahrung von Verlust beinhaltet. Reise, Bewegung, Exil, Migration, Transkulturalität erhalten bei Ette immer eine universelle und existenzielle Dimension für die Prozessualität von Kulturen. Ettes Lektüren von Autor/ innen wie Rodrigo Ray Rosa, Amin Maalouf, Vargas Llosa, Assia Djebar, Cécile Wajsbrot, Jorge Semprún, Albert Cohen, Emma Kann, José F. A. Oliver, Emine Sevgi Özdamar, Yoko Tawada u. v. a. zeigen, wie Entstehungsorte von Texten aufgrund von Migration ihre scheinbare Selbstverständlichkeit verlieren und die Festlegung von kultureller Identität zunehmend fragwürdiger wird. Ette umreißt dieses wechselseitige Durchdringen verschiedener Kulturen mit den auf Heterotopien verweisenden Formeln Literatur in Bewegung (2001) und ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz (2005). Mit den Mitteln des Ästhetischen wird ein politisches und ethisches Umdenken vorweggenommen. Kulturelle Hybridisierungen ohne Hierarchisierungen sind dabei als ideeller Horizont im Sinne sozialer und ethischer Postulate zu verstehen. Literatur vermag, basierend auf kultureller und sexueller Differenz, neue Lebensmodelle zu antizipieren und zu gestalten. Sie fungiert im Sinne Ettes einerseits als ÜberLebenswissen und andererseits als ZusammenLebensWissen. Ein solches Verständnis von Literaturwissenschaft zieht notwendigerweise ein transdisziplinäres und transareales Arbeiten nach sich, was nicht automatisch heißt: Abschaffung der Einzeldisziplinen. Area Studies und Trans Area Studies beleben sich gegenseitig. Jede transdisziplinäre Konstruktion erfordert Kerndisziplinen als Ausgangspunkt. „Es gilt, das Wissen der Philologien weiter zu spezialisieren und auszuweiten, zugleich aber Einzeldisziplinen querend zu vernetzen und zu demokratisieren. Wir sind nicht am Ziel, wir sind am Anfang“ (143). Im Vordergrund der neuen „Trans(it)Areas“ (53) stehe die Entwicklung von einem „präzise[n] terminologische[n] Vokabular für Bewegung, Dynamik und Mobilität“, denn es gehe weniger „um Räume als um Wege, weniger um Grenzziehungen als um Grenzverschiebungen, weniger um Territorien als um Relationen und Kommunikationen“. 23 Natascha Ueckmann (Bremen) 22 Cf. Doris Bachmann-Medick, „Kulturanthropologie“, in: Ansgar Nünning / Vera Nünning (ed.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven, Stuttgart, Metzler, 2003, 86-107, 94. 23 Ottmar Ette, ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin, Kadmos, 2005, 18-26.
