lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2013
38150-151
"Passepartout" (ed.): Weltnetzwerke - Weltspiele: Jules Vernes In 80 Tagen um die Welt
91
2013
Friedrich Wolfzettel
ldm38150-1510172
172 Comptes rendus „PASSEPARTOUT“ (ED.): WELTNETZWERKE - WELTSPIELE: JULES VERNES IN 80 TAGEN UM DIE WELT, KONSTANZ, KONSTANZ UNIVERSITY PRESS, 2013, 349 S. Die ironisch von dem Autorenkollektiv „Passepartout“ (Jörg Dünne, Kirsten Kramer und Steffen Bogen) herausgegebene Sammelpublikation der Konstanz University Press, ein Beispiel für die neuen Fördermöglichkeiten durch Exzellenzcluster, trägt mit seinen symbolischen 81, dem Reiseverlauf angepassten Kurzartikeln dem spielerischen Wettprinzip des Verneschen Romans In 80 Tagen um die Welt (Le Tour du monde en 80 jours) Rechnung. Der 80. Beitrag, „Welt als Spiel“ von Andreas Mahler, bringt dies noch einmal in Erinnerung, während Jean Crepys historisches Spiel Le voiage du monde von 1718, das in der 81. Skizze (dem durch die Erdumrundung gewonnenen 81. Tag geschuldet) vorgestellt wird; es erinnert an das der Publikation beigegebene, dem traditionellen Gänsespiel nachempfundene Brettspiel, das Steffen Bogen in seiner „Einleitung zum Spiel“ präsentiert und das mit Erfolg zu spielen dem Rezensenten leider nicht gelungen ist. Trotz unvermeidlicher Redundanzen ist die Zahl der behandelten Aspekte zu dem viermal verfilmten Erfolgsroman, der erst 1873 publiziert wurde, durchaus bemerkenswert. Jörg Dünne und Kirsten Kramer sprechen in der Einleitung von der Präsentation eines „konnektiven Weltnetzwerks“, einem „Weltspiel“ (17), das den herkömmlichen Reisebericht zugunsten einer berechenbaren Vernetzung der Welt überholt und eben auch das herkömmliche Romanschema (mit gelegentlichen Seitenblicken auf andere Romane Vernes) zur Diskussion stellt. In Anbetracht der additiven, spielerischen Romankonzeption des Autors würde es naheliegen, diesen auch im Gesamtwerk singulären Roman als Experimentalroman zu charakterisieren. So versteht Thoralf Klein ja die ähnlich konstruierten Leiden eines Chinesen in China als bewusste Absage des Autors an seine Modernität und „als Antithese zu In 80 Tagen um die Welt “ (170). Der Aspekt der Berechenbarkeit wird vor allem in den einleitenden Artikeln behandelt und mit der zeitgenössischen Technik verglichen. Mit Blick auf die Rolle des Kursbuches für den Helden stellt z.B. Markus Krajewski den sogenannten Bradshaw als „Vademecum des Weltverkehrs“ (44) vor; als letztlich zu Hause reisende „Handlungsreisende“ (105) präsentiert der Vf. Phileas Fogg und seinen Diener Passepartout in einer späteren Skizze. Als Gegenbild von Phileas Fogg sieht z.B. Bernhard Siegert den Kapitän Nemo, dessen „Verhalten der Welt gegenüber vollständig von den Affekten diktiert“ (150) wird. Weniger evident ist die Diskussion des „Motivs der Hohlerde“ (157) durch Hanjo Berressem oder die des Zufalls durch Wolfgang Struck. Einen Vergleich mit Fünf Wochen im Ballon deuten Julia Anslik und Victor Andrés Ferretti an. An die Parallele zu Don Quijote erinnert - gerade noch rechtzeitig - Miriam Lay Brander, für die Foggs Reise sich ähnlich wie die des spanischen Helden nicht aus dem Leben, sondern „aus der Lektüre“ (219) speist. Als ironische Einlage und „captivité narrative“ interpretiert z.B. Sebastian Kaag die Entführung Passepartouts, die ähnlich wie schon die Befreiung 173 Comptes rendus der zum Scheiterhaufen verurteilten Inderin Aouda romaneske Motive repristiniert und den Ablauf der berechneten, nicht auf Entdeckung und Abenteuer ausgerichteten Erdumkreisung stört. Von einem „emotionalen Resonanzkörper, der gegen den logischen Geist Foggs gesetzt ist“ (240), spricht Hanjo Berressem. Um die „narrativen Störfälle“ der Bewegung geht es Sabine Friedrich, der zufolge auch Phileas Fogg seine mechanische Seite in der Aouda-Episode zeitweilig gegen eine emotionale Rolle vertauscht: „Einmal des Systems beraubt, für das und durch das er lebt, erwacht er zum Helden“ (93). Michel Serres beleuchtet diese Überholung des klassischen, geschlossenen Romanschemas durch die Figur des Spiels. Peter Sloterdijk macht die Ersetzung des Reisenden durch den Passagier und die Unerwünschtheit des Abenteuers (223sq.) geltend. Für Kirsten Kramer inauguriert der Roman „eine eigenständige narrative Netzwerktechnik, die in der Vermittlung topologischer Regelhaftigkeit und topographischer Aleatorik die genealogischen Entstehungsbedingungen des globalisierten Weltverkehrs vor Augen führt“ (258). Die genannte Verfasserin und Kirsten Mahlke beleuchten auch die ironische Dekonstruktion des Verneschen Romans in Julio Cortázas Titel La vuelta al día en ochenta mundos (1967). Für Hanno Ehrlicher bedarf die „nachromantische“ Verbindung von „Rausch und Reise“ (164) freilich des herkömmlichen Erwartungshorizonts des Lesers. Als vielleicht ambitionierteste Einlassung in diesen romanpoetologischen Kontext erscheint der epistemologische Essay von Hermann Doetsch. Gestützt auf die Arbeiten von Michel Serres charakterisiert er Vernes Romankonzeption aus der Epoche thermodynamischer Maschinen als „ein Erzählen, das eher ein Berechnen ist“ (178) und siedelt den Roman „am Umbruch zwischen klassischer, mechanischer Maschine der Kraftumleitung und moderner, thermodynamischer Maschine der Energieumwandlung“ (179) an. Hinter dem Motiv der Wette sieht Doetsch mit Blick auf die Entropie-Debatte die phantasmatische Angst der Jahrhundertwende vor dem Verlust an Energie, der letztendlich den Verlust des Lebens bedeutet“ (180). An die Geschichte der Bühnenfassungen und -aufführungen und daran, wie populär der Stoff „in den Aulen von Schulen auf der ganzen Welt“ (233) noch immer ist, erinnert endlich Volker Dehs. In den abgedruckten Kurzbeiträgen mischen die Herausgeber geschickt Originalartikel mit Nachdrucken und zum Teil Übersetzungen, sowie mit zeitgeschichtlichen Dokumenten, die zu dem kulturgeschichtlichen Eindruck dieser Textsammlung beitragen. Schöne Beispiele bilden der Beitrag von Jörg Dünne über Segelschlitten und „ekstatische Konnektivität“ (300), Wolfram Nitschs Überlegungen zur „gekrümmten Trasse“ der amerikanischen Eisenbahn (271) oder Ulrike Sprengers Überlegungen zur hybriden Henrietta und der Überblendung von „maschinelle(r) und nautische(r) Ekstase“ (309). Erwähnung verdient das Beispiel einer Weltumrundung durch einen gewissen William Perry Fogg (1872), aus dessen Reisebericht der erste Brief in Übersetzung abgedruckt ist. Wir erfahren etwas - von Bernhard Siegert - über „Seereisen unter Dampf und Segel zwischen 1862 und 1872“ (235), die SS Rangoon in den Jahren 1863 und 1864 (131) oder über Thomas Cooks Descriptive of a Tour Round the World von 1873. Wissens- und kulturge- 174 Comptes rendus schichtlich besonders wichtig: der Hinweis von Steffen Siegel und Petra Weigel auf Hermann Berghaus’ Chart of the World on Mercator’s Projection von 1870/ 72, dessen Karte „erstmals das Phänomen weltweiter Vernetzung aus der Perspektive der sich im Moment der Kartenentstehung erst entwickelnden und ereignenden neuen Verkehrs- und Kommunikationsformen des 19. Jahrhunderts“ visualisiert (185). Die Chart of the World erscheint nach dem Vf. als „Bildformel eines Bewusstseins für neues globales Handeln und Reisen“ (186); sie wird in der Weltumrundung von Francis Train, des „wahren Phileas Fogg“ (Sebastian Haag, 250) 1870 umgesetzt und findet „in Phileas Fogg’s Reise ihre bis heute attraktivste literarische Fiktion“ (186). Das britische Empire hat, wie Ulrike Kindner (190sqq.) zeigt, diese globale Vernetzung und Begehbarkeit der Welt erst möglich gemacht. Die schöne Publikation des Herausgeberkollektivs „Passepartout“, von der hier nur die wichtigsten Beiträge erwähnt werden konnten, überträgt die Begehbarkeit in den Bereich der literatur- und kulturgeschichtlichen Synthese und präsentiert sich als die seit langem erste, ebenso geistreiche und eigenwillige wie anregende Publikation zu Jules Verne in deutscher Sprache. Friedrich Wolfzettel (Frankfurt/ Main) —————————————————— VOLKER ROLOFF / SCARLETT WINTER / CHRISTIAN VON TSCHILSCHKE (ED.): ALAIN ROBBE-GRILLET - SZENARIEN DER SCHAULUST, TÜBINGEN, STAUFFENBURG, 2011, 192 S. Der vorliegende Band enthält die Beiträge eines zweitägigen internationalen Kolloquiums, das im Oktober 2009 an der Universität Siegen stattgefunden und sich zum Ziel gesetzt hat, die noch immer wenig erforschten intermedialen Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Filmkunst bei Alain Robbe-Grillet zu untersuchen. Der Tod Robbe-Grillets im Jahr 2008 diente gewissermaßen als Anlass, das Gesamtwerk dieses als ‚Papst‘ des Nouveau Roman literaturgeschichtlich zwar bestens bekannten, als Filmschaffender und Verfasser von Filmdrehbüchern aber nach wie vor schwer einzuordnenden Autors zu bilanzieren. Im Zentrum stand dabei ausdrücklich eine nicht genregebundene Perspektive. Ausgelotet und theoretisch erfasst werden sollten die Verfahren, die medienübergreifend die Ästhetik Robbe-Grillets prägen. Der Titel des Bandes - Szenarien der Schaulust - hat hier seinen Grund. Denn immer geht es bei Robbe-Grillet um das Sehen, ob dieses nun akribisch und detailversessen an den Gegenständen und Erscheinungsweisen der Realität haftet wie in den frühen Romanen des Nouveau Roman (Le Voyeur, La Jalousie), imaginär ergänzt und aufgeladen wird wie in Projet pour une révolution à New York, Djinn oder der Trilogie der Romanesques oder aber durch Filmschnitt, Montage und die eigenwillige Kombination von Ton, Wort und Bild in den Filmen (Glissements progressifs du plaisir, La Belle captive, C’est Gradiva qui
