eJournals lendemains 38/150-151

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2013
38150-151

Volker Roloff / Scarlett Winter / Christian von Tschilschke (ed.): Alain Robbe-Grillet - Szenarien der Schaulust

91
2013
Franziska Sick
ldm38150-1510174
174 Comptes rendus schichtlich besonders wichtig: der Hinweis von Steffen Siegel und Petra Weigel auf Hermann Berghaus’ Chart of the World on Mercator’s Projection von 1870/ 72, dessen Karte „erstmals das Phänomen weltweiter Vernetzung aus der Perspektive der sich im Moment der Kartenentstehung erst entwickelnden und ereignenden neuen Verkehrs- und Kommunikationsformen des 19. Jahrhunderts“ visualisiert (185). Die Chart of the World erscheint nach dem Vf. als „Bildformel eines Bewusstseins für neues globales Handeln und Reisen“ (186); sie wird in der Weltumrundung von Francis Train, des „wahren Phileas Fogg“ (Sebastian Haag, 250) 1870 umgesetzt und findet „in Phileas Fogg’s Reise ihre bis heute attraktivste literarische Fiktion“ (186). Das britische Empire hat, wie Ulrike Kindner (190sqq.) zeigt, diese globale Vernetzung und Begehbarkeit der Welt erst möglich gemacht. Die schöne Publikation des Herausgeberkollektivs „Passepartout“, von der hier nur die wichtigsten Beiträge erwähnt werden konnten, überträgt die Begehbarkeit in den Bereich der literatur- und kulturgeschichtlichen Synthese und präsentiert sich als die seit langem erste, ebenso geistreiche und eigenwillige wie anregende Publikation zu Jules Verne in deutscher Sprache. Friedrich Wolfzettel (Frankfurt/ Main) —————————————————— VOLKER ROLOFF / SCARLETT WINTER / CHRISTIAN VON TSCHILSCHKE (ED.): ALAIN ROBBE-GRILLET - SZENARIEN DER SCHAULUST, TÜBINGEN, STAUFFENBURG, 2011, 192 S. Der vorliegende Band enthält die Beiträge eines zweitägigen internationalen Kolloquiums, das im Oktober 2009 an der Universität Siegen stattgefunden und sich zum Ziel gesetzt hat, die noch immer wenig erforschten intermedialen Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Filmkunst bei Alain Robbe-Grillet zu untersuchen. Der Tod Robbe-Grillets im Jahr 2008 diente gewissermaßen als Anlass, das Gesamtwerk dieses als ‚Papst‘ des Nouveau Roman literaturgeschichtlich zwar bestens bekannten, als Filmschaffender und Verfasser von Filmdrehbüchern aber nach wie vor schwer einzuordnenden Autors zu bilanzieren. Im Zentrum stand dabei ausdrücklich eine nicht genregebundene Perspektive. Ausgelotet und theoretisch erfasst werden sollten die Verfahren, die medienübergreifend die Ästhetik Robbe-Grillets prägen. Der Titel des Bandes - Szenarien der Schaulust - hat hier seinen Grund. Denn immer geht es bei Robbe-Grillet um das Sehen, ob dieses nun akribisch und detailversessen an den Gegenständen und Erscheinungsweisen der Realität haftet wie in den frühen Romanen des Nouveau Roman (Le Voyeur, La Jalousie), imaginär ergänzt und aufgeladen wird wie in Projet pour une révolution à New York, Djinn oder der Trilogie der Romanesques oder aber durch Filmschnitt, Montage und die eigenwillige Kombination von Ton, Wort und Bild in den Filmen (Glissements progressifs du plaisir, La Belle captive, C’est Gradiva qui 175 Comptes rendus vous appelle) und Drehbüchern (Forteresse) zum Thema und nachgerade medienreflexiven Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht wird. Das Vorwort der drei Herausgeber spannt den Bogen dieses Sehens von einer „blickorientierten écriture“ (7) über die „Inszenierung einer Wahrnehmungsstruktur, die sich aus dem Imaginären speist“ (9), bis hin zu einem „désir de voir “ (13) und macht damit die wechselnden, ja durchaus heterogenen Aufsatzpunkte der Ästhetik Robbe-Grillets deutlich. Schließlich verweist der Begriff der écriture zuvörderst auf eine Weise des Schreibens und der désir de voir auf ein Subjekt. Kategorial zwischen Darstellungsintention und voyeuristischer Neugier liegt die „Inszenierung einer Wahrnehmungsstruktur“. Sie lässt sich, je nach Auslegung des Begriffs, beiden Polen zuordnen und nimmt damit eine schillernde Mittelposition ein. Über das Gesamtwerk betrachtet, kann von diesen Begriffsverschiebungen und veränderten Aufsatzpunkten aus die Ästhetik Robbe-Grillets in ihrer Entwicklung charakterisiert werden. Unbestritten ist - das machen die Beiträge des Bandes insgesamt deutlich -, dass diese Entwicklung die literarischen und die filmischen Werke Robbe-Grillets gleichermaßen prägt. Als Ästhetik der Intermedialität aber lässt sich das Vorgehen Robbe-Grillets nur unter der von Volker Roloff einleitend skizzierten Voraussetzung fassen, dass Medien nicht über ihre materialen und technischen Besonderheiten definiert, sondern als Sinne des Menschen verstanden und in der Natur verankert werden. Denn nur unter dieser Voraussetzung ist das Zusammenspiel der Sinne - also das, was in früheren Zeiten mit dem Begriff der Synästhesie belegt war - Intermedialität, nur unter dieser Voraussetzung auch können ‚innere Bilder‘ sich gleichermaßen - oder, technisch gesehen: medienindifferent - in literarischen Texten und filmischen Bildern realisieren (cf. 15sq.). Wenn allerdings alles im Kopf passiert („Robbe-Grillet est l’auteur et le metteur en scène de l’imaginaire et du rêve, des figures oniriques, des fantômes, des fantasmes et des spectres“, 18), gerät die Spezifik der Darstellungsweise, auch und gerade in ihrer Genregebundenheit, zugunsten der Person des Autors oder einzelner seiner literarischen/ filmischen Figuren auch leicht aus dem Blick. Im Fokus mehrerer Beiträge steht denn auch der Autor Robbe-Grillet. So untersucht Alain Goulet die „visions intérieures“ (23) und „fantasmes obsédants“ (36) Robbe-Grillets in ihren thematisch-motivischen Ausprägungen in den Romanen verschiedener Schaffensphasen. So widmet sich Scarlett Winter dem Thema des „voyeuristischen Sehens“ (77) in Text und Film, beschreibt einzelne Voyeurszenen hier und dort, um insgesamt festzuhalten, dass Robbe-Grillet ein „erotisches Kopfkino“ (80) zelebriere, über das er sich mit dem Leser/ Betrachter verbünde, um diesen letztlich auf seine eigene Schaulust zurückzuwerfen. Ähnlich argumentiert Uta Felten, wenn sie bei Proust und Robbe-Grillet eine gleich geartete, hier wie dort über die Figur eines Paparazzo instrumentierte Technik der Momentaufnahme ausmacht, die auf die „Entlarvung des angeblich Skandalösen als Phantasie im Kopf der Leserinnen und Leser“ (108) ziele. 176 Comptes rendus Wo die „Schaulust“ weniger unmittelbar auf den Autor oder, über diesen vermittelt, auf den Betrachter und Leser bezogen wird, kommt der Aspekt des Intermedialen zwar mitunter zu kurz, doch ergeben sich dafür genauere Einblicke in die Entwicklung des Werks Robbe-Grillets. So vertritt Jochen Mecke die These, dass bei Robbe-Grillet die literarische Präsentation des Realen maßgeblich durch das technische Dispositiv des Films inspiriert sei, was im Frühwerk (La Jalousie) zu einer präsentischen, mit allen herkömmlichen Schemata der narrativen Geschehensdeutung brechenden Erzählweise führe (cf. 45), während im Spätwerk, beginnend mit Le Miroir qui revient und entsprechend dem Gesetz der steten (hier: avantgardistischen) Überbietung, bloße Abziehbilder zum Vorwurf dienten, was die Verwandlung der „Schau-Lust in Show-Lust“ (54) zur Folge habe. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt René Prédal, wenn er die negativen Kritiken, die zumal die späten Filme Robbe-Grillets bei ihrem Erscheinen erhielten, darauf zurückführt, dass Robbe-Grillet den subversiven Gestus des Nouveau Roman in den Bereich des Films überträgt und, entgegen aller Konformismen und Antikonformismen, im Film nicht von der Realität, sondern allein von deren Repräsentationen handele (cf. 65). Die konzeptuelle Bedeutung des Films für die Ästhetik Robbe-Grillets arbeitet Patricia Oster heraus. Sie zeigt, wie Robbe-Grillet die Schnitt- und Montagetechnik in Auseinandersetzung mit Eisensteins Manifest zum Tonfilm (1928) für sich entdeckt, literarisch modellhaft in den Instantanés erprobt und dann in seinen Filmen in medienreflexiver Weise selbst praktiziert: „Alle Filme Robbe-Grillets reflektieren den Schnitt und verweisen auf sich selbst und die Materialität des Mediums“ (94). Aus anderer Perspektive bestätigt wird diese These durch François Jost, der die fehlende Narrativik der Bilder in den Filmen Robbe-Grillets zum Anlass nimmt, zu fragen, wie unter solcher Voraussetzung überhaupt zu erkennen sei, wovon der Film handle, und über einen Vergleich von Robbe-Grillets Film Le Jeu avec le feu mit Alban Bergs Oper Wozzeck zu dem Ergebnis kommt, dass das strukturelle Novum in einer „musicalisation de la narration“ (119) liege. Versteht man die „Schaulust“, wie der Band insgesamt suggeriert, als das Begehren, etwas zu sehen, das man vermutet, erahnt oder sehen will, ohne Beweise dafür zu haben, dass es auch tatsächlich etwas zu sehen gibt, stellt sich im Umkehrschluss die Frage, wie Robbe-Grillet das Spiel mit dem nicht Gezeigten ästhetisch inszeniert. So arbeitet Christian von Tschilschke an dem erst aus dem Nachlass publizierten Drehbuch La Forteresse (1992/ 2009) heraus, wie Robbe-Grillet hier, wo nur das Sehen und die Bilder, nicht aber - wie noch im ciné-roman - Sprache und Schrift eine Rolle spielen, den Wechselbezug von Schweigen und Sehen medienreflexiv gestaltet, und plädiert dafür, das Schweigen als Teil einer „intermedialen Ästhetik“ (141) zu betrachten. Mit dem Schweigen beschäftigt sich auch, aus anderer Perspektive, der Beitrag von Ernstpeter Ruhe. Er zeigt, gestützt auf einen intertextuellen Vergleich von Robbe-Grillets Le Voyeur und Brasillachs Six heures à perdre, wie Robbe-Grillet Geschichte weißt, wie er den Text des faschistischen Autors so ausbleicht, dass nicht das Gesagte, sondern das Verschwiegene als das eigentlich Sprechende erscheint (cf. 156). Wie verschwiegen 177 Comptes rendus Robbe-Grillet auch hinsichtlich seiner eigenen Autorschaft sein kann, mit welcher Lust er den Leser narrt, führt Hans T. Siepe ausgehend von eigener Korrespondenz mit dem Autor in Zusammenhang mit dessen Histoire d’O vor Augen. Wer sich tatsächlich oder wie viel Alain (Paul) Robbe-Grillet sich hinter dem anagrammatisch verschlüsselten Autornamen Pauline Réage, auf den auch das Vorwort zu L’Image verweist, verbirgt, muss nach dem Tod Robbe-Grillets wohl aber für immer offen bleiben. Eine gleichsam visuelle Dimension des Schweigens schließlich macht Kerstin Küchler vor dem Hintergrund der neueren Raumdebatten in den „Blindfeldern“ der Stadtromane Robbe-Grillets aus. Unter einem Blindfeld sind keine konkreten städtischen Orte zu verstehen, es bezeichnet metaphorisch eine Wahrnehmungssituation (cf. 162sq.), die in gut surrealistischer Tradition zwischen Realem und Imaginärem changiert und in Passagen, Parks und Sackgassen ihren bevorzugten Ort hat. Als ‚blinder Fleck‘ bleibt dabei allerdings die offene Frage, ob die surrealistische mythologie moderne lediglich neu belebt oder funktional neu eingepasst wird. Nicht alles in diesem Band wird der Kenner Robbe-Grillets für neu befinden, neu justiert aber ist der Blick auf einen Autor, der - zumal in den Literaturwissenschaften - allzu leicht und allzu schnell mit den Etiketten des Nouveau Roman und der Nouvelle Autobiographie versehen wird, ohne dass seinen filmischen Arbeiten und deren Verhältnis zur Literatur immer die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird. Franziska Sick (Kassel) —————————————————— ELKE RICHTER / KAREN STRUVE / NATASCHA UECKMANN (ED.): BALZACS „SARRASINE“ UND DIE LITERATURTHEORIE. ZWÖLF MODELLANALYSEN, STUTTGART, PHILIPP RECLAM JUN., 2011, 272 P. Elke Richter, Karen Struve und Natascha Ueckmann haben in der grünen Studienreihe der Reclam-Bibliothek einen für alle Studierende der (franko-)romanistischen Literaturwissenschaft in hohem Maße beachtenswerten Band zu Balzacs Sarrasine im Spiegel der Literaturtheorie herausgegeben. Zusammen mit anderen NachwuchswissenschaftlerInnen präsentieren sie eine gleichermaßen umfassende wie eingängige Auseinandersetzung mit jener Novelle, die nicht zuletzt dank Roland Barthes’ Analyse von 1970 in besonderer Weise das Augenmerk der Literaturwissenschaft auf sich gezogen hat. In zwölf Einzelbeiträgen werden dabei zunächst die Grundzüge einer literaturtheoretischen Richtung und gegebenenfalls ihrer zugehörigen Methode vorgestellt, die im Anschluss daran auf die Novelle illustrierend angewendet werden. Der vollständige Abdruck von Balzacs Primärtext zu Beginn der Bandes ermöglicht den Leserinnen und Lesern eine genaue Vor-