eJournals lendemains 38/150-151

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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2013
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Wolfgang Asholt / Marc Dambre (ed.): Un retour des normes romanesques dans la littérature française contemporaine

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2013
Jörn Steigerwald
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180 Comptes rendus literaturwissenschaftliche Methodenvielfalt sich aus einer Reihe von jeweils berechtigten Fragestellungen herleitet, die insgesamt die Komplexität des Phänomens Literatur umkreisen. Maximilian Gröne (Augsburg) —————————————————— WOLFGANG ASHOLT / MARC DAMBRE (ED.): UN RETOUR DES NORMES ROMANESQUES DANS LA LITTÉRATURE FRANÇAISE CONTEMPORAINE, PARIS, PRESSES SORBONNE NOUVELLE, 2010, 317 S. Im Februar 2007 veröffentlichte eine Reihe von zum großen Teil ausgesprochen prominenten französischsprachigen Schriftstellern in Le Monde des Livres ein Manifest unter dem Titel Pour une ‚littérature-monde‘ en français. Mit dieser Streitschrift wendeten sich die Autoren einerseits gegen die ihrer Meinung nach überkommene, aber von der universitären Literaturkritik immer noch gehegte Literatur der ‚École de Robbe-Grillet‘. Ihr Argument gegen diese Schule lautet, dass sie einseitig eine Pariser Hochkultur pflege, die vorzugsweise die Autoreferenzialität und die Intertextualität fokussiere, um einem akademischen Publikum ein rein intellektuelles Lesevergnügen zu bereiten. Andererseits plädieren die Romanautoren für eine mehrfache Rückkehr zu einer Literatur, die sowohl welt- und subjekthaltig ist als auch die Geschichte als Sujet der Erzählungen wieder in dem Blick nimmt. Weiterhin wird eine Verabschiedung der Pariser Dominanz gefordert, die auf der unhintergehbaren Verbindung von Sprache und Nation bestehe, was sich gerade in deren Unterscheidung von französischer und frankophoner Literatur zeige. Dem gegenüber befürworten die Unterzeichnenden des Manifests, die Pluralität der literarischen Stimmen ernst zu nehmen, um eine neue französische Literatur zu schaffen, die zum einen in französischer Sprache geschrieben werde und zum anderen den Gegebenheiten der kulturellen, politischen und sozialen Gegenwart, gerade nach dem Ende der Ideologien, gerecht werde. Vor diesem Hintergrund kann der 2010 bei den Presses Sorbonnes nouvelles erschienene Sammelband Un Retour des normes romanesque dans la littérature contemporaine auf gleich mehrfache Weise das Interesse des Lesers auf sich ziehen. Dies liegt zunächst einmal daran, dass in diesem Band vorzugsweise Vertreter jener akademischen Institutionen zu Wort kommen, die von den Autoren des Manifests als Statthalter der Literaturtheorie der 1960er und 1970er Jahre und damit eben auch der akademischen Deutungshoheit über den Gegenwartsroman angesehen werden. Daraus resultiert als erstes die Frage, ob respektive wie in diesem Band auf die Initiative der Romanschriftsteller reagiert wird. Des Weiterem erregt bereits der Titel des Bandes die Aufmerksamkeit des Lesers, da sich gerade vor dem Hintergrund des Manifests die Frage stellt, inwiefern von einem „retour des normes romanesques“ gesprochen werden kann. Folgt man der Argumenta- 181 Comptes rendus tion der Romanschriftsteller, wäre vielmehr zu fragen, ob man nicht eher von einer Verabschiedung der „normes romanesques“ sprechen sollte, die von der Literaturkritik vorgegeben wurden, wenn nicht ganz grundsätzlich zu fragen wäre, inwiefern überhaupt sinnvoll von „normes romanesques“ gesprochen werden kann, da doch der Roman seit seinen Anfängen als die per se nicht normative Gattung angesehen wurde. Doch verdeutlichen bereits diese Fragen, dass es sich bei dem vorliegenden Band um ein ausgesprochen spannendes Projekt handelt, das keineswegs einen Endpunkt der Diskussionen (nicht nur) über die Gegenwartsliteratur markiert, sondern einen von deren ausgesprochen fruchtbarer Anfangspunkten. Dies sei im Weiteren anhand einiger Überlegungen konkretisiert, die von den Beiträgern und Beiträgerinnen zur Diskussion gestellt werden. Zur besseren Orientierung seien indes kurz einige eher formale Charakteristika des Sammelbandes genannt: Der Band ist in drei Teile gegliedert, wobei der erste Teil den Modellen, Theorien und Themen des Gegenwartsromans gewidmet ist, während sich der zweite Teil auf die Wiederkehr des Sozialen und der Geschichte konzentriert. Der dritte Teil trägt hingegen die wenig schmeichelhafte Überschrift „Diversité du contemporain“ und suggeriert mehr ein Allerlei und weniger eine paradigmatische Auseinandersetzung mit der Fragestellung des Bandes. Betrachtet man die behandelten Autoren, so wird man viel Vertrautes, aber auch manch Überraschendes feststellen. Wenig überraschend, wenn auch innerhalb des gesetzten Rahmens vollkommen logisch ist die Konzentration auf Roland Barthes, dessen Literaturkonzeption den expliziten oder impliziten Ausgangs- und Endpunkt eigentlich aller Beiträge bildet. Ebenfalls erwartbar ist die Referenz auf die beiden großen Nouveaux Romanciers Alain Robbe-Grillet und Claude Simon, wobei es schon überrascht, dass Michel Butor und insbesondere dessen nicht unbedeutende Überlegungen zum so genannten Realismus von Honoré de Balzac nicht für die verfolgte Fragestellung mitreflektiert werden. Richtet man den Blick auf die behandelten Autoren, ergibt sich bereits ein differenziertes Bild. Diskutiert werden ausführlicher die folgenden Autoren: Frédéric Beigbeder, Pierre Bergounioux, François Bon, Didier Daeninckx, Marguerite Duras, Jean Echenoz, Anne-Marie Garat, Christian Garcin, Michelle Grangaud, Michel Houellebecq, Nancy Houston, Régis Jauffret, Hédi Kaddour, Pascale Kramer, Jonathan Littell, Laurent Mauvignier, Pierre Michon, Patrick Modiano, Marie N’Diaye, Georges Perec, Raymond Queneau, Olivia Rosendahl, Jean Rouaud, Jacques Roubaud, Danièle Sallenave, Jean-Philippe Toussaint, Antoine Volodine und Anne Weber. Die Liste scheint auf den ersten Blick ausgesprochen umfangreich, in mancher Hinsicht sogar positiv überraschend, da zahlreiche Autoren behandelt werden, deren Bekanntheit auch bzw. gerade bei einem deutschen Leser französischer Gegenwartsliteratur nicht immer vorausgesetzt werden kann. Betrachtet man die Liste hingegen etwas genauer, dann erkennt man einige bemerkenswerte Schwerpunktsetzungen, die gerade für die vom Titel des Bandes vorgegebene Frage nach einer Rückkehr der „normes romanesques“ nicht unerheblich sind. 182 Comptes rendus Zunächst ist festzuhalten, dass weiterhin diejenigen Autoren gepflegt werden, die man zum einen seit den 1980er Jahren als die Repräsentanten des französischen Gegenwartsromans anzusehen gewohnt ist und die sich zum anderen in den Éditions de Minuit versammeln, wie etwa Echenoz oder Toussaint. Ergänzt werden diese ‚tradierten‘ Autoren von solchen, die sich in dem oben genannten Manifest zusammengeschlossen haben, wie etwa Rouaud oder Houston. Doch zeigt sich gerade hier eine erste Bruchstelle, die mir nicht unerheblich scheint. Denn Autoren wie J.M.G. Le Clézio oder Tahar Ben Jelloun fehlen vollständig, was gerade hinsichtlich des Ersteren von besonderem Interesse ist, da er als Nobelpreisträger für Literatur zwar außerhalb von Frankreich durchaus für den Roman der „littérature-monde“ einzustehen scheint, jedoch nicht notwendigerweise auch innerhalb von Frankreich. Hervorhebenswert ist zudem, dass in einigen Studien explizit auf die Romane der Autorengruppe OULIPO positiv eingegangen wird, und dies nicht nur anhand von Georges Perec, sondern auch anhand von Jacques Roubaud. Hier scheint sich, insbesondere von französischer Seite, ein veränderter Blick auf die Leistung dieser Gruppe für die Gegenwartsliteratur abzuzeichnen, was wiederum Auswirkungen haben könnte auf die Beschäftigung mit diesen Autoren, insbesondere mit den Romanen von Raymond Queneau, die häufig in der Argumentation mitgeführt werden (besonders lesenswert hierfür ist der Beitrag von Alain Schaffner). Schließlich werden Autoren in die Reflexion des Gegenwartsromans integriert, die bis dato eher als randständig angesehen wurden, wie etwa Patrick Modiano, auch wenn Autoren wie etwa Michel Tournier weiterhin fehlen. Folglich bleibt der Kanon der Gegenwartsautoren nach wie vor weitgehend bestehen, wie insbesondere die Kritik an Michel Houellebecq und dessen Romanen vor Augen stellt, der zwar einerseits genannt wird, jedoch andererseits stets als bête noire fungiert, um die ‚eigentlichen‘ Vertreter des Gegenwartsromans positiv von ihm abzusetzen. Geht man von hier aus noch einen weiteren Schritt zurück und betrachtet die mit den behandelten Autoren verbundenen Konzepte und Modelle, dann erkennt man drei zentrale Fragestellungen der Studien: Erstens wird deutlich, dass ein dominanter Fokus auf der Integration der Geschichte bzw. genauer: der historischen Dimension des Erzählens und intersubjektiven Erlebens in das romaneske Schreiben liegt. Hierfür sei nur exemplarisch verwiesen auf die ausgesprochen lesenswerten Studien von Michael Sheringham zu Pierre Michon, von Wolfgang Asholt zu Jean Rouaud, aber auch von Frank-Rutger Hausmann zu Jonathan Littell. Demgegenüber wird der Bereich des Sozialen, auch wenn ihm mit der Geschichte ein eigener Teil zugeordnet wird, weitgehend ausgeklammert bzw. genauer: er wird nur insofern als relevant angesehen, insofern er bedeutungsstiftend ist für die Erfassung der Geschichte. Nochmals verschärft wird dieser Ausschluss der sozialen Realität aus der Literatur durch eine Konzentration auf die „littérature du réel“ und eben nicht auf eine „littérature du réalisme“. Doch würde es gerade letztere im Anschluss an die Realismuskonzeption von Erich Auerbach erlauben, sowohl die Geschichtlichkeit als auch die Gesellschaftlichkeit der Romane zu analysieren. 183 Comptes rendus Zweitens wird erkenntlich, dass Autoren und Romane in den Analysen bevorzugt werden, die sich mit den gängigen, seit dem Strukturalismus und Poststrukturalismus bekannten Methoden und Konzepten sinnvoll untersuchen lassen. Irritierende Werke werden dem gegenüber eher ausgespart oder von der universitären Kritik als randständig angesehen, wie gerade Hausmann in seiner Studie zu Littells Les bienveillantes herausarbeitet, indem er die Differenz zwischen negativer universitärer bzw. professioneller Kritik und positiver Rezeption von Seiten des Publikums markiert. Drittens tritt hervor, dass der im Titel behauptete „retour des normes romanesques“ einen mehr als bemerkenswerten Rückkoppelungseffekt produziert. In einem der wohl interessantesten Beiträge des Bandes stellt Johan Faerber die Frage: „Écrire: verbe transitif“? Damit argumentiert er unter Bezugnahme auf ausgewählte Autoren der Gegenwartsliteratur einerseits gegen das Literaturkonzept, das Roland Barthes in seinem berühmten Aufsatz „Écrire: verbe intransitif“ niederlegte. Dabei unterstreicht Faerber, dass gerade der Roman auf mehrfachen Referenzen zur außersprachlichen Wirklichkeit aufbaut, um diese auf seine Weise in der Fiktion zu modellieren. Andererseits verdeutlicht gerade dieser Aufsatz, dass die Normierung des literaturwissenschaftlichen Blicks auf die Literatur - nicht nur der Gegenwart - in besonderem Maße auf denjenigen Voraussetzungen aufbaut, die im Speziellen von Roland Barthes sowie im Allgemeinen von den Theoretikern des Strukturalismus und Poststrukturalismus geschaffen wurden. Denn der Fokus, der einem Großteil der versammelten Studien zugrunde liegt, lässt sich vergleichsweise einfach als eine Kombination der Literaturkonzeptionen von Roland Barthes und Claude Simon verstehen, die auf der Integration der Geschichte, aber eben nicht der sozialen Realität basiert, um eine theoriehaltige Literatur zu schaffen, die vor allem in der akademischen Lektüre ihre Potenz entfaltet. Die Rückkehr der romanesken Normen entspräche damit - zugespitzt formuliert - einem ‚The academics write back‘, der auf das Manifest der aufständischen Romanautoren von 2007 folgt, um die eigene Deutungshoheit wieder herzustellen. Weniger zugespitzt bzw. positiv formuliert zeigt sich hier ein Zugang zur Gegenwartsliteratur, der sich systematisch in der Opposition von Präsenz- und Referenzästhetik fassen lässt und konzeptionell in der Frage mündet, was unter ‚Realismus‘ zu verstehen ist. Eine Frage, die nicht nur angesichts des Gegenwartsromans ihre grundsätzliche Bedeutung für die Literaturkritik erkennen lässt. Dem Sammelband kann somit als Ganzes eine geradezu seismographische Qualität zugeordnet werden: Er versucht die Unruhe, die von der Gegenwartsliteratur ausgeht, nicht nur zu reflektieren, sondern auch begrifflich und konzeptionell zu erfassen. Dass dies vorzugsweise im Rückgriff auf die tradierten, aus den 1960er und 1970er Jahren entwickelten Literaturkonzepte geschieht, ist zunächst einmal vollkommen logisch, wenn nicht unausweichlich. Doch stellt der Band auch heraus, wie die beiden Herausgeber in ihrer ausgesprochen spannend zu lesenden Einleitung hervorheben, dass die Frage, wie die Veränderungen in der Gegenwartsliteratur seit den 1990er Jahren und insbesondere seit der Jahrtausend- 184 Comptes rendus wende zu begreifen sind, keineswegs beantwortet ist, sondern vielmehr erst am Anfang der Beantwortung steht. Dabei scheint mir eines der großen Verdienste des Bandes gerade auch darin zu liegen, dass hier das Nachdenken über die Gegenwartsliteratur dazu führt, über das Nachdenken in zweifacher Weise zu reflektieren: zum einen hinsichtlich des veränderten Status der zu analysierenden Texte und zum anderen hinsichtlich des jeweiligen theoriegeleiteten Zugangs zu diesen Texten. Denn gerade die Gegenwartsliteratur erfordert nicht selten neue Zugänge zu den Romanen, da sie mit den tradierten Theorien und Methoden nicht immer greifbar sind, weshalb sie dazu auffordern, neue und d.h. vor allem adäquate Zugänge zu erproben. Und hierfür leistet der vorliegende Sammelband einen mehr als spannenden Beitrag. Was kann man besseres über einen Tagungsband sagen? Jörn Steigerwald (Bochum) —————————————————— JUTTA FORTIN / JEAN-BERNARD VRAY (ED.): L’IMAGINAIRE SPECTRAL DE LA LITTÉRATURE NARRATIVE FRANÇAISE CONTEMPORAINE, SAINT- ÉTIENNE: PUBLICATIONS DE L’UNIVERSITÉ DE SAINT-ÉTIENNE, 2012, 295 P. Jutta Fortin et Jean-Bernard Vray nous proposent une exploration approfondie du phénomène de la „spectralité“ dans la littérature française des dernières décennies du vingtième siècle et du commencement du vingt-et-unième. Le volume collectif contient dix-neuf essais par les chercheurs les plus connus de l’„extrême contemporain“, dont Dominique Viart, Bruno Blanckeman et Dominique Rabaté de la France, Michael Sheringham du Royaume-Uni et Colin Nettelbeck de l’Australie. Les sujets de trois de ces essais, les écrivains Alain Fleischer, Jean-Christophe Bailly et Yves Ravey, fournissent un complément aux études académiques en contribuant chacun leur propre intervention au livre, les deux premiers sous forme d’un entretien avec Vray et Fortin, et Ravey par un court texte précédemment paru dans Le Monde. Le livre a pour but de découvrir les retours du refoulé dans la littérature et la culture contemporaines, y compris le refoulé collectif d’événements traumatisants de l’histoire et le refoulé de l’individuel. La hantise principale de la littérature française reste, bien sûr, les années noires de l’Occupation et de la Shoah, dont il est question dans plusieurs chapitres du volume. Wolfgang Asholt nous offre une étude de l’unheimlich freudien dans l’œuvre de Ravey, où le thème de la rupture de la civilisation par la Shoah est omniprésent, mais jamais abordé de façon directe. Nettelbeck parle d’un „désarroi“ dans la culture française, face au retour des lâchetés et des hontes de l’Occupation dans la conscience collective. Viart, dans le chapitre qui ouvre le volume, tente de dresser une „poétique spectrale de l’Histoire“, dans laquelle le discrédit du discours documentaire et l’absence de traces concrètes de l’expérience des victimes de l’Histoire amènent les écri-