lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/91
2013
38150-151
Thomas Amos / Christian Grünnagel (ed.): Bruxelles surréaliste. Positionen und Perspektiven amimetischer Literatur
91
2013
Arik Jahn
ldm38150-1510192
192 Comptes rendus THOMAS AMOS / CHRISTIAN GRÜNNAGEL (ED.): BRUXELLES SURRÉA- LISTE. POSITIONEN UND PERSPEKTIVEN AMIMETISCHER LITERATUR, TÜ- BINGEN, NARR (ÉDITIONS LENDEMAINS 31), 2013, 138 S. Die belgische Kultur fristet nach wie vor ein Schattendasein. Die geographische Lage der 1830 unabhängig gewordenen, seit jeher von einem mehr oder minder offenen Konflikt zwischen dem flämischen und dem wallonischen Bevölkerungsteil geprägten Nation zwischen Deutschland, England und Frankreich bietet hierfür eine nahe liegende Erklärung: Die Aufmerksamkeit wird schlichtweg von den großen Nachbarstaaten absorbiert. Doch selbst innerhalb der Frankophonieforschung spielt Belgien unerklärlicherweise meist nur eine untergeordnete Rolle. Der vorliegende, 138 Seiten umfassende Band tritt an, mit zehn teils in Deutsch, teils in Französisch verfassten Beiträgen rund um die amimetische Literatur des frankophonen Belgiens dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Der griffige Titel Bruxelles surréaliste kann und soll in diesem Sinne auch als provokativer Hinweis auf die kulturhistorische Bedeutung des Nachbarlandes der ‚Grande Nation‘ Frankreich gelesen werden, deren Hauptstadt Paris gemeinhin als einzig wahre Heimat des Surrealismus angesehen wird. Die Stadt Bruxelles steht überdies, wie die Herausgeber in ihrem Einleitungstext erläutern, als „transnationale[r] Kreuzungs- und Schnittpunkt“ (6) verschiedenster Kulturräume prototypisch für die vielfältigen Einflüsse, die bis heute auf die belgische Kunst und Literatur einwirken. Der Zusatz surréaliste verweist dabei nicht allein auf die herausragende Bedeutung der wichtigsten Avantgardebewegung des 20. Jahrhunderts für die belgische Literaturgeschichte, sondern eingedenk seiner Etymologie, die die Existenz einer von der bewusst wahrnehmbaren Wirklichkeit verschiedenen Überrealität postuliert, auch und gerade auf die amimetische Tradition des Heimatlandes von Maurice Maeterlinck, René Magritte und Jean Ray in all ihren Facetten. Bereits der Titel macht also deutlich, dass hier das anspruchsvolle Projekt in Angriff genommen wird, gemäß der wissenschaftlichen Ausrichtung der Autoren die Literatur des frankophonen Teil Belgiens polyperspektivisch zu beleuchten, ihren grundsätzlichen Hang zum Amimetismus nachzuweisen und darüber hinaus den (wissenschaftlichen) Leser zu einer weiterführenden Auseinandersetzung mit der Thematik zu animieren. Bleibt die simple Frage: Gelingt dies? Der Band beginnt entsprechend der erklärten Motivation, indem er einem (nicht ganz unbekannten) externen Beobachter des Landes das Wort erteilt, der zwischen 1864 und 1866, unmittelbar vor seinem Tod, in Belgien weilte: Charles Baudelaire. In ihrem bereits erwähnten einleitenden Beitrag „Über-Wirklichkeiten: Konzeptionen des Amimetischen in Belgien“ interpretieren die beiden Herausgeber Thomas Amos und Christian Grünnagel Baudelaires vordergründig abschätzige Darstellung Belgiens in dessen posthum veröffentlichtem Projekt Pauvre Belgique! als in Opposition zum „rationalistischen, technizistischen und hochindustrialisierten Frankreich des Second Empire“ (4) stehende „ästhetisch-künstlerische Utopie“ (5). 193 Comptes rendus Hatte der Dichter also, kaum mehr als 30 Jahre nach der Entstehung eines unabhängigen Nationalstaates Belgien, bereits die besondere, oftmals traumhafte und unwirkliche Qualität des Landes erkannt, die Grundlage für eben jene Konstante des Amimetischen in der belgischen Kunst und Literatur ist, die der vorliegende Band aufzuzeigen versucht? Der zweite Beitrag stammt von einem der beiden Herausgeber. In „Praeliminarien zu einer Geschichte der amimetischen frankophonen Literatur Belgiens“ unternimmt Thomas Amos einen schlaglichtartigen literaturhistorischen Streifzug von den Anfängen der französischsprachigen belgischen Nationalliteratur bis hin zu ihren jüngsten Entwicklungen. In seine Betrachtungen bezieht der Autor auch die bildenden Künste sowie die Mischform des Comics mit ein, womit er jene breitere kulturgeschichtliche Perspektive offenbart, die sich bereits im dem Band vorangestellten, die visuelle Potenz von Sprache illustrierenden Epigraphen von Paul Nougé, einem der wichtigsten belgischen Surrealisten, andeutet: „L’ŒIL BLESSÉ / saigne / toutes / ses / images“. So, wie dieses Zitat offensichtlich mit der Umschlagabbildung (einem Bild aus Olivier Deprez’ Animationsfilm Après la mort, après la vie, das die - zufällige? - Begegnung einer offenen Schere mit einem Auge zeigt) in Wechselbeziehung tritt, wird das Verhältnis von Bild und Text auch in den Beiträgen des Bandes regelmäßig thematisiert und somit ein klassischer Diskurs der belgischen Avantgarden aufgegriffen. In Amos’ Aufsatz liegt der Akzent auf den im nationalen Kontext äußerst bedeutsamen Bewegungen des Symbolismus und des Surrealismus sowie der nicht minder einflussreichen École belge de l’étrange, der phantastischen Tradition Belgiens. Wie der Titel ankündigt, befasst sich Jana Náprstková-Dratvová im ersten französischsprachigen Beitrag des Bandes, „De l’extrême conscience à la naïveté du regard: Rodenbach, Verhaeren, Maeterlinck et les racines symbolistes du surréalisme belge“, mit den symbolistischen Ursprüngen des belgischen Surrealismus. Indem sie am Beispiel der drei genannten Autoren die maßgeblichen Verfahren des (literarischen) Symbolismus darlegt, gelangt sie schließlich zu dem Ergebnis, es bestehe „une véritable fraternité philosophique“ (51) zwischen den beiden künstlerischen Strömungen. Auf diese Weise stützt sie auch die zentrale These des Bandes, es gebe eine Kontinuität in der amimetischen Tendenz der nationalen Künste. Es folgt Annette Runtes Aufsatz „Des béguines mystériques. Traces surréalistes chez Georges Rodenbach“, in dem sie bei Rodenbach anhand der von ihm in die frankophone Literatur eingeführten Figur der Begine (klösterlich-enthaltsam lebende und dennoch nicht durch ein Gelübde gebundene Nonne) prä-surrealistische Elemente nachweist, was sich auch im Neologismus mystérique, zusammengesetzt aus mystère/ mystique (wesentliches Merkmal der symbolistischen Ästhetik) und hystérie/ hystérique (Faszinosum und Kunstideal des Surrealismus), ausdrückt. In ihre Analyse bezieht sie nicht nur den zu Berühmtheit gelangten Roman Bruges-la-Morte (1892), sondern auch den weniger bekannten Erzählband Musée de béguines (1894) mit ein. 194 Comptes rendus Mit Juliane Prades Beitrag „Lire avec lenteur - un somptueux lacis. Lecomte liest die Stadt“ beginnt der Teil des Bandes, der sich ganz dem belgischen Surrealismus widmet. Prade interpretiert Marcel Lecomtes Gedichtsammlung Le vertige du réel (1936) als metapoetischen Diskurs über die realitätsmodellierende Potenz von Sprache und Literatur. In diesem Sinne „betrachtet [Le vertige du réel] das Sehen, beobachtet beim Beobachten“ (70), thematisiert also der Autorin zufolge die Voraussetzungen von sprachlicher Visualität. In kontrastiver Gegenüberstellung zu einem der Schlüsseltexte des internationalen Surrealismus, André Bretons Roman Nadja (1928), analysiert Prade in der Folge Rolle und Verfasstheit der Stadt bei Lecomte. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, der belgische Surrealist gehe maßgeblich „der Frage nach, [ ] wie die Form einer Stadt ‚geschieht‘, wie sie ‚statt hat‘“ (75), und entwerfe sie im Zuge dessen als auf textimmanenten Blickstrukturen basierende „Sprachgestalt“ (82). Der zweite Herausgeber Christian Grünnagel trägt den Aufsatz „Bruxelles, boudoir sadien. Le ‚divin marquis‘ et le surréalisme belge“ bei und nimmt darin die intertextuellen Spuren des Marquis de Sade bei den belgischen Surrealisten René Magritte und Paul Nougé in den Blick. Hierzu betrachtet Grünnagel zunächst Magrittes Gemälde La Philosophie dans le boudoir (1947), dessen Titel unzweideutig auf den gleichnamigen Text des französischen Autors und Philosophen aus dem Jahre 1795 verweist, in dem die junge Eugénie eine in de Sade-typischer Manier schnell in Perversion abgleitende sexuelle Initiation erlebt. Dies finde sich auch im Gemälde des belgischen Künstlers wieder, wenn dieser in der Projektion weiblicher Körperteile auf leblose Kleidungsstücke eine auf ihre sexuellen Reize reduzierte „femme-objet“ (90) modelliere. In Paul Nougés 1968 posthum veröffentlichtem medienüberschreitenden Werk mit dem Titel Subversion des Images entdeckt Grünnagel in der Pervertierung des Alltäglichen und dem Motiv der Dienstbarmachung von Mensch und Objekt Bezüge zu de Sade. In sich schlüssig und dank der eingefügten Illustrationen gut nachvollziehbar untermauert der Aufsatz so die bereits von André Breton aufgestellte These, de Sade sei einer der Vorväter des Surrealismus. Der siebte Beitrag des Bandes, „L’objectile surréaliste: Magritte, Dotremont et Breton“, stammt von Angelos Triantafyllou und behandelt den (belgischen) Surrealismus im Lichte des Konzeptes des objectile von Gilles Deleuze, demzufolge Objekte nicht mehr über eine feste materielle Form definierbar sind, da sie einer ständigen „modulation temporelle“ unterworfen seien (vgl. 108). Hier erkennt Triantafyllou Parallelen zur surrealistischen Kunst und Literatur und deren Streben nach jenen durch künstlerische Verfahren entstehenden „[o]bjets nouveaux, insolites et hybrides“ (113), die die vermeintlich bekannte Dingwelt im Sinne der Theorie von Deleuze als eine einzige Ansammlung von „objets fluctuants“ (108) ausweisen. Beispielhaft hierfür werden im Weiteren Bretons Konzept des poème-objet, die logogrammes des belgischen Dichters und Künstlers Christian Dotremont und Magrittes Gemälde L’image en soi (1961) vorgestellt. 195 Comptes rendus Die letzten drei Beiträge drehen sich allesamt um Jan Baetens, seines Zeichens nicht nur Professor für Kultur- und Literaturwissenschaft an der Universität im flämischen Leuven, sondern auch zeitgenössischer frankophoner Dichter. Der Band stellt hier - in löblicher Abweichung von gängigen wissenschaftlichen Konventionen - der Literaturtheorie die Schreibpraxis zur Seite. Zunächst erläutert der Autor in einem kurzen Wortbeitrag sein durchaus zwiespältiges Verhältnis zur surrealistischen Tradition Belgiens. Der anschließenden prägnanten Vorstellung des „professeur-poète“ (121) durch die Herausgeber folgen Auszüge aus zwei von Baetens’ Gedichtbänden. Seine in freien Versen verfasste Lyrik weist dabei in ihrer oft intermedialen Intertextualität sowie ihrer Inszenierung des Außergewöhnlichen im Alltäglichen Merkmale auf, die das ästhetische und poetische Erbe des Surrealismus erkennen lassen. Auf diese Weise bestätigt sich ein weiteres und letztes Mal die These einer die Jahrhunderte überdauernden amimetischen Grundtendenz in der belgischen Literatur. Alles in allem erbringt der vorliegende Band den Nachweis der Existenz dieser die Literaturgeschichte des Landes durchziehenden Tradition des surrealen Schreibens durchaus überzeugend. Dass dabei, wie auch der Klappentext ankündigt, „ein Schwerpunkt auf dem belgischen Surrealismus liegt“ und der Symbolismus sowie insbesondere die bedeutsame phantastische Strömung der École belge de l’étrange im Vergleich etwas zu kurz kommen, zeigt die Notwendigkeit, das ehrgeizige Projekt der (wissenschaftlichen) Popularisierung und umfassenden Darstellung der belgischen Literatur weiter voranzutreiben. Anreize hierzu schafft der Band zur Genüge und wird so seinem einleitend formulierten eigenen Anspruch insgesamt gerecht. Lobend zu erwähnen ist einerseits die intermediale Perspektive, die nahezu alle Beiträge kennzeichnet und andere Kunstformen immer wieder fruchtbar in die Betrachtungen einbezieht, andererseits die Aufnahme von Primärtexten eines zeitgenössischen belgischen Autors in den Band, die ganz im Sinne seiner Zielsetzung zugleich Illustration und Werbung für das leitmotivische Bruxelles surréaliste sind. Die Lektüre ist demnach all jenen zu empfehlen, die Einblicke in ein noch relativ unerforschtes Gebiet der romanischen Literaturen erhalten wollen und offen für einen intermedialen und -disziplinären Zugang zur Thematik sind. Der Band eignet sich dank seiner teils unkonventionellen Fragestellungen jedoch gleichermaßen für Leser, die bereits mit der frankophonen belgischen Literatur vertraut sind. Wer einen erschöpfenden Überblick über die amimetische französischsprachige Literatur des Landes erwartet, wird hingegen angesichts des vergleichsweise geringen Umfangs des Bandes und seiner Fokussierung auf die surrealistische Bewegung enttäuscht werden. Bruxelles surréaliste sollte als das gelesen werden, was es sein will: als erkenntnisreiche Anregung zur vertiefenden Beschäftigung mit der belgischen Literatur. Arik Jahn (Frankfurt am Main)
