lendemains
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0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2013
38150-151
Erich Auerbach: Das salzige Brot der Fremde
91
2013
Mediha Göbenli
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196 Comptes rendus ERICH AUERBACH: DAS SALZIGE BROT DER FREMDE (YABANıN TUZLU EKMEĞI: ERICH AUERBACH’TAN SEÇME YAZıLAR. HAZıRLAYAN VE SUNAN: MARTIN VIALON. ÇEVIRENLER: SEZGI DURGUN, HALUK BARıŞCAN, CEV- DET PERIN, FIKRET ELPE, ISTANBUL, METIS YAYıNLARı, 2010, 319 S.) Die Überschrift dieser Buchbesprechung mag verwunderlich klingen. Obwohl Erich Auerbach (1892-1957) türkischen akademischen und intellektuellen Kreisen nicht unbekannt geblieben ist, ist erst jetzt eine Auswahl von Schriften und Briefen ins Türkische übersetzt worden. Vor allem findet Auerbach bei der Diskussion der modernen türkischen Universitätsgeschichte als Wissenschaftler Erwähnung, denn er wurde aus Nazi-Deutschland vertrieben, fand Zuflucht in Istanbul und beteiligte sich am Aufbau des modernen Universitätssystems. Aufgrund der Fürsprache seines Habilitationsvaters Leo Spitzer (1887-1960) wurde Auerbach 1936 an die 1933 neu gegründete Istanbul-Universität berufen, wo er bis 1947 tätig war. Im Istanbuler Exil verfasste er sein weltweit anerkanntes literaturgeschichtliches Hauptwerk Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, das 1946 in der Schweiz erschien und leider bislang noch nicht ins Türkische übertragen wurde. Mir vertraute Übersetzer berichten, dass es mehrere Versuche gab, dieses Buch zu übertragen, die jedes Mal aus sprachlichen Gründen scheiterten. Denn Mimesis ist ein Buch, dessen Übertragung wohl nur durch ein Kollektiv von Übersetzern bewerkstelligt werden sollte, das die Sprachen Altgriechisch, Latein, Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch beherrscht, waren es doch die Originalsprachen, aus denen die von Auerbach gewählten Textfragmente stammten, die er in Mimesis untersuchte. Nicht nur beim Aufbau des Fachbereichs Romanistik, Anglistik und Germanistik hatte Auerbach als Leiter der Fakultät für europäische Fremdsprachen geholfen, sondern er legte auch die Samenkörner für die Heranbildung türkischer Literaturwissenschaftlerinnen, die später die Philologie- und Literaturlandschaft prägen sollten. So waren unter seinen Studentinnen die Germanistinnen Safinaz Duruman und Şara Sayın, aber auch Mina Urgan, die später zur Anglistik wechselte und zur wichtigsten Übersetzerin und Deuterin der englischen Literatur heranreifte. Zu seinen Schülerinnen zählt ebenso die Romanistin Süheyla Bayrav, die Auerbachs in französischer Sprache geschriebenes Lehrbuch Introduction aux études de philologie romane (Vittorio Klostermann, 1949) aus dem Manuskript bereits 1944 ins Türkische übersetzte. In den letzten Jahren findet Auerbach öfter in Zusammenhang mit der Entstehungsgeschichte des Fachbereichs Komparatistik Erwähnung. Jedoch wird der Philologe nun das erste Mal - über 50 Jahre nach seinem Tod - ernsthaft mit der Übertragung einiger seiner Texte ins Türkische gewürdigt. Martin Vialon, der seit zehn Jahren in Istanbul die Fächer Literaturwissenschaft und Philosophie lehrt und als Herausgeber den Sammelband unter dem Titel Das salzige Brot der Fremde (entliehen einem Vers aus Dantes Göttlicher Komödie) mit einem ausführlichen Vorwort (9-89) und einer Zeittafel (93-96) eingeleitet hat, ist großer Dank auszu- 197 Comptes rendus sprechen für die 14 Aufsätze und fünf Exilbriefe, die nun der türkischen Öffentlichkeit vorliegen. Auch gebührt ihm Dank für seine Erläuterungen zu Auerbachs Dante- und Vico-Interpretationen; Vialon bietet damit einen wichtigen Leitfaden für den türkischen Leser, weil Auerbachs Texte nicht gleich auf Anhieb zu verstehen sind. Gleichfalls interessant sind Vialons Ausführungen zur Methodendiskussion, die sich auf geschichtsphilosophische und literatursoziologische Prämissen beziehen, die zwischen Auerbach und seinem Schüler Werner Krauss erörtert wurden. Erwähnenswert sind ebenso die Fotos von Auerbach sowie seinen deutschen und türkischen Freunden und Schülern, die, aus verschiedenen Archiven entnommen, in diesem Band veröffentlich wurden. So besteht der Sammelband mit Vialons Einleitung aus drei Teilen. Im ersten Teil bespricht der Herausgeber unter der Überschrift „Erich Auerbachs Humanismus in Istanbul“ sowohl den ideengeschichtlichen und zeithistorischen Hintergrund von Auerbachs Texten und Briefen wie auch deren Bedeutung im Zeitalter der Globalisierung, stellen sie doch in erster Linie eine frühe Antwort auf die Nivellierung der Universitätsbildung und Standardisierung der Kulturen (12) dar. Auf diese Gefahr hatte der Philologe bereits in den fünfziger Jahren hingewiesen, denn folgende Überlegung führt uns als Prophezeiung die später radikal eingetretene Entwicklung vor die Augen: „Unsere Kenntnis der Dokumente aus den letzten, literarisch von sich selbst zeugenden Jahrtausenden ist sehr gewachsen; es ist ferner den meisten von uns das historische Denken, welches nicht absolute Wertmaßstäbe anlegt, sondern sich bemüht, die verschiedenen geschichtlichen Erscheinungen jeweils aus ihren eigenen Voraussetzungen zu erklären, zur Selbstverständlichkeit geworden; und noch besitzen wir die konkrete Erfahrung von der Mannigfaltigkeit menschlicher Lebensformen. Diese Mannigfaltigkeit ist, trotz aller Konflikte zwischen den jetzt lebenden Völkern, im Schwinden begriffen; es ist vorauszusehen, dass in vergleichsweise kurzer Zeit die Zivilisationen entweder zerstört oder vereinheitlicht sein werden.“ 1 Diese Feststellung von der Vereinheitlichung und Standardisierung wurde von Auerbach in mehreren Arbeiten, vor allem in dem in diesem Band übersetzt vorliegenden Aufsatz Philologie der Weltliteratur (1952) getroffen, der für Komparatisten eine Basislektüre darstellen sollte. Für den Ausgangspunkt seiner literaturhistorischen Untersuchung legt Auerbach nahe, dass nach wie vor Goethes Begriff der Weltliteratur (1827) zu gelten habe: „[...] unsere Erde, die die Welt der Weltliteratur ist, wird kleiner und verliert an Mannigfaltigkeit. Weltliteratur aber bezieht sich nicht einfach auf das Gemeinsame und Menschliche überhaupt. Sondern auf dieses als wechselseitige Befruchtung des Mannigfaltigen. Die felix culpa des Auseinander- 1 Yabanın Tuzlu Ekmeği, 11 (hier zitiert nach: Erich Auerbach, „Vorwort“, in: Vier Untersuchungen zur Geschichte der französischen Bildung, Bern, Francke, 1951, 8). 198 Comptes rendus fallens der Menschheit in eine Fülle von Kulturen ist ihre Voraussetzung.“ 2 Auerbach sah die Vereinheitlichung des Lebens der Menschen auf dem ganzen Planeten in einer Zeit, die „Kalter Krieg“ genannt wurde: Zum einen verlief „die Standardisierung [ ] nach europäisch-amerikanischem“ 3 und zum anderen „nach russisch-bolschewistischem Muster“. 4 Wie Vialon in seiner Einführung betont, hatte Auerbach vor der sich abzeichnenden Enthistorisierung der Kulturen gewarnt. Historizität aber machte bei Auerbach den Gegenstand der Philologie als historische Disziplin aus: „Innerhalb der Weltwirklichkeit ist die Geschichte dasjenige, was uns am unmittelbarsten trifft, am tiefsten ergreift und am eindringlichsten das Bewusstsein unserer selbst bildet. Denn sie ist der einzige Gegenstand, in welchem die Menschen im Ganzen vor uns treten.“ 5 Betrachten wir den gegenwärtigen Standpunkt der Komparatistik, so hatte Auerbach also recht mit seiner Warnung vor den Vereinheitlichungstendenzen, die sich in diversen Modeströmungen äußerten. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wurden weltweit viele Fachbereiche der Vergleichenden Literaturwissenschaften entweder geschlossen oder an die „cultural studies“, die „area studies“, die „translation studies“ oder die „postcolonial studies“ angegliedert. Diese Entwicklung, die schon früh einen „Anspruch auf Herrschaft“ 6 stellte, hatte sich in den neunziger Jahren durch verwegene Thesen über den Tod des Subjekts und das Ende der Geschichte ausgedrückt. Der zweite Teil der Anthologie enthält Auerbachs Essays, die einen breiten Zeitraum von der Spätantike bis zur Moderne umfassen und sich wie folgt gliedern: „Dante und Vergil“, „Die Entstehung der Nationalsprachen in Europa im 16. Jahrhundert“, „Der Schriftsteller Montaigne“, „Die Französische Öffentlichkeit im 17. Jahrhundert“, „Der Triumph des Bösen: Ein Essay zur politischen Theorie von Pascal“, „Montesquieu und der Freiheitsgedanke“, „Voltaire und bürgerlicher Geist“, „Giambattista Vico und die Idee der Philologie“, „Über den historischen Ort Rousseaus“, „Über das ernsthafte Nachahmen des Alltäglichen“, „Realismus im 16. Jahrhundert in Europa“, „Romantik und Realismus“, „Marcel Proust: Der Roman von der verlorenen Zeit“ und „Philologie der Weltliteratur“. Nach Vialon wurden einige dieser Texte während Auerbachs Exilzeit in Istanbul auf Französisch und Deutsch verfasst und von seinen Schülern Fikret Elpe, Safinaz Duruman und Mina Urgan ins damalige Türkisch, das trotz der Sprachreform stark geprägt war von osmanischen Idiomen, übertragen. Deshalb wurden Auerbachs Texte für diesen Band von den Übersetzern ins heutige Türkisch umformuliert, um sie dem jüngeren Lesepublikum auf verständliche Weise zugänglich zu machen. 2 Erich Auerbach, „Philologie der Weltliteratur“, in: Walter Henzen / Walter Muschg / Emil Staiger (ed.), Weltliteratur, Festgabe für Fritz Strich zum 70. Geburtstag, Bern, Francke, 1952, 39. 3 Ibid. 4 Ibid. 5 Ibid.: 41. 6 Ibid.: 42. 199 Comptes rendus Im dritten Teil sind fünf Briefe enthalten, die vom Herausgeber eingeleitet und kommentiert wurden. 7 Die Exilbriefe an Walter Benjamin, Johannes Oeschger, Karl Vossler, Traugott Fuchs und Martin Hellweg gewähren dem türkischen Leser einen Einblick in das Alltagsleben der neugegründeten Republik in den späten dreißiger Jahren. Auerbach, der in seinen Schriften gegenüber den kemalistischen Reformen mit Kritik zurückhaltend war, betrachtete in seinen Briefen den spannungsreichen Modernisierungsprozess zwischen Tradition und Erneuerung äußerst skeptisch. Den Grund für diese Haltung erfahren wir aus Vialons Einleitung zu den Briefen (292sq.), denn die Emigranten-Professoren mussten einen Arbeitsvertrag unterschreiben, in dem festgelegt wurde, dass sie sich nicht in Angelegenheiten der Politik einmischen durften. Ferner schreibt Auerbach in diesen Briefen über die Arbeitsbedingungen an den türkischen Universitäten und das Leben der Exilanten, das von der NSDAP-Auslandsabteilung überwacht wurde; aber auch durch pantürkistische und antisemitische Strömungen in Istanbul fühlten sie sich bedroht. Wesentliches zum Verständnis von Auerbachs Literaturmethode erfahren wir aus dem Brief vom 22.5.1939 an Martin Hellweg, in dem die Bedeutung des Einzelphänomens erläutert wird: „Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie entschlossen weiterarbeiten, und insbesondere wenn Sie in der Arbeitstechnik nicht vom allgemeinen Problem ausgehen würden, sondern von einem gut und griffig ausgewählten Einzelphänomen; etwa einer Wortgeschichte oder einer Stelleninterpretation. Das Einzelphänomen kann gar nicht klein genug sein, und es darf niemals ein von uns oder anderen Gelehrten eingeführter Begriff sein, sondern etwas, was der Gegenstand selbst bietet. Macht man es anders, so hat man die größten Schwierigkeiten sich den Stoff dienstbar zu machen, und es gelingt nie ohne Gewaltsamkeit.“ 8 Man hätte keinen besseren Abschluss des Bandes finden können als mit diesem Brief. Kurzum: Vialons Anthologie Das salzige Brot der Fremde wird als Lehr- und Studienbuch im universitären Bereich, vor allem der Literatur- und Geisteswissenschaften, eine große Lücke schließen, weil Auerbachs Schriften, neben der Klärung der Methodenfrage, uns in einer Zeit der geschichtslosen Bildung und der Standardisierung wieder an unsere aufklärerische Aufgabe als Philologen erinnern. Auerbachs Philologiebegriff richtet sich gegen die Enthistorisierungstendenzen, denn nach ihm besteht seit Vico und Herder die eigentliche Absicht der Philologie darin, die „innere Geschichte der Menschheit“ 9 als „Erforschung der Weltwirklichkeit“ 10 zu betreiben: „Was wir sind, das wurden wir in unserer Geschichte, 7 In dieser Einleitung über die deutsche Briefkultur erfahren wir, dass der Herausgeber mehrere Hundert Briefe Auerbachs an über fünfzig Empfänger auffinden konnte. Die Veröffentlichung dieser Briefe ist im Wallstein Verlag Göttingen unter dem Titel Erich Auerbach: Gesammelte Briefe: 1919 bis 1957 vorgesehen. 8 Erich Auerbach, Yabanın Tuzlu Ekmeği, 314. 9 Erich Auerbach, „Philologie der Weltliteratur“, 40. 10 Ibid. 200 Comptes rendus wir können nur in ihr es bleiben und entfalten; dies so zu zeigen, dass es eindringt und unvergeßbar wird, ist die Aufgabe der Weltphilologien unserer Zeit.“ 11 Zu wünschen wäre, dass der von Vialon und den Übersetzern zugänglich gemachte türkische Auerbach-Band viele Leser erreichen und zur Veränderung des Bewusstseins und der literaturwissenschaftlichen Praxis beitragen möge. Mediha Göbenli (Istanbul) 11 Ibid.: 42.