eJournals lendemains 38/152

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0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2013
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Saulo Neiva: Désirs & débris d'épopée au XXe siecle

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2013
Beate Langenbruch
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145 Comptes rendus genwart, wenn auch die abschließende Bemerkung Kalters, dass „das reiche, aber schwierige Erbe des linksradikalen Dritte-Welt-Bezugs“ in „die ,kulturelle Identität‘ westlicher Gesellschaften ( ) eingegangen ist“ (492), etwas überzogen erscheint. Patrick Eser (Kassel) —————————————————— SAULO NEIVA: DESIRS & DEBRIS D’EPOPEE AU XX e SIECLE, BERN / BERLIN / FRANKFURT, LANG, 2009, 391 S. Ist die jüngste Literatur noch zur Produktion von Epen oder zumindest episch gefärbten Werken fähig oder geht mit der Individualisierung und Zersplitterung der Wahrnehmung sowie der systematischen Infragestellung von Normen und Ideologien auch der Tod einer bis zum 18. Jahrhundert gefeierten Großform einher? Als Nachfolger der 2008 erschienenen Avatars de l’épopée dans la poésie brésilienne 1 und Déclin & confins de l’épopée au XIX e siècle 2 schließt der vorliegende Sammelband das vom Centre de recherches sur les Littératures et la Sociopoétique (CELIS / CRLMC, Univ. Clermont II) initiierte Forschungsprogramm ab, welches sich mit der Frage nach Abnutzung und Wiederaufwertung der epischen Literatur im modernen und postmodernen Zeitalter befasst hat. Zwanzig Fallstudien und zwei übergreifende Reflexionen suchen Antworten auf sie zu geben. Saulo Neivas einleitender Aufsatz widmet sich nach dem kurzen Vorwort des Herausgebers literaturtheoretischen Fragestellungen, die einen gelungenen Brückenschlag vom Vorgängerband zur Neuerscheinung darstellen. Dass die von Hegel über Hugo und Poe bis ins 20. Jahrhundert geltende teleologische und somit normative Sichtweise der Gattungspoetik selbst bei jüngeren Theoretikern wie Lukács, Bachtin oder Fowler nicht zureichend in Frage gestellt wird, erscheint erstaunlich. Die abschließende Feststellung, dass es den vergangenen hundert Jahren nicht an episch geprägten Formen mangelt, sondern eher an ihrer Sichtbarkeit, wird im Folgenden durch das breite Spektrum von Maiores und Minores untermauert, mit denen sich die einzelnen Autoren beschäftigen. Die erste Abteilung konfrontiert den holistischen Anspruch des Epos mit seinem Gegenpol, der für das letzte Jahrhundert typischen Tendenz zur individualisierten und damit fragmentarischen Sichtweise. Antoine Raybaud eröffnet diesen Teil mit seinen Betrachtungen zu drei von Saint-John Perse, Glissant und Butor verfassten und Amerika gewidmeten Werken (Vents, Les Indes und Mobile), die veranschaulichen, dass sich nach der ‚Pleite‘ des Alten Europas durch Krieg und Kolonialherrschaft die Langform einen neuen geographischen Rahmen sucht. Von der Glo- 1 Saulo Neiva, Avatares da epopéia na poesia brasileira do fim do século XX, Übersetzung Carmen Cacciocarro, Recife, Massanga / Ministério da Cultura, 2008. 2 Saulo Neiva (ed.), Tübingen, Narr, 2008 (= études littéraires françaises). 146 Comptes rendus balisierung des Epos zeugt auch die Akte H. Ismail Kadares, deren irische, in New York ansässige, von Milman Parry und Albert Lord inspirierte Hauptfiguren eine Reise nach Osteuropa unternehmen, um im Heimatland des Autors die letzten fahrenden Epensänger aufzuspüren. Raum und auch Zeit, wie Alain Montandon darlegt, erfahren im Prosawerk des oft als ‚Homer Albaniens‘ Gefeierten eine Erweiterung gerade durch ihre mosaikartige Zerlegung und die Neukombinierung ihrer Bestandteile. Der klar problematisierende Beitrag Isabelle Krzywkowskis zu Henri- Martin Barzuns Werken L’Orphéide und L’Universel Poème lädt zur Reflexion über den Status des Epos zwischen 1895 und 1912 ein: Handelt es sich bei diesem trotz der Anwendung stilistischer Splitterfiguren noch Totalitätsanspruch erhebenden Genre nur um einen möglichen Weg aus der Endzeitstimmung des fin de siècle oder bereits um eine erste literarische ‚Laborform‘ der in den Surrealismus mündenden Avantgarde? Als Sinnbild für diese Abteilung kann ein Titel des Lyrikers Pierre Emmanuel gelten, den Arnaud Despax analysiert. Sein Babel erscheint vor dem Sturz durch die Uniformisierung der Lebenswelt als Symbol des Nationalsozialismus, eine Darstellung des ins Chaos mündenden Totalitarismus, die hiermit zum „Epos der Auslöschung“ (94) wird und die zyklische Bewegung von Zerstörung und Neubeginn veranschaulichen soll. „Zwischen Angriffslust und Verletzungen“: Im zweiten Teil des Werkes wird die spezifische Vergangenheitsdarstellung der literarischen Form im Kontext von Krieg und dessen Folgen fokussiert. Nicolas Violle untersucht zuerst die Reaktivierung epischer Schreibweise in den von der faschistischen Libyenkampagne geprägten Versi d’amore e di gloria Gabriele D’Annunzios, deren Heroenkult durch einen neoklassizistischen Schreibstil Anbindung an Vergil und Homer sucht. Einen weiten historischen Bogen spannt das Werk Joseph Delteils, das sich mit den Eroberungskriegen des 19. Jahrhunderts, der russischen Revolution und beiden Weltkriegen befasst. Wie Marie-Françoise Lemonnier-Delpy zeigt, geht der Autor neue Wege: Formal gesehen tendiert das Epos unter seiner Feder stark zur Hybridisierung, indem es mit Kurzgattungen, didaktischen Formen und selbst autobiographischen Texten Verbindungen eingeht. Eine inhaltliche Modernisierung stellt die Hinwendung zu neuen Heldentypen dar, beispielsweise den Poilus von 1914-1918 oder verschiedenen Frauenfiguren. Die Überreste der den portugiesischen Entdeckungsfahrten gewidmeten Epen des 15. und 16. Jahrhunderts entdeckt Paulo Motta Oliveira bei den zwischen 1910 und dem Vorabend des ersten Weltkriegs in der Zeitschrift A Águia veröffentlichenden Dichtern der Renascença Portuguesa wie Teixeira de Pascoaes, Jaime Cortes-o, António Sérgio oder Augusto Casimiro. Ausgehend von Ezra Pounds Definition des Epos als „ein Geschichte einschließendes Gedicht“ (149) vergleicht Hélène Aji anschließend die Werke zweier Vertreter des amerikanischen Modernismus: Wie die Cantos wird William Carlos Williams Paterson auf seine didaktischen Ambitionen der Geschichtsschreibung hin untersucht, wobei auch hier neben ideologischen, sich an ein Kollektiv richtenden Positionen der dem Jahrhundert eigene Drang nach Subjektivität und Fragmenta- 147 Comptes rendus tion sichtbar wird; die Langform steht somit bei beiden Dichtern im Spannungsfeld von Hermetismus und Universalismus. Einen komparatistischen Ansatz macht sich auch Rania Fathy zu eigen, die bewusst zwei Autoren unterschiedlicher Epochen und Herkunft gegenüberstellt. Dennoch zeigt sich im Musée Grévin Louis Aragons und Wir haben ein Land aus Worten des palästinensischen Dichters Mahmud Darwisch (1941-2008) eine ähnliche „Ästhetik des Widerstands“ (173): Die übergreifende soziologische Betrachtungsweise macht deutlich, dass bestimmte historische Epochen episches Schreiben fördern. Trotz eines ausgesprochenen Hangs Jean Follains zu lyrischen Kurzformen wird die dem Dichter und Biographen wichtige „Epopöe Napoleons“ zum Anlass einer erneuten Auseinandersetzung mit Geschichte; typisch epische Stilmittel werden jedoch miniaturisiert und der Blick auf Minimalistisches gerichtet, wie Élodie Bouygues überzeugend darlegt. Christina Ramalho widmet sich abschließend zwei weiblichen Stimmen, Stella Leonardos und Raquel Naveira, deren epische Lyrik sich mit dem innerbrasilianischen Contestadokrieg (1912-1916) beschäftigt und die sich somit patriarchalisch geprägten Genre- und Autorenbildern zu entziehen vermögen. Auf die Suche nach einer neuen Gattungtheorie begeben sich anhand der Rezeption von Poetiken und ihrer Neuschreibung die Autoren der letzten Abteilung. Anazildo Vasconcelos da Silvas einführender Aufsatz erscheint hier wegweisend, indem nach der Vorstellung einer eigenen Epostheorie und ihrer Implikate die praktische Anwendbarkeit auf Fernando Pessoas Mensagem demonstriert wird. Sich Mythos und Folklore annähernd, bietet Raul Bopps Cobra Norato eine originelle hybridisierte Form des Epos, in der Protagonist und Erzähler in einer Person verschmelzen, wie Ciro de Morais Rego beschreibt. Delphine Rumeau beleuchtet einen wichtigen Aspekt des Canto General Pablo Nerudas durch den Hinweis auf das Selbstverständnis des Dichters, der sich mit seinem Werk der menschlichen Gemeinschaft verpflichtet fühlt: Sein Epos will historische Fakten, geographische Bedingungen, das Leben und Kämpfen der Völker vereinen. Bénédicte Mathios geht ebenfalls auf den chilenischen Autor ein, weist ihn aber vor allem als literarischen Erben Alonso de Ercillas und dessen heroischer Araucana des 16. Jahrhunderts aus. Dichtung als Erfahrung prägt den brasilianischen Autor Mário Faustino. Beständig an der Realisierbarkeit des modernen Epos zweifelnd, ist er Michel Riaudel zufolge jedoch ein typischer Repräsentant des Modernismus, insofern er sich in seinen didaktischen und literaturkritischen Schriften sowie im lyrischen Werk nicht minder von der Langform anziehen lässt. Delphine Viellard zeigt in ihrem Aufsatz zu Les Yeux d’Elsa, dass Aragons Verse sich bewusst in die epische Tradition stellen. Das Vergil entlehnte „Arma virumque cano“, Titel des Vorworts, vermag den Leser darauf hinzuweisen, dass sich im Februar 1942 „die Liebe zum Vaterland als Liebe zur Frau verkleidet“ und der Poet der Besatzungsmacht Widerstand leistet. Auch das Werk Marcus Acciolys ist zu Recht Gegenstand dieser Abteilung. Rita Olivieri-Godet setzt die 1976 im Sísifo artikulierten traditionellen epischen Elemente seiner Lyrik in Beziehung zum ein Jahr später folgenden Pré-manifesto ou anteprojeto do realismo épico. Als ba- 148 Comptes rendus rockes Ostinato des Epos im 20. Jahrhundert interpretiert Natacha Lafond dann die Produktion Louis-René Des Forêts. Die Metapher rechtfertigt sich in ihren Augen dreifach: Im Hinblick auf den gleichnamigen Prosatitel (2000), die wie ein musikalisches Motiv ständig wiederkehrenden epischen Versatzstücke und Techniken im lyrischen Werk und schließlich die intensive Beschäftigung des Schriftstellers mit der Symphonik Mahlers in der sich auf Thomas Manns Novelle Tod in Venedig und deren Visconti-Verfilmung stützende Erzählung Le Malheur au Lido. Im letzten Beitrag weist Daniel Mesa Gancedo die intensive Beschäftigung Octavio Paz’ mit dem „Langgedicht“ nach. Umfang, Einheit, überraschende Momente und Wiederholung sind für den Leser Dantes, Juana Inés de la Cruz’, Góngoras und des Mahabharata entscheidende Kriterien für seine Versuche, sich in Cantar y contar (1976) einer Definition des Epos zu nähern. Das inhaltlich und stilistisch brillante Nachwort des Epos-Spezialisten Daniel Madelénat gibt der Sammelschrift einen gelungenen Abschluss, indem es eine Antwort auf die Frage anbietet, ob das Epos mit Blick auf die vergangenen 200 Jahre als ein kontinuierlich existierendes Genre mit variablen Erscheinungsformen bezeichnet werden soll oder vielmehr als eine zeitweise aus dem literarischen Produktionsfeld verschwundene Gattung. Die These der Diskontinuität verteidigend, legt der Autor dar, dass das kodifizierte und historisch mit Monarchie und Aristokratie verbundene Epos seinen Gesamtheitsanspruch nicht mit den Dogmen der modernen Epoche in Einklang zu bringen vermag. Wenn auch seine dem bürgerlichen Individualismus entgegenstehende manichäistische Weltsicht und sein „archaischer Fatalismus“ (381) das Epos im klassischen Sinne momentan zum Schweigen verurteilt haben, bleibt unsere Zeit nicht minder von epischen Tendenzen geprägt, die von der Permanenz seiner Tugenden zeugen. Einige der Durchsicht entgangene Druck- und Übersetzungsfehler schmälern die editoriale Arbeit an diesem Band nicht; strukturell jedoch müssen die literaturtheoretischen Aufsätze der dritten Sektion mit stärkerem Bezug auf den einleitenden Beitrag sowie das Nachwort gelesen werden, womit auch den verbleibenden Beiträgen zur Intertextualität ein eigener Bereich eröffnet wird. Die der allgemeinen Gattungstheorie, der Literatursoziologie und der Eposforschung gleichermaßen erfolgreich zuarbeitende Sammelschrift deckt anhand der ausgewählten Autoren die jüngste Literatur in chronologisch beachtlicher Breite ab. Vom linguistischen und kulturellen Gesichtspunkt aus sind jedoch bestimmte Schwerpunkte erkennbar. Die Romania wird durch zwanzig Beiträge repräsentiert, von denen allerdings fast ausschließlich der westliche Bereich ins Auge gefasst wird. Beinahe die Hälfte der Aufsätze ist Autoren Amerikas gewidmet, wobei der brasilianischen Literatur ein sehr wichtiger Platz eingeräumt wird und somit die lusophone Gruppe zum zweitstärksten Vertreter wird. Zu den Exoten wird hier neben dem Albanischen das Englische; die außerindoeuropäischen Sprachgebiete sind allein durch das Arabische vertreten. Sicherlich hätte sich neben einer größeren geographischen Varietät auch geschlechtsspezifisch ein stärkeres Gleichgewicht schaffen lassen - oder die vorhandenen, frappierenden Leerstellen wären zu problematisieren gewesen. 149 Comptes rendus Die moderne indische Literatur bietet beispielsweise mit Shashi Tharoors Der große Roman Indiens eine interessante réécriture des Mahabharata. Ist die Aussparung der germanischen Literaturen bezeichnend oder verdienen sie nach 1945 vielmehr besondere Aufmerksamkeit und die Frage, ob nach Shoah und Weltkriegen das Epos gerade hier überhaupt noch möglich ist? Auch das slawische Sprachgebiet würde unter Berücksichtigung historisch-soziologischer Aspekte ein interessantes Beschäftigungsfeld bieten. Wäre nicht auch im Hinblick auf die ebenfalls das 20. Jahrhundert prägenden Frauenbewegungen eine Reflexion darüber angemessen, ob die epische Produktion in ihren jüngsten Erscheinungen tatsächlich wie in den vergangenen Jahrhunderten von maskuliner Dominanz geprägt ist, oder ob es schlicht Autorinnen - wie dem Epos selbst - an Sichtbarkeit fehlt? Somit hat die vorliegende Arbeit das Verdienst, Denkanstöße für kommende Forschungsprojekte zu geben, auch wenn man fortan bei der Suche nach Repräsentanten und Erben des einst prestigeträchtigsten Genres sehr aufmerksam sein muss. Bilder der Fragmentation sind im Band allgegenwärtig. L’épopée s’est émiettée - das Epos hat sich wörtlich verkrümelt. Aber seine konstitutiven Merkmale sind weiterhin in jeder literarischen Fuge zu finden. Beate Langenbruch (Lyon) —————————————————— HEIDI DENZEL DE TIRADO: BIOGRAPHISCHE FIKTIONEN: DAS PARADIGMA DENIS DIDEROT IM INTERKULTURELLEN VERGLEICH (1765-2005), WÜRZ- BURG, KÖNIGSHAUSEN & NEUMANN, 2008, 414 S. Le livre d’Heidi Denzel de Tirado explore un aspect de la réception de Diderot qui n’avait jamais été étudie systématiquement: l’utilisation de son image dans la fiction, la cristallisation de la mémoire sur un certain nombre de ‚biographèmes‘ librement exploités par des écrivains. Elle s’attache à trois domaines linguistiques: français, anglais et allemand, avec quelques additions russe et italienne, et traverse son corpus selon trois perspectives: historique, poétique et enfin comparatiste à propos d’un épisode de la biographie, le séjour à Saint-Pétersbourg. Diderot était conscient de la nature problématique de l’individu. Il l’était philosophiquement et d’autant plus humainement que son ancien ami Rousseau affirmait théoriquement et illustrait littérairement l’unité du Moi. Diderot s’interroge sur une réalité fluctuante, dépendant de la pose, donc du regard d’autrui: „Qu’est-ce qu’être soi? [ ] Quelle image offrir de soi à la curiosité du public? comment poser pour un peintre? Qu’est-ce qu’un portrait? Qu’est-ce qu’un portrait d’écrivain? “ (30). De son vivant et sous la Révolution, il n’a jamais connu le renom de Voltaire ou de Rousseau. Si sa fille et Naigeon le disciple ont eu à cœur de défendre sa mémoire et de faire connaître son œuvre, Grimm et Meister, les responsables de la Correspondance littéraire, ont été efficaces dans sa diffusion en Allemagne. Une