lendemains
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0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/31
2014
39153
Wolfgang Asholt/Claudine Delphis: Jean-Richard Bloch ou à la découverte du monde connu: Jérusalem et Berlin (1925-1928)
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2014
Wolfgang Klein
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130 Comptes rendus Ansonsten lässt insbesondere der Stichwortteil kaum Wünsche offen: Entfaltet werden Institutionen, Programme, Konzepte, Themenfelder, Player und zahlreiche Biographien - von Personen, die die deutsch-französischen Kulturbeziehungen sei es als traditionelle, sei es als nichtintentionale Mittler geprägt haben -, von AbiBac bis Edith Zorn, von der Kunst über die Wissenschaft bis hin zu den Administrationen. Das Lexikon ist sehr gut nutzbar dank einer Vielzahl von Querverweisen und mehrerer Indizes. In einem zusätzlichen Verzeichnis sind die Stichworte überdies gruppiert nach „thematischen Axen“, wie die Herausgeber mit einem sympathischen Gallizismus schreiben, so dass man sich die Themenfelder schnell erschließen kann. Leider haben sie auf ein Autorenverzeichnis verzichtet: Die Liste der 162 Beiträgerinnen und Beiträger aus zahlreichen Disziplinen hätte eine eigene, aktuelle Karte der deutsch-französischen Wissenschaftsbeziehungen gezeichnet. Erschienen im Jubiläumsjahr des Vertrags 2013, ist das Lexikon natürlich auch so etwas wie die Festschrift einer ungemeinen Erfolgsgeschichte, der Geschichte des für viele Konfliktparteien auf der Welt beispielhaften Weges der deutsch-französischen Versöhnung. Dies drückt sich etwa im offiziellen Vorwort Klaus-Dieter Lehmanns aus, des Präsidenten des Goethe-Instituts, und schlägt sich auch in manchen der Artikel nieder, aber das Lexikon versteht sich nicht als solche Festschrift; es pflegt einen kritischen Blick und leistet auch entschieden mehr. Ganz wie es die Herausgeber angepeilt haben, bietet es den Laien eine gut lesbare, zugängliche Einführung in die Thematik, dem Fachpublikum ein kompetentes Nachschlagewerk und den Protagonisten des Kulturaustauschs ein Reflexions- und Vertiefungsangebot des eigenen Tuns, das die Praxis im Auge behält. Henning Hufnagel (Freiburg) —————————————————— WOLFGANG ASHOLT / CLAUDINE DELPHIS: JEAN-RICHARD BLOCH OU À LA DÉCOUVERTE DU MONDE CONNU: JÉRUSALEM ET BERLIN (1925-1928), PARIS, CHAMPION, 2010, 323 S. (BIBLIOTHÈQUE D’ÉTUDES JUIVES, TOME 40, SÉRIE LITTÉRATURE, TOME IV). Das Verdienst der Herausgeber dieses Bandes ist es, zwei Texte von Jean- Richard Bloch und dessen dazu gehörende Briefe an seine Frau Marguerite - erstere kaum noch zugänglich, letztere noch nie veröffentlicht - heutigen Lesern neu zur Verfügung zu stellen und die Texte durch zwei Aufsätze, die Briefe durch einen großartigen Stellenkommentar erweiternd zu betrachten. In die bei Champion seit 1998 erscheinende Bibliothèque d’études juives passt die Edition nur insofern, als Bloch jüdischer Herkunft war und der erste seiner Texte von einer Reise nach Jerusalem berichtet. Zu deren Série Littérature gehört der Band kaum: Es ist zwar richtig, dass Bloch Schriftsteller war, sich in dem zweiten seiner Texte minimale Fiktionalisierungen finden und es in ihm um die Inszenierung eines seiner Stücke geht. Im Grunde handelt es sich aber um zeit- und kulturgeschichtliche Erörte- 131 Comptes rendus rungen, in denen sich der Autor, wie Asholt und Delphis im Titel sehr zu Recht mit einer seiner Formulierungen hervorheben, „à la découverte du monde connu“ begibt. Der Band bestätigt und erweitert die Kenntnis von Bloch als einem der wichtigen französischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit, von seinem ebenso zeitcharakteristischen wie besonderen Suchen nach anderen Welten als jener, die er im Ersten Weltkrieg und dessen Folgezeit als die seine erfuhr, und von den Kreisen, in denen er sich auf dieser Suche bewegte. Er ist damit ein sehr beachtenswerter Beitrag zur Geschichte der Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Bei dem ersten Text, Le Robinson juif, handelt es sich um den Bericht von einer Reise, die Bloch im März / April 1925 unternahm, um einer Einladung zur Eröffnung der ersten jüdischen Universität in Jerusalem zu folgen. Bloch hat über die Reise einige Artikel in zwei Tageszeitungen veröffentlicht, die er später bearbeitete und zu einem Buch weiterführen wollte. Diesen Plan gab er 1930 auf. Vorgelegt werden jetzt die „écrits revus et corrigés sur la Palestine“ (8), wie sie in der Zeitschrift Europe 1970 veröffentlicht wurden. Die Veränderungen gegenüber den Zeitungsartikeln und eventuelle sonstige Nachlassmaterialien zu dem Projekt sind leider nicht dokumentiert oder beschrieben worden - bedauerlich, da auf absehbare Zeit kaum zu ergänzen. Selbst ob die Artikel 1970 und jetzt „en partie“ (so Michel Trebitsch in dem als Einführung gedruckten Aufsatz, 24) oder „dans [leur] intégralité (ou presque)“ (so die Herausgeber, 35) gedruckt worden sind, bleibt offen. Wie der Text vorliegt, erweist sich Bloch als ein herausragender Reiseberichterstatter. Sein Text ist immer präzise Information. Beachtlich darüber hinaus wird er, wo er Begegnungen, Erlebnisse, Szenen, Beobachtungen nach plastischer Beschreibung in einer knappen Frage oder Bemerkung auf ihren allgemeinen Punkt bringt: die Vielfalt der Passagiere auf dem Schiff nach Alexandria, am Ende die „récitation de poèmes modernes hébraïques“ vor einem Publikum aus zwanzig Ländern („serais-je le témoin d’une formidable expérience qui aurait [...] pour objet, la résurrection d’un peuple entier? “, 37), die Natur am Toten Meer und im Jordantal und die Spuren der dort vergangenen Kulturen („les Juifs répareront-ils le dommage quinze fois séculaire infligé à la nature? Ils l’affirment. / Que vaut-il mieux? Les en croire, ou les railler? “, 49) - eine Suche nach Anzeichen der heutigen Konflikte in Blochs Text würde sein Anliegen verfehlen. Bloch folgt der Auffassung, dass die jüdischen Siedler in Palästina „une terre en trois quarts dépeuplée, dévastée“ (42) vorfinden, und zeigt - im Kontrast zu einigen tristen Palästinensersiedlungen -, wie sie sie zum Blühen zu bringen beginnen. Die Gefahr wird zwar erwähnt, dass die britische Mandatsmacht einmal zu schwach werden könnte: „que deviendra, dans la tourmente, ce petit peuple juif [...] si jamais des millions de musulmans l’acculent contre le rivage? “ (44). Aber das bleiben „périls, peut-être imaginaires“, und dagegen steht „l’œuvre sioniste d’aujourd’hui, cette passion créatrice enthousiaste“ (45), um die es Bloch geht. Er gibt der Hoffnung Raum. Der jüdische Robinson ist „un Juif, fortement civilisé, occidentalisé“, der der Bibel die Wissenschaft hinzufügt, Mystik aus Russland, einen Doktortitel aus Deutschland und „la technique du monde moderne“ aus den USA bezieht, in dem „le vieux 132 Comptes rendus levain prophétique“ weiter wirkt und der in Palästina „son île“ findet (52). Was Bloch hier beschwört, ist zionistisch in einem eigenen Sinn: ausdrücklich bezeichnet er die Möglichkeit einer aus der Wiederbelebung des Hebräischen erwachsenden „période de renaissance religieuse“ als problematisch (51) und situiert, wovon er berichtet hat, am Ende „en dehors et au-dessus d’une petite nation juive palestinienne“ (65). Es geht um mehr als um einen „rêve messianique révolutionnaire“ (51): Die begeisterten Berichte von sehr realen Initiativen zu anderen Arten des Zusammenlebens gelten - nach einer „extraordinaire République d’enfants“, die als „colonie communiste“ funktioniere (50sq.; ähnliches wird er 1934 in der Sowjetunion preisen) - dem Aufbau von Tel Aviv („le rêve même y devient constructif“, 54), einer landwirtschaftlichen Kooperative, die nach urkommunistischen Prinzipien errichtet wurde und lebt (cf. 56-58), und schließlich den Aufgaben der neu gegründeten Universität. Bloch beschreibt in dem, was er „le triomphe sioniste“ nennt, den völlig säkularisierten Beginn einer sozialen Schöpfung im Geiste von Aufklärung, Französischer Revolution und Kommunismus: „La grande ville d’industrie, le port de commerce. Et c’est Tel-Aviv, puissamment matérielle. [...] Les moissons de blé et de justice sociale. Et c’est l’Emek, puissamment fraternelle. Au sommet de cette Judée inhumaine, mais flambante de spiritualité, la maison de l’esprit“, die Universität (60). Seinen Reisebericht führt er daher zu der Vorstellung, dass „les yeux se dirigent ardemment vers tous les débris d’universalisme qui subsistent parmi les peuples, vers tout ce qui, en quelque endroit du monde que ce soit, vous parle d’unité et restitue le grand rêve de compréhension réciproque que - follement, peut-être - l’humanité ne cesse de poursuivre“ (65). Dass Bloch den Bericht nicht zu dem geplanten Buch fortführte, lässt sich verstehen als die gewachsene Ahnung, dass der reale Aufbruch, den er 1925 in Jerusalem spürte, doch auch dort wieder nur ein kurzer Moment in diesem verrückten Streben nach universalisme wurde. Der Blochs Text vorangestellte, 2003 erstmals erschienene Aufsatz von Michel Trebitsch - einem der besten Kenner Blochs, der viel für die Erneuerung des Wissens um ihn in Frankreich getan hat - verfolgte, wie sein Titel schon anzeigt, ein umfassenderes Ziel; anhand des gesamten Lebenswegs des Autors zu sprechen „de la situation faite à l’écrivain juif dans le monde moderne“. Le Robinson juif wird dazu in seine biographischen und zeitkritischen Kontexte eingeordnet, insbesondere in Bezug auf Sozialismus und Revolution. Der polemische Ansatz richtet sich dagegen „à minimiser la judéité de Bloch“, der konstruktive betont „la diversité du judaïsme“ (14). Präzis ist benannt, wie seit Ende der 1920er Jahre die „promesse juive ne lui semble plus pouvoir s’élargir à toute l’humanité“ (27). Ob sich „la constante majeure“ von Blochs Leben im Begriff eines „humanisme messianique“ resümieren lässt, kann im Blick darauf, dass Bloch die Heilserwartung in seinem politischen Engagement immer ins Bestimmte und Nahe zu holen suchte, möglicherweise weiter diskutiert werden. Dem Bericht über die Jerusalem-Reise folgt in dem vorliegenden Band mit Europe du milieu (Mitropa) das Zeugnis der anschließenden Erkundung der Welt 133 Comptes rendus durch Bloch. Der Text erschien von Dezember 1928 bis April 1929 ebenfalls in Europe (bibliographisch genau ist der Ort leider nicht verzeichnet) und sollte wie Le Robinson juif zu einem Buch weitergeführt werden, das nie erschienen ist. Er war Ergebnis eines Aufenthalts in Berlin von Mitte März bis Anfang Mai 1928, aus Anlass der Inszenierung von Blochs Revolutionsstück Le Dernier Empereur an der Piscator-Bühne. Dieser Anlass ist jedoch nicht Gegenstand des Textes. Dessen Held ist zwar ebenfalls ein Schriftsteller, von dem ein Stück bei Piscator inszeniert wird, gelegentlich führt er auch Gespräche über das Theater - aber er heißt nicht Bloch, und die Situationen sind so inszeniert, dass die (oft mit historischen, gelegentlich aber ebenfalls mit fiktiven Namen bezeichneten) Gesprächspartner Ansichten über Lebensweisen, Zustände und Aussichten in der Mitte Europas äußern können. Um den Neubau einer ganzen Gesellschaft geht es in diesem Text damit nicht. Aber Deutschland, genauer Berlin, heißt einmal „le véritable et nouvel Empire du Milieu“ (88), und die am Ende des ersten Abschnitts gestellte Frage ähnelt denen zu Jerusalem: „Europe! Europe! Existerais-tu déjà hors de mon esprit? “ (82). Bescheidener ist die Erwartung, weil die jüngste Geschichte Deutschlands - eingangs mit Nachdruck zur Sprache gebracht - weiter wirkt: was hier zu kultivieren ist, ist keine Wüste. Bloch zählt präzise auf, was ist und kommen kann: „L’idole aux clous de fer, l’idole à la faucille et au marteau, l’idole à la bannière d’Empire, l’idole au drapeau rouge, l’idole à la croix gammée? “ (87). Und er baut seinen Text, solchen Entitäten entgegen, als Folge von Begegnungen und Gesprächen mit einzelnen Deutschen: „Un pays est composé de millions de gens. [...] on n’existe pas“ (83). Der Reisende begegnet (und beschreibt eindrucksvoll) Piscator und sieht dessen Inszenierung von Hašeks Der brave Soldat Schwejk. Er wird geführt von seinem deutschen Theateragenten und spricht mit dem Regisseur seines Stückes, mit Toller und Holitscher, sieht Leonhard Frank, Däubler und Döblin, bringt Schickele und Coudenhove-Kalergi zur Sprache, konstruiert eine Bildhauerin und eine Schauspielerin, beide jung und emanzipiert, sowie einen Durchschnittsschriftsteller, mischt einen französischen und einen italienischen Diplomaten hinzu und führt mit solchen Rollenspielen aus dem Milieu des damaligen Berliner Westens eine „extraordinaire variété de types et de rêves“ vor: „L’Europe du Milieu n’est aujourd’hui qu’un immense cuveau en ébullition“ (131). Nach der sozialen Utopie Palästina werde die kulturelle Utopie Berlin vorgeführt, schreiben die Herausgeber (9). Zumindest wird gezeigt, dass nach dem Krieg andere Formen des Zusammenlebens in Europa möglich geworden sind: „Quel frémissement! Quelle fécondité! Ne remarquez-vous pas [...], comme nos peuples et nos façons de vivre sont complémentaires? ” (110). Geschlossen wird der argumentative Bogen durch Bloch allerdings in diesem zweiten Text nicht: Die Eingangsszene mit der Rede eines „célèbre Alsacien“ (80), in dem der universale Intellektuelle Albert Schweitzer zu erkennen ist, wird nicht nochmals aufgenommen, als der Reisende am Schluss durch die neuen Villenviertel im Südwesten Berlins fährt und die Nähe der deutschen und der französischen modernen Architektur konstatiert; auch der Rote Wedding liegt, anders als Emek, außerhalb. 134 Comptes rendus Der Enthusiasmus, mit dem Bloch auf den Beginn der Neuschöpfung Judäas reagierte, ist in Berlin reduziert auf die Hoffnung, auch frühere Feinde könnten einander verstehen und gemeinsam „les recettes infailllibles de la paix, de l’ordre, de l’hygiène et du comfort“ anwenden (79). Die leichte Ironie darf wohl als gebremste Erwartung verstanden werden. Weniger die politischen Motive und Implikationen hervorhebend, stellt Wolfgang Asholt Blochs Mitteleuropa-Überlegungen in seiner einführenden Studie in das Licht von Derridas Konzept des Anderen und zeigt, wie Bloch dazu „un autre modèle culturel pour l’Europe“ (71), eines der „interculturalité“ (67) entworfen hat. Er macht des weiteren auf jene Schichten des Textes aufmerksam, in denen Berlins „champ littéraire et théâtral fascinant“ (74) beleuchtet wird, und weist schließlich auch auf den Stellenwert der Berlin-Reise für die Situation des Schriftstellers Bloch hin, der einem Berliner Theatererfolg eine „stratégie de carrière“ (70) abzugewinnen hoffte, die seine partielle Marginalisierung im Pariser literarischen Feld beenden könnte. Die Bilanz, die in allen drei Hinsichten gezogen wird, ist einleuchtend: „Les espoirs conçus par l’écrivain français lors de son séjour berlinois se transformeront bientôt en illusions perdues“ (77). So bleiben neue Erfahrungen, die im persönlichen Schaffen weiterwirken, und ein Zeugniswert, kein visionärer: „Son voyage dit quelque chose d’un moment historique“, in dem „un autre avenir“ denkbar gewesen sei (78). Der dritte und umfangreichste Teil des Buches sind die Briefe Blochs an seine Frau Marguerite während der beiden Reisen. Bloch hat fast täglich und sehr ausführlich nach Hause berichtet, was er jeweils erlebt hatte, wem er begegnet und worüber gesprochen worden war. Diese Briefe sind, anders als die beiden Bloch- Texte, aus dem Nachlass an der Bibliothèque Nationale de France - genauer aus der dort in inzwischen nicht nur in der Bloch-Forschung legendären Bänden gesammelten, ebenso umfangreichen wie faszinierenden Correspondance - von Claudine Delphis wissenschaftlich ediert worden. Die Textgestalt folgt, mit wenigen erläuterten Ausnahmen, dem Original, und außergewöhnlich informative und ausgreifende Erläuterungen geben faktisch alle wünschbaren Auskünfte über genannte Personen und Ereignisse. Diese Fußnoten sind eine Fundgrube weit über die Details von Blochs Reisen hinaus: Über zahlreiche Akteure der intellektuellen Felder, die diese Reisen berührten, ist hier mit höchster Präzision zu erfahren, was heute ermittelbar ist. Auch wer sich für Bloch selbst überhaupt nicht interessiert, kann mit Gewinn nachschlagen, um zu erfahren, wer damals in Palästina agierte, wer von der damaligen Situation dort was berichtet hat oder wer im intellektuellen Berlin der ‚Goldenen Zwanziger‘ mit wem wo wie lange zusammentraf. Das einzige Bedauern bezieht sich darauf, dass Verknüpfungen zwischen den Briefen und Blochs danach geschriebenen Texten auch hier (wie schon in den ganz auf Herausgeber-Fußnoten verzichtenden Texten selbst) prinzipiell nicht nachgewiesen werden, sondern der suchenden Energie der Leser überlassen bleiben. Neben dem späten Erhellen vorne gelesener Details wird der Leser, wenn er sich darauf einlässt, dabei auch bemerken und könnte ein Forscher analysieren, wie groß die 135 Comptes rendus Differenz zwischen dem täglich Erlebten und dem ist, was der Autor seinen Lesern aus seiner Erkundung der Welt im Abstand zu denken geben möchte. Wie bei anderen (etwa dem fast gleichzeitig nach Afrika reisenden André Gide) der Vergleich des veröffentlichten Reiseberichts mit dem Tagebuch aufschlussreich ist, wird es hier der mit den Briefen an die Familie. Für eine Theorie des Reiseberichts wäre daraus manches zu gewinnen. Über Bloch selbst - und damit, wie gesagt, über einen der wichtigen französischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit - ist aus dem vorliegenden Buch zu erfahren, wie seine Suche nach neuen Welten, die der des Ersten Weltkriegs praktisch widersprachen, nach der antikolonialistischen Bilanz weiterging, die er aus einer Reise in den Senegal 1921 in Sur un Cargo (1924) und Cacaouettes et bananes (1929) gezogen hatte. Die Herausgeber weisen auf den Zusammenhang beider Reisen und der darüber veröffentlichten Berichte bereits eingangs hin, und Elsa Geneste hat deren „relation étroite“ fast gleichzeitig genauer betrachtet. 6 Nicht mehr angesprochen ist in beiden Kommentaren die Fortsetzung von Blochs Suche nach neuen Welten im Anschluss an die Berlin-Reise. Zunächst veröffentlichte er von März 1931 bis Januar 1932 in Europe die Artikelserie „Symbolique d’une réunion“, die er 1933 in Offrande à la politique, den dritten Band seiner „Essais pour mieux comprendre mon temps“, aufnahm. Die zentrale Frage dieses Textes lautete, und das zeigt die Umorientierung ins Innere Frankreichs und die Wiederaufnahme eines bis zum Anfang der 1920er Jahre geführten politischen Engagements: „Qu’est-ce donc exactement, aujourd’hui, qu’être socialiste? “ 7 Mit Blochs nächster großer Reise, die ihn von August bis Oktober 1934 in die Sowjetunion führte, begann dann jene Verbindung zur Sowjetunion und zur Kommunistischen Partei, an der Bloch bis zu seinem Tod 1947 festhielt. Aus den Artikeln, die er z. T. noch während dieser Reise und dann im unmittelbaren Anschluss wiederum in Europe veröffentlichte, und aus den Briefen und Zeitungsausschnitten, die seine Frau und er aus dem Osten an ihre Kinder nach Paris schickten und die bis heute nur im Pariser Archiv zugänglich sind, ließe sich die anschließende Publikation gewinnen, die mit Jean-Richard Bloch Wege und Irrwege der Intellektuellen im 20. Jahrhundert genauer zu begreifen gestattete. Zunächst aber geben Blochs Texte und Briefe sowie ihre Kommentierung sonst nirgends vorliegende Auskünfte über den Beginn der „Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina“ (wie das Großbritannien erteilte Mandat des Völkerbundes formuliert war) und über die daran von einem Intellektuellen geknüpften antikapitalistischen Friedenshoffnungen, und sie werden künftig 6 Elsa Geneste, „Jean-Richard Bloch en Afrique noire et en Palestine. Quelle conciliation possible entre Orient et Occident? “, in: Cahiers Jean-Richard Bloch, 16, 2010, 131-146, 132. Die von Geneviève Capgras herausgegebene Nummer des Jahrbuchs der Association Etudes Jean-Richard Bloch ist insgesamt dem Thema „Orient-Occident au temps de Jean-Richard Bloch (1920-1940)“ gewidmet und ergänzt in dieser Hinsicht das hier besprochene Buch. 7 Jean-Richard Bloch, Offrande à la politique, Paris, Rieder, 1933, 198. 136 Comptes rendus gleichberechtigt neben den Briefen von Pierre Bertaux 8 als außergewöhnlich detailreiches Zeugnis über die Akteure und das Agieren auf dem intellektuellen Höhepunkt der Weimarer Republik vor der Weltwirtschaftskrise zu bedenken sein. Wo künftig Intellektuellengeschichte geschrieben wird, ist das vorliegende Buch als reichhaltige Quelle zu berücksichtigen. Wolfgang Klein (Osnabrück) —————————————————— ANNA TÜNE: VON DER WIEDERHERSTELLUNG DES GLÜCKS. EINE DEUTSCHE KINDHEIT IN FRANKREICH, BERLIN, GALIANI, 2010, 226 S. In den letzten Jahren ist die Gedächtniskultur in eine Krise geraten. In einem Krieg der Gedächtnisse streiten Opfergruppen; in Deutschland sind dies Gruppen wie Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle u. a., in Frankreich Résistants, Shoah- Opfer, Sklaven, Opfer der Kolonisierung, Harkis Für sie alle dürfte die Feststellung aus Pierre Noras Standardwerk über die Gedächtnisorte gelten, dass das Bedürfnis nach dem Gedächtnisort, dem lieu de mémoire wächst, je mehr eine bergende Umgebung, ein milieu, abnimmt. Eine heikle Frage ist, ob, inwiefern und wo auch Gruppen von Deutschen wie Bombenopfer und Vertriebene solche Ansprüche auf Gedächtnisorte anmelden dürfen. Dass jene Problematik nicht nur deutsch-polnisch oder deutsch-tschechisch ist, sondern auch deutsch-französische Aspekte hat, dürfte bisher fast unbekannt sein. Die deutsch-französische Gedächtnisarbeit hat vor allem geteilte Gedächtnisorte ermittelt wie die Kaiserpfalz in Aachen, die Galerie des Glaces in Versailles, den Waggon von Rethondes, Verdun, die Küste in der Normandie. Erst in jüngster Zeit werden Orte des Exils und der Migration wie Sanary als Gedächtnisorte erschlossen 9 sowie anhand von Monumenten die Beteiligung von Nicht-Franzosen an der Résistance hervorgehoben. 10 Inzwischen sind neue Opfergruppen hinzugekommen: während der ‚épuration‘ geschorene Frauen, Kinder von Französinnen und Wehrmachtssoldaten, französische Zwangsarbeiter und deutsche und französische Kriegsgefangene. Dürfen Deutsche eine Opfergruppe bilden, die nach Gedächtnisorten verlangt? Die Bewegung zu Gedächtnis- und Gedenkorten bricht nicht ab, solange Personen und Gruppen mit sprachlichen Mitteln um die Anerkennung ihrer Leiden und um die Anerkennung ihres Orts kämpfen. Jüngstes Beispiel ist die Vertriebenendiskussion. 8 Cf. Pierre Bertaux, Un normalien à Berlin. Lettres franco-allemandes (1927-1933), ed. Hans Manfred Bock / Gilbert Krebs / Hansgerd Schulte, Asnières, Institut d’Allemand 2001. 9 Cahiers d’Etudes Germaniques, 53, 2007: „Lieux de migration / lieux de mémoire“, ed. Thomas Keller. 10 Mechtild Gilzmer, Denkmäler als Medien der Erinnerungskultur in Frankreich seit 1944, München, Meidenbauer, 2007.
