eJournals lendemains 39/153

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Narr Verlag Tübingen
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2014
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Margarete Zimmermann (ed.): „Ach, wie gût schmeckt mir Berlin.“ Französische Passanten im Berlin der zwanziger und frühen dreißiger Jahre

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2014
Inka Zahn
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140 Comptes rendus die lieu und milieu schmerzhaft im Gedächtnis verankern. Besonders folgenreich ist das Fehlen eines Orts für die Kinder der Wehrmachtssoldaten. Wie die neue Literatur über deutsche Migranten im Midi zeigt, geht der Vorgang einer topographischen Verflechtung weiter. Zugleich macht sich Unbehagen breit, auch in Frankreich. So wird im Wettlauf der Gedächtnisse das Attribut des Gerechten immer häufiger wahllos verwendet und den Orten des Gedächtnisses angeheftet. Mögen Le-Chambon-sur-Lignon, das noch bekanntere Dorf, das jüdische Kinder gerettet hat, und Dieulefit gerechte Orte sein, so ist diese Auszeichnung für Sanary sicherlich problematisch. Das Buch von Anna Tüne bezeugt eine Tendenz zur Vervollständigung, ohne das eigene Leid zu betonen: im Drängen nach Anerkennung von Personen und Gruppen ‚fremder‘ Herkunft werden immer mehr Migrationsorte zu memoriellen Orten; das Gedächtnis und das Gedenken werden immer bunter, transnationaler. Regionale und nationale Gedenkorte müssen sich dieser Pluralisierung stellen - Ausländer erscheinen in den Mahnmalen der Résistance, Exilierte und Migranten in der französischen Gedächtnislandschaft Zugleich gilt auch, dass sich Grenzen auftun. Der Wettlauf um den Opferstatus, die Keifereien zwischen Gruppen, die zunehmend leeren routinierten Rituale verschließen eher, als dass sie reintegrieren. Auf vermintem Gelände treffen sich zwei Bedürfnisse - das problematische nach Identität, das legitime nach Anerkennung. Aber wie soll man beide trennen? Anna Tüne gibt darauf ihre eigene Antwort: Sie weigert sich, Opfer zu sein. Thomas Keller (Aix-en-Provence) —————————————————— MARGARETE ZIMMERMANN (ED.): „ACH, WIE GÛT SCHMECKT MIR BERLIN.“ FRANZÖSISCHE PASSANTEN IM BERLIN DER ZWANZIGER UND FRÜHEN DREISSIGER JAHRE, BERLIN, DAS ARSENAL, 2010, 291 S. Die von Margarete Zimmermann (unter Mitwirkung von Gilda Rodeck) herausgegebene Anthologie widmet sich Texten französischsprachiger Berlin-Reisender der zwanziger und frühen dreißiger Jahre über die von ihnen besuchte deutsche Hauptstadt. Denn, so Zimmermann in ihrer Einleitung, im Gegensatz zu den gut erforschten deutschsprachigen Intellektuellen und Schriftstellern in Paris wisse man heutzutage wenig über französischsprachige Berlin-Reisende der Zwischenkriegszeit „in ihrer Eigenschaft als Mittler zwischen Deutschland und Frankreich“ (7) sowie über ihre in diesem Rahmen entstandenen Texte. Um diesem Desiderat Abhilfe zu verschaffen, versammelt Zimmermann in diesem Band Berlin-Texte von 22 Autoren. Unter den Verfassern befinden sich neben auch heutzutage noch bekannten Intellektuellen und Literaten wie André Gide oder Pierre Bertaux auch inzwischen in Vergessenheit geratene Schriftsteller wie René Jouglet, Madeleine Paz oder Maurice Dekobra. Die Reisenden besuchen Berlin 141 Comptes rendus „als Flaneure oder als Berichterstatter für Zeitungen“ (8). Das in diesem Band präsentierte Textkorpus ihrer Stadteindrücke ist (dementsprechend) erfreulich heterogen: sowohl Auszüge aus Briefen und Tagebüchern, Reportagen in Zeitungen und Zeitschriften als auch aus Essays und Romanen werden hier als Quellen der Berlin-Eindrücke berücksichtigt. Nicht nur stellt Zimmermann hiermit Texte vor, die heutzutage größtenteils schwer auffindbar sind, sondern sie hat auch fast alle der hier versammelten Quellen eigens für diese Anthologie ins Deutsche übersetzen lassen. Ein Teil der Übersetzungen entstand im Rahmen eines Seminars an der Freien Universität Berlin. Es bleibt allerdings zu fragen, weshalb nicht auf bereits vorhandene Übersetzungen (wie im Falle von Bloch, Crevel, Giraudoux und Trintzius) zurückgegriffen wurde. Um die Entstehungszusammenhänge der Reise-Texte zu verdeutlichen, sind letztere chronologisch geordnet, wobei die Herausgeberin hier zwischen drei von ihr hervorgehobenen Reisephasen unterscheidet: den frühen zwanziger Jahren, der Zeit ab Mitte der zwanziger Jahre und den frühen dreißiger Jahren. In der Einleitung der Anthologie wird konstatiert - und dies wird anhand des im Anschluss präsentierten Quellenmaterials sehr deutlich -, dass je nach Reisephase den Berlin- Reisenden tendenziell unterschiedliche Dinge in den Blick kommen. So seien die frühen zwanziger Jahre die Zeit, in der die Besucher „ein Berlin zwischen Inflation und neuer Prosperität erleben“ (10); in der Phase nach den Locarno-Verträgen (1925), in der die Reisenden vermehrt nach Berlin gekommen seien, sei die Stadt ihnen als „Hauptstadt des neusachlichen Tempos“ (11), als „höchst experimentierfreudige Metropole“ (12), als Stadt mit einer außergewöhnlichen Vergnügungsszene, Ort des besonders liberalen Umgangs mit Homosexualität, als „das Andere schlechthin, als Ort der Neuen Sachlichkeit und des neuen Bauens, der Gartenstädte und der neuen Körperkultur“ (12) in den Blick geraten. In den frühen dreißiger Jahren (aus der der Großteil der Texte stammt) registrieren die Besucher hingegen „mit tiefer Besorgnis“ ein „Berlin der Arbeitslosigkeit, der Armut, der Wirtschaftskrise, der Ausweglosigkeit“ und „politischen Umbrüche“ (16). Natürlich differieren die Berlin-Wahrnehmungen nicht nur aufgrund verschiedener Reisephasen, sondern auch aufgrund der jeweiligen persönlichen Dispositionen bei der Wahrnehmung jedes Reisenden, die mitbestimmen, was als „das Andere“ in den Blick kommt. So stellt Zimmermann beispielsweise für André Gide und Roger Martin du Gard, die eine antibürgerliche Haltung vertreten, fest, dass Berlin mit dem dort von ihnen beobachteten liberaleren Umgang mit Homosexuellen „eine Entlastung von den Zwängen des bürgerlichen (Ehe-)Lebens“ (196) verkörpere. Ebenso ist der biographisch-literarische Kontext des Reisenden für die Wahrnehmung der Hauptstadt von Belang, was besonders bei Martin du Gard deutlich wird. Bei ihm, der sich zum Zeitpunkt seiner Reise in einer persönlichen sowie literarischen Krise befinde (198), kommt Berlin bei der Beschreibung einer von ihm an der dortigen Universität durchgeführten Lesung auch als Ort der Anerkennung durch das deutsche Publikum in den Blick: „Empfangen von Akklamationen, die mir außerordentlich wohlgetan haben. [ ] Getragen von der naiven 142 Comptes rendus Sympathie dieses von Anfang an gewonnenen Publikums. Kein Kampf zu bestehen, garantierter Erfolg, sobald ich eintrat“ (215-216). Auf die persönlichen Dispositionen bei der Wahrnehmung durch die einzelnen Reisenden wird in den biographischen Skizzen der Autoren eingegangen, die den jeweiligen Quellentexten vorangestellt und die für den Leser sehr hilfreich sind, da sie das Augenmerk primär auf „den Berlin-Bezug im Leben und in den Texten“ (21) der Reisenden legen. So divers die Reiseeindrücke je nach Phase und persönlichen Dispositionen der Reisenden auch sind, der Einleitung der Anthologie gelingt es gut, wichtige Ergebnisse festzuhalten. So wird hier beispielsweise konstatiert, dass das Thema Essen mit seinen zwei Ausprägungen - dem Hunger der armen und arbeitslosen Berliner Bevölkerung einerseits und „der Völlerei der Neureichen“ (13) andererseits - die Texte der einzelnen Phasen thematisch verbindet. Interessant auch die Feststellung, dass zu den „sicherlich überraschendsten Erfahrungen der Reisenden die Begegnung mit neuen Frauen und Männern [gehört] - berufstätigen, selbständigen, reisenden, sportlichen Frauen, an deren Seite sich die Männer ebenfalls neu definieren müssen“ (15). So schreibt der Berlin-Reisende René Jouglet 1931 in seinem Essay „L’Allemande“: „Der große Unterschied liegt darin, dass die deutschen jungen Mädchen und Frauen sich zur Zeit in einem Strom der Freiheit platziert befinden, in einem Zustand der Selbstbestimmung, der bei uns in Frankreich kaum bekannt ist“ (149). Hier zeigt sich auch, dass, wie es in der Einleitung heißt, die „französischsprachigen Intellektuellen kommen, um das Fremde aufzunehmen und eventuell kritisch auf das Eigene, auf französische Verhältnisse zu projizieren“ (9). Durch diese (kritische) Auseinandersetzung mit dem Fremd- und Selbstbild fungieren die Reisenden als Mittler zwischen Frankreich und Deutschland. So appelliert Amédée Ozenfant 1931 an seine Landsleute: „Reist nächsten Sonnabend ab, Week-End- Berlin, um einige Vorurteile zu revidieren und manches Wertvolle kennenzulernen“ (157). Die Auswahl der hier berücksichtigten Reisenden betreffend wäre es allerdings wünschenswert gewesen, wenn die Gruppe nicht nur aus Personen einer meist (groß-)bürgerlichen Herkunft bestanden hätte. So fragt sich der Leser, ob nicht auch ebenso aufschlussreiche Texte Berlin-Reisender anderer sozialer Schichten existieren, die sich für einen Vergleich mit den hier dargelegten Berichten geeignet hätten. Es ist erhellend, dass in der Einleitung kurz auf die Grundunterschiede zwischen dem Blick französischsprachiger Passanten auf Berlin und dem der Exilrussen in der deutschen Hauptstadt eingegangen wird. Diese Stelle hätte sich bestens dazu geeignet, ebenfalls kurz auf Unterschiede (oder Gemeinsamkeiten) zwischen französischen Berlin- und Moskau-Reisenden der Zeit einzugehen. Denn immerhin waren sowohl Berlin als auch Moskau - aufgrund der Gesellschaftsmodelle, die sie in der Zwischenkriegszeit verkörperten (Berlin stand für die beschleunigte Modernität amerikanischer Art, Moskau für den Sozialismus) - die Städte, in der 143 Comptes rendus französische Reisende Antworten auf Zukunftsfragen Europas zu finden hofften. An dieser Stelle lässt sich auf bestehende Publikationen der Reihe „Reisen Texte Metropolen“ (Bielefeld: Aisthesis) verweisen, die sich mit der Wahrnehmung der drei europäischen Metropolen Berlin, Paris, Moskau durch Reisende in der Zwischenkriegszeit befassen. Dessen ungeachtet gibt diese Anthologie einen sehr guten Überblick über die Vielseitigkeit der Berlin-Wahrnehmungen französischsprachiger Reisender der Zwischenkriegszeit und bringt uns die Fremd- und Eigenwahrnehmung dieser reisenden Mittler zwischen den Nachbarländern Deutschland und Frankreich auf sehr lebendige Art näher. Inka Zahn (Rijnsburg) —————————————————— RAINER RIEMENSCHNEIDER / EVELYNE BRANDTS (ED.): DÉCHIRURES CULTURELLES, EXPÉRIENCES ALLEMANDES. LES RAPPORTS DE CIVILISA- TIONS DANS L’ŒUVRE DE CATHERINE PAYSAN, PARIS, L’HARMATTAN, 2012, 268 S. Catherine Paysan und ihr umfangreiches literarisches Werk sind in Deutschland nur den Spezialisten bekannt. Lediglich zwei ihrer Titel liegen in deutschen Übersetzungen vor, die allerdings vergriffen sind. Das verwundert umso mehr, als Deutschland und die Erfahrungen mit Deutschland, mit der deutschen Sprache und den Deutschen einen zentralen Stellenwert für das künstlerische Schaffen der inzwischen 86jährigen Autorin besitzen. Sie studierte in den 1940er Jahren Deutsch, erlebte die Besetzung Frankreichs, lernte einen deutschen Kriegsgefangenen kennen und lieben, reiste noch vor dessen Entlassung 1946 nach Deutschland, war Französischlehrerin in Speyer - aber die junge, große Liebe scheiterte. Zurück in Frankreich arbeitete Catherine Paysan als Lehrerin, bevor sie sich seit 1974 ausschließlich der Schriftstellerei widmete. Der vorliegende Tagungsband gibt zahlreiche Anstöße zu einer intensiven Beschäftigung mit Catherine Paysan in Deutschland, weil mehrere Beiträge den zentralen Stellenwert der „expériences allemandes“ der Autorin herausstellen und zeigen, wie diese Erfahrungen ein literarisches Werk inspirierten, das Alteritätserfahrungen, die bisweilen schmerzliche, aber immer bereichernde Auseinandersetzung mit dem Fremden und die Orientierungssuche der betroffenen Individuen thematisiert. Der Tagungsband vereinigt die Beiträge zu dem Kolloquium, das 2010 aus Anlass des 50. Jahrestags des Schaffensbeginns von Catherine Paysan in Vivoin (Sarthe) stattfand. Sein Titel - „déchirures culturelles, expériences allemandes“ - ist Programm. Die vielen Facetten der 17 Prosabände und zwei Gedichtsammlungen, die die Autorin bis heute veröffentlicht hat, werden von den Beiträgern auf das zentrale Thema zurückgeführt, das all ihren Texten gemeinsam ist: die positiven wie negativen Spannungen, die aus dem Zusammentreffen unter-