eJournals lendemains 39/153

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Narr Verlag Tübingen
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2014
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Rainer Riemenschneider / Evelyne Brandts (ed.): Déchirures culturelles, expériences allemandes. Les rapports de civilisations dans l'œuvre de Catherine Paysan

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2014
Rainer Bendick
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143 Comptes rendus französische Reisende Antworten auf Zukunftsfragen Europas zu finden hofften. An dieser Stelle lässt sich auf bestehende Publikationen der Reihe „Reisen Texte Metropolen“ (Bielefeld: Aisthesis) verweisen, die sich mit der Wahrnehmung der drei europäischen Metropolen Berlin, Paris, Moskau durch Reisende in der Zwischenkriegszeit befassen. Dessen ungeachtet gibt diese Anthologie einen sehr guten Überblick über die Vielseitigkeit der Berlin-Wahrnehmungen französischsprachiger Reisender der Zwischenkriegszeit und bringt uns die Fremd- und Eigenwahrnehmung dieser reisenden Mittler zwischen den Nachbarländern Deutschland und Frankreich auf sehr lebendige Art näher. Inka Zahn (Rijnsburg) —————————————————— RAINER RIEMENSCHNEIDER / EVELYNE BRANDTS (ED.): DÉCHIRURES CULTURELLES, EXPÉRIENCES ALLEMANDES. LES RAPPORTS DE CIVILISA- TIONS DANS L’ŒUVRE DE CATHERINE PAYSAN, PARIS, L’HARMATTAN, 2012, 268 S. Catherine Paysan und ihr umfangreiches literarisches Werk sind in Deutschland nur den Spezialisten bekannt. Lediglich zwei ihrer Titel liegen in deutschen Übersetzungen vor, die allerdings vergriffen sind. Das verwundert umso mehr, als Deutschland und die Erfahrungen mit Deutschland, mit der deutschen Sprache und den Deutschen einen zentralen Stellenwert für das künstlerische Schaffen der inzwischen 86jährigen Autorin besitzen. Sie studierte in den 1940er Jahren Deutsch, erlebte die Besetzung Frankreichs, lernte einen deutschen Kriegsgefangenen kennen und lieben, reiste noch vor dessen Entlassung 1946 nach Deutschland, war Französischlehrerin in Speyer - aber die junge, große Liebe scheiterte. Zurück in Frankreich arbeitete Catherine Paysan als Lehrerin, bevor sie sich seit 1974 ausschließlich der Schriftstellerei widmete. Der vorliegende Tagungsband gibt zahlreiche Anstöße zu einer intensiven Beschäftigung mit Catherine Paysan in Deutschland, weil mehrere Beiträge den zentralen Stellenwert der „expériences allemandes“ der Autorin herausstellen und zeigen, wie diese Erfahrungen ein literarisches Werk inspirierten, das Alteritätserfahrungen, die bisweilen schmerzliche, aber immer bereichernde Auseinandersetzung mit dem Fremden und die Orientierungssuche der betroffenen Individuen thematisiert. Der Tagungsband vereinigt die Beiträge zu dem Kolloquium, das 2010 aus Anlass des 50. Jahrestags des Schaffensbeginns von Catherine Paysan in Vivoin (Sarthe) stattfand. Sein Titel - „déchirures culturelles, expériences allemandes“ - ist Programm. Die vielen Facetten der 17 Prosabände und zwei Gedichtsammlungen, die die Autorin bis heute veröffentlicht hat, werden von den Beiträgern auf das zentrale Thema zurückgeführt, das all ihren Texten gemeinsam ist: die positiven wie negativen Spannungen, die aus dem Zusammentreffen unter- 144 Comptes rendus schiedlicher Zivilisationen und kultureller Normen entstehen. Der vorliegende Band - er wird von einem Grußwort des damaligen französischen Kulturministers Frédéric Mitterrand begleitet, was die Bedeutung des Werks von Catherine Paysan unterstreicht - ist in drei große Abschnitte gegliedert („Écriture“, „Altérité et disparités“, „Expériences allemandes“), deren reicher Inhalt von linguistischen Analysen bis zu detaillierten sozio-historischen Abhandlungen reicht. Der Beitrag von Rainer Riemenschneider („Le monde germanique dans l’œuvre littéraire de Catherine Paysan“), der die Tagung in Vivoin organisierte und zusammen mit Evelyne Brandts den vorliegenden Band herausgibt, ist weit mehr als „un simple relevé prosaïque d’honnête comptable“ (192), vielmehr führt er die zentrale These des Bandes aus: die immer wiederkehrende Thematisierung kultureller Unterschiede und deren glückliche wie traumatische Folgen im Werk von Catherine Paysan ist wesentlich eine Folge der Auseinandersetzung mit Deutschland, mit seiner Geschichte und mit den Erfahrungen, die die Französin Paysan mit und in dem Nachbarland machte. Riemenschneider stellt zunächst das untersuchte Korpus von sieben Büchern vor und geht dann den Quellen nach, die Catherine Paysan inspiriert haben. Hier gerät sein Beitrag zu einer konzisen bio-bibliographischen Studie, die die Verbindung der Autorin zu Deutschland nachzeichnet, von ihrem ersten Kontakt mit der deutschen Sprache bis zu der unglücklichen Liebesbeziehung zu einem deutschen Kriegsgefangenen, die in ihrem jüngsten Roman L’Amour là-bas en Allemagne (2006) thematisiert wird. Riemenschneider zeigt, wie die Auseinandersetzung mit Deutschland und mit den Verflechtungen zwischen gallo-romanischer und germanischer Welt die eigentlichen Inspirationsquellen für die zentralen Themen im Werk vom Catherine Paysan sind: kulturelle Zerrissenheit einerseits, Kontakt und Symbiose unterschiedlicher Zivilisationen andererseits auf der ‚großen‘ gesellschaftlich-politischen Ebene wie in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Ausführlich analysiert Riemenschneider den historischen Roman La route vers la fiancée (1991). Zur Zeit der Völkerwanderung erzählt er die Verschmelzung gallo-romanischer und germanischer Lebensweisen mit den gewalttätigen wie den gelungenen Aspekten einer kulturellen Symbiose - ein Text, der so wohl nur in Frankreich geschrieben werden konnte. Er lese sich „comme une valorisation de la présence germanique en Gaule“ (178). Die kriegerischen Konflikte, die Deutsche und Franzosen später austrugen, tauchen dennoch im gesamten analysierten Korpus auf, allerdings in der Catherine Paysan eigenen Art. Sie wirft einen differenzierten, gerade nicht nationalen, sondern zutiefst menschlichen Blick auf die Ereignisse: Die handelnden Personen erscheinen stets als Vertreter des Genus Humanum, als „être humain, avant d’être sujet de telle ou telle nationalité“ (183). Daher lässt sich Paysans Deutschlandbild auch nicht auf eine Wiederbelebung der Vorstellung von den „deux Allemagnes“ reduzieren, vielmehr arbeitet Riemenschneider heraus, dass es immer wieder der „sens humain dans les relations de personnes à personnes, sans égard à l’embrigadement imposé par les belligérants à leurs populations“ (188) ist, der Catherine Paysan die Feder führt. 145 Comptes rendus Besonders lohnend wird unter diesem Aspekt der jüngste Roman von Catherine Paysan, L’Amour là-bas en Allemagne, in mehreren Beiträgen untersucht. Paysan verarbeitet in dem autobiographischen Text ihre Erfahrungen als junge Französischlehrerin in Speyer 1946/ 47 und die gescheiterte große Liebe zu einem deutschen Kriegsgefangenen. Für den deutschen Leser sehr aufschlussreich vermittelt Geneviève Cimaz- Martineau das differenzierte Bild, das Paysan von der deutschen ‚Zusammenbruchsgesellschaft‘ unter französischer Besetzung zeichnet. Schilderungen der materiellen Härten des Alltags der Deutschen werden der „grande vie“ der französischen Besatzungsmacht gegenübergestellt, so dass die Deutschen einer „sorte d’apartheid“ (199) ausgesetzt gewesen seien. Dabei geht es Cimaz-Martineau keineswegs um eine revisionistische Umdeutung der Deutschen zu Opfern. Das machen ihre Vergleiche mit dem deutschen Besatzungsregime in Frankreich deutlich. Vielmehr zeigt sie, wie Paysan die besiegten ehemaligen Feinde eben nicht mehr als Feinde beschreibt, sondern als Menschen, die sich unter miserablen materiellen Bedingungen mit ihren Verfehlungen in der jüngsten Vergangenheit auseinandersetzen müssen. Gekonnt zieht Cimaz-Martineau Parallelen zwischen der literarischen Verarbeitung, die Paysan vorlegt, und den zeitgenössischen Berichten damals junger, engagierter Deutschlandreisender wie Michel Tournier, Alain Poher, Claude Lanzmann, Edgar Morin oder Joseph Rovan. Peter Klimm ordnet die zwei Jahre 1946/ 47, die Catherine Paysan in Speyer verbrachte, mit Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen in die Geschichte der Stadt ein. Dabei unterstreicht er die historische Authentizität des Romans. In L’amour là-bas en Allemagne beschreibt Catherine Paysan die Erfahrungen mit den Deutschen in Deutschland, in Le passage du SS thematisiert sie die Erfahrungen mit den Deutschen in Frankreich. Stéphanie Krapoth widmet sich diesem Roman unter der Fragegestellung: „Quête de l’Histoire, quête de Soi et des Autres? “ Die mitunter weit zurückreichenden historischen Exkurse, die Catherine Paysan immer wieder in ihren Text einflicht, sind, so Krapoths Analyse, mehr als nur geschichtliche Erläuterungen zum individuellen Schicksal der Protagonisten. Vielmehr gehe es darum, „à ancrer le vécu de la narratrice dans une profondeur temporelle“. So gelinge es, dass „les considérations sur l’Histoire universelle suggèrent un sens dépassant la trajectoire individuelle“ (231). Aber worin besteht dieser Sinn? Es geht nicht um eine vordergründige Entpolitisierung der deutschen Besatzungszeit, sondern um die Deutung der Gewalterfahrungen und des Kontakts mit dem Fremden, zunächst mit den deutschen Besatzern und dann den amerikanischen Befreiern, und wie diese Erfahrungen die eigenen Sichtweisen und Stereotypen verändern (241). Ein wesentliches Ergebnis des Bandes besteht mithin in dem Nachweis, dass die „expériences allemandes“ Catherine Paysan für das zentrale Thema ihres literarischen Schaffens inspirierten: „Alterité et disparités“. Die Beiträge zum zweiten Teil des Bandes stehen unter diesem Rubrum und zeigen, wie sich auch in den Werken, in denen Deutschland und die Deutschen nicht immer eine Rolle 146 Comptes rendus spielen, die Protagonisten am Fremdbzw. Anders-Sein abarbeiten. Nicole Zébazé untersucht, wie die Liebe, die zwischenmenschliche Nähe nationale, kulturelle und gesellschaftliche Gegensätze überwindet. Catherine Paysan, so ihr Ergebnis, wolle zeigen, dass „l’amour relativise la rationalité culturelle et n’engage point la raison“ (104). Gerade diese Erfahrung hat die Schriftstellerin in jungen Jahren selbst gemacht, im Guten wie im Schlechten. Evelyne Brandts geht in ihrem Beitrag der Erfahrung des Fremdseins in L’Amour là-bas en Allemagne nach. Die Protagonistin fährt ihrem Geliebten, dem ehemaligen Feind, in dessen Heimat voraus, um zu erfahren, dass seine familiären Bindungen und Prägungen eine dauerhafte Beziehung verhindern. Daraus entwickelt sich aber keine Verbitterung, sondern, wie Brandts herausstellt, löst sich das Fremdsein der Protagonistin auf in Empathie für die Deutschen, mit denen sie täglich konfrontiert ist. Andere Beiträge setzen sich mit der spezifischen, komplexen Sprache auseinander, die Catherine Paysan auszeichnet. Ihren spezifischen Stil führt Gudula Gädeke auch auf den Kontakt mit der deutschen Sprache zurück (58). Die vielfältigen Perspektiven, die dieser Tagungsband eröffnet, sollten Anstoß zu einer intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung der deutschen Romanistik mit Catherine Paysan geben. Vielleicht würde sich dann auch ein deutscher Verleger für ihren jüngsten Roman L’Amour là-bas en Allemagne finden. Rainer Bendick (Osnabrück) —————————————————— NICOLE COLIN: DEUTSCHE DRAMATIK IM FRANZÖSISCHEN THEATER NACH 1945. KÜNSTLERISCHES SELBSTVERSTÄNDNIS IM KULTURTRANS- FER, BIELEFELD, TRANSCRIPT, 2011, 779 S. + 1 CD-ROM (667 S.) Die Bedeutung der deutschsprachigen Dramatik im französischen Theaterrepertoire der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die erheblichen Unterschiede beider nationalen Theatersysteme sind dem Kenner wohl bekannt, doch sind beide Phänomene bislang nicht systematisch untersucht worden. Dieser Aufgabe hat sich die Verfasserin in ihrer vorliegenden Habilitationsschrift umfassend und mit beeindruckender Kompetenz unterzogen, wobei die Betonung auf der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt. Herausgekommen ist dabei ein Buch von 779 Seiten, das ein stringentes methodisches Vorgehen mit einer soliden empirischen Grundlagenforschung verbindet, deren mühevolle Detailarbeit nur derjenige wirklich zu schätzen weiß, der die unendlich komplizierte Datenlage des französischen Theatersystems kennt. Die Untersuchung ist von der ersten bis zur letzten Seite flüssig und spannend geschrieben, was sich nicht zuletzt auch dem Umstand verdankt, dass die Verfasserin die empirischen Daten mit Werkstatistiken und Grafiken, die Bibliographie sowie ausführliche Interviews mit bedeutenden französischen Theatermachern auf eine dem Buch beigelegte CD-ROM ausgelagert hat.