eJournals lendemains 39/153

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0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/31
2014
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Nicole Colin: Deutsche Dramatik im französischen Theater nach 1945. Künstlerisches Selbstverständnis im Kulturtransfer

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2014
Wilfried Floeck
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146 Comptes rendus spielen, die Protagonisten am Fremdbzw. Anders-Sein abarbeiten. Nicole Zébazé untersucht, wie die Liebe, die zwischenmenschliche Nähe nationale, kulturelle und gesellschaftliche Gegensätze überwindet. Catherine Paysan, so ihr Ergebnis, wolle zeigen, dass „l’amour relativise la rationalité culturelle et n’engage point la raison“ (104). Gerade diese Erfahrung hat die Schriftstellerin in jungen Jahren selbst gemacht, im Guten wie im Schlechten. Evelyne Brandts geht in ihrem Beitrag der Erfahrung des Fremdseins in L’Amour là-bas en Allemagne nach. Die Protagonistin fährt ihrem Geliebten, dem ehemaligen Feind, in dessen Heimat voraus, um zu erfahren, dass seine familiären Bindungen und Prägungen eine dauerhafte Beziehung verhindern. Daraus entwickelt sich aber keine Verbitterung, sondern, wie Brandts herausstellt, löst sich das Fremdsein der Protagonistin auf in Empathie für die Deutschen, mit denen sie täglich konfrontiert ist. Andere Beiträge setzen sich mit der spezifischen, komplexen Sprache auseinander, die Catherine Paysan auszeichnet. Ihren spezifischen Stil führt Gudula Gädeke auch auf den Kontakt mit der deutschen Sprache zurück (58). Die vielfältigen Perspektiven, die dieser Tagungsband eröffnet, sollten Anstoß zu einer intensiven wissenschaftlichen Auseinandersetzung der deutschen Romanistik mit Catherine Paysan geben. Vielleicht würde sich dann auch ein deutscher Verleger für ihren jüngsten Roman L’Amour là-bas en Allemagne finden. Rainer Bendick (Osnabrück) —————————————————— NICOLE COLIN: DEUTSCHE DRAMATIK IM FRANZÖSISCHEN THEATER NACH 1945. KÜNSTLERISCHES SELBSTVERSTÄNDNIS IM KULTURTRANS- FER, BIELEFELD, TRANSCRIPT, 2011, 779 S. + 1 CD-ROM (667 S.) Die Bedeutung der deutschsprachigen Dramatik im französischen Theaterrepertoire der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie die erheblichen Unterschiede beider nationalen Theatersysteme sind dem Kenner wohl bekannt, doch sind beide Phänomene bislang nicht systematisch untersucht worden. Dieser Aufgabe hat sich die Verfasserin in ihrer vorliegenden Habilitationsschrift umfassend und mit beeindruckender Kompetenz unterzogen, wobei die Betonung auf der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts liegt. Herausgekommen ist dabei ein Buch von 779 Seiten, das ein stringentes methodisches Vorgehen mit einer soliden empirischen Grundlagenforschung verbindet, deren mühevolle Detailarbeit nur derjenige wirklich zu schätzen weiß, der die unendlich komplizierte Datenlage des französischen Theatersystems kennt. Die Untersuchung ist von der ersten bis zur letzten Seite flüssig und spannend geschrieben, was sich nicht zuletzt auch dem Umstand verdankt, dass die Verfasserin die empirischen Daten mit Werkstatistiken und Grafiken, die Bibliographie sowie ausführliche Interviews mit bedeutenden französischen Theatermachern auf eine dem Buch beigelegte CD-ROM ausgelagert hat. 147 Comptes rendus Die methodische Grundlage der Arbeit bildet Bourdieus Soziologie der symbolischen Formen sowie die Theorie des literarischen Feldes als Beschreibungssystem für das Phänomen der Rezeption deutschsprachiger Dramatik in Frankreich. Bourdieus Grundannahme einer strukturellen Homologie zwischen der ideologischen Prägung einer Epoche und ihrer Kunst und Kultur erweist sich dabei als äußerst hilfreich zum Verständnis des französischen Theatersystems in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, seiner Veränderungen unter dem Vorzeichen einer Politik der décentralisation sowie seiner Ausdifferenzierung in ein kommerzialisiertes théâtre privé, das sich bis heute dem klassischen Autorentheater verpflichtet fühlt, und ein théâtre public, das sich im Laufe der Jahrzehnte unter dem Einfluss bedeutender Intendanten und Regisseure sowie Theaterverleger und Theaterwissenschaftler auf eine heikle Gratwanderung zwischen künstlerischem Autonomiedenken und Politisierung begibt. Dabei spielen Brecht und das deutschsprachige Theater der Folgezeit eine nicht unerhebliche Rolle. Nach einer Darlegung der methodischen Grundlagen und einem kontrastiven Überblick über die Differenzen der Theaterstruktur und dem künstlerischen Selbstverständnis in Frankreich und Deutschland folgt die eigentliche Untersuchung der historischen Entwicklung, wobei die Verfasserin diese in vier Phasen einteilt, die zugleich vier Generationen von Theatermachern entsprechen: 1. 1947 bis Ende der 50er Jahre mit den von Jeanne Laurent eingesetzten Regisseuren der ersten Centres Dramatiques Nationaux von Jean Vilar über Hubert Gignoux und Jean Dasté bis Maurice Sarrazin, 2. Ende der 50er bis Ende der 60er Jahre von Roger Planchon und Bernard Sobel bis Antoine Vitez und Jacques Lassalle, 3. Ende der 60er bis in die 80er Jahre von Patrice Chéreau über Jean-Pierre Vincent bis Jean Jourdheuil und 4. von den 80er Jahren bis Ende der 90er Jahre von Georges Lavaudant über Stéphane Braunschweig bis Stanislas Nordey. Die erste Phase ist von einer starken Intellektualisierung und Politisierung des champ théâtral gekennzeichnet, wobei Robert Voisin, Roland Barthes und Bernard Dort als Herausgeber beziehungsweise Redakteure der Zeitschrift Théâtre populaire einen entscheidenden Anteil haben. Hinsichtlich der Rezeptionsgeschichte der deutschsprachigen Dramatik kann das erste Gastspiel des Berliner Ensembles 1954 in Paris und die dadurch verursachte Brechtbegeisterung und die Entstehung einer politischen Theaterkonzeption in Frankreich als entscheidender Wendepunkt betrachtet werden. In der zweiten Phase setzt sich unter dem Kulturminister André Malraux die weitere Expansion der décentralisation und des théâtre public sowie die Politisierung des französischen Theaters fort. Neben Brecht erscheinen Dürrenmatt und Frisch, das Dokumentartheater von Hochhuth über Kipphardt bis Weiss sowie politische Klassiker wie Büchner, Kleist und Lenz auf den Bühnen des öffentlichen Theaters. Mit der dritten Generation von Theatermachern nach 1968 erfolgt eine Ausdifferenzierung des Theaterfeldes, in deren Verlauf die théâtres publiques mehr und mehr die Funktion der vom Niedergang bedrohten 148 Comptes rendus Avantgardetheater der rive gauche übernehmen. Mit der künstlerischen Autonomisierung des öffentlichen Theatersektors zerbricht zugleich die frühere Utopie eines théâtre populaire und der damit verbundenen Demokratisierung des Theaters und der Gewinnung neuer Zuschauerschichten. Während die wachsende Etablierung des Regietheaters sich negativ auf die Präsenz junger französischer Dramatiker auswirkt, bleibt die Sympathie für das deutschsprachige Gegenwartstheater ungebrochen. Brecht und das Berliner Ensemble werden allerdings mehr und mehr durch die Volksbühne einerseits und die Westberliner Schaubühne andererseits ersetzt. Das Dokumentartheater wird durch das deutsche Volkstheater von Achternbusch über Fassbinder bis Kroetz abgelöst, während die deutschen Klassiker nach wie vor auf den Bühnen des théâtre public präsent bleiben und zugleich durch Dramatiker der Jahrhundertwende (Sternheim, Kaiser, Wedekind, von Horváth) ergänzt werden. Mit der vierten Generation der Theatermacher erfolgt unter dem Kulturminister Jack Lang eine erneute Aufwertung des Theaterfeldes, wobei die Verfasserin allerdings betont, dass Langs Kulturpolitik weniger auf einem soliden Fundament als vielmehr auf breitenwirksamen Großevents und Schaueffekten beruht und dass das neue ‚Pariser Theaterwunder‘ so schnell vergeht, wie es begonnen hat, wobei es allerdings im Bewusstsein sowohl der eigenen als auch der deutschen Theatermacher weiterhin fest verwurzelt bleibt. Die politische Grundorientierung des französischen Theaters bleibt weitgehend erhalten; die Germanophilie der Theatermacher hält sich in den 80er Jahren ebenfalls. Der starke Rückgang Brechts wird durch neue Autoren wettgemacht; als neue Stars auf französischen Bühnen erweisen sich Heiner Müller, Thomas Bernard und zum Teil Botho Strauß. Die 90er Jahre werden von den Protagonisten und Regisseuren der vierten Generation als Jahre einer Dauerkrise des französischen Theaters erlebt. Das Theaterfeld wird zudem zunehmend heterogener und unübersichtlicher. Das Interesse an deutschsprachigen Autoren bleibt bestehen. Vor allem Stéphane Braunschweig erweist sich als engagierter Vermittler deutschsprachiger Dramatik. Allerdings nimmt das Interesse an jungen Autoren ab. Die Verfasserin macht hierfür die finanzielle Krise des théâtre public, die Europäisierung des französischen Theaters, das Auseinanderdriften zwischen dem postdramatischen deutschen Theater und dem weiterhin dominierenden französischen Autorentheater sowie nicht zuletzt die auch im französischen Theaterfeld dramatisch zurückgehenden Deutschkenntnisse verantwortlich. Werner Schwab erweist sich als letzte Entdeckung eines deutschsprachigen Dramatikers in Frankreich. Die Arbeit von Nicole Colin zeigt vorbildlich, wie eine strikt theoriegeleitete, zugleich literatursoziologische und kulturwissenschaftlich orientierte Studie in Verbindung mit einer soliden empirischen Untersuchung zu überzeugenden Ergebnissen bei der Erläuterung und Erklärung der Rezeption des deutschsprachigen Theaters in Frankreich führt, in der weniger ästhetische Qualität, sondern die Konstellation des jeweiligen Theaterfeldes, die kultur- und finanzpolitische Situation sowie die Aktivität einzelner Vermittlerpersönlichkeiten eine entscheidende 149 Comptes rendus Rolle spielen. Die Studie hat das Verständnis des deutschen und natürlich vor allem des französischen Theaterfeldes sowie die Fakten und Hintergründe der Rezeption des deutschsprachigen Theaters in Frankreich auf eine neue Grundlage gestellt, auf der alle künftigen Untersuchungen bestens aufbauen können. Die Anerkennung der Leistung der Verfasserin im französischen Theaterfeld kommt schon dadurch zum Ausdruck, dass Jack Lang ein Vorwort und Jean Jourdheuil eine Einleitung zu der Publikation beigetragen haben. Erst kürzlich folgte eine weitere Anerkennung durch die Verleihung des renommierten Deutsch-Französischen Parlamentspreises, der Nicole Colin auf deutscher Seite auf der gemeinsamen deutsch-französischen Sitzung der Jury am 21. Januar 2013 aus Anlass des 50. Jahrestages des Élysée-Vertrages verliehen wurde. Angesichts der vorliegenden Arbeit würde man sich wünschen, dass eine ähnliche Untersuchung zur Rezeption der französischsprachigen Dramatik in Deutschland im 20. Jahrhundert folgen würde, die das Verständnis beider Theatersysteme und ihrer gegenseitigen Befruchtung ergänzen und vertiefen könnte. Wilfried Floeck (Gießen) —————————————————— FRITZ NIES: KURZE GESCHICHTE(N) DER FRANZÖSISCHEN LITERATUR - FÜR DEUTSCHE, MÜNSTER, LIT, 2013, 195 S. Fritz Nies, emeritierter Romanist an der Universität Düsseldorf, der in diesem Jahr seinen 80. Geburtstag gefeiert hat, zählt zweifelsohne zu den originellsten und in gewisser Hinsicht auch unkonventionellsten Köpfen der deutschen Romanistik, einer Disziplin, die er einmal, als damaliger Vorsitzender des Deutschen Romanistenverbandes, ebenso liebevoll wie bewundernd und anerkennend als ein „unmögliches Fach“ bezeichnet hat. 18 Seine Unkonventionalität zeigt sich nicht nur in der poetisch-verspielten, verschmitzten und zugleich treffend-anspielungsreichen Titelgebung zahlreicher seiner Aufsätze und Studien, die er mit pittoresken Überschriften versah wie „Literatur als Lebensmittel“ (1988), „Loben und Lästern: Poetische épitaphes und tombeaux“ (2010), „Massakrierter Molière“ (1986) und „Zahnpasta-Lawinen oder Latinität? Kapuzinerpredigt eines Nichtlinguisten über Waren und Wege unserer Sprachimporteure“ (1996); sondern auch in der Erschließung neuer Gegenstandsbereiche und Fragestellungen für die romanistische - und insbesondere französische - Literaturwissenschaft. Diesen Impetus 18 Fritz Nies, „Begrüßung durch den Vorsitzenden: Die Zukunft eines ‚unmöglichen Fachs‘“, in: Fritz Nies / Reinhold R. Grimm (ed.), Ein ‚unmögliches Fach‘: Bilanz und Perspektiven der Romanistik, Tübingen, Narr, 1988, 9-12; cf. auch id., „Glanures aux champs et sur les chemins de ma discipline“, in: Michel Espagne / Hans-Jürgen Lüsebrink (ed.), La romanistique allemande. Un creuset transculturel, Revue Germanique Internationale, 19, 2014, 11-23.