lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2014
39156
Editorial
121
2014
Andreas Gelz
Christian Papilloud
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3 Editorial 2014 war ein Gedenkjahr - auf dem Gebiet der Sozial- und Politikwissenschaften fiel in dieses Jahr auch der 150. Geburtstag von Max Weber. Die vorliegende Ausgabe von lendemains kommt in ihrem Dossier auf den Werdegang Max Webers zurück, das Hans-Peter Müller und Yves Sintomer zusammengestellt und ironisch mit Wozu noch Weber? überschrieben haben. In der Tat, weshalb sollte man heute noch über Max Weber sprechen? Mit Blick auf unser Dossier ist die Antwort sehr einfach: um die Ähnlichkeiten und die Unterschiede zwischen der französischen und frankophonen Rezeption Max Webers und seiner Rezeption in Deutschland besser begreifen zu können. Man braucht gar nicht die gesamte Sekundärliteratur über die Gründerväter der Soziologie zu sichten, um zu erkennen, dass Max Weber auf beiden Seiten des Rheins zweifellos der am häufigsten gelesene und kommentierte Soziologe ist. Die Beiträge von Aurélien Berlan, Hinnerk Bruhns und Edith Hanke rufen die Intensität der Rezeption seiner Arbeit sowohl im frankophonen Raum als auch in Deutschland in Erinnerung. Berlan behandelt die Beziehungen Webers zu den verschiedenen Strömungen der Gesellschafts- und Kulturkritik seiner Zeit. Bruhns analysiert die Haltung Webers zum Ersten Weltkrieg, wohingegen Hanke die Verbindungen zwischen den Vorstellungen von ‚Revolution‘ und ‚Charisma‘ im Werk Webers rekonstruiert. Jeder dieser drei Beiträge zeigt einen Weber in aktiver Auseinandersetzung mit seiner Zeit, einen Mann der ‚réflex-action‘, dessen Dynamik vorübergehende Widersprüche nicht scheut, die den Zeitläufen in einem durch zahlreiche Konflikte verwüsteten Europa geschuldet sind. 2014 a été une année de commémoration. Dans le domaine des sciences sociales et politiques, ce fut également le 150ème anniversaire de la naissance de Max Weber. La présente livraison de lendemains revient sur son parcours le temps d’un dossier ironiquement intitulé Pourquoi encore Weber? , coordonné par Hans-Peter Müller et Yves Sintomer. En effet, pourquoi parler encore de Max Weber aujourd’hui? Dans le cadre de notre dossier, la réponse est toute simple: pour mieux comprendre les similitudes et les différences entre la réception française et francophone de Max Weber, et sa réception en Allemagne. Inutile de dépouiller toute la littérature secondaire sur les pères fondateurs de la sociologie pour s’apercevoir que des deux côtés du Rhin, Max Weber a sans doute été le plus lu et le plus commenté. Les contributions de Aurélien Berlan, Hinnerk Bruhns et Edith Hanke viennent rappeler la vivacité de ce travail aussi bien dans l’espace francophone qu’en Allemagne. Berlan traite des relations de Weber avec les courants de la critique sociale et culturelle de son temps. Bruhns analyse l’attitude de Weber face à la Première Guerre mondiale, quant à Hanke, elle reconstruit les liens entre ‚révolution‘ et ‚charisme‘ dans l’œuvre de Weber. Chacune de ces trois contributions montre un Weber aux prises avec son temps, un homme de ‚réflex-action‘ dont la fougue n’évite pas quelques contradictions passagères dues aux difficultés du moment dans une Europe ravagée par les conflits. 4 Editorial Das vorliegende Dossier stellt ebenfalls die ‚mit‘ Weber produzierten Arbeiten heraus, die auf seine Konzepte und einige seiner berühmtesten Thesen zurückgreifen. Der Beitrag von Patrice Duran - zu Beginn dieses Dossiers - schlägt daher vor, die von Weber aufgeworfene Frage nach der Legitimität erneut zu stellen, ohne auf den methodologischen Individualismus zurückzugreifen, mit welchem Weber in der frankophonen Welt wohl oft identifiziert wurde. Ähnlich verhält es sich mit Frank Meier und Uwe Schimank, die aus der Weberschen These über die Bürokratie schöpfen, um die organisationssoziologische Theoriebildung zu erneuern, insbesondere, um sie aus dem engen Rahmen der (neo)institutionalistischen und systemischen Ansätze herauszulösen. Diese Beiträge rufen in Erinnerung - wenn es dessen überhaupt bedurft hätte -, dass die Arbeit über und mit Max Weber noch Potenzial birgt und dass seine Fragestellungen bei weitem über das Feld der Soziologie hinausreichen. Das Interview, das Hans-Peter Müller und Steffen Sigmund mit Mario-Rainer Lepsius kurz vor dessen Tod führen konnten, belegt dies auf eindrückliche Weise. Man kann über Weber sagen, was man will: den unvollendeten Charakter seines Werkes oder mancher seiner Konzepte hervorheben, über den von ihm als a priori vorausgesetzten Sinnbegriff sowie über seine historische und kontextualistische Methode diskutieren, ja sogar in seinem Privatleben oder seinem politischen Engagement nach der Ursache für einige seiner Eingebungen und seiner Misserfolge suchen. Dies ändert nichts an der Tatsache, dass heutzutage keine Soziologie vorstellbar ist, die nicht hier und da Anleihen bei Weber machen würde. Der Elan von Lepsius’ Äuße- Le présent dossier met également en évidence les travaux produits ‚avec‘ Weber, c’est-à-dire en recourant à son appareil conceptuel et certaines de ses thèses les plus célèbres. La contribution de Patrice Duran - en tête de ce dossier - propose ainsi de renouveler le traitement de la question de la légitimité chez Weber sans recourir à l’individualisme méthodologique avec lequel Weber aura souvent été identifié dans le monde francophone. Il en va de manière analogue chez Frank Meier et Uwe Schimank qui puisent à la thèse wéberienne de la bureaucratie pour renouveler la théorie des organisations en sociologie, notamment pour la faire sortir du strict canevas des approches (néo)institutionnalistes et systémiques. Ces contributions rappellent, s’il le fallait, que le travail sur et avec Max Weber n’est pas près de s’épuiser et qu’il est dépositaire de questions débordant largement le seul champ de la sociologie. L’entretien recueilli auprès de Mario-Rainer Lepsius peu avant sa disparition vient donner toute son ampleur à ce constat. On pourra dire tout ce que l’on veut de Weber, souligner le caractère inachevé de son œuvre ou de certains de ces concepts, débattre sur son a priori du sens, sur sa méthode historique et contextualiste, voire chercher dans sa vie privée ou son engagement politique la source de certaines de ces inspirations et de certains de ces échecs. Il n’en demeure pas moins qu’aucune sociologie aujourd’hui ne peut se faire sans emprunter ici et là à Weber. La fraîcheur du propos de Lepsius devrait 5 Editorial rungen sollten den Leser endgültig davon überzeugen, dass Weber nicht hinter, sondern vor uns liegt. finir de convaincre le lecteur que Weber n’est pas derrière, mais devant nous. Andreas Gelz, Christian Papilloud 6 Dossier Hans-Peter Müller / Yves Sintomer Wozu noch Weber? Gedenkjahre können in ihrer Konkurrenz um Aufmerksamkeit mitunter gnadenlos sein. 2014 jährte sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal - und das Gedenken an diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts deckte alles andere zu. „Die geplante Erinnerung“ (Dülffer 2014) löste einen regelrechten Historikerboom um den Ersten Weltkrieg aus. Den Beginn der europäischen Selbstzerstörung nochmals kritisch zu durchdenken, schien umso gebotener, als die Welt im 21. Jahrhundert eine bemerkenswerte Renaissance des globalen Bellizismus erlebt. Max Webers 150-jähriger Geburtstag am Ostermontag, dem 21. April dieses Jahres, ging im Trubel der öffentlichen Beschäftigung mit Ersten Weltkrieg und seiner Bedeutung weitgehend unter. Wie es einige seiner Biographen bemerkt haben, hat Weber am Ende des ‚langen 19. Jahrhunderts‘ und in den ersten Jahren des ‚kurzen 20. Jahrhunderts‘ gelebt. Mehr als andere Beobachter seiner Zeit ist ihm die Analyse der vergangenen und einiger der prägenden Aspekte der neuen Epoche gelungen, auch wenn sich diese von unseren heutigen Verhältnissen wiederum sehr unterscheidet. Kein Wunder, dass selbst die deutsche soziologische Fachgemeinschaft einem ihrer größten Klassiker in seinem Gedenkjahr vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit widmete. Immerhin erblickten gleich zwei neue Biographien zum Mythos von Heidelberg das Licht der Welt: zunächst Jürgen Kaubes (2014) anregende Lektüre von Webers Leben zwischen den Epochen und sodann Dirk Kaeslers (2014) umfassende Auseinandersetzung mit Weber als Preuße, Denker, Muttersohn. Zudem kam ein Handbuch zu Max Weber (Müller/ Sigmund 2014) auf den Markt, dass sein vielfältig verschlungenes Werk über Begriffe, die Darstellung der Werkpartien und Essays zur Anschlussfähigkeit seines Denkens zu erschließen versucht. Die voluminöse Max-Weber-Gesamtausgabe, die allmählich zum Abschluss kommt, wartet im Jubiläumsjahr mit der noch von Weber (2014a) selbst verantworteten, unvollendeten Ausgabe von Wirtschaft und Gesellschaft und den Schriften und Reden um den asketischen Protestantismus (2014b) auf, so dass die beiden berühmtesten Studien von Weber, die es laut der International Sociological Association (ISA) in die Top Ten der wichtigsten soziologischen Bücher des 20. Jahrhunderts geschafft haben, als teure Ausgaben vorliegen. In Frankreich sieht es etwas anders aus. Die Auseinandersetzung mit Max Weber ist in den letzten dreißig Jahren insbesondere dank der Übersetzungsarbeit der Texte seiner Religionssoziologie und Wirtschaftsgeschichte enorm fortgeschritten (von diesen Texten ist heute das Wesentliche auf Französisch verfügbar). Das Projekt einer (Neu-)Übersetzung der vielfältigen Texte von Wirtschaft und Gesellschaft auf der Grundlage der deutschen kritischen Gesamtausgabe ist eine weitere und neue Etappe in der französischen Rezeption von Max Weber. Den 7 DDossier Anfang machte die Veröffentlichung seiner Herrschaftssoziologie (Weber 2013), die bis dato auf französisch nicht verfügbar war, sowie eine neue Übersetzung der Stadt (Weber 2014c) und des Textes über „Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft“ (Weber 2014d). Zusätzlich erscheint die neue Übersetzung der Schriften über die soziologischen Grundbegriffe (Weber 2014e) sowie der kritischen Essays zu Weber (vgl. Löwy 2013; Lallement 2013; Bernardou / Blanc / Laignoux / Bastros 2014). Diese Übersetzungen sind auf das Interesse sowohl des Fachpublikums als auch einer breiteren Öffentlichkeit gestoßen Sie wurden in überregionalen Zeitungen rezensiert und in bekannten Rundfunksendungen diskutiert. Also: ‚Max Weber und kein Ende‘, um Goethes berühmten Aufsatz zum Shakespeare-Tag zu paraphrasieren? Mitnichten. Zwar wissen wir nun dank der neuen Biografiewelle, wer Weber war, und das in allen Einzelheiten. Was aber mit wachsendem zeitlichem Abstand immer undeutlicher wird, ist die ‚Klassizität‘ dieses Klassikers: Wozu noch Weber? Was hat er uns zu sagen? Wie steht es um ein ‚Weber-Paradigma‘? Warum gibt es keine Weberianische Soziologie mehr? Es gibt zwar noch einzelne Sozialwissenschaftler, die sich als Weberianer betrachten, aber kein lebendiges Weberianisches soziologisches Feld in der Weise, wie man heute noch von einer marxistischen Soziologie oder - in Frankreich zumindest - von einer Durkheim’schen Soziologie sprechen könnte. Warum arbeitet man gern in Deutschland ‚über‘ Weber, wie die nicht abreißende Flut an Sekundärliteratur beweist, aber weniger ‚mit‘ Weber? Warum ist dies teilweise anders in Frankreich, wo man Weber jetzt ernsthafter als vor 50 oder 30 Jahren rezipiert und benutzt. Das sind einige der Fragen, die sich heute stellen und die wenigstens ansatzweise in dem mit M. Rainer Lepsius geführten Interview, das wir hier als gekürzten Originalbeitrag veröffentlichen, angeschnitten werden. Das vorliegende Heft kann natürlich nicht alle diese Fragen klären, die sich jedoch mit wachsendem zeitlichen Abstand immer nachdrücklicher stellen werden. Deshalb verfahren wir bescheidener und beleuchten aus deutsch-französischer Perspektive den ‚politischen‘ Weber. Es gibt zumindest drei Möglichkeiten, sich dem Werk eines großen Klassikers zu widmen. Erstens kann man von Weber ausgehen und einige seiner analytischen Kategorien aufgreifen und weiterentwickeln oder aber mit ihrer Hilfe neue Forschungsgegenstände generieren. Hier ist das Werk von Weber selbst das Wesentliche: es wird fortgeschrieben und seine Relevanz oder wissenschaftliche Strenge werden mitunter benutzt, um gegen konkurrierende Schulen zu argumentieren. Dies hat eine gewisse Weberianische Soziologie in Frankreich geprägt, die für den methodologischen Individualismus geworben hat und politisch konservativ ausgerichtet war selbst wenn sie die Wertfreiheit für sich in Anspruch nahm, um sich in den 60 Jahren gegen die marxistische Soziologie der Zeit - die logischerweise mit einer linksradikalen Kritik gekoppelt war - und die Durkheim’sche Soziologie - eine progressistische, aber gar nicht revolutionäre Schule zu konstituieren. In Deutschland kennt man ähnliche Beispiele, die heute allesamt an Glaubwürdigkeit verloren haben. In diesem Dossier probiert aber der Beitrag von Patrice Duran, die Perspektive eines neuen Weberianismus zu verteidigen, der an
