lendemains
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Narr Verlag Tübingen
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2018
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Dominique Rabaté: La passion de l’impossible. Une histoire du récit au XXe siècle
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2018
Jonas Hock
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96 Editorial Comptes rendus DOMINIQUE RABATÉ: LA PASSION DE L’IMPOSSIBLE. UNE HISTOIRE DU RÉCIT AU XX e SIÈCLE, PARIS, CORTI, 2018, 256 S. Dominique Rabaté legt mit dem bei seinem Hausverlag erschienenen Band eine Literaturgeschichte dessen vor, was ihn seit drei Jahrzehnten umtreibt: le récit. Diesen Terminus hat der Verfasser bereits in seiner Dissertation als Leitbegriff eingeführt, die 1991 diptychongleich als eine Untersuchung der Erzählstimme im Werk Louis-René des Forêtsʼ und eine breiter angelegte Systematisierung von Formen der ‚Erschöpfung‘ des Erzählers erschienen war. 1 Der in diesen frühen Arbeiten entwickelte récit-Begriff definiert eine bestimmte Form der Erzählung nicht als eigene Gattung, sondern als durch eine Modulation der Erzählstimme bestimmten narrativen Text, wobei diese Modulation als Erschöpfung gefasst wird. Entscheidendes Kriterium zur Bestimmung des récit ist die Position des sujet de l’écriture in Bezug auf ‚seine‘ Fiktion. Dieses Subjekt ist ein ‚erschöpftes‘, insofern sein Sich-Schreiben gleichzeitig ein Sich-Erschöpfen ist - die Erosion eines festen Punktes, von dem aus über etwas (auch sich selbst) gesprochen werden kann. Damit einher geht die Quasi- Unmöglichkeit, eine fiktive Welt mit einer gewissen Menge an Gegenständen, Figuren, Regeln etc. zu erschaffen. Der récit stellt sich also als Erzählung einer Erfahrung dar, die den Erzähler gleichzeitig der Mittel beraubt, diese als Ganzes und in geordneter Reihenfolge zu erzählen, wobei gerade das Erzählen bzw. Schreiben selbst die Erfahrung ermöglicht: Somit gründet der récit auf dem Paradoxon der gleichzeitigen Möglichkeit und Unmöglichkeit des Erzählens. Rabaté geht davon aus, dass der récit zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Frankreich „im Schatten des Romans“ entstand, wie er in einem so betitelten Aufsatz 2 darlegt, der in die Einleitung des hier zu besprechenden Bandes eingegangen ist. Da er keiner klaren Form folgt, bildet der récit keine eigene Gattung aus und hebt sich von Subgenres wie short story oder Novelle ab, die trotz ihrer Kürze innerhalb eines klaren formalen Rahmens funktionierende Fiktionen erschaffen. Die Traditionslinien, aus denen sich der récit speist, sind erstens die Bestreitung des Romans, d. h. seiner Fähigkeit, Welten zu errichten und den Leser an diese glauben zu lassen. Kulminationspunkte und damit gleichsam Gründungs-récits dieser Linie, die aus der Auseinandersetzung mit dem realistischen und v. a. dem naturalistischen Roman erwächst, wären La Soirée avec Monsieur Teste von Valéry und Paludes von Gide mit ihren „écritures de la gratuité (Gide) ou de la virtualité infinie (Valéry)“. 3 Zweitens: Die Überführung bzw. Einführung lyrischer Formen und Schreibweisen in die Prosa wie durch Baudelaires Petits poèmes en prose oder Rimbauds Une saison en enfer. Exemplarisch für den récit im Sinne einer Verknappung der fiktiven Welt zugunsten der Selbstzuwendung der Erzähl- 1 Louis-René des Forêts: la voix et le volume, Paris, Corti, 1991; Vers une littérature de l’épuisement, Paris, Corti, 1991. 2 „À l’ombre du roman: proposition pour introduire la notion de récit“, in: Bruno Blanckeman / Jean-Christophe Millois (ed.), Le roman français aujourd’hui: transformations, perceptions, mythologies, Paris, Prétexte, 2004, 37-51. 3 Ibid., 41. 97 Comptes rendus Comptes rendus stimme sind z. B. Camus’ La chute oder Le bavard von Louis-René des Forêts, die in Rabatés ersten zwei Büchern eine entsprechend prominente Stellung einnehmen. Der vorliegende Band geht nunmehr aufbauend auf diese Studien zu Erzählstimme und Erschöpfung einen Schritt ins Grundlegende, nämlich zur Frage der (Un-)Möglichkeit der Erzählung. In zweierlei Hinsicht herrscht dabei ein retrospektiver Gestus vor: Das Buch beruht (a) auf einer ganzen Reihe bereits an verschiedensten Orten erschienener Einzelbeiträge, die die Kontinuität der Forschungen des Verfassers erahnen lassen. Dass einer dieser Beiträge sogar Eingang in eine etablierte Literaturgeschichte gefunden hat, 4 zeugt von der beginnenden Sedimentierung von Rabatés Ansatz und Gegenstand innerhalb der französischen critique. Im Hinblick auf diesen Gegenstand selbst, die Geschichte des récit, spricht der Verfasser (b) vom Abschluss eines Zyklus: „Parce que cette histoire semble close, il devient possible d’en faire le récit“ (11). Die in diesem Kontext gebrauchten Formulierungen sowie die damit einhergehende Perspektive erinnern an Derridas Rede von der clôture einer historisch-metaphysischen Epoche, wobei die Parallele so weit geht, dass gerade die Setzung eines Schlusspunktes vermieden werden soll. Insofern gilt Derridas „Nous ne disons pas la fin“ 5 auch für Rabatés Zeitalter des récit: „Car cette histoire est encore ouverte“ (106). Bei seiner Andeutung eines Epochenschnitts in der jüngeren Literaturgeschichte lehnt der Verfasser sich an aktuellere Forschungen an, 6 die in der Gegenwartsliteratur eine Hinwendung zum Dokumentarischen oder Autofiktionalen bzw. grundlegender die Orientierung an der - politischen, therapeutischen etc. - Nützlichkeit der Literatur beobachten. Er selbst hält sich weniger mit zeitgenössischen Veröffentlichungen auf und führt seine zu Beginn der 1990er Jahre entworfene Theorie und Analyse des récit noch einmal an vier Autoren durch, die durchaus als die ‚üblichen Verdächtigen‘ gelten können: Georges Bataille, Henri Thomas, Maurice Blanchot, Samuel Beckett. Diese ausführlichen Fallstudien bilden den zweiten Teil des Bandes: „Espaces et paradoxes du récit“. Den Untersuchungen konkreter Erzählräume, d. h. Einzelwerke ist eine Überblicksdarstellung des literarischen Raums des récit vorangestellt. Die für diesen ersten Teil gewählte Überschrift „Une histore? La fiction mise à nu“ nimmt, in Form des Fragezeichens, eine Formulierung Blanchots auf, die hier als Motto nach dem Kapiteltitel abgedruckt ist und am Ende von La folie du jour steht: „Un récit? Non, pas de récit, plus jamais“. In Blanchots Text kondensiert („se condense“, 62) die Unmöglichkeit des Erzählens zu einer dichten, fragmentarischen Erzählung nahe der Unverständlichkeit - figuriert wird dieses Oszillieren zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit im récit durch die Gegenüberstellung des Erzählers und der Ärzte, die ihn zwingen, Logik und Kausalität in seine Erzählung zu bringen, die sie nie erreicht, sondern immer nur Spur dieses Ringens bleibt. So könnte La folie du jour emble- 4 „Le récit au XX e siècle“, in: Patrick Berthier / Michel Jarrety (ed.), Histoire de la France littéraire, tome 3: Modernités, Paris, PUF, 2006, 113-138. 5 Jacques Derrida, De la grammatologie, Paris, Minuit, 1967, 14. 6 U.a.: Alexandre Gefen, Réparer le monde. La littérature française face au XXI e siècle, Paris, Corti, 2017. 98 Comptes rendus Comptes rendus matisch Rabatés Leitbegriff verkörpern: „le récit continue d’appartenir à l’espace protéiforme de la fiction qu’il ne cesse de mettre en cause ou de resserrer, dont il dénude et expose les principes“ (31). Die Geschichte beginnt jedoch nicht bei Blanchot, sondern wieder bei Valéry und Gide, der Zeit der Romankrise 7 also, von wo aus Rabaté zu Kurzdarstellungen verschiedener einzelner Erzählungen bzw. Erzähler übergeht. Das Maskulinum ist hierbei kein generisches, denn die Geschichte des récit ist weitgehend eine Geschichte männlicher Autoren, wie der Verfasser anmerkt (229sq.), auch wenn er nicht weiter auf die soziologischen Gründe eingeht. Der Gewinn seiner Studie besteht vor allem darin, unbekanntere Autoren wie Bernard Pingaud oder Henri Thomas vorzustellen, die von der critique meist kaum beachtet wurden, auch da sie lange von der Dominanz der ‚technischen‘ Fragen des Nouveau Roman überschattet worden sind (cf. 169). Obgleich die Geschichte des récit, die Rabaté hier erzählt, eine rein französische ist und das Phänomen im Französischen sicher seine deutlichste Ausprägung erfahren hat, verweist er auf die Rolle von Autoren wie Borges, Vila-Matas, Kafka und Walser (cf. 14), die in Frankreich immer intensiv rezipiert wurden. Eine über diese Hinweise hinausgehende Vertiefung des récit-Ansatzes mit komparatistischer Perspektive wäre sicher lohnenswert. Dass die Geschichte des récit nicht vorbei ist, deutet der Verfasser abschließend an, wenn er kurz auf zeitgenössische Adepten eines Schreibens eingeht, das sich weder einem Nützlichkeitsnoch einem Realitäts-Paradigma unterwerfen will, und die damit auf ihre je eigene Weise die Arbeit am récit fortsetzen, so etwa Pascal Quignard, Pierre Michon und Olivier Cadiot. Der nostalgische Blick, den man dem Essay unterstellen möchte, wird spätestens dann als eigene Rezeptionshaltung offenbar, wenn Rabaté selbst die Nostalgie thematisiert und davor warnt, die beschriebene Paradigmenverschiebung mit einem Ende der Literatur gleichzusetzen (cf. 242) oder die untersuchten Erzählmodi zu Qualitätsmerkmalen zu stilisieren, die den Triumph des récit über den Roman bezeugen würden - eine Haltung, die der Verfasser amüsiert bei seinem studentischen Publikum beobachtet hat (cf. 22). Une histoire du récit au XX e siècle ist kein gänzlich neuer Wurf, im Gegenteil: Am Ende des Bandes wird unter der Überschrift „Reconnaissances“ nicht nur Dank formuliert, sondern auch transparent gemacht, dass letztlich jedes Teilkapitel auf bereits publizierten Artikeln beruht. Dennoch handelt es sich nicht um einen schnell kompilierten Sammelband. Die mehrfach vorkommenden Wiederholungen zentraler Argumente und sogar einzelner Analyseelemente verleihen dem Buch einen didaktischen Gestus, der durchaus hilfreich ist, neigen die untersuchten Erzählungen doch auf den ersten Blick zu einer gewissen Hermetik oder zumindest einer komplizierten Textur. Eine Erstsemester-Einführung muss vielleicht nicht mit Blanchots Folie du jour begonnen werden. Warum aber nicht das Proseminar mit Thomasʼ Précepteur? Mit Rabatés Buch in der Hand lassen sich dann an 7 Cf. Michel Raimond, La crise du roman. Des lendemains du Naturalisme aux années vingt, Paris, Corti, 1967. 99 Comptes rendus Comptes rendus einer einzelnen Erzählung zentrale Tendenzen der französischen Prosa im literarisch langen 20. Jahrhundert aufzeigen. Jonas Hock (Regensburg) ------------------ HUBERT ROLAND (ED.): EINE KLEINE DEUTSCH-FRANZÖSISCHE LITERATUR- GESCHICHTE VOM 18. BIS ZUM BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS, TÜBIN- GEN, NARR, 2016 (EDITION LENDEMAINS 40), 250 S. Literaturgeschichten sind Geschichten, wollen erzählt sein. Also brauchen sie (erfahrene) Erzähler - dezente oder impertinente -, die von ihrem persönlichen Blickpunkt aus verfügbares Material sichten, deuten, aussondern, hervorheben, zum sinnvoll wirkenden Ganzen verknüpfen. In der Historiographie fällt dem Autor zugleich die Erzählrolle anheim. Sie blieb in der Frühzeit des Genres bis zum Ende der Narration gleich. Im hier vorliegenden Fall jedoch war die Darbietung ausgreifender geplant als sonst. Es sollte über zwei unmittelbar benachbarte, also eng vernetzte Nationalkulturen berichtet werden, zwischen denen „seit dem Mittelalter ein intensiver Austausch“ vorausgesetzt wurde. Man beschränkte sich daher auf eine stark verkürzte Zeitspanne. Und wie in jüngeren Darstellungen isolierter Nationalliteraturen erprobt, teilte man die Erzählrolle auf unter eine längere Reihe sich ablösender Sprecher. 1 Da die Regie offenbar kaum Vorgaben für die Ausgestaltung der Einzelauftritte machte, entstand so ein multiperspektivisches Panorama, das immer neu durch Unerwartetes überrascht und zu fesseln versteht. Dieser Gewinn wird damit erkauft, dass ein derart oft wechselnder Blickwinkel den Abgleich von Details, die als zeittypisch verbucht sind, mit denen anderer Abschnitte erschwert. Dafür nur wenige Beispiele: Im Kapitel über die „vernetzten Avantgarden“ des frühen 20. Jhs. wird Zeitschriften als „Vermittlungsinstanzen“ erstmals ein Abschnitt gewidmet. Würden übergeordnete Frageraster das Eingehen auf solche Items weiteren Mitarbeitern anraten, hätte sich wohl gezeigt, dass Periodika schon anderthalb Jahrhunderte vorher diese Mittlerrolle wahrnahmen. 2 Das französische Feindbild deutscher „Barbaren, Hunnen, Teutonen oder boches“ wird erstmals für 1914 registriert. Ähnliche Zerrbilder hätten jedoch schon gleich nach 1871 entdeckt werden können, bei Literaten der ersten Garnitur, einem Victor Hugo, Renan, Mau- 1 H. Roland, H.-J. Lope, H. Stenzel, G. Jacques, J. Werner, L. Gerrekens, S. Schmitz, A. Küpper, M. Boussart, Ph. Beck. 2 Dazu Fritz Nies, „Transfert court-circuité: traductions de journalistes au Siècle des Lumières“, in: Gérard Ferreyrolles (ed.), Le Livre du Monde et le monde des Livres, Paris, Presses de l’Université Paris-Sorbonne, 2012, 1113-22. Ähnliches gilt für Anthologien oder Buchreihen. Zu letzteren etwa Fritz Nies, „Superlativ in Serie. Französische Buchreihen mit besonderem Wertanspruch (1775-1921)“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 16, 1992, 227-36.
