eJournals lendemains 43/172

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Narr Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2018
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Hubert Roland (ed.): Eine kleine deutsch-französische Literaturgeschichte vom 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts

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2018
Fritz Nies
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99 Comptes rendus Comptes rendus einer einzelnen Erzählung zentrale Tendenzen der französischen Prosa im literarisch langen 20. Jahrhundert aufzeigen. Jonas Hock (Regensburg) ------------------ HUBERT ROLAND (ED.): EINE KLEINE DEUTSCH-FRANZÖSISCHE LITERATUR- GESCHICHTE VOM 18. BIS ZUM BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS, TÜBIN- GEN, NARR, 2016 (EDITION LENDEMAINS 40), 250 S. Literaturgeschichten sind Geschichten, wollen erzählt sein. Also brauchen sie (erfahrene) Erzähler - dezente oder impertinente -, die von ihrem persönlichen Blickpunkt aus verfügbares Material sichten, deuten, aussondern, hervorheben, zum sinnvoll wirkenden Ganzen verknüpfen. In der Historiographie fällt dem Autor zugleich die Erzählrolle anheim. Sie blieb in der Frühzeit des Genres bis zum Ende der Narration gleich. Im hier vorliegenden Fall jedoch war die Darbietung ausgreifender geplant als sonst. Es sollte über zwei unmittelbar benachbarte, also eng vernetzte Nationalkulturen berichtet werden, zwischen denen „seit dem Mittelalter ein intensiver Austausch“ vorausgesetzt wurde. Man beschränkte sich daher auf eine stark verkürzte Zeitspanne. Und wie in jüngeren Darstellungen isolierter Nationalliteraturen erprobt, teilte man die Erzählrolle auf unter eine längere Reihe sich ablösender Sprecher. 1 Da die Regie offenbar kaum Vorgaben für die Ausgestaltung der Einzelauftritte machte, entstand so ein multiperspektivisches Panorama, das immer neu durch Unerwartetes überrascht und zu fesseln versteht. Dieser Gewinn wird damit erkauft, dass ein derart oft wechselnder Blickwinkel den Abgleich von Details, die als zeittypisch verbucht sind, mit denen anderer Abschnitte erschwert. Dafür nur wenige Beispiele: Im Kapitel über die „vernetzten Avantgarden“ des frühen 20. Jhs. wird Zeitschriften als „Vermittlungsinstanzen“ erstmals ein Abschnitt gewidmet. Würden übergeordnete Frageraster das Eingehen auf solche Items weiteren Mitarbeitern anraten, hätte sich wohl gezeigt, dass Periodika schon anderthalb Jahrhunderte vorher diese Mittlerrolle wahrnahmen. 2 Das französische Feindbild deutscher „Barbaren, Hunnen, Teutonen oder boches“ wird erstmals für 1914 registriert. Ähnliche Zerrbilder hätten jedoch schon gleich nach 1871 entdeckt werden können, bei Literaten der ersten Garnitur, einem Victor Hugo, Renan, Mau- 1 H. Roland, H.-J. Lope, H. Stenzel, G. Jacques, J. Werner, L. Gerrekens, S. Schmitz, A. Küpper, M. Boussart, Ph. Beck. 2 Dazu Fritz Nies, „Transfert court-circuité: traductions de journalistes au Siècle des Lumières“, in: Gérard Ferreyrolles (ed.), Le Livre du Monde et le monde des Livres, Paris, Presses de l’Université Paris-Sorbonne, 2012, 1113-22. Ähnliches gilt für Anthologien oder Buchreihen. Zu letzteren etwa Fritz Nies, „Superlativ in Serie. Französische Buchreihen mit besonderem Wertanspruch (1775-1921)“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 16, 1992, 227-36. 100 Comptes rendus Comptes rendus passant, ebenso wie bei heute längst Vergessenen. 3 Man hätte nur dem Verfasser des einschlägigen Kapitels auftragen müssen, nach solchen Invektiven Ausschau zu halten. Eine Deutung des Krieges als gemeinsamen „Kreuzweg“ und „Golgatha“ der Gegner hätte sich dann bereits in Octave Mirbeaus Calvaire von 1886 gefunden, nicht erst 1918 nach dem Waffenstillstand, usw. Den Grund für bereichernde Verschiebungen des Blickwinkels brachte bekanntlich schon Thomas von Aquin auf die Formel: „Quidquid recipitur, ad modum recipientis recipitur“. Ob in diesem Kontext die abfällige Pauschalformel „Missverständnis“, in die das Romantik-Kapitel französische Auslegungen deutscher Positionen einstuft, schon erleuchtend wirkt, mag offen bleiben. Die Kernfrage geht tiefer: Welche Schnittmengen, welche Divergenzen bestimmen hier das erkenntnisleitende Interesse von Rezipienten, die zu Geschichtserzählern (oder deren Rezensenten) werden? Die Ära globaler Datenschutz-Ängste verhindert leider, dass für diesen Probandentypus mehr als rudimentäre Faktoren (wie Altersgruppe, Fachrichtung, Forschungsgebiete, Nationalität) gut erschließbar sind. Das Durchschnittsalter der Arbeitsgruppe dürfte in unserem Fall etwa 65 Jahre betragen. Diese Schätzung markiert ein Lebensstadium, in dem man annehmen darf, perfekt darauf vorbereitet zu sein, durch Teilstudien angehäufte Erfahrung einer langen Berufspraxis einmünden zu lassen in große historische Synthesen. Demgemäß bringt das Team ein gerütteltes Maß bewährten Sachverstands in das Projekt ein. Offen bleibt, ob und wie Blickpunkte jüngerer, von öffentlichem Lorbeer noch unbeschwerter Kollegen das Gesamtbild perspektivisch verschoben hätten. Ist eine Literaturgeschichte betitelt als „deutsch-französische“ seit der Aufklärung, scheinen auf den ersten Blick Fragen nach Staats- oder Fachangehörigkeit, nach dem Arbeitsgebiet der Beiträger überflüssig. Unter ihnen fehlen jedoch die von Amts wegen mit zuständigen Germanisten Deutschlands. Als französischen Sachwalter der eigenen Literatur entdeckt man einen einzigen, im Elsass gebürtigen Philosophen. Die Leerstellen sind besetzt durch zwei etwa gleichstarke Gruppen deutscher Romanisten und belgischer Germanisten/ Komparatisten. Belgien erwähnt einer der Deutschen als persönlichen Forschungsschwerpunkt, seine Kollegin als den eines Zentrums unter ihrer Leitung. In der Frühphase wurde das Projekt einer zweispurigen Literaturgeschichte finanziell gefördert vom belgischen Fonds de la Recherche. Der ebenfalls belgische Herausgeber klärt einleitend das im Buchtitel suggerierte Missverständnis dahingehend, nicht Literatur von Nationalstaaten sei gemeint, sondern die des deutschen und französischen Sprachraums. Kein Wunder also, wenn im Schlusskapitel belgischer Literatur beträchtlicher Raum zuwächst. Ob dies auch für alles Vorangehende gilt, bliebe zu prüfen. Die Gliederung des Bandes geht aus von einer Abfolge komplexer, in beiden Sprachräumen nur scheinbar deckungsgleicher Epochenbegriffe: Aufklärung vs. Lumières, classicisme vs. Klassik um 1800, Romantik, Realismus, Naturalismus, Fin 3 Etwa bei A. Lacaussade, P. de Saint-Victor, E.-M. Caro, V. de Laprade. Hier eine Blütenlese aus Werken der genannten Autoren: ‚barbares‘, ‚gros porcs‘, ‚voleurs‘, ‚ivrognes‘, ‚brutes‘, ‚fils des Huns et des Vandales‘, ‚Attilas‘, ‚Teutons‘. 101 Comptes rendus Comptes rendus de Siècle, Blütezeit der Avantgarden, Literatur des Ersten Weltkriegs. Im Hinblick auf Anfang und Ende wie auf Spezifika zeigen die meisten Epochen größere Grauzonen und Überlappungen. Prämisse für Erhebungen in den Epochenrang war offenbar meist ein Nachweis literaturtheoretischer Reflexionen und Debatten unter Zeitgenossen oder Späteren über das, was als zeittypisch zu gelten habe. Im Titel des letzten von acht Kapiteln wird ein „traumatisches Ereignis“ erstmals zum Anlass, ein Datum der allgemeinen Geschichte zur epochalen Zäsur zu erklären: der Kriegsausbruch von 1914. Naheliegender Grund dürfte das Problem gewesen sein, wie zuvor die für beide Kulturräume geltende Dominanz einer benennbaren Schreibweise oder innerliterarischen Strömung zu finden. Wollte ein Interessent seine Kaufentscheidung nach Auskünften der Inhaltsangaben treffen, hatten die sieben vorausgehenden Abschnittstitel jedoch in ihm den Eindruck verstärkt, literarischer Austausch sei lange in einer Art geistigem Aquarium abgelaufen, das ihn von der Außenwelt hermetisch abschirmte. Dabei ist der Anfangssatz in Kapitel eins mitnichten der einzige, welcher epochebildende Einwirkung von Kriegen und Revolutionen auf die Literatur postuliert. Strukturell allerdings bleiben, wie gesagt, derartige Textpassagen mit Ausnahme des Schlusskapitels folgenlos. Betont dann der Herausgeber schon auf den Anfangsseiten, selbst „in Konflikt- und Krisenzeiten“ sei der traditionelle Austausch von Literatur und Ideen nicht abgerissen, könnte er Gefahr laufen, die Leser in einer irrigen Erwartung zu bestärken: französische Literatur habe sich, wie die deutsche, von 1850 bis 1914 ständig nur damit beschäftigt, welche Themen ein Realist, Naturalist, Symbolist, Dekadist usf. aufzugreifen, vor allem auf welche Weise er seine Schreibkunst auszuüben habe. Doch bewirkte Frankreichs Demütigung im Krieg von 1870/ 71, vor allem der Verlust Elsass-Lothringens, dort nicht einen durchaus epochalen Bruch in der kulturellen Wahrnehmung der Nachbarnation? War dieser nicht umso schmerzlicher, als mit ihm schlagartig eine lange Periode der Schwärmerei endete, die seit der Jahrhundertwende die Deutschen zum gutmütigen Volk von Denkern und Träumern verklärt hatte? Diesen Umschlag sollten, die gesamte Zwischenkriegszeit hindurch, hunderte von Gedichtbänden, Romanen und Berichten aufgreifen, die nicht selten dreistellige Auflagenzahlen erreichten. Im siegreichen Deutschen Reich fiel der Umbruch weniger radikal aus, auch wenn dort die Dritte Republik zum Inbegriff gesellschaftlicher Dekadenz und des moralischen Zerfalls stilisiert wurde. Beispiele jener zwiefachen Neumodellierung von Nachbarnation und Nachbarschaftsverhältnis (die Deutschen als räuberische Barbaren; der Kampf zwischen beiden Nationen als gemeinsamer Kalvarienberg) wurden bereits erwähnt. Schließen wir mit einem letzten, von gegensätzlichem Blickpunkt aus gestalteten Motiv. Es taucht auf in einer Schilderung des Siebziger Krieges von Octave Mirbeau und kehrt wieder in einer solchen des Weltkriegs bei Erich Maria Remarque: Jeder der beiden Ich-Erzähler trifft allein auf einen gegnerischen Soldaten, den er aus antrainierten Reflexen heraus tödlich verwundet. In Le Calvaire ist das Aussehen des Opfers das eines klischeehaften Deutschen mit „yeux clairs“ und „barbe blonde“, der französische Widerpart aus Im Westen nichts Neues ist ein ebenso typischer 102 Comptes rendus Comptes rendus Vertreter seines Volks mit dem „kleinen Schnurrbart“, braunen Augen und schwarzem Haar. Mirbeaus Protagonist ist in den kurzen Augenblicken vor seinem Schuss bemüht, sich in die Gedanken des Gegners zu versetzen - an seine Frau, seine Kinder, sein Heim, an all das, was er hatte verlassen müssen. Remarques Doppelgänger versucht Gleiches bei seinem sterbenden Feind, sobald er in ihm „das Gemeinsame“ entdeckt hat: den Menschen, den Kameraden und „dass ihr ebenso arme Hunde seid wie wir“. Ähnlich wie sein Vorgänger bei Mirbeau den Getöteten innig umarmt und küsst, müht er sich wieder und wieder, zu spät und völlig verzweifelt, seinem Gegenüber ein versöhnliches Wort zu entlocken. Beim Erscheinen von Remarques Roman war die Originalversion seines Vorgängers bei der zweiundzwanzigsten Auflage angelangt und seit fast drei Jahrzehnten in deutscher Sprache auf dem Markt. Vieles spricht also dafür, dass hier ein Schlüsselmotiv beider Romane über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg ausgetauscht und umgestaltet wurde. Solche Transferprozesse konnten umso leichter unbemerkt bleiben, als im vorliegenden Band nur die spätere „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ als epochaler Umbruch der deutsch-französischen Literaturbeziehungen eingestuft wurde, nicht aber der Vorgänger-Krieg von 1870/ 71. Zusammenfassend und ergänzend: methodische, strukturelle, personelle Vorentscheidungen des sehr anregenden Bandes werfen manch gewichtige und interessante Frage auf. Die meisten Kapitel sind reich an Fakten und Namen, welche selbst erfahrenen Fachleuten nicht oder wenig vertraut sein dürften. Im Internet publizierte Forschungserträge finden bis zum Jahr vor Erscheinen der eigenen Studie Berücksichtigung. Parallelen zu heutigen politischen Debatten um nationale oder transnationale (europäische, ‚westliche‘, ‚christlich-abendländische‘) Identitäten drängen sich auf. Das Desiderat einer Literaturgeschichte Europas, ihrer transkulturellen Vernetzungen tritt indirekt mehrfach zutage. Die Notwendigkeit einer noch fehlenden Übersetzungsgeschichte für das Fortführen des Projekts wird am Schluss klar betont. Die Darstellung transnationaler Epochenkonzepte in ihrer ganzen Vielschichtigkeit ist ungemein anspruchsvoll und wirft die Frage nach Adressaten des Bandes auf. Es sind wohl kaum Bachelor-Einsteiger bei der Jagd auf Leistungspunkte, sondern eher gestandene Profis mit beträchtlichem Vorwissen. Rhetorische Schlussfrage: Wann liegt das Werk in französischer Fassung vor und ist jenem frankophonen Publikum zugänglich, dessen literarische Tradition hier gleichfalls auf dem Prüfstand der Doppelperspektive steht? Vorher wäre das etwas nachlässige Register zu überarbeiten. Fritz Nies (Düsseldorf) ------------------