eJournals lendemains 43/172

lendemains
ldm
0170-3803
2941-0843
Narr Verlag Tübingen
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2018
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Wolfgang Adam/Jean Mondot (ed.): Gallotropismus und Zivilisationsmodelle im deutschsprachigen Raum (1660-1789) / Gallotropisme et modèles civilisationnels dans l’espace germanophone (1660-1789)

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2018
Guido Braun
ldm431720109
109 Comptes rendus Comptes rendus Weise auf die Diskursstruktur auswirken“ (312). Die mise en abyme trete beispielsweise gehäuft auf, die Figurenpsychologie gehe zurück. Vor allem aber falle auf, dass der Leser „formgebend und meist auch stark involviert an der Werkwerdung Teil“ habe, indem er „das rhizomatisch-plural aufgefächerte Werk wieder in einen einheitlichen Lesevorgang normalisiert“ (313). Tatsächlich zeigen die Projekte der Netzliteratur der 1990er Jahre bereits jene interaktive Tendenz, die im Netzmedium der Gegenwart selbstverständliche Praxis geworden ist. Teile der Arbeit sind bereits zwischen 2004 und 2009 in diversen Aufsätzen präsentiert worden (325). Seinerzeit war das Korpus gegenwärtig. Im Erscheinungsjahr der Studie (2016) allerdings besteht ein historischer Abstand, der durch Kontextualisierungen oder Historisierungen hätte überbrückt werden müssen. Die Verfasserin selbst sieht im Fazit die von ihr behandelten Werke „mittlerweile von einem plötzlichen spurlosen Verschwinden bedroht“ (316). Der ephemere Charakter digitaler Fakturen stellt ein Grundproblem dar, an dessen Lösung sich mittlerweile auch Bibliotheken beteiligen. So unterhält die Deutsche Nationalbibliothek ein Webarchiv. Wer möchte, dass diese Literatur der Forschung zugänglich bleibt, wird anders vorgehen müssen als diese Studie. Literarische Praktiken des digitalen Raumes können nicht allein durch eine textimmanente Literaturwissenschaft erschlossen werden. Die Quellendokumentation oder gar die Edition digitaler Projekte, denen Werkförmigkeit zugesprochen wird, sind für die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen konstitutiv. Auf die Frage, wie das Korpus zu sichern wäre, damit es überhaupt literaturgeschichtlich beschreibbar und für eine Fachkommunikation anschlussfähig bleibt, gibt Bauers Studie keine Antwort. Dennoch kommt ihr das Verdienst zu, die digitalen Hypertext-Projekte der 1990er als Gegenstand der französischen Literaturgeschichte erfasst zu haben. Alexander Nebrig (Düsseldorf) ------------------ WOLFGANG ADAM / JEAN MONDOT (ED.): GALLOTROPISMUS UND ZIVILISA- TIONSMODELLE IM DEUTSCHSPRACHIGEN RAUM (1660-1789) / GALLOTRO- PISME ET MODÈLES CIVILISATIONNELS DANS L’ESPACE GERMANOPHONE (1660-1789). 3 Bände: (1) Wolfgang Adam / Ruth Florack / Jean Mondot (ed.): Gallotropismus - Bestandteile eines Zivilisationsmodells und die Formen der Artikulation / Gallotropisme - Les composantes d’un modèle civilisationnel et les formes de ses manifestations, Heidelberg, Winter, 2016, 257 S., (2) Wolfgang Adam / York-Gothart Mix / Jean Mondot (ed.): Gallotropismus im Spannungsfeld von Attraktion und Abweisung / Gallotropisme entre attraction et rejet, Heidelberg, Winter, 2016, 377 S., (3) Barbara Mahlmann-Bauer / Michèle Crogiez Labarthe (ed.): Gallotropismus aus helvetischer Sicht / Le gallotropisme dans une perspective helvétique, Heidelberg, Winter, 2017, 419 S. 110 Comptes rendus Comptes rendus Bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gehörte es in den Geisteswissenschaften und insbesondere in der Geschichtsforschung nicht zum guten Ton, die Verflechtungen deutscher und französischer Geschichte zu betonen, weil dies die Existenz einer französischen und einer deutschen ‚National‘-Geschichte als tragfähiger Meistererzählung für die jeweilige Geschichtsschreibung infrage zu stellen drohte. Dies gilt insbesondere für die Zeit von 1648 bis 1789, die im deutsch-französischen Verhältnis von zahlreichen, teils traumatischen Konflikten geprägt war. Diese Kriege prägten die Erinnerungskultur und belasteten im 19. und 20. Jahrhundert die bilateralen Beziehungen nachhaltig. Im Deutschen Reich von Bismarck bis Hitler waren Themen, die das Gemeinsame der deutsch-französischen Geschichte gerade jener Zeit betonten, in der Elsass und Lothringen an Frankreich abgetreten worden waren, daher nicht hoffähig. Ähnliches gilt für Frankreich: Jean-Marie Valentin deutet die abschätzigen Urteile der französischen Literaturhistoriker, zumindest soweit sie bis 1914 gefällt wurden, als Ausdruck des nationalistischen Zeitgeistes und als Kompensation für die gegen Preußen-Deutschland erlittenen militärischen Niederlagen, die durch die Erinnerung an die kulturelle und politische Überlegenheit des eigenen Vaterlandes im Zeitalter des Sonnenkönigs im Sinne einer „intellektuellen Wiederaufrüstung der Nation“ überwunden werden sollten. Dass sich die Geschichtswissenschaft und auch die Geisteswissenschaften allgemein der engen Verflechtungen in Wissenschaft, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur in jenem Zeitabschnitt kaum annahmen, ist das Ergebnis dieses Antagonismus und einer bis heute nachwirkenden Trennung des Geschichtsbildes bzw., nach dem prägnanten Diktum Étienne François’, einer ‚geteilten Erinnerung‘ (‚mémoires partagées‘). Dieses Urteil trifft in besonderer Weise auf die zweite Hälfte der Frühen Neuzeit zu, die im Mittelpunkt der drei hier zu besprechenden Bände des deutsch-französischen Forschungsprojekts „Gallotropismus und Zivilisationsmodelle im deutschsprachigen Raum (1660-1789)“ stehen. Es handelt sich um die jüngste methodische und konzeptionelle Weiterentwicklung der Ansätze und Instrumentarien zur Erforschung kultureller Transfer- und Austauschprozesse, zu deren Genese seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerade die Forschungen zu den deutsch-französischen Beziehungen unter Federführung französischer Germanisten und deutscher Romanisten bahnbrechende Beiträge zu liefern vermochten, die über diesen ursprünglichen thematischen Kontext hinaus auch auf andere kulturelle Räume und Themenfelder übertragen wurden. Unter den insbesondere seit den 1980er Jahren entwickelten, innovativen Forschungskonzepten ist an erster Stelle das von Michel Espagne und Michael Werner etablierte Kulturtransfer-Paradigma zu nennen. Infolge seiner Entwicklung und unter den nach 1989 veränderten politischen Rahmenbedingungen haben sich die Tendenzen zur Herausarbeitung der transnationalen Verflechtungen auf neuer methodischer Grundlage verdichtet. Verschiedene methodische Ansätze wie die Historische Komparatistik, das Verflechtungs-Konzept, 111 Comptes rendus Comptes rendus die Historische Imagologie oder die histoire croisée wurden neben dem Kulturtransfer-Paradigma insbesondere anhand der deutsch-französischen Geschichte (fort-) entwickelt und erprobt. Das in den drei Bänden der von Wolfgang Adam und Jean Mondot herausgegebenen Reihe vorgestellte Konzept des ‚Gallotropismus‘/ gallotropisme erlaubt nunmehr einen noch präziseren methodischen Zugriff, indem es wertneutral nach den Orientierungsmodellen für kulturelle Präferenzen fragt und dabei Zugänge zu komplexen Selektionsmechanismen eröffnet, die mit schablonenartigen Begriffen wie ‚Aneignung‘, ‚Abschottung‘ oder (im Hinblick auf das französische Beispiel) ‚Gallophilie‘ beziehungsweise ‚Gallophobie‘ nur unzureichend umschrieben sind. Bereits frühere sich am Kulturtransfer-Paradigma orientierende Forschungen haben gezeigt, dass es für die Analyse interkultureller Transfers (der Aufnahme, Adaption oder Ablehnung von Kulturelementen) entscheidend ist, die Gründe, Träger, Gegenstände, Adaptionsformen und Ergebnisse wissenschaftlich einzubeziehen, auch und gerade im Hinblick auf die dadurch veränderte Kultur. Einen wichtigen Grund für den Kulturimport, etwa für das deutsche Interesse an französischen (materiellen wie geistigen) Kulturgütern und umgekehrt, bilden entsprechende Dispositionen und Rahmenbedingungen im Empfängerland, die den Transfer hilfreich oder sogar notwendig erscheinen lassen, kurz: die Funktionaliät des Transfers, zu der durchaus auch ganz konkrete Bedürfnisse gehören, etwa naturwissenschaftliches oder handwerkliches know-how sowie technische Apparaturen. Sehr zu Recht haben jüngere Forschungen neben den Adaptionsprozessen und den kulturellen Mittlern den Blick auf das Import-Bedürfnis in der Aufnahmekultur gerichtet. Das Problem der Ursachen und Gründe für die kulturelle Orientierung an einem bestimmten - in diesem Fall dem französischen - Modell, der betreffenden kulturellen Dispositionen und Rahmenbedingungen rückt das Konzept des ‚Gallotropismus‘ in den Fokus der Fragestellung. Es geht also weniger um den Austauschvorgang an sich und die damit verbundenen semantischen Transformationen, die im Mittelpunkt der Kulturtransferforschung stehen, sondern um die Voraussetzungen für diese Transfers. Insofern stellt der ‚Gallotropismus‘ eine sinnvolle und für das exakte Verständnis kultureller Austauschprozesse notwendige Ergänzung dar. Dass Frankreich seit dem Zeitalter Ludwigs XIV . für Europa und namentlich für den deutschsprachigen Raum ein kulturelles Orientierungsmodell darstellte, war durchaus auch der älteren Forschung bewusst, die diese Modellhaftigkeit jedoch unter anderen Vorzeichen deutete. Der französische Kunsthistoriker Louis Réau (1881-1961) sprach in seinem 1938 erstmals erschienenen, mehrfach aufgelegten und weit verbreiteten Werk für das Zeitalter der Aufklärung von einer „Europe française“. Diese Formulierung, die konzeptionell auf der seit dem 19. Jahrhundert vertretenen Vorstellung des ‚Kultureinflusses‘ beruhte, verschleiert, dass die europäische Kultur des 18. Jahrhunderts (sofern sich überhaupt von einer Kultur im Singular sprechen lässt) das Ergebnis nicht einer einfachen Übertragung des französischen Modells auf Europa, sondern reziproker Transfer- und Adaptionsvorgänge 112 Comptes rendus Comptes rendus war. Réaus einflussreiches Buch wurde noch Anfang der 1970er Jahre neu aufgelegt. Dass es sich bei der „Europe française“ um einen Mythos handelt, dem die Geschichtswissenschaft dekonstruktivistisch zu begegnen habe, betonte von französischer Seite bereits Pierre-Yves Beaurepaire im Jahr 2007. Gleiches gilt sicherlich für weitere Denkmuster und Kategorien, die der älteren Einflussforschung wichtig erschienen. Die Ergebnisse des unter der Federführung Wolfgang Adams und Jean Mondots durchgeführten Forschungsprojekts werden in drei Sammelbänden vorgelegt, die ihrerseits auf den Vorträgen wissenschaftlicher Tagungen basieren. Band 1 der zweisprachigen (deutsche und französische Aufsätze umfassenden) Reihe beginnt mit drei programmatischen Beiträgen aus der Feder Adams und Mondots. Im ersten Beitrag stellen beide Herausgeber in deutscher Sprache „Nutzen und Tragweite“ des Gallotropismus-Konzepts pointiert vor. Der zweite Beitrag, von Adam ebenfalls auf Deutsch verfasst, fasst das Konzept am Beispiel der französischen Übertragung von Lessings „Laokoon“-Vorrede als „heuristisches Instrument“. Im dritten Beitrag präsentiert Mondot den neuen Ansatz auf Französisch, verbunden mit seiner überzeugenden Illustration am Beispiel des Journal d’un voyage à travers la France von Sophie von La Roche. Zur Skizzierung der Erkenntnispotenziale des neuen Forschungskonzepts hätte kaum ein prägnanteres Fallbeispiel gewählt werden können, denn die Vielschichtigkeit des Verhältnisses Sophie von La Roches zu Frankreich lässt sich mit den gängigen Begriffen der ‚Gallophilie‘ beziehungsweise der ‚Gallophobie‘ nicht zutreffend beschreiben. Daher verdeutlicht gerade dieses Beispiel die Unabdingbarkeit eines wertneutralen Konzepts. Obgleich die Aufnahme sowohl deutschals auch französischsprachiger Beiträge prinzipiell zu begrüßen ist, weil die mit einer der beiden Sprachen nicht vertraute Leserschaft dadurch mit den Erkenntnischancen des Gallotropismus-Konzepts vertraut gemacht werden kann, wäre es doch sachdienlicher gewesen, dieses Forschungskonzept am Beginn in einer zweisprachigen programmatischen Einführung vorzustellen. Im Gegenzug hätten die kürzeren Definitionen, die sich im Laufe der drei Bände des Öfteren in einzelnen Fallstudien finden, gestrichen werden können. In der vorliegenden Form fällt die Präsentation in deutscher Sprache viel ausführlicher und differenzierter aus, während sich der französische Leser mit einer prägnanten, aber mit viereinhalb Seiten doch vergleichsweise kurzen Antwort Mondots auf die Frage: „Qu’est-ce que le gallotropisme? “ zu Beginn seines Aufsatzes über Sophie von La Roche begnügen muss. Ferner wäre es für das nur einer Sprache mächtige Lesepublikum hilfreich gewesen, die thematischen Einzelstudien mit einem kurzen Resümee in der jeweils anderen Sprache abzuschließen. Allerdings ist das dargebotene Material so reichhaltig und überzeugend, dass sich das Gesamtwerk auch bei einer teilweise nur mit einer Sprache vertrauten Studierendenschaft in der universitären Lehre durchaus sehr gut anwenden lässt. 2018- 2019 wurde es durch den Rezensenten an einer elsässischen Hochschule mit nur zum Teil des Deutschen mächtigen französischen Studierenden unterschiedlicher 113 Comptes rendus Comptes rendus Jahrgangsstufen in den Fächern Geschichte der Frühen Neuzeit und Kulturgeschichte erfolgreich eingesetzt und erfreute sich dabei deren besonderer Wertschätzung. Gleichwohl ist ein gewisses sprachliches Missverhältnis zuungunsten der französischen Beiträge zu konstatieren. Neben dem einleitenden Beitrag Adams und Mondots, der das (von der DFG und der ANR in deutsch-französischer Kooperation geförderte) Forschungsprojekt und dessen Hauptergebnisse zu Beginn von Band 1 vorstellt, und einer eigenen Einleitung zu Band 3, dessen Herausgeberin Barbara Mahlmann-Bauer darin die helvetische Perspektive auf den Gallotropismus beleuchtet, umfassen die drei Bände insgesamt 43 Aufsätze (Band 1: 11, Band 2: 18, Band 3: 14). Beide Einleitungen und 33 Aufsätze sind auf Deutsch verfasst (Band 1: 5, Band 2: 17, Band 3: 11), gegenüber zehn Beiträgen in französischer Sprache (Band 1: 6, Band 2: 1, Band 3: 3). Hinzu treten in den Bänden 1 bis 2 jeweils ein knappes zweisprachiges Vorwort sowie ein Namenregister nebst einem Autorenverzeichnis. Bemerkenswert ist gerade in diesen beiden Bänden das hohe Niveau der redaktionellen Bearbeitung, dank derer Druckfehler und (in Sammelbänden in der Regel häufiger anzutreffende) redaktionelle Uneinheitlichkeiten sehr selten sind. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle alle beteiligten Verfasserinnen und Verfasser aufzuführen, zu denen mit Michel Delon, Ruth Florack, Françoise Knopper, Roland Krebs, Hans-Jürgen Lüsebrink, Gérard Laudin und vielen anderen mehr, die dem Rezensenten den Verzicht auf ihre Nennung nachsehen mögen, die erste Garde der französischen Germanistik und der deutschen Romanistik gehört. Hinsichtlich der fachlichen Schwerpunkte der Autorinnen und Autoren der Bände zeigt sich, wie die genannten Beispiele bereits verdeutlichen, eine gewisse Dominanz der Germanistik und Romanistik; deutsche und französische Literatur- und Kulturgeschichte sind als Fächer ebenso vertreten wie Kulturwissenschaft, Sprachwissenschaften, aber auch Kunstgeschichte und Slawistik. Historikerinnen und Historiker im engeren Sinne fehlen in diesem Tableau, ebenso wie auch andere Bereiche (etwa die Philosophiegeschichte, die Musikgeschichte oder die Geschichte von Naturwissenschaft, Medizin und Technologie) durchaus eine stärkere Berücksichtigung verdient hätten. Aber diese Anregungen zu noch stärker ausgeprägter Interdisziplinarität sollten nicht als Kritik am vorgelegten - sich durchaus durch eine beachtliche Interdisziplinarität auszeichnenden - Opus verstanden werden. Sie unterstreichen vielmehr die Erkenntnispotenziale des vorgestellten Forschungskonzepts für weitere Disziplinen. Unter den behandelten Schriftstellerinnen und Schriftstellern finden sich - neben der in mehreren Beiträgen untersuchten Sophie von La Roche und Lessing - beispielsweise Nicolas-Edme Restif de la Bretonne, Johann Christoph Gottsched, Denis Diderot und viele andere mehr. Neben literarischen Schriften und Übersetzungen werden Korrespondenzen, Flugblätter und vielfältige weitere Textquellen herangezogen. Eine Reihe von Beiträgen thematisiert Funktionen und Formen des Sprachgebrauchs, insbesondere auch Probleme von Zweibzw. Mehrsprachigkeit. Da einige Persönlichkeiten in mehreren Beiträgen verschiedener Bände behandelt 114 Comptes rendus Comptes rendus werden (etwa Beaumarchais), ist das Fehlen eines Registers zu Band 3 zu bemängeln. Ein ‚Querlesen‘ der Beiträge fördert zudem thematische Aspekte zutage, die in diversen Fallstudien angeschnitten werden. In diesem Zusammenhang wäre vor allem die Rolle von Frauen zu nennen, keineswegs nur als Verfasserinnen vieler in den Einzeluntersuchungen analysierter Schriften. Bereits die Fallstudie zu Sophie von La Roches Journal d’un voyage à travers la France verdeutlicht die herausragende Rolle, die den Frauen in der französischen Kultur zugeschrieben wird, als eines zentralen Elements des Gallotropismus. Neben einem „parisianotropisme“ (Mondot) als Unterform des Gallotropismus ließe sich somit auch von einem ‚Gynätropismus‘ als dessen Sonderform sprechen. Zusammenfassend sind die drei aus dem Forschungsprojekt zum Gallotropismus hervorgegangenen Bände als eine erhebliche - methodische wie inhaltliche - Bereicherung der Forschung zu den deutsch-französischen Kulturkontakten in der zweiten Hälfte der Frühen Neuzeit unter gelungener Einbindung der helvetischen Perspektive zu würdigen. Wie bei Sammelbänden üblich, wird das Grundkonzept nicht von allen Autorinnen und Autoren gleichermaßen konsequent und engagiert vertreten; die überzeugenden Studien überwiegen jedoch bei weitem. Positiv schlägt auch der integrative Ansatz zu Buche, mit dem Adam und Mondot ihr Konzept vertreten: Ihnen und den übrigen Projektbeteiligten geht es weniger um Abschottung gegenüber früheren Forschungsansätzen und -konzepten, sondern vielmehr um deren fruchtbringende Fortentwicklung. Dass der Tropismus und insbesondere der Gallotropismus sich - wie vor drei Jahrzehnten der Kulturtransfer - in der Forschung als methodisch vielfältig einsetzbare Konzepte etablieren, ist sehr zu wünschen. Guido Braun (Mulhouse) ------------------ THOMAS KELLER: VERKÖRPERUNGEN DES DRITTEN IM DEUTSCH-FRANZÖ- SISCHEN VERHÄLTNIS. DIE STELLE DER ÜBERTRAGUNG, MÜNCHEN, FINK, 2018 (ÜBERGÄNGE, 74), 847 S. Thomas Keller ist ohne Zweifel einer der engagiertesten kulturwissenschaftlichen Forscher zu den deutsch-französischen Beziehungen. Nach seiner Promotion an der FU Berlin mit einer Arbeit über Stifter habilitierte er sich in Straßburg mit dem Werk Deutsch-französische Dritte-Weg-Diskurse, Personalistische Intellektuellendebatten der Zwischenkriegszeit (2001). Zwischen 1993 und 2008 leitete er den den EUCOR - Forschungsverbund „Interkulturalität in Theorie und Praxis“ (Straßburg-Freiburg- Basel-Mulhouse-Karlsruhe). In diesem Zusammenhang organisierte er zahlreiche Kolloquien, die teilweise auch als Sammelbände greifbar sind, so der zusammen mit Freddy Raphaël herausgegebene Band Lebensgeschichten, Exil, Migration (2006). Ab 1999 wirkte Thomas Keller als Germanist an der Universität Aix-en-Provence.