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expert verlag Tübingen
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Innovativer und nachhaltiger Umgang mit knappem Stadtraum Stadtgrün | Gewerbegebiete | Nachkriegsmoderne | Stadt auf Probe | Reverse Innovation | Stadtverkehr 1 · 2019 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Leben und arbeiten in der Stadt MIT RUND 130 REFERENTEN AUS POLITIK UND WIRTSCHAFT , UNTER ANDEREM: DURCHSTARTEN FÜR DIE ENERGIEWENDE NEUE MOBILITÄT WIE UNTERNEHMEN ATTRAKTIVE DIENSTLEIS- TUNGEN ENTWICKELN NEUE AUSBAUZIELE WIE DIE ENERGIEWENDE ZUM WACHSTUMSMOTOR WIRD NEUE BEZIEHUNGEN WIE DER KUNDE VON EINST ZUM PARTNER VON MORGEN WIRD 5. - 6. Juni 2019 STATION-Berlin www.bdew-kongress.de #bdewk19 HAUPTSPONSOR BDEW KONGRESS 2019 Peter Altmaier BMWi Annalena Baerbock BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN Dr. Frank Mastiaux EnBW Svenja Schulze BMU Anja-Isabel Dotzenrath E.ON Climate & Renewables Manon van Beek TenneT Holding Ulf Heitmüller VNG , Jörg Simon BWB Jö Sii Dr. Tanja Wielgoß Vattenfall Wärme Berlin Dr. Marie-Luise Wolff ENTEGA Maximilian Viessmann Viessmann Andreas Scheuer BMVI 1 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, Globalisierung, Automatisierung und Digitalisierung sind letzterdings vielbemühte Begriffe. Sicher zurecht - gelten diese Trends doch als Ursache und Motor eines gravierenden Wandels, der unsere Art zu leben und zu arbeiten grundlegend verändern wird. Wir leben ja längst in einer Phase des Umbruchs: Arbeitswelten, wie wir sie aus vergangenen Jahrzehnten kennen - immer am selben Platz, mit festen Arbeitszeiten und strengen Hierarchien - passen nicht mehr zu den Entwicklungen in Produktion und Dienstleistung, aber auch nicht mehr zu unseren Vorstellungen von individueller Freiheit. Künstliche Intelligenz, autonome Fahrzeuge und Industrie 4.0 könnten künftig Routineaufgaben übernehmen, um den kreativen Teil kümmern sich dann flexible und hochqualifizierte, gut vernetzte Digitalarbeiter. Andere Prioritäten werden auch „nach Feierabend“ gesetzt: Im Vergleich zum eher bescheidenen Freizeitverhalten früherer Generationen rücken Konsum, Medien und Mobilität zunehmend in den Mittelpunkt. Also der Aufbruch in eine schöne neue Welt? Umbrüche sorgen immer auch für Verwerfungen. Sie treffen auf gewachsene Strukturen und angestammte Besitzstände, bringen Gewinner und Verlierer hervor. Welche Begleiterscheinungen der Wandel auf Leben und Arbeit in Städten, ja ganzen Regionen hat, zeigt der Übergang von der Industriegesellschaft zur sogenannten Wissensgesellschaft. Klassische industrielle Produktionsstätten in Stadtlage stehen längst leer, sind umgewidmet oder bereits abgerissen, die Flächen neu bebaut. Etliche Industrie-Jobs sind bereits weggefallen oder werden schon bald überflüssig sein. Dagegen wächst die Zahl der Büroarbeitsplätze in Deutschland - insbesondere in den boomenden Städten. Viele gut qualifizierte Menschen zieht es in die Zentren, was zudem die Nachfrage nach Wohnraum, aber auch nach Mobilität in die Höhe treibt. In dieser veränderten Situation gilt es, die Interessen auszugleichen, angemessenes Wohnen und Arbeiten für alle zu ermöglichen, Grundstücke und Immobilien nicht allein den Kräften des Marktes zu überlassen. Für eine nachhaltige Stadtentwicklung brauchen Städte und Gemeinden Strategien. Einige kluge Anregungen und wegweisende Projekte finden Sie in der vorliegenden Ausgabe. Ihre Christine Ziegler Redaktionsleitung „Transforming Cities“ Leben und arbeiten in der Stadt 2 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES INHALT 1 · 2019 FORUM Interview 4 Wie lässt sich Stadtentwicklung nachhaltig gestalten? Difu-Geschäftsführer Prof. Dr. Carsten Kühl im Interview. Standpunkt 8 Deutsche Städte werden Blue Communities Christa Hecht PRAXIS + PROJEKTE Ressourcen 10 Wasserrecycling auf hohem Niveau IKEA in Kaarst bezieht Grau- und Regenwasser in die Sanitärtechnik ein Klaus W. König Kommunikation 14 Energieoptimierte Regelung Modernisierung der Beleuchtung und Beschattung eines Schulgebäudes Volker Eichler Stadtraum 18 Schöne neue Arbeitswelt Kai Oppel Mobilität 24 Unterwegs in der Stadt Smarte Technologien für die Mobilität der Zukunft Andreas Zerlett Energie 26 Baugenossenschaft speichert regenerativ erzeugte Wärme Ideale Kombination: Solarthermische Großanlage und unterirdischer Pufferspeicher Klaus W. König 30 Dezentrale Wärme- und Kälteverteilung für das höchste Wohngebäude in Deutschland Bauprojekt Grand Tower in Frankfurt am Main mit hochwertigen Eigentumswohnungen in wegweisender Architektur Michaela Freytag Seite 18 Seite 24 Seite 32 © Art-Invest Real Estate / ACCUMUL ATA Real Estate. © COPA-DATA © Milena Schlösser 3 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES INHALT 1 · 2019 THEMA Leben und arbeiten in der Stadt 32 Stadtgrün auf wenig Raum Grün- und Freiraumentwicklung in wachsenden Städten Brigitte Adam, Fabian Dosch 38 Leben und Arbeiten - nur ein Thema für die Innenstadt? Wie nachhaltige Gewerbegebiete auch die Randzonen in den Fokus nehmen Sandra Sieber 43 Die Nachkriegsmoderne als Forschungsobjekt Zur Zukunftsfähigkeit von Baukultur und Siedlungsbau 1945-1975 Florian Wiedmann, Michael Peterek 48 Stadt auf Probe - Wohnen und Arbeiten in Görlitz Mittelstadt in peripherer Lage als zukunftsfähiger Wohn- und Arbeitsstandort Constanze Zöllter, Stefanie Rößler, Robert Knippschild, Sarah Hauck 54 Reverse Innovation für eine nachhaltige Mobilität Innovative Verkehrs- und Mobilitätslösungen durch globale Lerneffekte Alina Ulrich 60 Fahrrad-Nutzung in Städten - ein unterschätztes Verkehrsmittel Verkehrsmittelnutzung im Stadtverkehr mit besonderem Fokus auf Fahrräder Andreas Krämer, Robert Bongaerts 66 Verkehr intelligenter managen und das Klima schützen Mehr Mut und Entschlossenheit bei der Umsetzung von verkehrlichen Maßnahmen für die Stadt der Zukunft David Rüdiger, Alina Steindl, Daniela Kirsch, Arnd Bernsmann 70 Smarte Konzepte Herausforderungen einer nachhaltigen und effizienten kommunalen Entwicklung in Zeiten der Digitalisierung Oliver Rottmann, Niklas Günther, Christoph Mengs FOKUS Fachliteratur 74 Der Frankfurter Riedberg Stadtentwicklung für das 21. Jahrhundert 75 Smart City Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten Renzension: Rainer R. Hamann 76 Impressum Seite Seite 43 43 Seite 48 © Stadt Wolfsburg Seite 54 © COUP © R. Knippschild, IÖR-Media 4 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Ein Thema, das aktuell immer wieder für Schlagzeilen sorgt, ist das Wohnen. In vielen Großstädten sind die Preise für Wohnimmobilien und Mieten stark gestiegen. Was sind die Gründe dafür? Eine wachsende Nachfrage nach Wohnraum? Es ist richtig, dass die Immobilienpreise in den meisten Großstädten seit einigen Jahren sehr stark steigen. In Berlin von 2004 bis 2017 um exorbitante 139-Prozent! Ähnliches passiert in München und anderen Großstädten. Egal wo und was - Immobilien sind heute fast immer ein gutes Geschäft. Die perspektivische Nutzung des Bodens oder ein konkreter Bedarf spielen dabei eine immer geringere Rolle. Was das Investment in Immobilien auch angesichts vergleichsweise schlechter Anlagealternativen so attraktiv macht, ist die Erwartung großer Wertsteigerungen ohne weiteres Zutun. Und das Absurde dabei: Der durch Wertsteigerungen bewirkte Vermögenszuwachs muss oft nicht einmal versteuert werden. Institutionelle, aber auch andere global agierende Anleger haben diese Renditechancen erkannt. In Berlin stammt beispielsweise heute bereits mehr als die Hälfte des in den Ankauf von größeren Immobilien investierten Kapitals aus dem Ausland. Wie wirkt sich die Preis-Rallye in den betroffenen Städten aus? Die hohen Grundstückspreise treiben die Kosten beim Wohnungsbau mit teils mehr als 50 Prozent der Gesamtkosten in die Höhe. Damit sind sie ein grundlegendes Problem bei der Schaffung von Wohnraum für Gering- und Normalverdiener. Dies führt dazu, dass Mieten im Wohnungsneubau bei weit über zehn Euro liegen. Immer häufiger werden zudem baureife Grundstücke und Immobilien allein aus spekulativen Erwartungen erworben. Mit dem veränderten Preis- und Mietniveau ändert sich auch die Bevölkerungsstruktur. Niedrige Einkommensgruppen finden kaum noch für sie bezahlbare Mietwohnungen. Die Bundesregierung hat nun erneut das Mietrecht geändert, um den Schutz der Mieter zu verbessern. Entschärft das die Situation? Die Mietpreisbremse ist in ihrer Zielrichtung vernünftig. Die notwendige Neufassung bringt eine deutliche Verbesserung. Man wird aber abwarten müssen, ob sie wirklich greift. Auch die Herabsetzung der Modernisierungsumlage und die wichtige Kappung auf drei bzw. zwei Euro pro Quadratmeter gehen in die richtige Richtung. Die Preisspirale wird hierdurch aber nur verlangsamt. Solange sich der spekulative Handel weiter lohnt, werden Immobilienpreise und Mieten weiter steigen. Wie lässt sich Stadtentwicklung nachhaltig gestalten? Die Preisentwicklung auf dem Wohnungsmarkt und zugleich eine höchst angespannte Finanzsituation in vielen Städten und Gemeinden sind derzeit vieldiskutierte Themen. Doch die eigentlichen Herausforderungen stehen den Kommunen erst noch bevor: eine weiter anwachsende Stadtbevölkerung vor dem Hintergrund von Klimawandel, demografischer Entwicklung, Globalisierung und Digitalisierung. Welche komplexen Aufgaben nachhaltige Stadtentwicklung lösen muss, wie urbane Transformation gelingen kann und wie Konzepte für eine Stadt der Zukunft aussehen könnten, erörtert Difu-Geschäftsführer Prof. Dr. Carsten Kühl 1 im Interview. 1 Seit 1. August 2018 hat der Honorarprofessor im Fach Finanzwissenschaft an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer sowie ehemaliger Finanz- und Bauminister des Landes Rheinland-Pfalz, die wissenschaftliche Leitung und Geschäftsführung des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu) Berlin/ Köln inne. Prof. Dr. Carsten Kühl. © Difu 5 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Sind die Städte dieser Entwicklung hilflos ausgeliefert oder gibt es Möglichkeiten, die Wohnraumversorgung auch für untere Einkommensklassen dauerhaft zu gewährleisten? Städte wie Berlin, München, Köln, aber auch kleinere Städte wie Münster oder Ludwigsburg sind erfindungsreich und versuchen gegenzusteuern. Zum Beispiel in Form von sozialen Baulandmodellen, Milieuschutz- und Zweckentfremdungssatzungen, Vorkaufsrecht und städtebaulichen Entwicklungsmaßnahmen. Diese Maßnahmen können die Spekulation und deren negative Auswirkungen aber nur verlangsamen. Die Mietpreisentwicklung im Bestand kann nur dort beeinflusst werden, wo die öffentliche Hand oder andere nicht renditeorientierte Institutionen Eigentümer sind. Dies sind vor allem kommunale oder andere öffentliche Wohnungsunternehmen, aber auch Genossenschaften, Kirchen, Stiftungen, welche vorrangig eine gemeinwohlorientierte Zielsetzung verfolgen. Diese Wohnungsbestände müssen sukzessive erweitert werden. Ist die Ausweisung neuer Baugrundstücke das richtige Mittel, um den Immobilienmarkt zu entspannen? Es ist eine Illusion zu glauben, Wohnraumversorgung für alle Bürger allein durch eine Erhöhung des Angebots erreichen zu können. Da der Boden ein zunehmend knappes Gut ist, geht es vielmehr darum, den Verteilungsprozess gerecht zu gestalten. Deshalb ist es unverzichtbar, dass gemeinwohlorientierte Akteure hier eine wichtige Rolle übernehmen. Was müssen Bund und Länder tun, damit die Städte dieser Aufgabe gewachsen sind? Die Liegenschaftspolitik als Instrument der Stadtentwicklung aufzugeben, war der Kardinalfehler der zurückliegenden Dekaden. Dringend erforderlich ist hier eine Kehrtwende. Ohne Unterstützung von Bund und Ländern wird diese Kehrtwende nicht gelingen. Dies erfordert die generelle Abkehr vom Höchstgebotsprinzip sowie den Vorrang der Kommunen beim Erwerb von Grundstücken des Bundes und der Länder. Der Bund hat mit der Verabschiedung des Bundeshaushalts wichtige Weichen gestellt und der Bundesanstalt für Immobilienangelegenheiten verbesserte Spielräume für die gemeinwohlorientierte Vergabe an Kommunen eingeräumt. Solche Spielräume sollten generell auch für andere Vermögensträger des Bundes und der Länder geschaffen werden. Auch der Aufbau von Bodenfonds sollte unterstützt werden, um Kommunen Handlungsoptionen für die aktive Liegenschaftspolitik zu eröffnen. Zudem bedarf es einer Nachjustierung beim Bodenrecht. Wo es auf die Feststellung eines Bodenwertes im Rahmen einer aktiven Liegenschaftspolitik ankommt, ist es wichtig, nicht jede spekulativ begründete Entwicklung der Bodenpreise nachvollziehen zu müssen. Die Voraussetzungen hierfür sind durch den Gesetzgeber zu schaffen. Auch mit Blick auf „glokale“ Herausforderungen wie Klimawandel, demographische Entwicklung, Digitalisierung und Globalisierung werden Kommunen die größten Transformationsanstrengungen unternehmen müssen, um zum Beispiel die öffentlichen Infrastrukturen massiv umzubauen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach der Finanz- und Haushaltslage der deutschen Kommunen. Die Frage nach der finanziellen Lage der Städte und Gemeinden ist in der Tat die Gretchenfrage. Selbstverwaltungsautonomie läuft ins Leere, wenn Kommunen überschuldet sind, hohe Investitionsrückstände aufweisen und unter den strikten Auflagen von Haushaltssicherungskonzepten arbeiten müssen. Dies gilt derzeit für rund ein Viertel aller deutschen Kommunen. Nicht umsonst berät derzeit die Regierungskommission „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ über eine Lösung der Altschuldenfrage. Grundstürzende Änderungen sind hier allerdings nicht zu erwarten, da die Interessen der Bundesländer aufgrund sehr unterschiedlicher Betroffenheit zu disparat sind. Sind die Kommunen für die anstehenden Aufgaben gewappnet? Mit Blick auf die Herausforderungen, die Sie genannt haben, ist es umso dringender, die finanzielle Grundausstattung von Ländern und Kommunen perspektivisch deutlich zu verbessern. Eine Transformation bestehender Infrastrukturen ist mit restriktiven Schuldenbremsen und vor dem Hintergrund einer an Fahrt verlierenden Wirtschaftsentwicklung kaum zu realisieren. Allerdings müssen auch die Kommunen noch strategischer, langfristiger und fachübergreifender planen: Umwelt-, Bau-, Verkehrs- und Finanzdezernate müssen zum Beispiel eine gemeinsame Planungskultur entwickeln und verstetigen, die über eine Betrachtung von Fünfjahreszeiträumen hinausgeht. Die in der Vergangenheit aufgebauten Investitionsrückstände der Kommunen in Höhe von insgesamt 159 Mrd. Euro im Jahr 2018 sind eben auch eine Chance: Will man den Abbau dieses Berges entschieden angehen, dann gilt es, alle Investitionsplanungen unter dem Gesichtspunkt ihres möglichen Beitrags zur „großen Transformation der Städte“ vorzunehmen. 6 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Stichwort „urbane Transformation“: Was ist damit gemeint? Zentrale Zukunftsfragen der Menschheit, wie etwa der Klimaschutz oder die Bewältigung des Klimawandels, entscheiden sich in den Städten. Andererseits sehen wir aber auch die vielfältigen Veränderungen, die das Gesicht der Städte und das Leben in den Städten künftig prägen werden: die Digitalisierung nahezu sämtlicher Lebensbereiche, neue Produktionsformen einer Industrie 4.0, die Energiewende in Verbindung mit dem Ziel einer weitgehenden Klimaneutralität von Städten sowie die anhaltenden Migrationsbewegungen und demografischen Veränderungen, die die Zusammensetzung der Bevölkerung maßgeblich beeinflussen. Dabei erachten wir diese Transformation für durchaus gestaltbar. Für uns sind also die Städte nicht nur die Orte, wo sich diese Prozesse abspielen, sondern auch die Akteure, die Verantwortung für die großen Herausforderungen übernehmen und im Wechselspiel zwischen Politik, Planung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft angemessene Lösungen entwickeln. Das ist sicherlich auch die Besonderheit der Transformationsforschung am Difu: die explizite Betonung der Rolle der Kommunen, im Rahmen ihrer Selbstverwaltung notwendige Beiträge zu den großen Herausforderungen zu leisten. Welche Relevanz hat das Thema der „Transforming Cities“ am Difu? Im Jahr 2006 haben wir den Band „Transformation netzgebundener Infrastrukturen“ herausgegeben. Daran können Sie sehen, dass wir sehr frühzeitig erkannt haben, welchen grundlegenden Fragen sich die Städte zu stellen haben. Bis heute hat die Transformationsforschung für uns eine ungebrochene Bedeutung. Wir führen Projekte zur Umsetzung der „Sustainable Development Goals“ durch, zeigen auf, wie sich die stadttechnischen Systeme in Richtung maximaler Energie- und Ressourceneffizienz umbauen lassen oder entwickeln gemeinsam mit den Kommunen Vorgehensweisen für integrierte Transformationskonzepte. Die zunehmende Digitalisierung stellt den Beginn eines grundlegenden gesellschaftlichen und industriellen Wandels dar, der sich vor allem in den Städten zeigt. Wie reagieren die Städte darauf? Ja, in der Tat. Die Digitalisierung ist für Städte eines der wichtigsten Zukunftsthemen - und für Kommunen gleichzeitig eine der größten Herausforderungen. Das zeigt etwa unsere letzte Befragung der Oberbürgermeister*innen im Rahmen des OB- Barometers 2018. Dabei stellen sich sehr grundlegende Fragen: Wie können die Kommunen sich strategisch für die digitale Transformation wappnen? Wie gelingt es ihnen, sich die Digitalisierung im Sinne ihrer Stadtentwicklungsziele zunutze zu machen und gleichzeitig damit einhergehende Risiken zu vermeiden? In der Breite stehen deutsche Kommunen bei diesen Fragen noch am Anfang, obgleich das Thema beispielsweise unter dem Schlagwort „Smart City“ in den letzten Jahren deutlich an Fahrt aufgenommen hat und immer mehr Städte anfangen, eigene Digitalisierungsstrategien zu entwickeln. Welchen Beitrag leistet hier das Difu? Wir beobachten zum Beispiel, welche Städte sich auf welche Art und Weise mit Digitalisierungsthemen befassen und auf welche Hürden sie dabei stoßen. Zudem sind wir in der Dialogplattform Smart City des Bundes vertreten und waren somit am Entwicklungsprozess der Smart City Charta beteiligt, die den Kommunen ein Leitwerk für die Auseinandersetzung mit der Digitalen Transformation bieten soll. Ganz konkret beschäftigen wir uns beispielsweise in einem Projekt damit, welche direkten und indirekten Umweltwirkungen „smarte“ Lösungen Smart City- Technologien und -Anwendungen können Beiträge zu einer klima- und umweltgerechten, also einer nachhaltigen Stadtentwicklung leisten. © pixabay. 7 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview haben; ob und wie sie tatsächlich dazu beitragen können, Ressourcen zu schonen und Energie effizienter zu nutzen. Bieten Smart City-Technologien und -Anwendungen aus Ihrer Sicht weitere Potenziale für die „Stadt der Zukunft“? Smart City- und Digitalisierungs-Ansätze in Kommunen adressieren bisher überwiegend Fragestellungen aus den Bereichen Mobilität, Energie und Klimaschutz. Es erscheint uns sinnvoll, dass Smart City-Anwendungen und -Infrastrukturen zukünftig auch in anderen Handlungsfeldern der Stadtentwicklung eingesetzt werden und dort wichtige Beiträge zu einer klima- und umweltgerechten, das heißt einer nachhaltigen Stadtentwicklung leisten. Die Zielsetzungen sind hier ebenfalls eine Verbesserung der Lebens- und Umweltqualität, die Sicherung der kommunalen Daseinsvorsorge, eine stetige Reduzierung des Ressourcenverbrauchs und eine angemessene Teilhabe aller Bürger*innen am Gemeinwesen. Können Sie konkrete Beispiele nennen? Beispielsweise können wir bereits heute mit einfachen Sensoren die Temperaturen sowie die Luft- und Umweltqualität vor Ort in Echtzeit erfassen und für die kommunale Klima- und Gesundheitsvorsorge nutzen, aber eben auch die Bevölkerung wie auch Besucher darüber informieren. Verwaltungen können diese Sensornetzwerke für eine dynamische Verkehrssteuerung einsetzen und dadurch zu hohe Verkehrsbelastungen reduzieren. Im Bereich Stadtentwässerung helfen Sensoren, die blockierte Straßeneinläufe über Funk melden, bei der kommunalen Überflutungsvorsorge. Digitale Lösungen leisten aber auch wichtige Beiträge zur effizienten Bewässerung von Bäumen und Grünanlagen in Städten. In Kombination mit intelligenter Stadtinfrastruktur können sie die Arbeit in Verwaltungen und die ämterübergreifende Zusammenarbeit unterstützen. Außerdem ermöglichen sie eine direkte Kommunikation der Verwaltung mit Bürger*innen, zum Beispiel zu Fragen des täglichen Lebens oder zu Missständen. Wie Kommunen diese Potenziale zukünftig nutzen können, untersuchen wir aktuell am Beispiel der Klimavorsorge in einem Förderprojekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gemeinsam mit den Städten Köln und Dortmund. Verlangt kommunaler Klimaschutz nicht immer auch neue Konzepte für urbane Mobilität? Absolut. Im Kontext von Verkehrswende und Digitalisierung stehen die Kommunen vor der Aufgabe, die Verkehrsbelastungen durch den motorisierten Individualverkehr und den Lieferverkehr zu reduzieren, aber gleichzeitig automatisierte Fahrzeuge und neue Verkehrsdienstleistungen zu integrieren. Erste Erfahrungen - vor allem aus dem Ausland - zeigen, dass der Autoverkehr mit zunehmendem automatisierten Fahren und neuen Mobilitätsdienstleistungen sogar zunimmt, wenn die neuen Angebote unreguliert eingeführt werden. Zusammen mit Industrie- und Forschungspartnern untersucht das Difu in Hamburg und München, wie „Mobility as a Service“ und bestehende Verkehrsangebote im öffentlichen Raum verankert und beispielsweise durch Mobilitätsstationen vernetzt werden können. In gleich mehreren Vorhaben befassen wir uns mit der Parkraumpolitik als Instrument gegen Verkehrsbelastungen und das Zuparken des öffentlichen Raums. Außerdem wollen wir mit dem Entwurf einer „Nationalen Fußverkehrsstrategie“ und unserem Engagement in der „Fahrradakademie“ die Mobilität im Nahbereich - zu Fuß oder per Fahrrad - stärken. Angesichts der bislang geringen Effekte neuer Mobilitätsdienstleistungen befassen wir uns nicht zuletzt mit der Frage, wie wir den klassischen Öffentlichen Verkehr als Rückgrat städtischer Mobilität stärken können. Wie lange werden Konzepte und Ideen von heute „halten“, wenn um die Jahrhundertmitte rund drei Viertel aller Menschen in Städten leben werden? Keiner kann alle Entwicklungen und Geschehnisse voraussagen, die sich auf das Leben in den Städten auswirken werden. Aber für ein innovatives Stadtforschungsinstitut wie das Difu ist es eine der Grundaufgaben, neue urbane Entwicklungen frühzeitig aufzuspüren und gemeinsam mit den Kommunen neue Konzepte zu entwickeln - oder vorhandene anzupassen. (Weitere Informationen: www.difu.de) 8 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Standpunkt Die Stadt Burnaby in Britisch-Kolumbien, Kanada, wurde 2011 die erste Blue Community. 2013 wurden die Stadt und die Universität Bern sowie die Kirchengemeinde Johannes in Bern die ersten Blue Communities außerhalb Kanadas. Seitdem verbreitet sich das Netz der Blue Communities immer mehr. In den letzten beiden Jahren haben die Parlamente von Augsburg, Berlin, Marburg und München beschlossen, die Selbstverpflichtung von Blue Communities zu beachten. Die Stadtregierungen haben gemeinsam mit ihren Wasserversorgern die Erfüllung dieser Verpflichtungen geprüft und weitere Maßnahmen eingeleitet. In allen Städten gibt es zusätzlich Initiativen, die diese Verpflichtung und auch viele unterschiedliche Aktivitäten rund um Wasser unterstützen. Die Beschlüsse für Blue Community wurden von Bürgerinitiativen angeregt wie in Berlin vom Berliner Wasserrat, in München und Augsburg von einer Wasserallianz, in Marburg von aktiven Bürger*innen und Student*innen. Die Fraktionen in den Stadtparlamenten haben diese Ideen aufgegriffen und die städtischen Betriebe in die Entscheidungsfindung einbezogen. Alle Beschlüsse zur Blue Community wurden mit großer Mehrheit gefasst, mitunter wie in Augsburg, auch einstimmig. Die Zertifikate, mit denen diese Selbstverpflichtung besiegelt wird, wurden im Jahr 2018 von Maude Barlow, der Ehrenvorsitzenden des Council of Canadians und Trägerin des alternativen Nobelpeises, an die Stadtverantwortlichen übergeben. Alle vier Städte erfüllen die Prinzipien hervorragend, sind sich aber bewusst, dass in vielen Bereichen ein Umdenken stattfinden und neue Maßnahmen ergriffen werden müssen. Die Zusammenarbeit von Stadtverwaltungen, Betrieben, verschiedensten Institutionen und Initiativen ist dafür wichtig. Außerdem ist es ganz wesentlich, dass alle Beteiligten in den vier Städten darauf achten, dass Blue Community nicht nur ein weiteres Aushängeschild wird, sondern reale Veränderungen bringt. So hat Berlin im Haushalt 1 Mio. EUR für die Installierung von Trinkwasserbrunnen im öffentlichen Raum bereitgestellt. Kostenfrei nutzbare Toiletten, beispielsweise Ecotoiletten, werden folgen. Initiativen wie „Flussbad Berlin“ und Wohnprojekte mit der Nutzung von Grauwasser wie der „Block 6“ oder a: tiptap mit Schulprojekten setzen sich für den nachhaltigen Umgang mit Wasser und die Bewusstmachung dafür ein. Deutsche Städte werden Blue Communities Christa Hecht Blue Communities - ein Projekt des Council of Canadians - findet Beachtung in Deutschland, Europa und der Schweiz. Weltweit bekennen sich 47 Gemeinschaften (Städte, Gemeinden, Kirchen, Orden und Universitäten) zu den Prinzipien von Blue Community. Sie erkennen Wasser als öffentliches Gut an, unterstützen die Umsetzung des Menschenrechts auf Zugang zu sauberem Trinkwasser und zu Sanitärversorgung und die schonende Nutzung der Wasserressourcen. Sie setzen sich für Wasserversorgung und Abwasserentsorgung in öffentlicher Hand ein, fördern die Nutzung von Leitungswasser statt Flaschenwasser und unterstützen andere Länder dabei, eine funktionierende öffentliche Trinkwasserversorgung bereitzustellen. Augsburg (links), Berlin (rechts). © pixabay 9 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Standpunkt München wiederum hat schon vor Jahren mit der Installierung von Trinkwasserspendern in Schulen, die an die Wasserleitung angeschlossen sind, begonnen und auch unzählige kostenfreie öffentliche Toiletten im Stadtgebiet eingerichtet. In Marburg gibt es ein Gremium, das sich regelmäßig trifft, um die Umsetzung von Blue Community-Maßnahmen zu beraten und zu kontrollieren. Augsburg wird die Maßnahmen in seine Aktivitäten rund um seine Bewerbung als Weltkulturerbe mit seiner „Historischen Wasserwirtschaft und Wasserkunst“ ein- und ausbauen. Die Grundsätze Städte, Gemeinden, Hochschulen und andere Institutionen, können eine Blue Community werden. Blue Communities halten sich an: Anerkennung des Zugangs zu sauberem Trinkwasser und zu Sanitärversorgung als Menschenrecht Die verantwortlichen Stellen und Personen der Stadt, Gemeinde oder Institution tragen zur Umsetzung dieser Rechte bei und unterstützen entsprechende Maßnahmen. Wasserdienstleistungen bleiben in öffentlicher Hand Eine Blue Community hat ihre Wasserversorgung und Abwasserentsorgung in öffentlichem Eigentum und Kontrolle. Sie setzt sich dafür ein, dass diese kommunalen Aufgaben in öffentlicher Hand bleiben. Leitungswasser anstelle von Flaschenwasser trinken Interne Betriebsstrukturen, Dienstleistungen und Veranstaltungen werden wo immer möglich, Trinkwasser aus der öffentlichen Wasserversorgung nutzen und die Nutzung von Leitungswasser fördern, um den Gebrauch von Kunststoff und den Transport von Wasser in Flaschen zu verringern. Pflege öffentlich-öffentlicher Partnerschaften mit internationalen Partnern Eine Blue Community setzt sich auch auf internationaler Ebene für das Recht auf Zugang zu sauberem Wasser und zu Sanitärversorgung ein und pflegt langfristige öffentlich-öffentliche Partnerschaften sowie Wissens- und Erfahrungsaustausch mit Städten, Gemeinden oder Institutionen im Ausland, insbesondere mit Ländern, in denen diese Rechte noch nicht ausreichend gesichert sind. Auch in Europa gibt es mehrere Städte, die sich als Blue Community verpflichtet haben - Paris, Thessaloniki, Neuchâtel, zudem Universitäten, Kirchengemeinden und Gewerkschaften - insbesondere in der Schweiz. Die Bewegung für Blue Communities bietet für Städte, Gemeinden, Institutionen und Organisationen eine hervorragende Gelegenheit, sich für Nachhaltigkeit im Umgang mit Wasser, für die Menschenrechte auf Zugang zu sauberem Wasser und sanitärer Grundversorgung und für internationale Zusammenarbeit stark zu machen und gleichzeitig die eigenen Bürger*innen, Kund*innen oder Mitglieder aktiv in diese Aktivitäten einzubinden. Durch die Selbstverpflichtung bleiben alle in ihrem Zusammenwirken stets selbst verantwortlich und bestimmen selbst das Tempo der Maßnahmen. In Deutschland und der Schweiz wird derzeit an der Vernetzung gearbeitet. Informationen dazu bei der Allianz der öffentlichen Wasserwirtschaft e. V. Christa Hecht Wasserexpertin Geschäftsführerin (im Ruhestand) der Allianz der öffentlichen Wasserwirtschaft e.V. (AöW) Kontakt: chhecht@web.de AUTORIN Marburg (links), München (rechts). © pixabay 10 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Ressourcen Mehr als 100 Mio. EUR hat IKEA in den neuen Vorzeigebau investiert. „More Sustainable Store“ nennt die Bauherrschaft ihr Flaggschiff. Es ist mit 25 000 m² fast dreimal so groß wie das bisherige Haus in Kaarst, das mit rund 9000 m² Verkaufsfläche das kleinste IKEA-Einrichtungshaus in Deutschland war. „In der Produktausstellung legen wir einen besonderen Schwerpunkt auf unsere nachhaltigen Produkte, denn wir möchten auch unsere Kunden zu einem nachhaltigeren Leben zuhause inspirieren“, sagte Einrichtungshauschef Stephan Laufenberg bei der Eröffnung am 12. Oktober 2017. Das Ziel sei, bei diesem internationalen Pilotprojekt die drei Säulen Ökologie, Ökonomie und Soziales bestmöglich in Einklang zu bringen. Zum ganzheitlichen Ansatz des Einrichtungshauses zählt ein spezielles Architekturkonzept: Die einzelnen Gebäudeteile sind durch begrünte Terrassen miteinander verbunden, große Fensterflächen lassen viel Wasserrecycling auf hohem Niveau IKEA in Kaarst bezieht Grau- und Regenwasser in die Sanitärtechnik ein Klaus W. König Der Neubau in Kaarst, einer Stadt im linken Niederrheingebiet, ist das weltweit nachhaltigste IKEA Einrichtungshaus. Unter anderem wird das Wasser, das nach dem Händewaschen anfällt, ein zweites Mal genutzt. Als sogenanntes Grauwasser wird es gesammelt, im Gebäude mit einfachen Mitteln aufbereitet und zusammen mit Regenwasser für die Toilettenspülung verwendet. Diese Art von Wasserrecycling vermeidet Abwasser, spart Ressourcen und Kosten. Ein Pilotprojekt zukunftsfähiger Stoffkreisläufe, das im Mai 2018 anlässlich der Berliner Energietage mit dem Deutschen TGA-Award ausgezeichnet wurde. Bild 1: „More Sustainable Store“ - das im Oktober 2017 eröffnete IKEA- Einrichtungshaus in Kaarst. © IKEA Deutschland 11 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Ressourcen Tageslicht ins Haus. Die Holzfassade sowie die Gestaltung der Außenbereiche sorgen für ein Wohlfühlklima. Zahlreiche Sport- und Freizeitmöglichkeiten sind ein Angebot an Kunden, Mitarbeiter und an die Bevölkerung von Kaarst - auch außerhalb der Öffnungszeiten. In Kooperation mit dem NABU wurde außerdem ein Outdoor-Konzept mit vielen Grünflächen entwickelt. Beim Energiekonzept für das neue Einrichtungshaus setzt IKEA auf eine Kombination aus effizienten und Ressourcen schonenden Technologien - vom Blockheizkraftwerk über eine Solarthermie- und Photovoltaikanlage, besonders gute Dämmung, tageslichtabhängig gesteuerte LED-Beleuchtung bis hin zur Wiederverwendung von Regen- und Abwasser. Wasserrecycling Abwasser, das nach dem Händewaschen in den Sanitärräumen auf drei Geschossen des Einrichtungshauses anfällt, wird als Grauwasser gesammelt, über die Reinigungsanlage zu wiederverwendbarem Betriebswasser aufbereitet und für die Bewässerung der Außenanlagen sowie für Urinale und WC-Spülkästen genutzt. „Sollte der Bedarf an Betriebswasser die Menge anfallenden Grauwassers übersteigen, wird gereinigtes Regenwasser aus der Zisterne, die ein Fassungsvermögen von 188 m³ hat, nachgespeist. Ist das aufgebraucht, wird die Versorgungssicherheit über einen vorgehaltenen Trinkwasseranschluss gewährleistet“, erklärt Franz Epping, kaufmännischer Geschäftsführer für Vertrieb und Einkauf bei Zilisch in Ahaus. „Wir hatten unter anderem den Auftrag zum Einbau der Regenwasseranlage im Technikraum EG und der Grauwasserzentrale im 1. UG des Einrichtungshauses“. Zilisch ist für die Realisierung dieses Wasser-Recycling-Systems im Mai 2018 mit dem Deutschen TGA-Award ausgezeichnet worden. Die hier eingesetzte Technik zur Aufbereitung und Nutzung Regenwasserzisterne V= 188 m³ Technikzentale EG Achse Ed/ 22 Regenwasserfilter Regenwasser von Haupthaus Str. G/ H/ D Q = 78,40 l/ s Regenwasserfilter (RWA 1) Hersteller: Wilo-GEP Typ: C 0,5 Überlauf Regenwasser und Zisterne Q = 78,40 l/ s Rückspül- Filter (F5) Trinkwassernachspeisung über freien Einlauf DN 300 DN 300 DN 300 DN 40 DN 300 DN 32 Liefer -und Leistungsgrenze AN Robau DN: 32 DN: 50 9.1 9.0 DN: 40 DN 15 Trockenlaufschutz DEA Kompressor externe Filtersteuerung Hersteller: Wilo-GEP Netzanschluss: 400 V Vorsicherung: 10 A FI-Schutz: 30 mA Grauwasser Grauwasserzentrale 1.UG Achse U/ 15 Rückspül- Filter (F6) Liefer -und Leistungsgrenze AN Robau siehe Schema: 494-9-TG-XX-GS-ME_ -SA-106-StrangschGW-_ Überlauf Grauwasseraufbereitung siehe Schema: 494-9-TG-XX-GS-ME_ -SA-104-StrangschSW-_ DN: 32 DN: 125 DU: 21,00 l/ s Qtot: 3.21 l/ s 9.0 DN: 50 VS: 2,66 l/ s M Trockenlaufschutz DEA Steuerung Grauwasseraufbereitung Hersteller: iWater Netzanschluss: 230 V / 50 Hz max. Leistungsaufnahme: 1,0 kW Vorlagebehälter (GWA 3) V= 1 m³ DN: 32 Rückschlagklappe SW mit Handverstellung (mechanisch) Bild 2: Regenwasseranlage mit 188 m³ fassender Zisterne im Technikraum/ EG des „More Sustainable Store“ in Kaarst. © emutec Bild 3: Grauwasserzentrale im 1.UG mit etwa 160 m langem Leitungssystem. © emutec 12 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Ressourcen von Grauwasser funktioniert nach einem bereits bewährten Verfahren. Mehrere Wohn- und Geschäftsgebäude in Mönchengladbach und verschiedene Studentenwohnheime in Düsseldorf wurden in den letzten Jahren damit ausgestattet. Danach folgten für den Hersteller iWater aus Troisdorf weitere Aufträge in ganz Deutschland und Europa. Auch eine Forschungsstation in der Antarktis und ein Krankenhaus in Afghanistan zählen zu den Referenzen. Grauwasseraufbereitung Der Abfluss von 35 Waschbecken aus EG, 1. und 2. OG des Einrichtungshauses wird in einem separaten Abwassernetz zur Aufbereitung in der Grauwasserzentrale gesammelt. Sie besteht aus drei Kunststoffbehältern mit je 3000- l Fassungsvermögen. In den ersten Tank fließt das Grauwasser per Sammelleitung im freien Fall - das benötigt keine Energie. „Herzstück“ der Aufbereitung ist die Membranfiltertechnik im mittleren Behälter. Dieses Verfahren hat je nach Filterfeinheit unterschiedliche Bezeichnungen. Die bei IKEA verwendete Ultrafiltration hält zurück, was größer als 0,00005 mm ist, und wird unterstützt durch einen Belüfter, welcher von außen Luft in den unteren Teil des Grauwassertanks drückt. Die Filtermembranen stehen, zu einem Block gebündelt, mitten drin. Permanent blubbert die Luft am hauchdünnen Membrangewebe entlang und befreit es von Ablagerungen. Das herausgefilterte Material wird automatisch als Feinschlamm abgesaugt. Kleine, automatisch gesteuerte Pumpen fördern das Wasser vom ersten in den zweiten und, nach Passage der Membranen, in den dritten Tank, der als Vorratsbehälter das klare und geruchsfreie Betriebswasser enthält. Die nachgeschaltete Druckerhöhungsanlage sorgt für gleichmäßige Druckverhältnisse im Verteilnetz. In dieser Hinsicht gibt es für die Nutzer keinen spürbaren Unterschied zu einem Anschluss der Bewässerung oder der Toilettenspülung an das Trinkwassernetz. Qualität und Sicherheit „Eine Grauwasseranlage muss störungsfrei und wartungsarm funktionieren“, betont Timo Will vom Hersteller iWater Wassertechnik. „Wir optimieren die ökologische und ökonomische Effizienz, indem wir die Überwachung und Steuerung, als auch den Pumpenbetrieb so Strom sparend wie möglich konzipieren“. Vorrangiges Ziel sei allerdings die Wasserqualität, meint Will. Auch darf es laut Trinkwasserverordnung keine Beeinträchtigung des öffentlichen Trinkwassernetzes geben. Die vom Gesetzgeber geforderte Sicherheit gewährleistet eine nach DIN EN 1717 genormte Übergabeeinrichtung. Sie ist Teil der bei iWater im Werk vorgefertigten Anlage - eine Entlastung für das ausführende Unternehmen. Es muss sich nicht darum kümmern. Laut Will ist die Art der Aufbereitung bei diesem Projekt für die Behandlung von Grauwasser aus den Waschbecken in den Sanitäranlagen ausgelegt. „Unsere Technologie garantiert durch die Barriere-Wirkung der Ultrafiltrationsmembran einen nahezu vollständigen Bakterienrückhalt“, beteuert er und ergänzt: „Selbst die hygienischen Vorgaben der europäischen Richtlinie für Badegewässer werden eingehalten“. Die Besucher des IKEA Einrichtungshauses sollen allerdings nicht baden in diesem Wasser - es dient schließlich zur Toilettenspülung und Bewässerung - und ist in dieser Hinsicht mit gefiltertem Regenwasser vergleichbar. Ökonomisch statt autark Geplant wurde das Wasserrecycling, wie die übrige Haustechnik, von der bundesweit agierenden emutec GmbH aus Norderstedt. Deren Projektleiter Markus Tüpker (heute mit dem Ingenieurbüro KiT GmbH selbstständig) weist darauf hin, dass für Sammlung und Verteilung von Grauwasser grundsätzlich ein separates Leitungsnetz erforderlich ist - bei IKEA in Kaarst rund 160 m lang. In Kaarst, einer Stadt im linken Niederrheingebiet, werden für das 25 000 m² große IKEA Einrichtungshaus „More Sustainable Store“ sowohl Solarthermie als auch Blockheizkraftwerk (BHKW) zur Beheizung und Kühlung verwendet. Die Kombination aus BHKW, Solarthermie und Photovoltaik ermöglicht am Standort in Kaarst eine CO 2 -Ersparnis von rund 700 t pro Jahr. Die 4000 m² Solarzellen auf dem Dach erzeugen rund 273 000 kWh Strom pro Jahr. Außerdem wird der im Einrichtungshaus entstehende Abfall in über 20 einzelne Fraktionen getrennt, um eine besonders hohe Recyclingquote zu erreichen. Die Regen- und Grauwassernutzung spart Trinkwasser und reduziert Abwasser. Der nachhaltige Ansatz schlägt sich im Gastronomie-Bereich vor allem in der Kühltechnik nieder, da hier CO 2 als Kältemittel Verwendung findet. Mit Eröffnung des Hauses wurde IKEA Kaarst Teil der „KlimaExpo.NRW“, einer Initiative der NRW-Landesregierung, die sich für den Klimaschutz engagiert und zukunftsweisende Projekte auszeichnet. WELTWEIT NACHHALTIGSTES IKEA EINRICHTUNGSHAUS Bild 4: Ansicht Power- Clear MC 5000 Grauwasseranlage. © iWater 13 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Ressourcen Tüpker hat die Aufbereitung auf eine Leistung von 4500 Liter pro Tag ausgelegt. „Das genügt bei Spitzenbedarf für das Spülen der 57 Toiletten“, stellt er fest. „Die 27 Urinale funktionieren ohne Wasser. Durch eine übergeordnete Regelungstechnik und Motor- Kugelventile erfolgen ab und zu automatische Hygienespülungen mit Betriebswasser.“ Die Balance von Ertrag und Bedarf ist bei der Nutzung von Grauwasser prinzipiell gegeben. Kommen viele Besucher, steigt der Bedarf an Spülwasser. Gleichzeitig fällt durch das Händewaschen entsprechend mehr Grauwasser an. Besteht an Spitzentagen zusätzlich Bewässerungsbedarf, wird auf die Regenwasserzisterne zugegriffen. Und an einigen Tagen im Jahr, wenn auch diese Vorräte aufgebraucht sind, sorgt ein automatisch öffnender Trinkwasseranschluss übergangsweise für Abhilfe. Fällt zu viel Ertrag an, geht der Überlauf des Regenwassers in die Versickerungsrigole, der Überlauf des Grauwassers in den öffentlichen Kanal. Aus ökonomischer Sicht ist es ratsam, nicht den allergrößten Regenspeicher einzubauen, um bei Starkregen den letzten Tropfen fassen und ganz auf Trinkwassernachspeisung verzichten zu können. Ebenso verhält es sich bei der Bemessung einer Grauwasseranlage. Ein gelegentlicher Überlauf bei zu hohem Grauwasseranfall und Trinkwasser- „Zukauf“ bei Grauwassermangel werden bewusst in Kauf genommen. Das Ziel ökologischer Projektplanung ist nicht die Autarkie, also Unabhängigkeit von den Ver- und Entsorgungssystemen, sondern eine effiziente Ressourcen schonende Technik, die auch wirtschaftlich so interessant ist, dass sie viele Nachahmer findet. QUELLEN • www.IKEA.de • www.zilisch.de • www.ewu-aqua.de LITERATUR • König, K. W.: Grauwassernutzung - ökologisch notwendig, ökonomisch sinnvoll. Fachbuch mit farbigen Abbildungen, 1.- Auflage, 130 Seiten. Verlag: iWater Wassertechnik, Troisdorf, 2013. STADTKLIMA-RETTER PLANEN GRÜNDÄCHER Urbaner Klimaschutz mit OPTIGRÜN Systemlösungen Begegnen Sie überhitztem Stadtklima und Starkregenereignissen mit zukunftsfähigen Gründachlösungen. Dachbegrünungen kompensieren die Flächenversiegelung, speichern und verdunsten Niederschlagswasser und entlasten dadurch die Kanalisation. Gleichzeitig sorgen sie für ein angenehmeres Stadtklima, mildern den Hitzeinseleffekt und erhöhen die Biodiversität. Sprechen Sie uns an: info@optigruen.de Optigrün international AG | www.optigruen.de Dipl.-Ing. Klaus W. König Öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Bewirtschaftung und Nutzung von Regenwasser, Fachjournalist kwkoenig@koenig-regenwasser.de AUTOR 14 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Das im Nordosten Nordrhein- Westfalens sowie rund 25 Kilometer östlich von Bielefeld gelegene Lemgo ist vielen Sportbegeisterten durch den Handball-Bundesligisten TBV Lemgo bekannt. Die im Jahr 1190 gegründete Stadt, in der heute fast 42 000 Einwohner leben, hat sich ebenfalls mit der Hochschule Ostwestfalen-Lippe, die einen Schwerpunkt auf die Ingenieurwissenschaften legt, einen Namen gemacht. Das Stadtbild wird durch zahlreiche spätmittelalterliche Bauwerke geprägt. Ein Teil des in Lemgo ansässigen Engelbert-Kämpfer-Gymnasiums ist ebenso in einem historischen Gebäude untergebracht: dem denkmalgeschützten Lippehof, einer ehemals fürstlichen Residenz aus dem 18. Jahrhundert. Daneben besteht die Schule, die 1938 nach dem 1651 in Lemgo geborenen Arzt und Asienforscher benannt wurde, aus einem Klassentrakt aus dem Jahr 1974 sowie dem 1997 fertiggestellten Neubau. Nach Aussage der damaligen Architekten reflektiert die nach außen gelegte Stahlfachwerkkonstruktion des neuen Gebäudes die Häuser der Renaissance- Altstadt und transportiert die Fachwerkumgebung so in eine neue Formensprache (Bild 1). Energieoptimierte Regelung Modernisierung der Beleuchtung und Beschattung eines Schulgebäudes Volker Eichler Da die Beleuchtung und Beschattung eines Gebäudes des Engelbert-Kämpfer-Gymnasiums in Lemgo nicht mehr dem aktuellen Stand der Technik entsprach, entschloss sich der Betreiber zu einer Modernisierung. Mit dem Gebäudemanagementsystem Emalytics und den IoT-Steuerungen ILC 2050 BI steht nun eine wirtschaftliche Automatisierungslösung zur Verfügung, die die derzeitigen und auch zukünftigen Anforderungen der Nutzer erfüllt. © Phoenix Contact 15 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Seit der Errichtung des Neubaus sind bereits 20 Jahre vergangen, in denen der „Zahn der Zeit“ nicht nur an dessen Hülle genagt hat. Auch die Gebäudeautomation entspricht nicht mehr dem aktuellen Stand der Technik sowie den Anforderungen der Lehrer und Schüler. Ende der 1990er Jahre war an die Möglichkeiten einer modernen Building-IoT-Lösung, also der Überführung des Internets der Dinge in die Gebäudeautomation, natürlich noch nicht zu denken. Zukünftig werden sich jedoch viele Immobilienbesitzer und Bauherren mit IP-basierten Automatisierungssystemen beschäftigen müssen. Diese bieten bei der Neuerstellung ebenso wie bei der Modernisierung oder Erweiterung von Bestandsimmobilien neben einigen Herausforderungen zahlreiche Chancen. Welche das sind, lässt sich am Beispiel des Engelbert-Kämpfer- Gymnasiums verdeutlichen. Hoher Wärmeeintrag durch die Glasfassade Das Herzstück der an der Lemgoer Schule umgesetzten Building- IoT-Lösung bildet das Gebäudemanagementsystem Emalytics von Phoenix Contact. Die Plattform, die die Gebäudeleittechnik mit einem aktiven Energiemanagement kombiniert, zeichnet sich unter anderem durch die Unterstützung aller relevanten Kommunikationsprotokolle sowie durch vielfältige Visualisierungsmöglichkeiten aus. Darüber hinaus verfügt Emalytics über ein umfassendes Benutzermanagement, das dem erfahrenen Bediener wie auch dem interessierten Zuschauer und dem Facility Manager, der die aufgetretenen Störungen beheben muss, unterschiedliche Nutzungs- und Eingriffsmöglichkeiten erlaubt. Zudem umfasst das Managementsystem schnelle Diagnosewerkzeuge, die sich bei Bedarf durch eine Fernwartungsoption ergänzen lassen. Dabei wird der Zugriff auf Alarme, Protokolle, Grafiken, Zeitpläne und Konfigurationsdaten über einen Standard-Webbrowser realisiert (Bild-2). Das lichtdurchflutete Forum des Engelbert-Kämpfer-Gymnasiums ließ sich bislang nicht optimal klimatisieren. Dies, weil die riesige Glasfassade abhängig von den jeweiligen Wetterverhältnissen zu einem hohen Wärmeeintrag führen konnte. Bei der Errichtung des Bauwerks waren die vorhandenen Beschattungsmöglichkeiten seinerzeit nicht in die Regelung des Raumklimas einbezogen worden. Deshalb hat Phoenix Contact ein integrales Konzept entwickelt, das je nach Witterung, Beschattungserfordernissen und gewünschter Raumtemperatur eine bedarfsgerechte Steuerung der Klimatisierung ermöglicht. Ein weiterer Grund für die Modernisierung der Gebäudeautomation lag in der unzuverlässigen Bedienung über ein störanfälliges Touch- Panel. Vordefinierte Steuerung der Leuchtengruppen und Jalousien Zur Umsetzung des neuen Konzepts verwendet das Engelbert- Kämpfer-Gymnasium neben dem G eb äudemana gement s y s tem Emalytics die Building-IoT-Steuerung ILC 2050 BI mit ihrem offene IoT-Framework. Sämtliche Daten der acht dezentralen Unterstationen werden über den Inline Controller gebündelt und an die überlagerte Emalytics-Plattform weitergeleitet. Die acht Unterstationen sind ferner mit je einer SPS vom Typ ILC 131 ETH ausgestattet, die für die lokale Steuerung der Treppensowie der Raumbeleuchtung zuständig ist. In den öffentlichen Räumen basiert die Lichtsteuerung auf einem Dali- Konzept. Der Dali-Multimaster IB IL Dali/ MM-PAC aus dem Inline-Automatisierungsbaukasten steuert dazu die verschiedenen Lichtszenarien (Bild 3). Im Forum, das sich teilweise über mehrere Etagen erstreckt, werden beispielsweise unterschiedliche Leuchtengruppen geschaltet. Ihre Steuerung erfolgt Bild 2: Über das moderne Bedien-Panel lässt sich die Klimatisierung und Beschattung einfach steuern. © Phoenix Contact Bild 1: Die Gebäudeautomation des Engelbert- Kämpfer-Gymnasiums in Lemgo entsprach nicht mehr dem aktuellen Stand der Technik sowie den Anforderungen der Lehrer und Schüler. © Alte Hansestadt Lemgo 16 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation HERSTELLER- UND PROTOKOLLUNABHÄNGIGE VERBINDUNG VON SENSOREN UND AKTOREN nach vordefinierten Abläufen wie dem Kalender oder der Tageszeit, kann aber im Bedarfsfall ebenfalls manuell vorgenommen werden. Gleiches gilt für die Jalousiensteuerung, die den Wärme- und Lichteintrag im Zusammenspiel mit der Heizungs- und Belüftungsanlage energieoptimiert regelt. Hier haben die Lehrkräfte die Möglichkeit, den Lichteinfall über installierte IP-basierte Kommunikation zwischen dem Leitrechner und den Unterstationen Müssen in Bestandsimmobilien neue Leitungen verlegt werden, ist das oftmals mit verschiedenen Herausforderungen verbunden. Deshalb hat Phoenix Contact für das Engelbert-Kämpfer-Gymnasium gemeinsam mit dem Unternehmen Andreas Riegler Automatisierungs- und Elektrotechnik aus Lemgo - dem mit der Modernisierung beauftragten Systemintegrator - ein Konzept erarbeitet, das die bestehenden Leitungen nutzt. Da hier die Brandschutzschotte nicht geöffnet werden müssen, reduzieren sich die Umbaukosten deutlich. Für die TCP/ IP-Kommunikation war allerdings keine geeignete Verkabelung vorhanden. Es standen lediglich die nicht mehr benötigten KNX- Leitungen zur Verfügung. Damit über diese Kabel Daten via Modbus/ TCP weitergeleitet werden können, werden Ethernet Extender vom Typ TC Extender 2001 ETH-2S verwendet. Die Geräte erlauben den Aufbau einer IP-Übertragung über einfache Zweidraht-Leitungen - mit einer Datenrate bis 30 MBit/ s (Bild 5). Mit der IoT-Steuerung ILC 2050 BI und dem offenen Framework können verschiedene Gewerke in der Gebäudeinfrastruktur, Datenzentren und verteilten Liegenschaften automatisiert werden. Das Framework verfügt über eine Vielzahl an Schnittstellen und unterstützt unterschiedliche Protokolle. Über die Normalisierung der einzelnen Datentypen ermöglicht es eine IoT-basierte Automatisierung von Prozessen und Managementservices, die über eine Management- und Bedieneinrichtung hinausgehen. So lassen sich Sensoren und Aktoren unabhängig vom Hersteller und Kommunikationsprotokoll einfach verbinden und Datenpunkte im Sinne von Industrie 4.0 zu universellen Informationsobjekten überführen. Mit dem Portfolio des modularen Inline- I/ O-Systems kann über die IoT-Steuerung jeder Anwendungsfall funktional angepasst werden. Schlüsselschalter per Handsteuerung an die besonderen Erfordernisse ihres Unterrichts anzupassen (Bild 4). Das Engelbert-Kämpfer-Gymnasium hat außerdem in eine neu errichtete zentrale Wetterstation investiert, die neben der Windstärke den Stand sowie die Intensität der Sonne erfasst und die Werte über die Emalytics- Plattform an alle Unterstationen verteilt. Auf diese Weise werden die Jalousien bei stürmischem Wetter oder nach Sonnenuntergang durch einen Zentralbefehl des Managementsystems hochgefahren, um Beschädigungen durch Sturm oder Vandalismus vorzubeugen. Die bereits erwähnte Kalender- und Tageszeitfunktion ist in Emalytics integriert und unterstützt somit die vom Stundenplan, Feiertagen oder der Urlaubszeit abhängige Steuerung der Gebäudetechnik. An Schultagen wird zur Unfallverhütung schon vor Öffnung des Gebäudes ein gedimmtes Orientierungslicht eingeschaltet, das ansonsten aus energetischen Gründen nicht eingesetzt wird. Bild 3: Die zentrale Steuerung ILC 2050 BI ist für die Kommunikation mit dem überlagerten Managementsystem Emalytics verantwortlich. © Phoenix Contact Bild 4: Die Beschattung respektive Beleuchtung des Forums passt sich der jeweiligen Wettersituation an und sorgt so für einen niedrigeren Wärmeeintrag. © Phoenix Contact Das beschriebene Konzept ermöglicht die IP-Kommunikation zwischen dem zentralen Leitrechner sowie dem Emalytics-Server und den Automatisierungsstationen. Dafür mussten weder CAT6-Leitungen neu installiert noch beim Durchqueren der unterschiedlichen Brandschutzsegmente kostspielige Abnahmeverfahren durchgeführt werden. So ist eine weitere Anforderung des Betreibers hinsichtlich einer modular erweiterbaren Gesamtkonfiguration erfüllt worden. Denn in Zukunft lassen sich an jeder Unterstation sowohl digitale als auch analoge Ein- und Ausgangssignale einfach nachrüsten. Einfache Inbetriebnahme selbst bei erstmaliger Nutzung Elektrotechniker Andreas Riegler, der mit der Gebäudeautomation des Lemgoer Gymnasiums betraut war, hat die Umrüstung des Bestandsgebäudes auf das Managementsystem Emalytics überzeugt: „Innerhalb von zwei Wochen haben wir die komplette Automatisierung der Beleuchtung und Beschattung mit nur drei Technikern an den acht Unterstationen umgestellt. Daher konnte der Schulbetrieb schneller wieder aufgenommen werden, als es bei einer herkömmlichen Umrüstung der Fall ist. Obwohl wir die Emalytics- Plattform zum ersten Mal einsetzen, hat sich die Inbetriebnahme als einfach erwiesen. Darüber hinaus bietet die Lösung viele Erweiterungsmöglichkeiten, um die Gebäudeautomation des Gymnasiums noch bedarfsgerechter zu steuern. Deshalb werden wir die offene Gebäudemanagement- Plattform sicher bei zukünftigen Projekten ebenfalls wieder nutzen“. Mehr Informationen: www.phoenixcontact.de/ gebaeude Bild 5: Der Ethernet Extender (oben links) erlaubt den Aufbau einer IP-Übertragung über einfache Zweidraht-Leitungen. © Phoenix Contact Dipl.-Ing. Volker Eichler Industriemanagement Energieeffizienz & Gebäudetechnik Phoenix Contact Deutschland GmbH Kontakt: info@phoenixcontact.de AUTOR Maßgeschneidertes Energiedatenmanagement Flexible Visualisierung und Bedienung der Wasserversorgung Steuerung und Überwachung des öffentlichen Nahverkehrs Gebäudeautomation www.copadata.com/ smartcity Mehr Infos? Schreiben Sie an: smartcity@copadata.com Microsoft Partner of the Year: 2016 Public Sector: CityNext 2017 Internet of Things (IoT) Winner Realisieren Sie Ihre Smart City mit der Softwareplattform zenon Make your life easier. 18 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Antonio Citterio, italienischer Star- Designer und Architekt diverser Bulgari-Hotels auf der ganzen Welt, hatte es bei einem Termin in München auf den Punkt gebracht. „Wenn die Menschen global arbeiten, dann verändern sich die Arbeitszeiten. 24/ 7 wird zur Normalität. Umso wichtiger ist es, dass Büros zu jeder Tageszeit funktionieren. Die Menschen müssen sich in den Gebäuden wohl fühlen - so wie in einem Hotel“, erklärte er auf Englisch mit typisch italienischem Akzent. zusammen mit Salvis Consulting AG umgesetzt hat, dreht den Gedanken mit seiner neuesten Entwicklung „Die Macherei“ im Münchner Osten ein gehöriges Stück weiter. Drei renommierte Architekturbüros schaffen auf mehr als 67 000 Quadratmetern Geschossfläche ein weltoffenes und funktionales Büro- und Geschäftsquartier. Auf einem früheren Industrieareal werden - als Reminiszenz an die wirtschaftliche Geschichte des Stadtteils - in Ziegelsteinbauweise sechs Insofern sei es nur folgerichtig, dass es in dem von ihm entworfenen Bürogebäude „Nove“ in München, zu dessen Vorstellung er gekommen war, neben edlen Materialen ebenso lichte Raumhöhen, Duschen und Meetingräume mit Wohlfühlcharakter gibt. Urbane Mikrokosmen: Arbeit ist Leben, Leben ist Arbeit Der Projektentwickler Art-Invest Real Estate, der das Objekt „Nove“ in einem Joint Venture Schöne neue Arbeitswelt Kai Oppel Bürogebäude mit Eingangshallen wie Hotellobbys, Fitnessräume für Mitarbeiter, Catering und Hemdenreinigung, Schaukeln am Konferenztisch: Die Arbeitswelt unterliegt nicht nur in Bezug auf Tätigkeiten und Inhalte einem radikalen Wandel. Die Transformation hat längst die Orte der Wertschöpfung erfasst. Hybride Bürogebäude, in denen sich Freizeit- und Kommunikationsflächen mischen, sind mehr als ein Modetrend. Sie bilden nachhaltig urbane Mikrokosmen. Im Mittelpunkt der Objekte steht der Mensch. Nutzerzentrierte Immobilien lautet das Credo. Ein Ansatz, der Innen- und Außenarchitektur gut steht - wenn er nicht zu uniform und austauschbar umgesetzt wird. Bild 1: Der Trend zum Quartier: Die Macherei im Münchner Osten vereint Arbeit, Leben und Freizeit. © Art-Invest Real Estate / ACCUMU- L ATA Real Estate. 19 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Gebäude errichtet, die die Themen Arbeit, Freizeit und Leben kombinieren. „So mischen sich neben Loftbüros ein Supermarkt, Restaurants, ein kleines Café, ein Design-Hotel und ein Fitnessstudio. Herzstück des Ensembles ist das Inkubatorgebäude, das Co- Working-Flächen und Konferenzräume anbietet“, erklärt Tobias Wilhelm, Niederlassungsleiter der Art-Invest Real Estate am Standort München. Markantes Design und Funktionalität runden das Konzept ab. Timo Brehme ist Gründer und Geschäftsführer von CSMMarchitecture matters in München. Das Unternehmen zählt deutschlandweit zu den führenden Adressen in Sachen Nutzung und Gestaltung von Büroimmobilien und hat seinen Sitz im Münchner Werksviertel, das wie die benachbarte Macherei auf urbane Strukturen und Aufenthaltsqualität im direkten Jobumfeld setzt. „In der Arbeitswelt passiert gerade das, was mit dem Ikea-Siegeszug durch deutsche Wohnungen vor vier Jahrzehnten passiert ist. Damals wurde der ‚Gelsenkirchener Barock‘ entsorgt und es zogen Design, Purismus und Klarheit in die Wohnungen“, erklärt Brehme. Digitalisierung: Wegbereiter neuer Arbeitswelten Wesentlicher Treiber der neuen Büroarchitektur ist die Digitalisierung. Aktenordner verschwinden. Laptops ermöglichen Home- Office-Tage, die mittlerweile ein Sechstel aller Berufstätigen in Deutschland regelmäßig einlegt. Laptops und Handys erlauben aber auch, sich frei im Office zu bewegen - und damit Desk-Sharing, wie das Teilen von Schreibtischen genannt wird. Durch beides wiederum lässt sich der Flächenverbrauch pro Mitarbeiter minimieren. Das spart Kosten und schont Ressourcen. Beschleunigung erfordert flexiblere Teams - und Büros Ein zweiter Faktor der neuen Bürokultur ist die Beschleunigung. Stichwort schnellere Produktzyklen, auf die Unternehmen mit agilem Projektmanagement und Methoden wie Scrum reagieren. Dies erfordert Teams, die sich ebenso schnell formen wie auflösen lassen. Technologische Meilensteine wie Spracherkennung oder Virtuelle Realität treiben die Umwälzung zusätzlich voran. Technische Devices und Gadgets wie das interaktive Whiteboard Surface Hub II von Microsoft läuten die nächste Stufe der digitalen Bürotransformation ein. Auch dies verändert wiederum Bürowelten, indem sich Arbeitsprozesse beschleunigen, verlagern, neu ordnen und mischen. Mobilität mischt die Karten neu Der Hallbergmooser Munich Airport Business Park (MABP) in der Nähe des Münchner Flughafens mit seinen mehr als 186 000 Quadratmetern Bürofläche eröffnet Unternehmen ausreichend Freiraum, etwaige New-Work-Konzepte umzusetzen. „Hallbergmoos ist seit Jahren über die Gemeindegrenzen hinaus dafür bekannt, innovativen Investitionen gegenüber offen zu sein“, sagt Alexander Mademann von der Wirtschaftsförderung der Gemeinde Hallbergmoos. Neben seiner Lage, Größe und Vielfalt Bilder 2 und 3: Schöner Arbeiten: Das Büro des Unternehmens CSMM, München, erhielt kürzlich den German Design Award. © CSMM GmbH / Christian Krinninger 20 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum profitiert dieser Standort jedoch vom anhaltenden Trend zur Mobilität. Die Mobilität ist ein dritter Faktor, der Arbeitswelten und Standorte ändert. Das Passagieraufkommen am Münchner Airport neben dem MABP erreichte in den ersten sechs Monaten des Betriebsjahres 2018 einen neuen Höchststand: 21,7 Millionen Fluggäste - ein Plus von rund drei Prozent - wurden im ersten Halbjahr gezählt. Die Anzahl der Starts und Landungen erhöhte sich allein im ersten Halbjahr 2018 auf knapp 200 000 Flugbewegungen. „Viele Unternehmen suchen Standorte, die einerseits zentral gelegen sind - und die andererseits einen schnellen Zugang bieten in die Welt und zu qualifizierten Mitarbeitern“, sagt Mademann. Davon profitiert der Munich Airport Business Park. New Work erkennt vor allem den Menschen als Mehrwert Der wichtigste Treiber der New Work-Bewegung bleibt jedoch der Mensch im Mitarbeiter. In Zeiten künstlicher Intelligenz, in denen viele Arbeitsabläufe von der IT erledigt werden, entpuppen sich Kreativität und Kommunikation für Unternehmen als Erfolgsfaktoren. Schlüssel ist der Mitarbeiter - am richtigen Ort und im richtigen Team. Das Büro steckt durch seine Anmutung und Ausstattung mehr denn je den Rahmen für die Denkleistung ab. Es dient idealerweise als Katalysator. Denn: 43 Stunden verbringt jeder Deutsche pro Woche im Büro. Andreas Röhrl und sein Team von Büro Idee GmbH in Hallbergmoos sorgen dafür, dass sich Arbeitnehmer am Arbeitsplatz wohlfühlen. Der Geschäftsführer von Büro Idee GmbH reist mit seinem Team in ganz Europa umher, um neue Hersteller und Trends ausfindig zu machen. Aktuell geht der Trend in Richtung Wohlfühlbüros: „Insgesamt ist zu erkennen, dass Unternehmen in Sachen Büroausstattung ihren Mitarbeitern etwas bieten müssen. Einrichtung und Gestaltung tragen stark zu einer guten Arbeitsatmosphäre bei, was die Kreativität und Leistungsbereitschaft erhöht“, sagt Röhrl, der auch am MABP viele Konzepte umsetzt. Ein anderer Experte, der sich damit auskennt, ist Prof. Jan Teunen. Er nennt sich selbst Cultural Capital Producer und ist überzeugt: „Von den Büros kann die Kraft ausgehen, die Gesellschaft positiv zu verändern. Das Potenzial von Mitarbeitern kann sich aber nur an Orten entfalten, die den Menschen Qualität bieten.“ Dem Büro komme eine Schlüsselrolle zu. „In der modernen Welt ist die Büroarbeit zur eigentlichen Bild 4: Service als Mehrwert: Ein Concierge kümmert sich um die Wünsche der Büromitarbeiter. © Schwaiger Group Bild 5: Mobilität und zentrale Anbindung: Der Munich Airport Business Park (MABP) am Flughafen München. © Hallbergmoos 21 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum gesellschaftlichen Tätigkeit geworden. Man könnte sagen: Das Büro ist ein Steuerungsinstrument für alle Prozesse, die die Welt verändern. Von der Qualität des Instrumentes, also vom Büro, ist es abhängig: Geht es in die richtige Richtung oder nicht“, erklärt Teunen. Er rät Unternehmen, in Büros zu investieren. „Aus der Hirnforschung wissen wir: Die Qualität im Umfeld des Menschen ist der stärkste Motivationsfaktor. Dann fängt das Dopamin im Hirn am heftigsten an zu sprudeln. Der zweitstärkste Motivationstreiber ist die Qualität im Umgang“, erklärt er mit Blick auf Bürogestaltung und Unternehmenskultur. „Die Schönheit ist Dünger für die Kreativität. Die Büros müssen Gewächshäuser für Kreativität werden. Die Firmen müssen geflutet werden mit Schönheit.“ Hatrium: Büro mit Concierge und Services Dieser Wirkung ist sich auch Michael Schwaiger, CEO der Schwaiger Group in München, bewusst. Das Unternehmen hat im Juli 2018 die Büroimmobilie „Hatrium“ in Unterhaching mit einer Brutto-Grundfläche von 21 000 Quadratmetern erworben. Mit Ankermietern wie Intel Mobile Communications, Infineon oder dem Kommunikationskonzern Phicomm ist das Objekt ein gefragter Mikrotechnologiestandort. Schwaiger will für künftige Mieter und deren Angestellte eine Wohlfühlbüroimmobilie schaffen. „Eben die Wäsche gewaschen, die Kinder gesittet und den Hund ausgeführt, ohne dabei das Büro zu verlassen: Wir bieten Angestellten und Gästen der ansässigen Unternehmen einen Concierge-Service, der alltägliche Aufgaben übernimmt. Der Service umfasst eine große Bandbreite an Dienstleistungen und schafft einen Mehrwert“, sagt CEO Schwaiger. Neben einem kostenlosen Apotheken-Holdienst, Dog-Sitting, Fahrradreparatur, Autoaufbereitung oder Ticketing umfasst der Service einen Mittagstisch von Käfer. Der Eingangsbereich ist wie eine Hotellobby gestaltet - inklusive Verkehrs-Screen. Doch nicht nur bei alltäglichen Haushaltsaufgaben wie Wäsche, Autoreinigung oder dem Engagement einer Haushaltshilfe greift der Concierge-Service im Hatrium unter die Arme. Nach einem stressigen Meeting stellt der Massageservice seine Liege im Büro auf und sorgt für die nötige Entspannung. Bleibt nach dem Feierabend keine Zeit für Sport, organisiert der Hausdienst einen Personal Fitnesstrainer. Muss die Ankunftszeit eines Kunden bis zum Meeting überbrückt werden, kümmert sich ein Concierge um Organisation und Verpflegung. „Concierge-Dienstleistungen, die sonst nur Chefetagen vorbehalten sind, gehören im Hatrium nun zum Service für alle Mitarbeiter“, umreißt Schwaiger, wie das Thema New Work im Hatrium umgesetzt wird. New Work definiert Arbeitsbegriff neu New Work hebt den Arbeitsbegriff auf eine neue Ebene. New Work ist kein Programm oder eine Ideologie, die eingeführt wird, sagte einst der intrinsify. me-Gründer Mark Poppenburg. New Work beschreibt Veränderungen der Wirtschaftswelt, die flexibles Arbeiten und einen adäquaten Umgang mit der Komplexität, Schnelligkeit und Bild 6: Schöne Büros sind Dopamin fürs Gehirn - wie hier am MABP. © Gemeinde Hallbergmoos 22 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Technologisierung des 21. Jahrhunderts propagiert. Der austroamerikanische Philosoph Frithjof Bergmann entwickelte die Kernthesen von New Work bereits in den 70er und 80er-Jahren, um Antworten auf die Massenarbeitslosigkeit des damaligen Beschäftigungssystems zu finden. Er kam zu dem Schluss, dass die aktuellen Anstellungsverhältnisse veraltet seien und keine Lösungen für akute Probleme schafften. Sein Ansatz: Freiheit des Arbeitens und freies Arbeiten. Der Grundgedanke, den Arbeitsplatz so zu gestalten, dass Angestellte sich im Büro wohlfühlen und so in einer arbeitnehmerfreundlichen und produktiven Arbeitsatmosphäre arbeiten können, ist bei Projekten wie dem Hatrium oder der Macherei zentral. Schwaiger: „Arbeitnehmer entscheiden sich immer häufiger für eine Stelle, wenn sie sich als die geeignete Umgebung für die jeweilige Tätigkeit erweist.“ Aktuelle Studien zeigen, dass Mitarbeiter-Benefits wie Concierge-Services und Betriebs-Kitas, Kreativität und Leistungsbereitschaft der Belegschaft steigern. Das Großraumbüro als Ausgangspunkt Laut CSMM möchten branchenübergreifend knapp 90 Prozent der Unternehmen bei Büroumbauten Open-Space-Landschaften schaffen. Aktuelle Studien zeigen: Ein Drittel aller Angestellten arbeitet längst in Mehrpersonen- und Großraumbüros. Damit die neuen Arbeitswelten im Alltag wirklich funktionieren, braucht es eine nutzerzentrierte Architektur. Dies spiegelt sich in lichteren Raumhöhen, einer durchdachten Gebäudetechnik und großzügigeren Gebäudetiefen wieder. „Das Großraumbüro als Konzept ist deutschlandweit weiter auf dem Vormarsch. Damit Mitarbeiter gern im Großraumbüro arbeiten und die Vorteile von offenen Arbeitslandschaften zum Tragen kommen, müssen Unternehmen auf viele Faktoren achten. Ausreichend Platz für jeden Mitarbeiter, Gemeinschaftsflächen, Rückzugsorte, mobile IT-Technik und abteilungsübergreifende Workshops sind wichtige Garanten fürs Gelingen“, erläutert CSMM-Chef Brehme. Weg von starren Strukturen - auch beim Gebäude Die wachsende Coworking-Bewegung hat hybride Immobilienkonzepte nochmals beschleunigt. Im Jahr 2016 gab es weltweit 11 091 Coworking Spaces. 2018 waren es bereits mehr als 18 200. Beim Coworking ist die Symbiose aus Lebens- und Arbeitswelt eine elementare Triebfeder. „Space as a Service“ - also das flexible Angebot von Raumnutzung und anliegenden Dienstleistungen nach Bedarf - braucht vor allem Flexibilität. In der Konsequenz setzen Architekten bei der Büroplanung auch hier verstärkt auf loftartige Grundrisse und Raumhöhen. Aktuelle Beispiele für solche Entwicklungen sind der „iCampus“ im Werksviertel, die „Bavaria Towers“ und das „Olympia Business Center“ in München, „Spree One“ in Berlin, das „ONE“ in Frankfurt oder das „Alphabeta“ in London. Die Devise lautet: weg von Gebäuderiegeln, die primär auf Büros in Zellenstruktur zugeschnitten sind, hin zu mehr Raumtiefe. Auch auf Festeinbauten wird bereits in der Planung weitgehend verzichtet. Dass neue Arbeitswelten nicht nur ein Großstadtthema sind, beweisen indes Bürokonzepte wie „The Plant“. Grüne Arbeitswelten auch abseits der Metropolen Nicht nur im Silicon Valley oder in Metropolen wie München oder Berlin sehnen sich Mitarbeiter nach zukunftsweisenden und charismatischen Arbeitswelten. Das Real Estate Unternehmen Investa greift das Bedürfnis, Leben und Arbeit zu vereinen, nun auch in anderen Städten auf und startet gemeinsam mit Union Investment Real Estate GmbH mit „The Plant“ deutschlandweit eine neuartige Immobilienmarke. Bei „The Plant“ erhalten seit September 2018 ausgewählte Campus-Immobilien in Konstanz, Nürnberg und Fürth nicht nur ein neues Design, ebenso wird der Campus urbaner. Weitere Standorte sind geplant. Unter der Marke sollen vor allem weiche Standortfaktoren verbessert werden und damit die Nachhaltigkeit der Immobilie in Bezug auf Themen wie Aufenthaltsqualität. Durch eine eigene App, Networking-Flächen, Car- Sharing und Fahrradstationen entsteht nach und nach für die Mitarbeiter ein urbanes Umfeld. Eine aktuelle Studie zeigt, dass rund 70 Prozent der Angestellten die Attraktivität des Arbeitgebers entsprechend der Attraktivität des Arbeitsumfelds bewerten. Deshalb identifizieren sich immer mehr Unternehmen mit dem Work-Life-Blending Konzept und lassen zusehends soziales Leben und Job verschmelzen. Durch das Konzept „The Plant“ lässt Union Investment die Bestandsimmobilien neu erblühen, indem sie diese noch stärker auf Benutzerinteressen zuschneidet. Dabei greift The Plant auch Trends wie Urban Gardening auf. AUTOR Kai Oppel Scrivo Public Relations Kontakt: kai.oppel@scrivo-pr.de All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Baiersbronn | service@trialog.de 24 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität schnelles Fortbewegungsmittel. Baustellen, Staus, Absperrungen, Ampeln und Parkplatzsuche machen die Nutzung immer ineffizienter. Und mit der fortschreitenden Individualisierung und Urbanisierung steigt der Mobilitätsbedarf weiter. Fast überall auf der Welt wächst die Zahl der Autos schneller als die der Einwohner. Bis 2050 könnte sich der urbane Verkehr verdreifachen, warnen Experten. Verschärft wird die Situation durch den Anstieg der Mietpreise in den Großstädten. Immer mehr Menschen können sich das Leben in der Stadt nicht mehr leisten. Nicht nur die Zahl der Pendler nimmt zu, auch die Entfernungen zwischen Wohnort und Arbeitsplatz werden länger. Verkehrsoptimierung durch intelligente Technologien Dank Digitalisierung gibt es vielversprechende Lösungsansätze, um den Großstadtverkehr in den Griff zu bekommen. Vor allem „smarte“ Technologien gelten als Hoffnungsträger für die Mobilität von morgen. Analog zur „Smart City“ sind bei der „Smart Mobility“ alle Mobilitätsfunktionen einer Stadt - etwa die Verkehrsplanung und der öffentliche Nahverkehr - vernetzt und auf Basis der gewonnenen Verbrauchs- und Nutzungsdaten optimiert. Ein Beispiel sind intelligente, echtzeitfähige Verkehrsleitsysteme. Sie ermöglichen vorausschauendes, sicheres Fahren, reduzieren die Stauanfälligkeit bestimmter Routen und sorgen für eine optimierte Auslastung von Verkehrswegen und Parkplätzen. Alternativen zum Privatfahrzeug Wenn immer mehr Autos in den Städten unterwegs sind, werden solche Lösungen allerdings nicht ausreichen. Um den chronischen Unterwegs in der Stadt Smarte Technologien für die Mobilität der Zukunft Andreas Zerlett Bereits mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt in Großstädten, 2050 sollen es 70 Prozent sein, so eine Prognose der UN. Das stellt die Städte vor enorme Herausforderungen. Auch für die urbane Mobilität sind neue, innovative Konzepte gefragt. Als Hoffnungsträger gelten smarte Technologien, mit denen sich wichtige Mobilitätsfunktionen einer Stadt vernetzen und auf Basis von Verbrauchs- und Nutzungsdaten optimieren lassen. © COPA-DATA © COPA-DATA Das autonome Fahrzeug fährt vor, der Park-and-Ride-Parkplatz ist schon reserviert, der öffentliche Bus über den ankommenden Pendler informiert. Ein paar Sekunden später ist der Bus da, der nur die Stationen anfährt, an denen weitere vorgemeldete Fahrgäste warten. Einige sind mit dem Fahrrad gekommen, andere in einer Fahrgemeinschaft. Apps informieren die Autofahrer über Staus und empfehlen je nach Verkehrsaufkommen, auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen - so könnte die Mobilität der Zukunft aussehen. Bis es soweit ist, sind zwar noch einige Hürden zu überwinden. Doch dass die rasant wachsenden Großstädte innovative Mobilitätskonzepte benötigen, liegt auf der Hand. Die Feinstaubbelastung und der regelmäßige Kollaps des Berufsverkehrs bereiten den Großstädten schon heute Probleme. Schnell mal eben das Auto nehmen, um jemanden abzuholen - solche Gewohnheiten werden zunehmend in Frage gestellt. Zu bestimmten Uhrzeiten ist das private Auto in der Stadt eher Hindernis als 25 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Platzmangel und die schlechte Luft zu bekämpfen, braucht es auch attraktive Alternativen zum privaten PKW. Wie zum Beispiel das autonome Fahren. In Singapur sind bereits seit 2016 selbststeuernde Testwagen unterwegs, 2022 sollen fahrerlose Busse, LKW und Robotertaxis in den Regelbetrieb übergehen. Geteilte und öffentliche autonome Fahrzeuge sind für Singapur der einzige Ausweg. Für Privat-PKW reicht die Infrastruktur trotz Einführung einer City-Maut nicht mehr aus, neue Autos werden schon seit geraumer Zeit nicht mehr zugelassen. Auch hierzulande setzen Automobilhersteller wie VW auf selbstfahrende Robotertaxis, die bestehende Verkehrsnetze nutzen und damit keine Investitionen in die Infrastruktur erfordern. Auch Branchenzulieferer, Fahrdienst-Vermittler wie Uber sowie Start-ups stehen in den Startlöchern. Ein weiteres Mittel, um die Zahl der Privatfahrzeuge zu reduzieren, ist Carsharing. Noch ist das „Gemeinschaftsauto“ ein Nischenprodukt, doch die Nachfrage steigt laut Bundesverband Carsharing e. V. kontinuierlich. Vor allem aus Kostengründen: Ein Privat-PKW steht im Schnitt 23-Stunden am Tag ungenutzt herum, verursacht dabei aber hohe Fixkosten. Gerade jüngere Menschen gewinnen die Erkenntnis, dass es effizienter ist, ein Auto für die Zeit zu bezahlen, in der man es tatsächlich nutzt. Nutzen statt Besitzen - die Sharing Economy gewinnt beim Thema Mobilität immer mehr Anhänger. Viel Potenzial im öffentlichen Nahverkehr Verkehrsleitsysteme und andere smarte Lösungen, autonomes Fahren, Carsharing und City-Maut sind wichtige Ansätze. Nachhaltig entlasten werden sie die Großstädte aber nur im Zusammenspiel mit mehr Rad- und Fußwegen, Fahrradparkplätzen sowie einem gut funktionierenden öffentlichen Personennahverkehr. Auch hier bieten intelligente Steuerungslösungen viel Potenzial. So könnten sie Bus und Bahn durch die Vermeidung von Ausfällen und Wartezeiten sowie durch eine bessere Auslastung vorhandener Kapazitäten wesentlich attraktiver machen. Vielversprechende Ansätze gibt es bereits. Mit der Softwareplattform zenon beispielsweise lässt sich der Schienenverkehr steuern, was für den reibungslosen Betrieb verkehrstechnischer Anlagen sorgt und die Fehleranfälligkeit auf ein Minimum reduziert. Dank automatisierter Prozesse und Eskalationsketten kann das Personal rasch auf Störungen oder Ausfälle reagieren. Intermodale Mobilität - die Zukunft ist vernetzt Noch handelt es sich bei Mobilitätsdienstleistungen auf Basis von Nutzungs- und Verbrauchsdaten um Einzelphänomene. Die große Herausforderung besteht jetzt darin, Fahrzeuge und öffentlichen Personennahverkehr mit den Bestandteilen der städtischen Infrastruktur - etwa Parkplätzen, Ampeln, Straßenlaternen - zu vernetzen. Denkbar wäre zum Beispiel, dass eine Laterne über Sensoren feststellt, ob die Parkplätze vor und hinter ihr frei sind, ob Licht auf der Straße benötigt wird und ob die Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Fahrzeuge auf einen Stau hindeutet. Richtig smart wird es dann, wenn alle Verkehrsdaten in einem persönlichen Verkehrsagenten zusammenlaufen, der den Stadtbewohnern die jeweils optimalen Routen und Verkehrsmittel empfiehlt. Über Algorithmen könnte das System lernen, welche Strecken die Nutzer regelmäßig zurücklegen. Bei einem Stau auf der vorgesehenen Strecke etwa würden schnellere Alternativen aufgezeigt und die entsprechenden Tickets für Bus oder Bahn gleich online angeboten. Die reibungslose intermodale Mobilität, bei der die Großstadtbewohner ihre Verkehrsmittel je nach Bedarf wechseln, ist noch schöne Zukunftsvision. Doch mit der fortschreitenden Digitalisierung kann sie auf absehbare Zeit wahr werden und die Mobilität in den Städten revolutionieren. Straßen wären dann nicht mehr nur dem motorisierten Verkehr vorbehalten, sondern würden zum Shared Space für alle - ein enormer Gewinn an Lebensqualität im urbanen Raum. Zur Überwachung und Steuerung dienen dabei spezielle Automatisationslösungen wie zenon von COPA-DATA. Die Softwareplattform lässt sich nicht nur als zuverlässige Basis für die Steuerung des Verkehrsflusses einsetzen, sondern auch für die Messung der Luftqualität via Sensoren. Automatisierungsfunktionen ermöglichen sofortige Reaktionen, wenn hinterlegte Grenzwerte wie Feinstaub und Stickoxide überschritten werden. Und in Tunneln übernimmt das Leitsystem neben der Echtzeitüberwachung des Verkehrs die Steuerung von Ventilation, CO 2 -Messung, Beleuchtung und Brandmeldeanlagen. SMARTE LÖSUNGEN Andreas Zerlett Sales Excellence Energy & Infrastructure / Smart City Ing. Punzenberger COPA-DATA GmbH Kontakt: smartcity@copadata.de AUTOR 26 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Bei Photovoltaik und Solarthermie entstehen schnell Überschüsse. Diese für die spätere Verwendung zu speichern, ist schwierig und nur mit gewissen Verlusten möglich. Wurde zuvor Wärme für den momentanen Bedarf produziert, sind bei Umstellung auf Sonnenwärme Pufferspeicher erforderlich. Großanlagen wie in Frankfurt benötigen dafür oft mehr Platz, als in den Gebäuden vorhanden ist. Vor diesem Problem stand die Geschäftsführung der Wohnung sbaugenossenschaf t VBS, als sie ihre Liegenschaft mit drei Mehrfamilienhäusern in der Homburger Landstraße, Ecke Marbachweg modernisieren wollte (Baujahr 1957, letzte Modernisierung 1986). Sie entschied sich bei zwei der drei Häuser für unterirdische Pufferspeicher aus Beton. Diese halten seit September 2014 die Kosten für Warmwasser und Heizung so gering wie möglich. Die von der 180 m² großen Solaranlage auf den Dachflächen entlang der Homburger Landstraße erzeugte Wärme wird direkt in zwei Pufferspeicher mit je 6500 l Inhalt geleitet. Die Speicher aus fugenlosem Stahlbeton sind unter befahrbaren Flächen der Außenanlagen, in unmittelbarer Nähe zur Heizzentrale des jeweiligen Gebäudes, eingebaut. „Dort speichern wir die Wärme für Heizung und Warmwasserversorgung von 45 Wohneinheiten im einen und 38 im anderen Gebäude. Unterstützt wird die Solarthermie bei Bedarf von den beiden zentralen Gasbrennwert- Spitzenlastkesseln“, erklärt Uwe Naumann vom Ingenieurbüro Hegenbart Nf. Das dritte Haus (12 Wohnungen im Marbachweg, eigene Solarthermie und Heizzentrale) ist mit innenliegenden konventionellen Pufferspeichern ausgestattet. Teilsolare Warmwasserbereitung Naumanns Konzept war eine preiswerte und effiziente Modernisierung im bewohnten Zustand. Dazu gehörte, das Prinzip der in jeder Wohnung vorhandenen elektrischen Warmwasserbereitung zu erhalten. Die alten Durchlauferhitzer wurden ersetzt durch elektronisch gesteuerte, die mit etwa 50 °C warmem Trinkwasser versorgt werden. Die Wärmeübertragung vom Heizkreis (teilsolare Warmwasserbereitung) auf das Trinkwasser erfolgt in den Wohnungen. „Die Übergabestationen entsprechen in der Funktion einer Frischwasserstation“, sagt Naumann. „Damit ist die Warmwasserspeicherung gemäß Trinkwasserverordnung keine Großanlage mehr und die bakteriologische Untersuchung des Warmwassers nicht vorgeschrieben, was Betriebskosten spart.“ Baugenossenschaft speichert regenerativ erzeugte Wärme Ideale Kombination: Solarthermische Großanlage und unterirdischer Pufferspeicher Klaus W. König Wärme aus solarthermischen Anlagen wird im Wohnungsbau für Anwendungen mit stark wechselndem Bedarf gebraucht. Diese regenerativ erzeugte Energie für Warmwasser und Heizung ohne wesentliche Verluste bereitzustellen, ist eine Herausforderung für Haustechnik-Planer und für Hersteller von Pufferspeichern. Der Volks-Bau- und Sparverein Frankfurt am Main e. G. (VBS) hat 2014 mit einem Modernisierungs-Projekt neue Wege beschritten. Der Rückblick erläutert Entscheidungen von damals, die noch heute Vorbild sein können für preiswerte und zeitgemäße Bereitstellung von Wärme. Bild 1 Unterirdischer Pufferspeicher ThermoSol, Anwendungsbeispiel Gewerbe- und Industriegebäude. © Mall 27 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Im Sommer wird Wärme aus den Pufferspeichern nur für die Warmwasserbereitung gebraucht. Die Heizkessel sind außer Betrieb, was den Jahresnutzungsgrad erhöht. Bei nicht ausreichender Wärmeversorgung durch die Solaranlagen wird Warmwasser direkt in den Wohnungen mit den elektrischen Durchlauferhitzern auf die von den Mietern gewünschten Temperaturen nachgeheizt. Die Bemessung der Pufferspeicher konnte deutlich kleiner ausfallen, als bei Wasser-Glykol- Gemisch erforderlich, da keine hydraulische Trennung zwischen Heizkreis und Solarkreislauf besteht und damit kein Verschleiß des Wärmeträgers durch zu hohe Temperaturen bei Anlagenstillstand stattfindet. Solarunterstützte Heizung Das Prinzip Zentralheizung mit Wandheizkörpern blieb erhalten, die installierte Heizleistung und die Außendämmung der Gebäude wurden aufeinander abgestimmt. Ziel der Bauherrschaft war, für die Liegenschaft die Klassifizierung Effizienzhaus- 100 zu erreichen. Die bereits vorhandene Fassadendämmung aus dem Jahr 1986 wurde auf 220 mm Stärke verdoppelt, die obersten Geschossdecken bekamen 100- mm begehbares Material und die Kellerdecken 60- mm Mineralwolle. Eine weitere Wärmeschutzmaßnahme war der Einbau 3-fach verglaster Fenster sowie neuer Rollläden in Verbindung mit der zentralen Wohnraumlüftung. Für die Heizung hieß das konkret, dass die Vor- und Rücklauftemperatur im System gesenkt werden konnte. Damit sind die Wärmeverluste der in Wand und Decke verbliebenen Leitungen geringer als zuvor. Der errechnete Primärenergiebedarf beträgt für die Häuser in der Homburger Landstraße: 51 bzw. 55 kWh/ m²a. Die installierte Heizleistung mit zweimal rund 138 kW bei tv/ tr = 65/ 45 °C erbringt in den beiden Heizzentralen jeweils ein Gas-Brennwertkessel mit Matrix- Strahlungsbrenner (Viessmann, Typ Vitocrossal/ Vitotronic 200), unterstützt durch zwei Solarfelder mit 80 und 100 m² auf den Dachflächen (Paradigma-Röhrenkollektoren). Neubau und Bestand: Förderung durch die KfW-Bank Die Kf W (Kreditanstalt für Wiederaufbau) fördert Maßnahmen zur Nutzung Erneuerbarer Energien im Wärmemarkt, zum Beispiel die Errichtung oder Erweiterung großer Solarthermieanlagen mit mehr als 40 m² Bruttokollektorfläche im Programm „Erneuerbare Energien - Premium“. Unter anderem gibt es für Warmwasserbereitung und Raumheizung in Wohngebäuden mit drei und mehr Wohneinheiten Tilgungszuschüsse und verbilligte Kredite. Details nennt die Kf W, www.kfw.de Bestand: Marktanreizprogramm zur Förderung Erneuerbarer Energien (MAP) Gefördert werden Solarthermieanlagen für die alleinige oder kombinierte Warmwasserbereitung mit Heizungsunterstützung im Gebäudebestand. Die Bruttokollektorfläche und das Pufferspeichervolumen müssen bestimmte Mindestwerte erreichen. Besonders effiziente Solarthermieanlagen können zusätzlich zur Basisförderung einen Kesseltausch-, Kombinations-, Effizienz-, Solarpumpen- oder Wärmenetzbonus erhalten. Große Solarkollektoranlagen werden im Rahmen der Innovationsförderung bezuschusst. Details nennt das BAFA (Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle), www.bafa.de Angaben ohne Gewähr. Entscheidend sind die aktuell gültigen Gesetze und Bestimmungen. FÖRDERUNG Bild 2: Stahlbeton-Pufferspeicher mit Innenbehälter aus Stahl, schwarz grundiert, mit verschraubtem Revisionsflansch. © Mall Bild 3: Fertig montierte Anschlüsse zur Be- und Entladung außen am Speicherbehälter. © Mall 28 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Raum, Zeit und Kosten gespart Um Gebäudeflächen zu sparen bzw. nicht zusätzlich Raum schaffen zu müssen, wurden in Frankfurt zwei Pufferspeicher unterirdisch eingebaut und miteinander verbunden. Zusammen haben sie ein Nutzvolumen von 13 000- l; die Bauweise ähnelt einer Thermoskanne. „Das Wasser befindet sich in einem Stahlbehälter, der bis zu 5 bar Druck de konventionell nur über eine Kaskade hintereinander geschalteter, im Innenraum aufgestellter Behälter erreicht. Ab 3000- l Fassungsvermögen wird es innerhalb des Gebäudes schwierig, Wärmespeicher unterzubringen. Die Maße von Türöffnung und Raumhöhe sind der Grund. Wird unterirdisch Wärme gelagert, kann im Bestand die Innenraum- Fläche anderweitig genutzt bzw. bei Neubau kleiner hergestellt werden. Das spart Baukosten und Bauzeit, denn das Versetzen eines Speichers in die Erde dauert in der Regel weniger als eine Stunde. Einfache Montage, klare Schnittstelle Mall-Pufferspeicher sind unter der Typenbezeichnung Thermo- Sol mit sieben Größen von 2600 bis 12 600 l Nennvolumen auf dem Markt. Von Vorteil ist, dass die Schnittstellen außerhalb der Speicher liegen und diese somit vom Hersteller als ganzes druckgeprüft werden können. Auch erleichtert dies dem Ausführungsbetrieb vor Ort die Montage. Michael Rudolph von  Gebäude-Energiebedarf: Energiebedarf eines Gebäudes, in der Regel bezogen auf die Jahresmenge  Installierte Heizleistung: Maximal zur Verfügung stehende Leistung eines Heizkessels und dessen Komponenten  Jahres-Heizenergiebedarf: Energiebedarf des Gebäudes ohne Warmwasser pro Jahr  Primärenergie: Tatsächliche Energiemenge in der natürlich vorkommenden Energieform am Entstehungsort (exklusive Transport, Verarbeitung und Nutzungsgrad)  UA-Wert: Leitparameter für die Wärmeverlustrate eines bestimmten Speichersystems, bezogen auf das Speichervolumen und die Geometrie in [W/ K] BEGRIFFSERKLÄRUNGEN halten kann. Zwischen diesem und der äußeren robusten Hülle aus Stahlbeton sorgt eine Perlit- Schüttung als Dämmstoff für eine lange Nutzungsdauer“, erklärt Clemens Hüttinger vom Hersteller Mall in Donaueschingen. Als UA-Wert für den Wärmeverlust gibt er 5,3 W/ K an - das Ergebnis von Forschungsvorhaben am Institut für Solarenergieforschung Hameln, einer Einrichtung der Universität Hannover. Das günstige Verhältnis von Inhalt und Oberfläche des zylindrischen Pufferspeichers ist die wichtigste Voraussetzung zur Minimierung der Wärmeverluste. Außerdem verhindert die 15 cm starke Perlit-Wärmedämmung das schnelle Auskühlen des Speichers. Grundsätzlich sollte ein unterirdischer Pufferspeicher mit möglichst kurzen, wärmegedämmten Rohrleitungen in das Heizungssystem eingebunden werden, damit keine nennenswerten Wärmeverluste in den Verteilleitungen entstehen. Dies ist Voraussetzung für den effizienten Betrieb von großen Heizanlagen. Das Puffervolumen in der hier nötigen Dimension wür- Bild 4: Pufferspeicher mit werkseitig eingebauten Edelstahlrohren für den Anschluss der unterirdischen Verbindungsleitungen zum Gebäude. © Mall Bild 5: Links außen (grün) Leerrohranschluss am Pufferspeicher für die Elektroleitungen der Temperaturfühler. © Naumann 29 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie der Sanitär- und Heizungstechnik Wilhelm Koch GmbH empfand das Abladen vom Lieferfahrzeug des Herstellers und den Erdeinbau per Autokran als simpel und angenehm. „Wir haben solche Behälter zum ersten Mal verwendet. Versetzen und Anschließen der Verbindungsleitungen zum Gebäude liefen reibungslos.“ Serienmäßig vorhanden sind drei Tauchhülsen für Temperaturfühler, weitere sind bei Bedarf möglich. Nach deren Montage und einer Druckprüfung der Heizungsleitungen wird im Konus der Behälter der obere Bereich abschließend durch mitgeliefertes Perlit gedämmt und die Pufferspeicher verschlossen. Ebenfalls erwähnenswert bei ThermoSol-Pufferspeichern:  Die sichere Abdeckung mit zwei Verschlüssen übereinander und die Entwässerung des Zwischenraums dieser beiden Dichtungsebenen bei eventuell entstehendem Kondenswasser  Die volle Befahrbarkeit wegen Beton als beständigem Werkstoff im Erdreich - wichtig bei Einbau unter Betriebshöfen und Feuerwehrzufahrten. Je nach Belastungsklasse wird die Abdeckung entsprechend gewählt  Die preiswerte Möglichkeit zur Wiederverwendung des Aushubmaterials ohne besondere Anforderungen an den Schutz von Behälter oder Wärmedämmung  Der einfache Zugang zu den Temperaturfühlern, um jederzeit Korrekturen an deren Höhenposition in den Tauchhülsen vornehmen zu können „Leistungsfähige Speicher sind notwendig, um die starken Einspeiseschwankungen der erneuerbaren Energien auszugleichen“, schreibt das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWI) in einer aktuellen Pressemitteilung zu Energiespeichern. Mit seinem Wert von 5,3-W/ K entsprechend nur 1,5 Kelvin pro Tag Abkühlung gehört der Pufferspeicher Mall-ThermoSol zu den leistungsfähigen in seiner Kategorie. Die Energiewende wird allerdings nur gelingen, wenn ein solches Produkt durch projektspezifisch angemessene Planung in ein Gesamtkonzept eingebunden ist, das den Nutzern Wärmeenergie aus regenerativen Quellen preiswert zur Verfügung stellt - insbesondere bei Modernisierung. LITERATUR • VDI 6002, Blatt 1: Solare Trinkwassererwärmung. Allgemeine Grundlagen, Systemtechnik und Anwendung im Wohnungsbau; Beuth 2014-03. • DIN EN 12977-3: 2012-06: Thermische Solaranlagen und ihre Bauteile. Teil 3. Leistungsprüfung von Warmwasserspeichern für Solaranlagen; Beuth 2012. • Planerhandbuch „Unterirdische Lagersysteme für Biomasse, Pellets und Wärme“, Donaueschingen, Mall GmbH 2018. Dipl.-Ing. Klaus W. König Öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Bewirtschaftung und Nutzung von Regenwasser, Fachjournalist kwkoenig@koenig-regenwasser.de AUTOR Bild 6: Solarthermie-Anlagen mit insgesamt ca. 180 m² Fläche auf dem Dach der beiden VBS-Mehrfamilienwohnhäuser an der Homburger Landstraße in Frankfurt. © Naumann Bild 7: Weitere Solarflächen auf dem dritten Gebäude im Marbachweg. © Naumann 30 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Dezentrale Wärme- und Kälteverteilung für das höchste Wohngebäude in Deutschland Mehrfach preisgekröntes Bauprojekt Grand Tower in Frankfurt am Main mit hochwertigen Eigentumswohnungen in wegweisender Architektur Michaela Freytag Einen der größten Aufträge der Firmengeschichte setzt Uponor derzeit gemeinsam mit dem Tochterunternehmen KaMo um. Im Frankfurter Grand Tower, Deutschlands höchstem Wohnkomplex, werden alle 401 Apartments und Penthouses mit Wohnungsstationen des Herstellers aus Ehingen ausgestattet. Ausschlaggebend hierfür sind die hohen Anforderungen an die Wärme- und Kälteversorgung der luxuriösen Eigentumswohnungen. So stellen die eigens für das Projekt entwickelten Lösungen einen optimalen individuellen Temperaturkomfort für die Bewohner sowie die klare Trennung der Primär- und Sekundärnetze im Gebäude sicher. Dabei werden die kompakten Stationen als Komplettpaket mit fertig verdrahteter Regelungstechnik geliefert, was für zügige Abläufe auf der Baustelle sorgt. Zusätzlich werden in dem Wohnhochhaus etwa 300 000 m Rohrleitung des Typs Uponor Comfort Pipe für die Fußbodenheizung eingesetzt. Auszeichnungen für den Wolkenkratzer Der im Frankfurter Europaviertel entstehende Grand Tower, entworfen vom Frankfurter Architekturbüro Magnus Kaminiarz & Cie. Architektur, zeichnet sich vor allem durch seine eindrucksvolle, dynamische Architektur und den exklusiven Wohnkomfort aus. Bereits im Vorhinein erhielt das wegweisende Projekt daher zahlreiche renommierte Auszeichnungen, wie etwa den German Design Award oder den International Property Award 2017. In der Tat bekommen die Bewohner des 47 Etagen umfassenden Wohnturms einiges geboten. Zu den Highlights gehören eine Lobby mit Concierge-Service, ein 1000- m 2 großer Dachgarten sowie ein Sonnendeck auf 145- m Höhe. Auch die 41 bis 300 m 2 großen Wohnungen geben mit ihrer raumhohen Verglasung einen beeindruckenden Ausblick auf Frankfurt und den Taunus frei. Die Eigentümer der Penthouses können zudem während der Bauphase Einfluss auf die Gestaltung der Einheiten nehmen. Bild 1: Gleich neben dem Einkaufszentrum Skyline Plaza wird in Kürze der mehrfach preiskrönte Grand Tower stehen. © Visualisierung: gsp Städtebau GmbH 31 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Diesen hohen Ansprüchen an Flexibilität und Wohnkomfort entspricht auch die Wärme- und Kälteversorgung des Hochhauses. Die Basis bilden hier ein Fernwärmeanschluss mit einer Leistung von 2,5 MW sowie zwei auf dem Dach installierte Kaltwassererzeuger mit Leistungen von jeweils 600 kW. Die Wohnungsstationen dienen als Übergabepunkte für die Wärme und Kälte an die Wohnbereiche. Sie werden über die Steigstränge mit Heiz- und Kühlwasser versorgt und stellen mithilfe integrierter Wärmeübertrager eine klare Systemtrennung sowie die bedarfsgerechte Energieverteilung an die einzelnen Verbraucher sicher. In den unteren Etagen sind die Wohneinheiten mit einer Fußbodentemperierung und einem Badheizkörper sowie in den oberen Stockwerken zusätzlich mit einer Kühldecke und bei Bedarf mit einem Fan Coil ausgestattet. Separate Heiz- und Kühlkreise Die Trennung der primären und sekundären Heiz- und Kühlkreise bringt in dem Wohnturm eine Reihe von Vorteilen mit sich. So können die Bewohner die Raumtemperaturen über die Stationen vollkommen unabhängig vom Gesamtsystem an ihre individuellen Bedürfnisse anpassen, wodurch sich der Wohnkomfort signifikant erhöht. Dabei stellt der in den dezentralen Lösungen integrierte 6-Wege-Kugelhahn sicher, dass die Verbraucher sowohl im Heizals auch im Kühlbetrieb jederzeit zuverlässig mit der erforderlichen Durchflussmenge an Warmbzw. Kaltwasser versorgt werden. Durch die Entkopplung der Wohneinheiten lässt sich zudem bei einer eventuellen Störung in der komplexen Anlage relativ schnell die Fehlerquelle identifizieren. Liegt diese im Wohnbereich, bleibt bei Reparaturmaßnahmen der Rest des Heizungssystems vollständig in Betrieb. Ebenso ermöglichen die Stationen den einfachen nachträglichen Einbau einer Kühldecke oder eines Fan Coils, da die erforderlichen Anschlüsse bereits vorhanden sind und die Nachrüstung ohne Auswirkungen auf den Rest der Anlage durchgeführt werden kann. Zuverlässige Energieverteilung Gleichzeitig sind für die zuverlässige Energieverteilung in dem Komplex hohe Drücke in den Steigleitungen erforderlich, welche durch die Wohnungsstationen zuverlässig ausgeglichen werden. Hierfür ließ der Hersteller umfangreiche Tests mit den Rohren der Lösungen durchführen, um diese für Nenndrücke bis PN 25 zertifizieren zu lassen. Darüber hinaus werden dynamische Differenzdruckregler eingesetzt, die den Anlagendruck (PN 16) bei der Übergabe an die Heizkreise auf das für die Sekundärkreise optimale Niveau abmindern. Die exakte Anpassung der Wohnungsstationen auf die hohen Anforderungen des Gebäudes spielte bei der Auftragsvergabe eine große Rolle. Darüber hinaus erhielten die Projektbeteiligten von Uponor und KaMo umfassende Beratung und Unterstützung. Hinzu kam die hohe Flexibilität bei der Produktion der Stationen, von denen zu Anfang zehn Einheiten pro Woche auf die Baustelle geliefert werden mussten. Die Fertigstellung des Grand Tower ist für 2019 geplant. Uponor GmbH 97437 Haßfurt info.de@uponor.com www.uponor.de Bild 2: In den 401 luxuriösen Eigentumswohnungen des Bauwerks sorgen hochwertige Wohnungsstationen von KaMo für eine bedarfsgerechte Wärme- und Kälteverteilung. © Roman Gerike 32 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Knapp ein Drittel (32 %) der Bevölkerung Deutschlands lebte im Jahr 2016 in Großstädten über 100 000 Einwohner, jeweils weitere 29 % in Mittelstädten über 20 000 sowie in Kleinstädten über 5000 Einwohner. Auf die kleineren Landgemeinden fallen nur rund 10 %. Großstädte wachsen seit der Jahrtausendwende: besonders stark in diesem Jahrzehnt, allein zwischen 31.12.2011 und 31.12.2016 um 1,2 Mio. Menschen. Schon heute wohnen in Großstädten anderthalb mal mehr Menschen auf der zusammenhängend bebauten Stadtfläche (der sogenannten Siedlungs- und Verkehrsfläche) als im Bundesdurchschnitt (1675 EW/ km², SuV 2016). In den Großstädten über 500 000 Einwohner liegt der Faktor sogar dreifach über dem Durchschnitt. Zwischen Stadterweiterung und Innenentwicklung Der anhaltende Zuzug in die Städte, vor allem in die besonders großen, erfordert den Bau zusätzlicher Wohnungen, den Aus- und Umbau der Infrastruktur sowie die Inanspruchnahme von Büro-, Handels-, Dienstleistungs- und Gewerbeflächen. Bis 2021 sollen 1,5 Mio. Wohnungen neu gebaut werden. Selbst wenn dies nur näherungsweise umgesetzt wird: Städtische Freiflächen werden rarer, und ein erheblicher Teil der Bautätigkeit lässt sich nur noch durch Stadterweiterungen realisieren, also durch die Erweiterung der zusammenhängend bebauten Flächen zu Lasten größerer Freiräume. Die Bautätigkeit erfasst zunehmend auch die suburbanen Räume. Ganze Stadtregionen werden so nachverdichtet, Freiräume verkleinert, bebaut und versiegelt. In diesem Kontext ist Innenentwicklung flächenverbrauchspolitisch zwar zu begrüßen, erfordert aber neue Konzepte für Schutz, Vernetzung, Zugänglichkeit und Qualität von Grünflächen. Zu beachten ist dabei eine große typologische Vielfalt urbaner Frei- und Grünräume (Bild 2). Ein Lösungsweg, den Spagat zwischen Freiraumsicherung und bezahlbarem Wohnen zu meistern, wird durch das Leitbild der „doppelten“ Innenentwicklung anvisiert [2]. „Doppelt“ bedeutet hierbei, Flächen im Siedlungsbestand nicht nur quantitativ zu erweitern (die Ausnutzung der Bauflächen zu erhöhen), sondern gleichzeitig Qualitäten zu bewahren oder zu schaffen. Es soll darauf hingewirkt werden, dass die inneren Siedlungsbestände durch Grün und Freiflächen attraktiv und lebenswert bleiben. Es geht um Grün auf wenig Raum. Denn es leben nicht nur mehr Menschen in den Städten. Sie nutzen die verbliebenen Freiräume auch immer intensiver, sei Verdichtung und Stadterweiterung nach Kreistypen (Z-Werte) unterdurchschnittlich überdurchschnitt lich Kreisfreie Großstädte Städtische Kreise Ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen Dünn besiedelte ländliche Kreise Verdichtung (Entwicklung der Siedlungsdichte) Stadterweiterung (Entwicklung der Siedlungs- und Verkehrsfläche) © BBSR Bonn 2019 Stadtgrün auf wenig Raum Grün- und Freiraumentwicklung in wachsenden Städten Urbanisierung, Stadtentwicklung, Nachverdichtung, Stadtgrün, Grüne Infrastruktur Brigitte Adam, Fabian Dosch Freiräume stehen in deutschen Städten, vor allem in Großstadtregionen, unter einem enormen Druck. In einer Zeit, in der Wohnungsneubau und bezahlbares Wohnen an erster Stelle in öffentlichen Debatten um Stadtentwicklung rangieren, ist die Verknappung freier Flächen kaum zu stoppen. Vor allem werden die Städte nachverdichtet. Gerade die Großstädte sind dem bauplanungsrechtlichen Primat der Innenentwicklung gefolgt (Bild 1). Bild 1: Verdichtung versus Stadterweiterung. © BBSR 33 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt es für Freizeit, Erholung, Gesundheit, Bewegung, Gärtnern, Aneignung, Ruhe oder Gemeinschaft, verbunden mit hohen Ansprüchen an Grünleistungen wie Klimaschutz, Lufthygiene, Stadtnatur, Biodiversität. Pflegeaufwand und -kosten der Grün- und Freiflächen steigen. Die Konflikte um das Stadtgrün betreffen Aspekte wie Verteilungs- und Umweltgerechtigkeit, Pflanzenwahl, Pflegeintensität und Qualität, Finanzierung, Organisation und Trägerschaft. Nachverdichtung in den inneren Stadtbereichen löst Widerstand insbesondere bei denjenigen aus, die sich dort gemäß ihrer Präferenz zum urbanen Wohnen „eingerichtet“ haben. Viele von ihnen haben das Wohnen in der Stadt entdeckt, nachdem Stadterneuerung, Verkehrsberuhigung, Hofbegrünungsprogramme, Deindustrialisierung und Neubau auf zentral gelegenen Gewerbebrachen es besonders attraktiv gemacht haben. Unter der Maßgabe der Innenentwicklung müssen auch ältere Ein- und Zweifamilienhausgebiete am Rand der Großstädte oder in Umlandgemeinden der Ballungsräume mit in die Betrachtung einbezogen werden. Die Verdichtung dieser häufig sehr großzügig parzellierten Bereiche bietet Bauflächenpotenziale. Eine höhere Dichte schont nicht nur bislang unberührte Freiräume, sondern ermöglicht außerdem eine bessere Versorgung und Auslastung des ÖPNV [3]. Grün- und Freiraumentwicklung bedürfen unter diesen Umständen einer durchsetzungsfähigen Lobby, ebenso innovativer Maßnahmen, die die Verluste auf andere Art ausgleichen und damit zumindest einen Teil der vielfältigen Funktionen des Grüns erhalten [4]. Politisch wird auf allen staatlichen Ebenen versucht, die Lobby von Grün und Freiraum zu stärken [5]. Weißbuch Stadtgrün Das Weißbuch „Stadtgrün“ des Bundes formuliert Empfehlungen, um Kommunen dabei zu unterstützen, mehr Grün in die Stadt zu bringen beziehungsweise vorhandene Grünräume zu sichern (Bild 3). Das Weißbuch beschreibt Handlungsstrategien und konkrete Maßnahmen des Bundes zur Entwicklung, Sicherung und Qualifizierung grüner Infrastruktur unter Beachtung der verschiedenen Konfliktfelder, Nutzungskonkurrenzen und Entwicklungsziele. Der darin enthaltene neue Begriff „Grüne Infrastruktur“ stellt die Grün-, Freiraum- und Landschaftsplanung auf die gleiche Ebene wie die Verkehrsinfrastruktur oder die gebaute und soziale Infrastruktur. Konflikte zwischen Nachverdichtung und Stadtgrün zu mindern liegen darin, Grünräume zu qualifizieren und multifunktional zu gestalten. Dazu zählen so unterschiedliche Maßnahmen wie die Unterstützung der Kommunen, Grünflächen in der Planungspraxis bei Abwägungen zu sichern, Stadtgrün als Ausgleichsmaßnahmen vorrangig im Bestand zu entwickeln, urbanes Grün als ein Stück Baukultur zu sichern, Städte wassersensibel und klimaresilient umzubauen, das Potenzial urbaner Gärten zu nutzen oder multicodierte Grün- und Bild 2: Typen urbaner Freiräume. © bgmr Landschaftsarchitekten GmbH / HCU [1] Bild 3: Weißbuch Stadtgrün. © BBSR Fried- und Ruhewälder Friedhofsparks Friedhöfe Urbane Landwirtschaft Sport- und Begegnungsparks stadtnahe Erholungslandschaften Kleingartenparks Ufer- und Deichwege Rad-, Reit- und Wanderwege Saisongärten Essbare Landschaften Stadtwald Landschafts- und Volksparks Naturerfahrungsräume Wasserflächen Stadthäfen Schul-/ Universitätscampus Nutzbare Brachflächen Alleen Gemeinschaftsgärten Promenaden und Boulevards Pocketparks Begegnungszonen Straßenraum Grün-, Parkanlagen Stadtplätze Spielplätze Nutzbare Infrastrukturflächen Grüne Zimmer Grüne Patenschaften Sportanlagen grüne Schulhöfe Nischen Historische Gärten Wohnhöfe Mietergärten Grüne Fassaden Grüne nutzbare Dächer Gewerbegrün grundstücks-/ wohnungsbezogen Stadtquartier / Stadtteil Innere / Äußere Stadtränder 34 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Freiräume zu fördern. Die Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, das öffentliche Grün im Planungsrecht zu stärken und ihm in der kommunalen Praxis etwa durch Maßnahmen der Städtebauförderung Geltung zu verschaffen. Orientierungs- und Kennwerte sowie Standards für Stadtgrün sind zu entwickeln [6]. Stadtgrün bedarf der fachgerechten Anlage und Pflege, sowie des Umgangs mit Pflanzen als Voraussetzung für qualitativ hochwertige urbane Grünflächen. Wenn Fläche knapp wird, kann zusätzlich vertikal Ausgleich geschaffen werden, dazu müssen Optionen und Potenziale zur Begrünung gebauter („grauer“) Infrastruktur umfassend geprüft werden. Die im Weißbuch empfohlenen Maßnahmen zielen darauf ab, urbanes Grün sozial verträglich zu verteilen und zu qualifizieren, öffentliche Grünräume sicherer zu gestalten, möglichst barrierefreie Zugänge zu schaffen und das Potenzial gemeinnütziger Gärten zu stärken. All dies geht nicht, ohne privatwirtschaftlichem und zivilgesellschaftlichem Engagement Raum zu geben. Städtebauförderungsprogramm „Zukunft Stadtgrün“ Als ein besonders wirksames Instrument zur Unterstützung der Aktivitäten auf der kommunalen Ebene ist die Städtebauförderung von Bund und Ländern einzuschätzen. Die Städtebauförderung finanziert investive Maßnahmen im Siedlungsbestand [7]. In der Präambel zur Verwaltungsvereinbarung 2018, Seite 3 heißt es: „Bund und Länder unterstreichen (...) die Bedeutung von Grün- und Freiräumen in den Städten und Gemeinden für den Umwelt-, Klima- und Ressourcenschutz, die biologische Vielfalt, die Gesundheit und den sozialen Zusammenhalt in Stadtquartieren“. 2017 startete ein spezifisches Städtebauförderprogramm „Zukunft Stadtgrün“. Dafür stehen Bundesfinanzhilfen in Höhe von 50 Mio. Euro pro Jahr bereit, die der Anlage, Sanierung, Qualifizierung und Vernetzung öffentlich zugänglicher Grün- und Freiflächen dienen und die im Rahmen der baulichen Erhaltung und Entwicklung von Quartieren als lebenswerte und gesunde Orte umgesetzt werden. Im ersten Programmjahr 2017 nahmen 129 Kommunen mit 137 Gesamtmaßnahmen am Programm teil. Die Fördergebiete liegen zu über 80 Prozent in den Innenstädten oder innenstadtnah. Förderung erhalten überwiegend Maßnahmen zur Qualifizierung von Grün- und Freiflächen. Oft wird das Programm genutzt, um Grünflächen an Flüssen oder Seen aufzuwerten und das Element Wasser in der Stadt zugänglich und stärker erlebbar zu machen. Die Vernetzung von Grün- und Freiflächen ist ein häufiges Thema, es werden aber auch Sanierungsmaßnahmen an Infrastruktur und Gebäuden innerhalb von Stadtgrünmaßnahmen durchgeführt. In einigen Kommunen werden über das Programm neue Grünflächen geschaffen. Die Verbesserung des Stadtklimas oder die Förderung der biologischen Vielfalt sind meistgenannte Ziele für die beantragten Maßnahmen. Etliche Kommunen verfolgen die Verbindung von Grün mit Sport- und Bewegungsangeboten, um eine multifunktionale Nutzung öffentlicher Grünräume voranzubringen [8]. Bild 4: Gründächer der Hamburger Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt. © Stefan Kreutz, HCU, 15.09.2016 35 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Strategien für lebenswerte Ballungsräume Verschiedene umweltpolitische Strategiedokumente des Bundes widmen sich urbanen Freiräumen und Lösungsbeiträgen für den Zielkonflikt Nachverdichtung versus Freiraumsicherung. Neben dem Grün- und Weißbuch für Stadtgrün soll in 2019 ein Masterplan Stadtnatur veröffentlicht werden. Das Integrierte Umweltprogramm 2030 der Bundesregierung [9] schließt Maßnahmen zu „Grün in der Stadt“ und zur Reduktion des Freiflächenverbrauchs unter dem Tenor „Lebenswerte Städte“ explizit mit ein. Darüber hinausgehend sollen regionale Grünzüge besser geschützt werden. Der stadtregionale Ansatz ist gerade angesichts des starken Wachstums der großen Städte sehr wichtig. Der Sachverständigenrat für Umweltfragen zeigt in seiner Stellungnahme „Wohnungsneubau langfristig denken - für mehr Umweltschutz und Lebensqualität in den Städten“ vom November 2018 Wege auf, wie die hohe Bautätigkeit ökologisch und gesundheitlich verträglich gestaltet werden kann, zum Beispiel, wie grüne und graue Infrastruktur zusammenspielen. Bei dem „Schwammstadt-Prinzip“ geht es darum, Wasser an und um Gebäuden, auf Freiflächen wie auch in Vorflutern zurückzuhalten. Die Kooperation von Siedlungswasserwirtschaft mit einer wassersensiblen Stadtentwicklung trägt dazu bei, die Resilienz einer Stadt gegenüber Extremwetterereignissen zu verbessern. Mittlerweile arbeiten Stadtregionen bereits interkommunal an Möglichkeiten, dem Druck auf die Wohnungsmärkte stadtgrenzenüberschreitend zu begegnen [10]. Belange von Grün und Freiraum können integriert werden, indem kompakte, durchmischte - auch durchgrünte - städtische Bereiche Platz lassen für regionale Freiraumnetze. Interkommunal gibt es bessere Potenziale zur Vereinbarkeit von Wohnungsneubau und Freiraumschutz als in einer einzelnen Kommune. Grenzen der Nachverdichtung vor allem in den großen Städten können besser überwunden werden. Der Verband Region Stuttgart versucht gegenwärtig, die umgebenden Mittelstädte zum Wohnungsbau zu motivieren, um den Druck von der hochverdichteten Kernstadt zu lösen [11]. Generell kann die Regionalplanung dem Freiraumschutz einen höheren, formellen Status einräumen, indem Grünzüge und Freiräume möglichst verbindlich ausgewiesen werden, die unterschiedliche Funktionen übernehmen (Erholungsräume, Naturschutzgebiete, klimarelevante Freiräume etc.). Gute Beispiele für Stadtgrün trotz Nutzungsdruck Innovative Maßnahmen für Grün auf engem Raum wurden in verschiedenen Ressortforschungsprojekten des Bundes untersucht, etwa in den Modellvorhaben „Green urban labs“ oder den Fallstudien „Handlungsziele für Stadtgrün“. Im Projekt „Urbane Freiräume“ deckte die Suche nach innovativen Ansätzen zur Grün- und Freiraumentwicklung verschiedene räumliche Ebenen von der Stadtregion bis hin zum einzelnen Grundstück ab. Insgesamt wurden 20 Beispiele in Projektsteckbriefen dokumentiert [12]. Bild 5: Stadtumbau mit blauer und grüner Infrastruktur in Essen. © Milena Schlösser, 9.5.2017 36 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Die Stadt Münster (312 000 EW) steht für eine strukturierte Freiraumplanung durch das Konzept „Grünordnung“ als vernetztes, multifunktionales Grünsystem. Grünrahmenpläne sind die Basis für die städtebauliche Grünplanung im Bereich der Stadtteilrahmenpläne, zum Beispiel für den Grünzug Gievenbek Südwest „Grüner Finger“. Das Grünflächeninformationssystem (GRIS) ist wesentliches Element des Grünflächenmanagements. Beispielgebend ist auch die Koordination innerhalb der Verwaltung. Für alle größeren Projekte und Planungen (Bebauungspläne, Landschaftspläne, Umgestaltungsmaßnahmen) sind gemeinsame Startergespräche vorgesehen. Vor dem ersten Planungsstrich werden die Ziele gemeinsam erörtert. Alle Fachressorts können frühzeitig ihre Belange einbringen [13]. Hamburg (1 811 000 EW) hat einen hohen Anstieg seiner Einwohnerzahlen zu bewältigen. Wenn am Boden Fläche verloren geht, müssen das Gebäude ausgleichen. Die Potenziale von Gründächern zu nutzen, ist das Ziel der Hamburger Gründachstrategie (Bild 4). Sie ist objektbezogen und umfasst drei Handlungsebenen: „Fördern“ (Förderprogramm für Neubauten und Bestandssanierungen bis 12.2019), „Dialog“ (Kommunikation und Vermittlung) und „Fordern“ (Konsequente Anwendung der zur Verfügung stehenden rechtlichen Instrumente bzw. deren Weiterentwicklung, zum Beispiel Baugesetzbuch). Um die Akzeptanz für diese mehrdimensionale Strategie zu erhöhen, sind zu ihrem besseren „Bekanntmachen“ ein Wettbewerb und eine Zertifizierung von Gründächern geplant. Die Hamburger Gründachstrategie wird weiterentwickelt mit einer Bild 6: Klimawandelgerechte Begrünung des Straßenraums „Am Rähmen“ , Jena. © Dosch, 08.11.2018 Strategie zur Fassadenbegrünung und Maßnahmen zu ihrer Umsetzung. Pilotprojekte zur Fassadenbegrünung starteten, unter anderem mit der Umgestaltung der ehemaligen Müllverbrennungsanlage Stellinger Moor zum Zentrum für Ressourcen und Energie (ZRE). Bamberg (76 000 EW) schafft eine Lobby für Grün und Freiraum, indem das Entdecken und Erfahren der grünen „Schätze“ unterstützt werden. Die Stadt vermarktet die bewirtschafteten Grün- und Ackerflächen der historischen Gärtnerstadt als „Urbaner Gartenbau“ im Rahmen des UNESCO-Weltkulturerbes. Dazu gehören ein ausgeschildeter Rundgang durch die Gärtnerstadt, ein Label für Produkte und Produzenten („Gutes aus der Gärtnerstadt“) sowie ein Museum zur Geschichte des Gartenbaus in Bamberg [14]. Die Stadt Essen (583 000 EW), Grüne Hauptstadt Europas 2017 [15], treibt den Stadtumbau von Grau zu Grün voran. Die Grüne Mitte Essens liegt auf dem Areal des ehemaligen Güterbahnhofs und wurde wassersensibel, grün, sozial und gesundheitsförderlich entwickelt (Bild 5). In anderen Quartieren wie „Am Niederfeldsee“ dient eine wassersensible Stadtentwicklung mit Grünraumgestaltung ebenfalls einer Aufwertung des Wohnumfeldes mit hoher Aufenthaltsqualität. Der Krupp-Park verfügt über weitläufige Liege- und Spielwiesen, ein See wird von Regenwasser aus dem Park und von den Dachflächen des angrenzenden ThyssenKrupp-Quartiers gespeist. Die prosperierende Stadt Jena (111 000 EW) liegt in einer beengten Tallage. Die Folgen des Klimawandels werden zunehmend als Wärmeinsel spürbar. Trotz Flächendrucks soll die bestehende grüne Infrastruktur durch ein Netz aus Klimakomfortinseln so qualifiziert und ergänzt werden, dass sich kleinräumig Klima- und Umweltbedingungen verbessern [16]. Kriterien wurden entwickelt, um Grünflächen als Klimaoasen zu bestimmen und im Stadtgebiet zu identifizieren. Der klimawandelgerechte Umbau einzelner Quartiere mit grünen und wassergebundenen, blauen Elementen schreitet voran, so auch am „Inselplatz“ in Jena (Bild 6). Vertikaler Ausgleich für Grünflächenverluste? Freilich, es gibt gute Beispiele für die Sicherung von Grünqualität unter Nutzungsdruck von der Stadtregion über das Stadtquartier bis hin zu Gebäuden. Aber jenseits der oft zitierten Vorzeigebeispiele wird häufig weiter verdichtet, geht Stadtgrün verloren, werden Grundstücksflächen baulich immer stärker ausgenutzt. Der Umweltrat stellt fest: „Insbesondere 37 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt in stark wachsenden Städten werden die ökologischen, gesundheitlichen und sozialen Aspekte von urbanem Grün in Abwägung mit baulichen Maßnahmen nur selten in ausreichendem Maße beachtet.“ Bauwerksbegrünung voranzutreiben ist aufwändig, doch notwendig. Eine Verbreitung von Dachbegrünung setzt umfassende Förderung, Beratung und langfristige Pflege voraus. Eine nicht bodengebundene Fassadenbegrünung bleibt eine kostspielige, auf Demonstrationsprojekte begrenzte Option. Ein vollständiger Ausgleich horizontaler Flächenverluste durch vertikale Grünmasse kann vor allem dort gelingen, wo Bauland so wertvoll ist, dass Maßnahmen für Dach- und Fassadenbegrünung und blaue Strukturen realisiert werden können, etwa festgelegt durch städtebauliche Verträge und Ausgleichsmaßnahmen. Leitbilder wie jene der doppelten Innenentwicklung oder Schwammstadt, die Nachverdichtung mit Stadtgrün verbinden, setzen voraus, dass in Stadtgrün investiert wird, nicht nur einmalig investiv, sondern dauerhaft - in Pflege, Fachwissen und Personal - damit die Wohlfahrtswirkungen von Stadtgrün für die diversen Nutzungsansprüche gesichert werden. Dies fordert eine personell, fachlich und finanziell gut ausgestattete kommunale Freiraumplanung, aber auch die Weiterentwicklung technischer Lösungen, etwa innovativer Bewässerungstechniken für Stadtgrün im Klimawandel oder Speicherlösungen der Stadtentwässerung gegenüber Starkregengefahren. So lange ein vertikaler Ausgleich für Grünverluste begrenzt bleibt, hat Nachverdichtung auch Grenzen. Die Stadttore können nicht geschlossen werden, weswegen kombinierte Lösungen aus innovativen Grünprojekten unter Dichtebedingungen und polyzentrischer Entwicklung in Großstadtregionen weiter zu erproben und voranzutreiben sind. LITERATUR [1] Bgmr Landschaftsarchitekten, HCU 2015. www. bbsr.bund.de/ BBSR / DE/ FP/ ReFo/ Staedtebau/ 2015/ U r b a n e F re ir a e u m e / 01- S t a r t . ht m l ? n n =118 613 6 (11.01.2019) [2] Böhm, J., Böhme, C., Bunzel, A., Kühnau, C., Reinke, M.: Urbanes Grün in der doppelten Innenentwicklung. Bundesamt für Naturschutz (BfN) (Hrsg.), BfN-Skripten 444. Bonn, 2016. [3] ARL (Akademie für Raumforschung und Landesplanung): Positionspapier aus der ARL 109. Ältere Einfamilienhausgebiete im Umbruch. Eine unterschätzte planerische Herausforderung - Zur Situation in Nordrhein-Westfalen. Hannover, 2018. [4] Umweltrat - Sachverständigenrat für Umweltfragen: Stellungnahme „Wohnungsneubau langfristig denken - für mehr Umweltschutz und Lebensqualität in den Städten“, Berlin, 2018. [5] BMUB - Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit; Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) (Hrsg.) (2015): Grün in der Stadt - Für eine lebenswerte Zukunft. Grünbuch Stadtgrün. Berlin; BMUB (Hrsg.) (2017): Weißbuch Stadtgrün. Für eine lebenswerte Zukunft. Berlin; MBWSV, 2014: Urbanes Grün - Konzepte und Instrumente. Leitfaden für Planerinnen und Planer. Düsseldorf. [6] Neubauer, U., Bürger, G., Fischer, M., Stebegg, K., Wallner, K.: Handlungsziele für Stadtgrün und deren empirische Evidenz. Bundesinstitut für Bau, Stadt- und Raumforschung BBSR (Hrsg.), Bonn; Dosch (2018): Grün auf engem Raum. Landschaftsarchitekten 4 (2018), S. 9-11. [7] w w w.bbsr.bund.de/ BBSR / DE / Stadtent wicklung / S t a e d t e b a u f o e r d e r u n g / F o r s c h u n g s p r o g r a m m e / P ro g r a m m u e b e r g r e i f e n d / P ro j e k t e / g r u e n staedtebaufoerderung/ 01-start.html? nn=1838260& docId=1469556&notFirst=true. (08-Jan-2019). [8] w w w.staedtebaufoerderung.info/ StBauF/ DE/ Programm/ Zukunf t Stadt gruen/ Praxis/ praxis _ node. html. (08-Jan-2019). [9] BMUB (Hrsg.) (2016): Den ökologischen Wandel gestalten. Integriertes Umweltprogramm 2030. Frankfurt. [10] http: / / w w w.deutscher-verband.org / aktivitaeten/ projekte/ liegenschaftspolitik/ interkommunale-kooperation.html. (08-Jan-2019). [11] Hemberger, C., Kiwitt, T.: Wohnraumbereitstellung im stadtregionalen Maßstab. In: RaumPlanung 195/ 1 (2018) S. 34 - 39. [12] w w w.bbsr.bund.de / B B S R / D E / F P/ Re F o/ St aedte bau/ 2015/ UrbaneFreiraeume/ urbane-freiraeumenode.html. (08-Jan-2019). [13] http: / / w w w.muenster.de/ planen_bauen_wohnen. html. (08-Jan-2019). [14] http: / / www.gaertnerstadt-bamberg.de/ . (08-Jan- 2019) [15] a e mte r/ 0115 _1/ g r u e n e _ h a upt s t a d t _ 5 / 18 0 8 0 3 _ GHE_0336_Dokumentation_22x27_96dpi.pdf (08- Jan-2019). [16] www.jenkas.de (08-Jan-2019). Dr. Brigitte Adam Wissenschaftliche Projektleiterin Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) Referat I 6 - Stadt-, Umwelt- und Raumbeobachtung Kontakt: brigitte.adam@bbr.bund.de Dr. Fabian Dosch Referatsleiter Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) Referat I 6 - Stadt-, Umwelt- und Raumbeobachtung Kontakt: fabian.dosch@bbr.bund.de AUTOR*INNEN 38 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Industrie und Gewerbegebiete - die vergessenen 19 %? Wenn aktuell von den Folgen des Klimawandels im urbanen Raum und notwendigen Anpassungsstrategien die Rede ist, tauchen Bilder von Innenstadtquartieren auf: Hoher Versiegelungsgrad, hohe Bebauungsdichte, hohe Bevölkerungsdichte. Der Handlungsbedarf ist klar. Seltener im Fokus urbaner Transformationsprozesse sind hingegen bestehende Gewerbe- oder gar Industriegebiete. Dabei nehmen Industrie- und Gewerbeflächen fast 19- % der Siedlungsfläche ein (Wohnbebauung etwa 42-%) [1]. Wo neu ausgewiesene Gewerbegebiete mit verfügbaren Flächen angeboten werden, geraten bestehende Gewerbegebiete unter Druck: Ihr Flächenpotenzial ist oft ausgeschöpft, räumliche Entwicklungsmöglichkeiten für ansässige Unternehmen fehlen, die Verkehrsinfrastruktur ist überaltert und überlastet, es fehlt an Parkplatzflächen, es gibt Probleme mit Altlasten, Leerstand, Brachflächen, Leben und Arbeiten - nur ein Thema für die Innenstadt? Wie nachhaltige Gewerbegebiete auch die Randzonen in den Fokus nehmen Stadtentwicklung, Gewerbegebiete, Grünstrukturen Sandra Sieber Ziele wie hohe Lebensqualität oder nachhaltige Mobilitäts- und Arbeitsformen werden meist auf die Kernzonen der Stadt bezogen. Gewerbegebiete stehen selten im Fokus. Doch auch hier finden transformative Prozesse statt. Infrastrukturen kommen an ihre Grenzen, im Bereich der Mobilität aber auch bei der Stromversorgung oder dem Regenwassermanagement. Gewerbebetriebe müssen auf dem umkämpften Arbeitsmarkt um Fachkräfte werben, Aufenthaltsqualität kann zum Standortfaktor werden. Dazu kommen die Herausforderungen des Stadt-Klimawandels, der Energiewende und die Bedrohung der Biodiversität. Im Forschungsprojekt „Gewebegebiete im Wandel“ stellen sich drei Kommunen mit ihren Gewerbegebieten diesen Herausforderungen. Bild 1.1 und 1.2: Thermografische Aufnahmen von Marl (links, 6-Uhr morgens) und Remscheid (rechts, 17-Uhr). © Evi Müllers, IMM Infrarot- Messtechnik Müllers, August 2018 39 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Mindernutzungen, unerwünschten Nutzungen - Randverlagerungen sind die Folge. Dazu kommen die Herausforderungen des Klimawandels: Hoher Versiegelungsgrad, hohe Bebauungsdichte, deutlicher Wärmeinseleffekt. Das hat Auswirkungen auf die Menschen, die in den Gewerbegebieten arbeiten, auf mögliche Kühlbedarfe in einzelnen Betrieben, aber auch auf den Wärmeinseleffekt in der Stadt. Für Kaltluftströme, die gerade bei austauscharmen, windstillen Wetterlagen wichtig für die Durchlüftung und Kühlung von Städten sind, stellen Gewerbegebiete meist eine Barriere dar. Auch ohne Barriere-Wirkung wird die kalte Luft durch die überhitzten befestigten Flächen aufgewärmt und verliert so ihre Kühlfunktion. Die Aufheizung und Wärmespeicherung von Dächern und befestigten Flächen ist nicht marginal: Asphaltflächen weisen im Sommer bereits morgens zwischen 6 und 7 Uhr Oberflächentemperaturen von 25 bis 30 °C auf, am Nachmittag zwischen 16 und 17 Uhr liegen die Temperaturen bei 50 bis 60 °C. Dachflächen können sich je nach Oberfläche und Exposition auch auf 70 bis 80 °C aufheizen. Zum Vergleich: Gehölzflächen kommen nur auf 30 bis 40 °C (Bilder 1.1 und 1.2). Nachhaltige Entwicklung im Bestand anstoßen Diese Vielzahl von Problemen lässt bestehende Gewerbegebiete in den Fokus von Forschung und politischer Agenda rücken. Ein ExWoSt-Forschungsfeld widmet sich unter dem Schlagwort „Nachhaltige Weiterentwicklung von Gewerbegebieten“ seit 2014 dieser Aufgabe im Bestand. Neun Städte haben sich mit ausgewählten Modellgebieten an diesem Forschungsvorhaben beteiligt. Revitalisierung, Modernisierung und Weiterentwicklung standen im Fokus. Auch Strategien und Umsetzungsbeispiele im europäischen Ausland wurden betrachtet [2]. Einen kleineren Rahmen steckt das vom BMBF geförderte Projekt „Grün statt Grau - Gewerbegebiete im Wandel“. Hier haben die drei beteiligten Kommunen Marl, Remscheid und Frankfurt am Main - als eines von vielen möglichen Themenfeldern einer nachhaltigen Gebietsentwicklung - die Initiierung und Weiterentwicklung der Grünstrukturen ins Zentrum gerückt [3]. Die Ausgangslagen der Projektgebiete sind ganz unterschiedlich: mal in Teilen noch aus dem 19. Jahrhundert stammend, mal klassische Gewerbegebiete der 1960er und 1970er Jahre, von stark verdichtet bis Gewerbepark. Dabei liegt die Versiegelung der Parzellen aber immer durchschnittlich über 80- %. Im Projekt „Gewerbegebiete im Wandel“ werden sowohl die privaten Firmengelände als auch die Gebiete als Ganzes betrachtet. In Zusammenarbeit der Verbundpartner mit externen Planungsbüros werden die Unternehmen fortwährend beraten, wie sie ihr Gelände „naturnaher“ gestalten können (Bild 2). Baumpflanzungen konnten zum Beispiel über städtische Mittel aus der Baumschutzsatzung realisiert werden (Bild- 3). Auch Honigbienen fanden in einem der Modellgebiete einen neuen „Firmensitz“ (Bild 4). Die immer wieder beschriebene Skepsis von Unternehmen gegenüber Engagement im Bereich Natur und Artenschutz war in den Modellgebieten keine Konstante [4]. Viele Unternehmen in den Modellgebieten konnten sich mit der Zielstellung des Projektes identifizieren. Die oben genannten Problemlagen bestehender Gewerbegebiete (in den Modellkommunen unterschiedlich stark ausgeprägt, aber vorhanden), machen den Handlungsbedarf für viele offensichtlich. Aber auch Imagestärkung und Identifikation mit den Gewerbegebieten sind Motivation, sich im Projekt zu engagieren. Projekte als Multiplikator Sehr wichtig scheint auch, wie beim ExWoSt-Projekt, die Funktion des Projekts als Multiplikator zu sein. Die Kommunen haben eine Agenda in den Gebieten und können im Rahmen des Forschungsprojekts verstärkt Personalmittel einsetzen, um aktiv auf Unternehmen und Unternehmernetzwerke zuzugehen. Das Projekt signalisiert den Unternehmen, dass ihre Probleme und Anliegen ernstgenommen werden und dass echtes Interesse an der Weiterentwicklung der Gebiete besteht. Aus diesem Impuls wurden Dynamiken in Gang gesetzt. So hat beispielsweise Remscheid nun - durch die Initiative des neu gegründeten Unternehmensnetzwerks - ein Bild 2: Vorstellung einer Neuplanung für ein Firmengelände, aufgenommen im zukünftigen Gemeinschaftsgarten im Gewerbegebiet Großhülsberg in Remscheid. © S. Sieber, 2018 40 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Premiumgewerbegebiet [5]. Auch die Kommunikation unter den Unternehmen wurde neu angestoßen. Projektwerkstätten boten Gelegenheit zum Austausch mit Vertretern der Kommunen, aber eben auch untereinander. So konnten Geschäftsbeziehungen in Gebieten neu geknüpft werden. Neue Herausforderungen Was sich im Projekt „Gewerbegebiete im Wandel“ ebenfalls deutlich gezeigt hat: Gewerbegebiete stehen im Wettbewerb [6]. Sie konkurrieren mit anderen Standorten um Absolventen und Auszubildende, Anfahrtswege und Betriebsumfeld werden zu Standortfaktoren. Die Zuwegung für LKW bleibt wichtig, aber auch ÖPNV-Anbindungen sowie Fuß- und Radwege werden gebraucht. Die Zeiten, in denen Gewerbegebiete ausschließlich durch eine Straße erschlossen wurden (wie aktuell noch im Fall eines Logistikunternehmens in Rheinland-Pfalz, zu dem Mitarbeitende fußläufig nur im Randstreifen der Landstraße gelangen, Querung einer Autobahnauffahrt inklusive [7]), sind vorbei. Die Forderung nach einer nachhaltigen Mobilität speist sich längst nicht mehr allein aus den Begründungen des Natur- und Umweltschutzes. So hat Berlin als erstes Bundesland 2018 ein Mobilitätsgesetz erlassen, das die Stellung von ÖPNV, Fuß- und Radverkehr stärken und diese (soweit möglich) vorrangig behandeln soll [8]. Die Stadt München bietet Unternehmen beispielsweise Fördermöglichkeiten für Lastenfahrräder, um einerseits umweltfreundliche Mobilität zu fördern, aber auch um die Verkehrsbelastung und Stauproblematik im Stadtgebiet mittelfristig zu senken [9]. Gerade elektrische Lastenfahrräder zeigen deutlich, dass bestehende Verkehrskonzepte, mit ihren Restflächen und Hindernisparcours für den Radverkehr, nicht mehr ausreichen. Auch der Weg vom Wohnort zum Arbeitsplatz wird wichtiger für eine Generation, die sich - zumindest in urbanen Regionen - immer öfter gegen das eigene Auto entscheidet. Durch die Frage nach bezahlbarem Wohnraum scheint sich stellenweise sogar eine Renaissance der Betriebs- und Werkswohnungen anzukündigen. Dazu kommt das Arbeitsumfeld selbst. Mit dem neuen Typus des „urbanen Quartieres“ werden sich Wohnen und Arbeiten wieder stärker verschränken. Diese Gebietskategorie kann zukünftig neben Wohngebäude auch Geschäfts- und Bürogebäude, Betriebe des Einzelhandels und der Gastronomie, Hotels, sonstige Gewerbebetriebe, Verwaltungsgebäude und kulturelle Einrichtungen umfassen. Auch eine Öffnung bestehender Gewerbegebiete für die Wohnnutzung ist grundsätzlich möglich. Inwieweit sich hier für bestehende Gewerbegebiete Chancen oder eher Verdrängungseffekte ergeben, bleibt abzuwarten. Auch der Zielkonflikt aus kompakter Stadt mit kurzen Wegen und ausreichender Durchgrünung bleibt beim urbanen Quartier bestehen. Vom grünen Feigenblatt zum Leistungsfaktor Dass Vegetation und Vegetationsstrukturen auch signifikante Auswirkungen auf die Gesundheit bzw. Gesunderhaltung haben, ist zwar bekannt, wird aber in Hinblick auf Gewerbegebiete kaum thematisiert. Die Forderung nach Stadtgrün und mehr Grünstrukturen in der Stadt war im Wesentlichen eine Reaktion des 19. Jahrhunderts auf Industrialisierung und Stadtwachstum. Inzwischen haben sich (dank des gewachsenen Bewusstseins für die Emissionsproblematik seit den Bild 3: Neupflanzung von Obstbäumen auf einem Firmengelände im Gewerbegebiet Lenkerbeck in Marl. © S. Sieber, 2018 Bild 4: Honigbienen vor ihrem neuen „Firmensitz“ im Gewerbegebiet Großhülsberg. © S. Sieber, 2018 41 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt 1970er Jahren) Luft- und Gewässerqualität wieder deutlich verbessert. Die gesundheitsfördernde Wirkung urbaner Vegetationsstrukturen ist inzwischen gut erforscht. Einen aktuellen Überblick bietet die Publikation „Ökosystemleistungen in der Stadt - Gesundheit schützen und Lebensqualität erhöhen“ [10]. Grünstrukturen können einerseits gesundheitliche Risiken (resultierend zum Beispiel aus Lärmbelastung, Luftverschmutzung oder extremen Klimabedingungen) verringern. Als Orte der Erholung und Begegnung haben sie aber auch eine gesundheitsfördernde Wirkung. Urbanen Grünsystemen (heute aufgrund ihrer wachsenden Bedeutung auch als „Grüne Infrastruktur“ bezeichnet) wird daher eine „hohe Public-Health-Relevanz“ zugesprochen. Sie tragen dazu bei, die Wiederstandfähigkeit gegenüber Belastungen zu stärken [11]. Belegt ist inzwischen, dass der Blick auf Grünstrukturen bzw. der temporäre Aufenthalt in ihnen unter anderem:  die psychische Leistungsfähigkeit erhält und das Wohlbefinden fördert,  die Konzentrationsfähigkeit fördert,  das Sicherheitsempfinden steigern, Aggressionen mindern und den zwischenmenschlichen Umgang verbessern kann,  die Arbeitszufriedenheit erhöht und trotz Arbeitsstress die Kündigungswahrscheinlichkeit reduzieren kann,  zur Reduktion von Kopfschmerzen und körperlichen Beschwerden beiträgt,  Stress mindern sowie die kurzfristige Erholung und die Wiederherstellung kognitiver Ressourcen fördern kann [12]. Um diese Wirkungen zu erzielen, ist weniger die Größe als die Art der Vegetationsstruktur entscheidend: „Grün“ scheint am besten zu wirken, wenn es vielfältig und strukturreich ist. Eine mit unterschiedlichen Pflanzen begrünte Wand kann „wirksamer sein“ als eine ausgedehnte, aber monotone Rasenfläche. Selbst bei beengten Verhältnissen kann eine kleine, vielfältig begrünte Fläche oder eine begrünte Wand (idealerweise vom Arbeitsplatz, Pausenraum oder der Kantine einsehbar) schon einen Beitrag zu Wohlbefinden, Betriebsklima und Gesunderhaltung leisten. Auch Brachflächen werden als urbane Wildnis positiv bewertet, wenn ein Maß an Einsehbarkeit bzw. Übersichtlichkeit (Sicherheitsempfinden) sowie Flächengliederung und Nutzbarkeit gewährleistet ist. Wo Brachflächen wegen fehlender Aneignung zu Problemen mit Kriminalität oder illegaler Müllentsorgung führen, kann die gezielte Förderung von temporären Nutzungen die Situation entschärfen. So wurde in Marl eine Brachfläche in einen „außerschulischen Lernort“ mit Hochbeeten, Insektenhotel sowie heimischen Bäumen und Sträuchern umgewandelt (Bild 5). Die Nutzung und Umgrenzung verhindert ungewollte Müllabladungen. Kinder aus den benachbarten Quartieren haben ein grünes Refugium zum Beobachten, Ausprobieren und spielerischem Lernen. Die ansässigen Unternehmen können durch ihre Unterstützung des Lernortes ihr Profil (auch als zukünftige Arbeitsgeber) stärken. Ein mehr an Grünstrukturen bedeutet aber nicht mehr „Abstandgrün“. Gefragt sind multifunktionale Flächen. Nur, sind wir - in unseren Ämtern, Behörden, Planungsbüros aber auch in den Firmen des Garten- und Landschaftsbaus bzw. des Facility- Managements - gerüstet für die Anforderungen einer multifunktionalen „Grünen Infrastruktur“? Bild 6: „Kies- und Schottergärten“ , eher ein Ort für hartnäckige Spontanvegetation als eine pflegeleichte Freifläche. © S. Sieber, 2018 Bild 5: Erlebbare Stadtnatur im außerschulischen Lernort im Gewerbegebiet Lenkerbeck. © S. Sieber, 2018 42 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Ist die Rechts- und Planungssicherheit gegeben? Gibt es schon so etwas wie eine Planungsroutine? Funktioniert der Transfer zwischen Planung, Ausführung und Pflege? Solange „Schottergärten“ als pflegeleicht gelten [13] und unpassende Planungen durch permanenten Einsatz von Motor-Heckenschere und Freischneider ausgeglichen werden, bleibt noch viel zu tun (Bild 6). Die oft angeführten Kosten von Vegetationsflächen sind dabei ein Scheinargument: 1000- m² versiegelte Hoffläche können über 1000- EUR im Jahr allein an Niederschlagswassergebühr kosten, eine Wiese kostet nur rund 40 Ct. pro Jahr und Quadratmeter, ein Rasen im Durchschnitt fast 70 Ct., eine freiwachsende Hecke kann schon mal in 10 Jahren 150 EUR weniger kosten als eine geschnittene Hecke, pro laufendem Meter [14]. Das „Grün“ auch Geld wert sein kann, zeigt eine andere Studie. So bewerteten Befragte die Produktqualität um 30- % und die Servicequalität um 15- % höher, wenn Geschäfte in „grünen“ Stadtvierteln lagen. Sogar eine höhere Zahlungsbereitschaft wurde postuliert [15]. Grünstrukturen wurden lange genug als „Stiefmütterchenbeet vor dem Fabriktor“ betrachtet [16]. Es wird Zeit, sich von dieser Vorstellung zu verabschieden. „Grün“ kann etwas, „Grün“ leistet etwas, auch für Grünstrukturen gilt „Leistung muss sich wieder lohnen“, nicht nur in der Innenstadt und im Wohngebiet, auch an den Randzonen der Stadt. LITERATUR [1] Statistisches Bundesamt, Flächennutzung, Fläche für Siedlung nach Nutzungsarten in Deutschland, Stand 31.12.2017, https: / / www.destatis.de/ DE/ ZahlenFakten/ Wirtschaf tsbereiche/ L andForst wirtschaf tFischerei/ Flaechennutzung/ Tabellen/ Siedlungsflaeche.html [2] ExWoSt, Forschungsfelder, Nachhaltige Weiterentwicklung von Gewerbegebieten, Veröffentlichungen, https: / / w w w.bbsr.bund.de/ BBSR / DE / FP/ E xWoSt/ Forschungsfelder/ 2014/ Gewerbegebiete/ 01_Start.ht ml? nn=1134604&notFirst=true&docId=1134610 [3] Gewerbegebiete im Wandel, http: / / gewerbegebieteim-wandel.de/ [4] Kowarik, I., Bartz, R., Brenck, M. (Hrsg.): Ökosystemleistungen in der Stadt - Gesundheit schützen und Lebensqualität erhöhen, Berlin, Leipzig, 2016, S. 204. [5] Das Unternehmensnetzwerk Großhülsberg, Bergisch | Nachhaltig | Effektiv, http: / / www.grosshuelsberg. net/ [6] Kowarik, Bartz, Brenck, a.a.O., S. 204. [7] DIE RHEINPFALZ: Frankenthal: Gefährlicher Fußweg für Amazon-Mitarbeiter, Meldung vom 28.12.2018, https: / / www.rheinpfalz.de/ lokal/ frankenthal/ artikel/ frankenthal-gefaehrlicher-fussweg-fuer-amazonmitarbeiter/ [8] Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz Berlin, Verkehrspolitik, Mobilitätsgesetz, https: / / www.berlin.de/ senuvk/ verkehr/ mobilitaetsgesetz/ [9] Stadt München, Förderprogramm Elektromobilität, https: / / radlhauptstadt.muenchen.de/ radlinfos/ foerderprogramm-elektromobilitaet/ [10] Kowarik, Bartz, Brenck, a.a.O. [11] Kowarik, Bartz, Brenck, a.a.O., S. 99 f. [12] Kowarik, Bartz, Brenck, a.a.O., S. 101 bis S. 105. [13] Pflegeleicht sind Schottergärten auch mit dem besten Unkrautvlies nicht, denn auf Dauer bildet sich zwischen den Steinen organische Substanz, die angewehten Samen beste Bedingungen bieten. Unkrautjäten ist dann genauso mühsam wie das Entfernen von Blättern, um die Entstehung organischer Substanz zu vermeiden. Nicht umsonst empfehlen Reif und Kreß in ihrem Buch „Blackbox-Gardening“ Kies- und Splitt-Substrate als ideale Startbedingung für ihr Konzept der Spontanvegetation. [14] Kowarik, Bartz, Brenck, a.a.O., S. 206 f. [15] Kowarik, Bartz, Brenck, a.a.O., S. 205. [16] Bahrdt, H. P.: „Natur“ und Landschaft als kulturwissenschaftliche Deutungsmuster für Teile unserer Außenwelt, erschienen in: Gröning, Gert und Herlyn, Ulfert (Hrsg.): Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung, Texte zur Konstitution von Natur als Landschaft, Minerva Publ., München, 1990, S. 81 bis S. 104. Dipl.-Ing. (FH) Sandra Sieber Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Entwerfen+Freiraumplanung an der TU Darmstadt Kontakt: sieber@freiraum.tu-darmstadt.de AUTORIN WISSEN FÜR DIE STADT VON MORGEN Digitalisierung versus Lebensqualität Big Data | Green Digital Charter | Kritische Infrastrukturen | Privatheit | Sharing-Systeme 1 · 2016 Was macht Städte smart? URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Mit veränderten Bedingungen leben Hochwasserschutz und Hitzevorsorge | Gewässer in der Stadt | Gründach als urbane Klimaanlage |Baubotanik 1 · 2017 Stadtklima URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Lebensmittel und Naturelement Daseinsvorsorge | Hochwasserschutz | Smarte Infrastrukturen | Regenwassermanagement 2 · 2016 Wasser in der Stadt URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Verbrauchen · Sparen · Erzeugen · Verteilen Energiewende = Wärmewende | Speicher | Geothermie | Tarifmodelle | Flexible Netze | Elektromobilität 2 · 2017 2 · 2017 Stadt und Energie ISSN 2366 7281 g URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Erlebnisraum - oder Ort zum Anbau von Obst und Gemüse Urban Farming | Dach- und Fassadenbegrünung | Grüne Gleise | Parkgewässer im Klimawandel 3 · 2016 Urbanes Grün URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN MMMMMMMMMMMMMMM HHo Ho oc Ho Ho Hoc c Hoc c UURBANE SYSTE NE SYS ST Die Lebensadern der Stadt - t für die Zukunft? Rohrnetze: von Bestandserhaltung bis Digitalisierung | Funktionen von Bahnhöfen | Kritische Infrastrukturen 4 · 2016 Städtische Infrastrukturen URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Die Vielschichtigkeit von Informationsströmen Smart Cities | Automatisierung | Mobilfunk | Urbane Mobilität | Datenmanagement | Krisenkommunikation 3 · 2017 Urbane Kommunikation URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Angri ssicherheit · Betriebssicherheit · gefühlte Sicherheit IT-Security | Kritische Infrastrukturen | Notfallkommunikation | Kaskadene ekte | Vulnerabilität | Resilienz 4 · 2017 4 · 2017 Sicherheit im Stadtraum URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Was macht Städte smart? Soft Data | IT-Security | Klimaresilienz | Energieplanung | Emotionen | Human Smart City | Megatrends 1 · 2018 Die intelligente Stadt URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Energie, Wasser und Mobilität für urbane Regionen Mieterstrom | Solarkataster | Wärmewende | Regenwassermanagement | Abwasserbehandlung | Mobility as a Service 2 · 2018 Versorgung von Städten URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Zunehmende Verdichtung und konkurrierende Nutzungen Straßenraumgestaltung | Spielraum in Städten | Grüne Infrastruktur | Dach- und Fassadenbegrünung | Stadtnatur 3 · 2018 Urbane Räume und Flächen URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Daseinsvorsorge für ein funktionierendes Stadtleben Urbane Sicherheit | Mobilität im Stadtraum | Zuverlässige Wasser- und Energieversorgung | Städtische Infrastruktur 4 · 2018 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Gesund und sicher leben in der Stadt Gesund und sicher leben in der Stadt www.transforming-cities.de/ einzelheft-bestellen | www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren 43 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Eine neue Forschungsgruppe der Frankfurt University of Applied Sciences hat sich das Ziel gesetzt, die Nachkriegsmoderne, deren Baukultur und Siedlungsbau, in einem interdisziplinären wissenschaftlichen Ansatz als wichtige Ressource auch künftigen Wohnungs- und Städtebaus zu untersuchen. Hierbei handelt es sich um die besondere Herausforderung, diese Bauepoche einer breiten Zielgruppe aus Akteuren, die mit dem modernen Siedlungs- und Städtebau in Verwaltung, Wohnungswirtschaft oder Bewohnerschaft zu tun haben, ebenso wie der interessierten Öffentlichkeit näher zu bringen, was umso wichtiger ist, als ein überwiegender Teil unseres heutigen Wohnungsbestandes aus der Die Nachkriegsmoderne als Forschungsobjekt Zur Zukunftsfähigkeit von Baukultur und Siedlungsbau 1945-1975 Nachkriegsmoderne, Siedlungsbau, Großsiedlungen, Wohnbauforschung, Stadtraum, Stadtplanung Florian Wiedmann, Michael Peterek Die an der Frankfurt University of Applied Sciences neu gegründete fächerübergreifende Forschungsgruppe „Ressource Nachkriegsmoderne - Baukultur und Siedlungsbau 1945-1975“ untersucht die Bedeutung des Siedlungsbaus der Nachkriegsmoderne in architektonisch-städtebaulicher, ökologischer, ökonomischer und sozio-kultureller Hinsicht. Dabei entwickelt sie Vorstellungen und Konzepte, wie diese wichtige Ressource auch in Zukunft für den Wohnungs- und Städtebau nutzbar gemacht werden kann. Bild 1: Planung für Detmerode. © Stadt Wolfsburg 44 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1975 stammt. Auch wegen ihrer besonderen Qualität, welche vom Angebot der Außenräume bis zum Zuschnitt der Grundrisse reicht, ist die architektonische und städtebauliche Ressource der Nachkriegsmoderne noch heute von großer Bedeutung, und insbesondere in Ballungsräumen wie der Region Frankfurt Rhein-Main kann sie dringend benötigten günstigen und qualitativ hochwertigen Wohnraum bieten. Gleichzeitig müssen die Bestände in vielfacher Hinsicht an heutige Bedürfnisse und Anforderungen angepasst werden, was etwa die energetische Sanierung oder die Integration von Barrierefreiheit ebenso betrifft wie die Bereitstellung zusätzlicher sozialer und versorgungstechnischer Infrastrukturen. Vor diesem Hintergrund will die Forschungsgruppe zur Nachkriegsmoderne an der Frankfurt University nachhaltige Strategien für die Weiterentwicklung dieser Ressource erarbeiten und kommunizieren. Hintergrund Während das bauliche Erbe der frühen Moderne der 1920-iger Jahre gut erforscht, dokumentiert und inzwischen in seinen herausragenden Beispielen auch denkmalpflegerisch geschützt ist, haben die gebauten Strukturen der Nachkriegszeit lange Zeit diese Beachtung nicht erfahren. Der Städtebau und Siedlungsbestand der Nachkriegsmoderne wurde bisher vor allem hinsichtlich seines Scheiterns und der mit ihm verbundenen bzw. hervorgerufenen sozialen Probleme diskutiert. Erst in jüngster Zeit wird auch sein baukultureller Wert erkannt und verstärkt diskutiert, insbesondere als Zeugnis vergangener Gesellschaftsmodelle, die im Massenwohnungsbau architektonisch und städtebaulich Niederschlag gefunden haben. Neben den „Leuchttürmen“ sind zahlreiche, auch weniger auffällige Projekte entstanden, die das Gesicht unserer Städte heute noch prägen. Durch den hohen Veränderungs- und Nachverdichtungsdruck gewinnt eine umfassende Beschäftigung mit diesen Beständen - sowohl mit den ambitioniert geplanten Großsiedlungen als auch den kleineren, unscheinbaren Projekten - derzeit an Bedeutung und Dringlichkeit. Erneut als vorbildlich gelten in den Siedlungen dieser Zeit zum einen die vielfach geschätzte Qualität der Wohnungstypologien mit sparsamen, aber funktional gut geschnittenen Grundrissen (die damit auch nach wie vor vergleichsweise kostengünstig sind) und zum anderen die großzügigen und attraktiven Freiraum- und Grünbezüge, welche viele der Quartiere besonders prägen. Bild 2: Siedlung in Frankfurt- Eschersheim. © Peterek Bild 3: Frankfurt am Main, Berliner Straße. © Peterek Bild 4: Straßenraum in der Nordweststadt in Frankfurt am Main. © Peterek Bild 5: Freiräume in der Nordweststadt in Frankfurt am Main. © Peterek Bild 6: Limesstadt in Schwalbach in der Region Frankfurt Rhein-Main. © Peterek 45 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Letztere sind heute dabei Chance und Herausforderung zugleich: Denn in den wachsenden Städten mit einem zunehmenden Wohnraumbedarf ergeben sich Potenziale einer Nachverdichtung des Bestandes, die der Prämisse folgt, dass Innenentwicklung der Außenentwicklung vorgezogen werden soll. Gleichzeitig geht damit aber das Risiko einher, durch zusätzliche Versiegelung die Entstehung von weiteren städtischen Wärmeinseln und den Verlust von klimaaktiven Freiflächen und Lüftungskorridoren zu begünstigen. In Bezug auf ihre bauliche Substanz, die vielfach den schnellen Erstellungsbedarfen und vergleichsweise geringen finanziellen Möglichkeiten der Nachkriegszeit geschuldet ist, besteht ebenso ein akuter Instandhaltungsbedarf, wie auch in Hinblick auf die nach heutigen Standards unzureichenden energetischen Eigenschaften. Hierfür sind Strategien der Instandsetzung fortzuentwickeln, die dem in vieler Hinsicht qualitätsvollen Bestand gerecht werden und die Bewohner finanziell nicht überfordern. Die Bestandssiedlungen werden dabei von der Energieforschung mehr und mehr als Ganzes in den Blick genommen und Lösungen zunehmend auf Quartiersebene entwickelt, weil weitreichende Sanierungen bei einzelnen Gebäuden sehr schnell an ökonomische Grenzen stoßen. Gleichzeitig können die Siedlungen nicht ohne Einbindung in ihr größeres städtebauliches Umfeld betrachtet und weiterentwickelt werden. Die Leitbilder ihrer Entstehungszeit, die insbesondere durch Trennung der Funktionen und geringe Dichte bestimmt waren, entsprechen nicht mehr den Erwartungen an urbane Vielfalt, Mischung und Dichte, die heute an Stadtquartiere gestellt werden. Dies betrifft insbesondere auch die Frage der sozialen Herausforderungen, die durch eine jahrelange einseitige Belegung vieler Siedlungen gegeben sind und zu einer tendenziell selektiven Fluktuation geführt haben, auch weil die Siedlungsbestände der Nachkriegszeit gerade in den Ballungsräumen häufig den wenigen erschwinglichen Wohnraum bieten. Dennoch identifizieren sich viele Bewohner*innen in einem Maße mit ihrem Wohnumfeld, das Fachleute häufig erstaunt und das zu unerwarteten Widerständen gegen bauliche Veränderungen führen kann. Der Städtebau und die Siedlungen der Nachkriegsmoderne sind heute ein quantitativer und auch qualitativ nicht zu vernachlässigender Bestandteil der Wohnungsversorgung nicht nur in Deutschland, sondern - auf Grund der erfolgreichen Ausbreitung und Dominanz der Leitbilder und Versprechen des „modernen“ Städtebaus - auch europa- und sogar weltweit. Fragen der Zukunftsfähigkeit Bei jedem komplexen Stadtbaustein, wie auch den Siedlungen der Nachkriegsmoderne, stellen sich unweigerlich Fragen nach seiner künftigen Nachhaltigkeit, wobei in einer wissenschaftlichen Betrachtung unterschiedliche Themen und Dimensionen, die Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft und anderes mehr betreffen, ineinander greifen und zu untersuchen sind. Zum einen muss sich die Auseinandersetzung mit der Zukunftsfähigkeit dieser Strukturen mit der Frage ihrer ökologischen Rolle und Relevanz beschäftigen, da viele Siedlungen nur in geringer Weise heutigen Anforderungen und Baustandards entsprechen. Energetische Sanierungsmaßnahmen sind somit ein wichtiger Bestandteil einer umfassenden Strategie, Siedlungen, insbesondere Großsiedlungen, energetisch nachhaltig umzubauen, was vielerorts auch schon zu relevanten Ergebnissen geführt hat. Ein weiterer wichtiger Aspekt der ökologischen Nachhaltigkeit ist die Verbesserung der Anbindung vieler Siedlungen an ein modernes Netz des öffentlichen Personennahverkehrs, um die negativen Auswirkungen des motorisierten Individualverkehrs zu begrenzen und eine sichere und attraktive Durchwegung für Fußgänger und Fahrradfahrer zu gewährleisten. Denn trotz des vergleichsweise hohen Anteils an Grünflächen leiden viele Siedlungen unter dem Mangel an erkennbaren öffentlichen Wegen und einer klaren Orientierung. Die Dimensionen vieler Zeilenbauten und deren halböffentliche Räume haben sich oftmals als hinderlich erwiesen, eine klare Wegestruktur zu etablieren, die öffentliche Flächen erschließt und gemeinsame Treffpunkte und Nachbarschaftszentren definiert. Insofern gibt es heute zahlreiche Anstrengungen, das Potenzial der großzügigen Grünflächen fortzuentwickeln und dabei stärker zwischen privaten Gärten und öffentlichen Räumen zu unterscheiden. Neben der Verbesserung der ökologischen Bilanz vieler Siedlungen der Nachkriegsmoderne durch energetische Sanierung und einer Reduktion des Individualverkehrs ist es wichtig, die soziale Diversität zu stärken. Während viele Siedlungen heute (noch) den wichtigen Bedarf an kostengünstigem Wohnungsbau erfüllen, vor allem für diejenigen, die sich sonst auf dem Wohnungsmarkt nur schwer versorgen können, haben großflächige Siedlungen mancherorts aber auch zu einer Verstärkung der sozialen Segregation und Isolation geführt, was vor allem an Stadträndern zu beobachten ist. Zu der ursprünglichen, meist deutschstämmigen Bewohnerschaft sind über die Jahrzehnte Gastarbeiterfamilien und 46 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt andere Arbeitsmigranten, Aussiedlerfamilien, Singles und andere hinzugekommen, was sich durch die anhaltende Migration in viele Ballungsräume heute noch verstärkt. Der gesellschaftliche Wandel macht auch vor den Nachkriegssiedlungen nicht Halt - insofern sind Strategien notwendig, die soziale Mischung und Inklusion zu stärken, Vielfalt zu fördern und damit auch neue Aktivitäten, Unternehmungen und Investitionen zu fördern. In diesem Zusammenhang ist auch die Bewohnerdichte mancher Siedlungen zu überprüfen und inwieweit diese den heute angestrebten Werten einer tragfähigen integrierten Stadtstruktur entspricht. Denn eine zu geringe Dichte vieler Nachkriegssiedlungen hat Distanzen zu Versorgungszentren verstärkt, die zudem gemäß dem Leitbild der funktionalen Trennung geplant wurden. Die räumliche Integration vieler Siedlungen der Nachkriegsmoderne leidet heute unter den damaligen Vorstellungen einer autogerechten Stadt, welche fußläufige und lineare Zentren vernachlässigte. Eine zeitgemäße Weiterentwicklung vieler Siedlungen sollte deshalb behutsame Nachverdichtungsstrategien mit einer stärkeren Nutzungsmischung entlang zentraler Korridore verbinden. Trotz der Vielfalt von Wohnungstypologien und Grundrissen der Siedlungen besteht auch ein Bedarf, diese an moderne Lebensstile anzupassen. Dies umfasst, neben dem Umbau und der Zusammenlegung von möglicherweise zu kleinen Wohnungen, auch das Hinzufügen von Balkonen oder privaten Terrassen und Gärten im Fall von Erdgeschosswohnungen. Ein wichtiges Ziel ist dabei, die Vielfalt der sozialen Gruppen in den Siedlungen dauerhaft zu stärken und zu stabilisieren und diese damit zu beleben, etwa auch kostspieligere Sanierungen durch Quersubventionierung zu ermöglichen. Dabei ist eine verstärkte Einbindung der Bewohner*innen, die sich mit ihrer Umgebung identifizieren und sich organisieren, um ihre Bedürfnisse und Perspektiven zu vermitteln, ein wichtiger Faktor für die Weiterentwicklung und Zukunftsfähigkeit der Siedlungen. Denn die ursprünglich zur Bewältigung einer dringenden Wohnungsversorgung geplanten Siedlungen sind längst Bestandteil einer Jahrzehnte alten, kollektiven Lebenserfahrung und somit zu erhaltenden Identitätsräumen geworden. Nachhaltigkeits- und Umbaustrategien sind angehalten, die Einwohnerschaft in neue Entwicklungsprozesse zu integrieren und zur Mitwirkung zu gewinnen. Die Transparenz der Kommunikation und Gestaltung von neuen Projekten ist ein zentraler Aspekt, wie Planung Ängste reduzieren und neue Perspektiven schaffen kann. Bild 7: Plattenbau in Leinefelde. © Peterek Bild 8: Großsiedlung Neu-Erlaa in Wien. © Peterek Bild 9: Wohnsiedlung in Seoul. © Peterek Bild 10: Frankfurt am Main Nordweststadt. © Harnack Bild 11: Sogenannte Chinamauer in Nieder-Roden. © Harnack 47 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Eine solche Vermittlung zwischen Bewohnerschaft und bewohntem Raum ist eine wichtige Grundlage, um die Baukultur der Nachkriegsmoderne auch für künftige Generationen zu erhalten. Die einst mit begrenztem Budget und aus der Wohnungsnot heraus entstandenen Siedlungen, die jahrelang eher ungeliebt und von einem negativen Bild geprägt waren, können so zu vielfältigen und zukunftsträchtigen Stadtquartieren weiterentwickelt werden, mit einer ganz eigenen städtebaulichen und stadträumlichen Qualität, einem für die heutigen Ballungsräume maßgeblichen und nach wie vor günstigem Wohnraumangebot und nicht zuletzt einer wichtigen Bedeutung als baukulturelles Erbe der Nachkriegszeit. Ausblick Die Forschungsgruppe „Ressource Nachkriegsmoderne - Baukultur und Siedlungsbau 1945-1975“ an der Frankfurt University of Applied Sciences verfolgt die zentrale Aufgabe, die Bedeutung des Siedlungsbaus der Nachkriegsmoderne aus architektonischer, städtebaulicher, ökonomischer, ökologischer, sozialer und kultureller Sicht in ein neues Licht zu rücken. Damit diese Siedlungen ihre Aufgaben auch in Zukunft weiterhin wahrnehmen können, müssen sie nicht nur erhalten, sondern behutsam und mit Augenmaß weiterentwickelt werden. Dieses schließt neben wissenschaftlichen Arbeiten und Forschungsprojekten in einer fächerübergreifenden Perspektive auch gutachterliche Konzepte, die Veranstaltung von Workshops und Fachtagungen, von Exkursionen für Fachleute und Laien, sowie Ausstellungen und Dokumentationen mit ein, um den Städtebau der Nachkriegsmoderne als baukulturelles Erbe im Bewusstsein zu verankern und dem Bild entgegenzuwirken, dass moderne Stadträume nur hässlich und menschenunfreundlich seien. Die Forschungsgruppe sieht sich dabei als Anlaufstelle für alle, die sich mit dem modernen Siedlungs- und Städtebau in Verwaltung, Wohnungsbaugesellschaften, Bürgerschaft, Praxis und Forschung beschäftigen. Sie möchte Strategien für die Qualifizierung und Weiterentwicklung dieser wichtigen architektonischen und städtebaulichen Ressource liefern, nicht nur im Rhein-Main-Gebiet, auch wenn dort zunächst der operative Schwerpunkt liegen wird, sondern auch in einer nationalen und internationalen Perspektive. Denn die Leitbilder des „modernen“ Städtebaus zeigen ihren Einfluss heute weltweit, so dass ein interdisziplinärer und internationaler Erfahrungsaustausch längst überfällig ist, wie mit den Stadtbausteinen jener Zeit, ihren Stadträumen und ihren bedeutsamen Wohnbaubeständen umzugehen ist. Das Ergebnis dieser Auseinandersetzung und die dabei entwickelten Strategien werden die Zukunftsfähigkeit und Kohäsion unserer städtischen Lebensräume maßgeblich bestimmen. Anmerkung Neben den beiden Autoren gehören zu der im Herbst 2018 gegründeten Forschungsgruppe „Ressource Nachkriegsmoderne - Baukultur und Siedlungsbau 1945-1975“ folgende Forscher*innen der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS):  Prof. Dr. Maren Harnack, Fachgebiet Städtebau und Entwerfen, Sprecherin der Forschungsgruppe, Kontakt: maren.harnack@fb1.fra-uas.de  Prof. Dr. Wolfgang Jung, Fachgebiete Baugeschichte, Architekturtheorie und Denkmalpflege  Prof. Dr. Hans-Jürgen Schmitz, Fachgebiet Technischer Ausbau  Prof. Patricia Ines Hoeppe, Fachgebiet Intermediale kulturelle Bildung  Dr. Natalie Heger, PostDoc Kooperationspartner der Forschungsgruppe sind derzeit der Regionalverband FrankfurtRheinMain, das Landesamt für Denkmalpflege Hessen, der Deutsche Werkbund Hessen e. V., die Stadt Frankfurt am Main mit dem Dezernat IV Planung und Wohnen sowie dem Denkmalamt und die Nassauische Heimstätte. Im Oktober 2019 wird eine erste internationale Fachtagung zum Thema „Siedlungsbau und Denkmalschutz“ an der Frankfurt University of Applied Sciences durchgeführt werden. Website: www.frankfurt-university.de/ Nachkriegsmoderne Dr. Florian Wiedmann Postdoc Fachbereich 1: Architektur • Bauingenieurwesen • Geomatik Frankfurt University of Applied Sciences Kontakt: wiedmann.f@gmail.com Prof. Dr. Michael Peterek Fachgebiet Städtebau und Entwerfen / Fachbereich 1: Architektur • Bauingenieurwesen • Geomatik Frankfurt University of Applied Sciences Kontakt: michael.peterek@fb1.fra-uas.de AUTOREN 48 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Die Stadt Görlitz - eine Mittelstadt in peripherer Lage und mit attraktiven weichen Standortfaktoren Görlitz, die östlichste Stadt Deutschlands, ist vor allem durch seinen hohen baukulturellen Wert bekannt. Mit rund 3500 Einzeldenkmälern und einem der am besten erhaltenen Stadtkerne Mitteleuropas, gilt die Stadt als größtes zusammenhängendes Flächendenkmal Deutschlands. Die Stadt hat da- Stadt auf Probe - Wohnen und Arbeiten in Görlitz Eine Mittelstadt in peripherer Lage als zukunftsfähiger Wohn- und Arbeitsstandort Transformationspotenzial von Mittelstädten, Kreativwirtschaft, Stadtentwicklung, Reallabore Constanze Zöllter, Stefanie Rößler, Robert Knippschild, Sarah Hauck Mit dem „Probewohnen“ hat sich in den letzten Jahren ein innovativer Ansatz in der Stadt Görlitz etabliert, um interessierten Personen die Möglichkeit zu geben, das Leben in dieser Stadt auszuprobieren. Im aktuellen Projekt „Stadt auf Probe - Wohnen und Arbeiten in Görlitz“ werden ab dem Jahr 2019 neben Wohnungen auch Arbeitsräume auf Probe angeboten. Der Beitrag informiert über den Projektansatz, die damit verbundenen Forschungsfragen zu Chancen und Herausforderungen von Mittelstädten als zukunftsfähige Wohn- und Arbeitsstandorte und über erste Erkenntnisse aus dem Projekt. mit eine große touristische Bedeutung und wurde in den letzten Jahren vermehrt auch von Film- und Fernsehproduzenten als Drehort entdeckt. Die Stadt hat, wie viele ostdeutsche Mittelstädte, jedoch auch mit den Herausforderungen des demographischen und strukturellen Wandels zu kämpfen. Bereits zu DDR-Zeiten verzeichnete Görlitz Einwohnerverluste, welche sich nach der politischen Wende noch verstärkten. Zwischen den Jahren 1990 49 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt und 2005 hat die Stadt etwa ein Viertel ihrer Bevölkerung verloren [1, S. 4]. Dies resultierte vor allem aus dem strukturell bedingten Wegfall von Arbeitsplätzen. Viele junge Menschen wanderten in westdeutsche Bundesländer ab, damit einhergehend sanken die Geburtenraten in der Region. Zusätzlich wurden die Möglichkeiten des Erwerbs von Wohneigentum in den Umlandgemeinden vielfach genutzt. Die Entwicklung von Großwohnsiedlungen und die Vernachlässigung der Altbauten zu DDR-Zeiten führte zu erheblichen Leerständen insbesondere in den Innenstadtquartieren [2]. Die heute hoch geschätzte baukulturelle Qualität ist den hohen Auflagen des Denkmalschutzes und den umfangreichen staatlichen, aber auch privaten Mitteln bei der Sanierung nach der politischen Wende zu verdanken. Derzeit hat Görlitz rund 57 000 Einwohner und seit einigen Jahren kann die Stadt eine leicht positive Bevölkerungsentwicklung verzeichnen [3, S. 3]. Allerdings weisen die historischen Innenstadtquartiere nach wie vor die höchsten Leerstandsquoten im gesamtstädtischen Vergleich auf. Gleichzeitig ist die historische Altstadt mit einem Durchschnittsalter der Bewohner*innen von 38 Jahren der jüngste Görlitzer Stadtteil. Sanierungstätigkeiten und Verlagerungen von störendem Gewerbe führten zu einer zunehmenden Wahrnehmung der Quartiere als geeignete Wohnstandorte [4, S. 13]. Mit der zunehmenden Nachfrage nach Wohnraum wird kontinuierlich in Maßnahmen zur Wohnumfeldverbesserung investiert (Bild 1). Eine langfristige, möglichst flächendeckende Erhaltung der attraktiven und historisch bedeutsamen Gebäude und der Stadtstruktur ist jedoch nur möglich, wenn es gelingt, genügend Menschen für das Wohnen, aber auch Arbeiten in der Innenstadt zu gewinnen und damit eine tragfähige Revitalisierung zu ermöglichen. Die Infrastrukturausstattung von Görlitz ist für eine Stadt dieser Lage und Größe vergleichsweise gut. Ein gut ausgebautes Straßenbahn- und Busnetz, vielfältige Kultureinrichtungen, darunter ein Theater und mehrere Museen, ein breites Angebot von Bildungseinrichtungen, inklusive einer Fachhochschule, und attraktive Naherholungsmöglichkeiten schaffen die Voraussetzungen für einen attraktiven Wohnstandort. Auch die Lage an der polnischen Grenze mit der Nachbarstadt Zgorzelec bietet besondere Rahmenbedingungen für das Leben und Arbeiten. Darüber hinaus gibt es in Görlitz zahlreiche Initiativen und Netzwerke, die das Engagement der Bürger*innen für ihre Stadt verdeutlichen, aber auch Möglichkeiten zur Verwirklichung alternativer Lebensentwürfe sowie Potenziale für die Arbeit in der Kreativwirtschaft. Probewohnen „Görlitz - Altstadt“ Viele Akteure in der Stadt bewegt die Frage, wie die objektiv guten Rahmenbedingungen der Stadt künftig als Wohn- und gegebenenfalls auch als Arbeitsstandort genutzt und gestärkt werden können, um das Potenzial an Wohn-, aber auch Gewerberaum auszuschöpfen und damit eine stabile und zukunftsfähige Stadtentwicklung zu ermöglichen. So entstand die Idee, interessierten Personen über einen gewissen Zeitraum die Teilhabe am realen Leben in Görlitz zu ermöglichen und sie gleichzeitig zu ihren Erwartungen und Erfahrungen wissenschaftlich zu befragen sowie Erkenntnisse und Empfehlungen für die Stadtentwicklung abzuleiten. In Görlitz wurde bereits in mehreren Projekten der Ansatz des „Erprobens“ gewählt, um reale Erfahrungen zu ermöglichen und entsprechende empirische Erkenntnisse für die Stadtentwicklung abzuleiten [5]. Gleichzeitig kann mit solchen Ansätzen ein großes öffentliches und mediales Interesse erreicht werden, was die Diskussionen in der Stadtgesellschaft über die Stärken und Schwächen der Stadt befruchtet und gleichzeitig auch die Wahrnehmung von außen auf einen potenziellen Wohnort steigert. In den Jahren 2015 und 2016 wurde das Projekt „Probewohnen Görlitz-Altstadt“ durchgeführt. Das kommunale Wohnungsunternehmen KommWohnen Service GmbH stellte drei möblierte Wohnungen in der historischen Altstadt zur Verfügung, in denen die Teilnehmenden eine Woche kostenfrei wohnen und das Leben in der Stadt ausprobieren konnten. Partner des Projektes waren die Stadt Görlitz und das Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung, welches mit seinem in Görlitz ansässigen Interdisziplinären Zentrum für ökologischen und revitalisierenden Stadtumbau (IZS) die wissenschaftliche Begleitung innehatte. Nach einem öffentlichen Aufruf zur Bewerbung bekundeten rund 600 Personen aus etwas mehr als 300 Haushalten Interesse am Projekt. Nach den Kriterien der Motivation und des Umzugswunsches konnten schließlich 127 Haushalte für das Projekt ausgewählt und Daten von 195 Teilnehmenden erhoben werden. Ziel war, neben der Bewerbung der Stadt Görlitz als potenziellem Wohnstandort, insbesondere eine Analyse der Bedarfe und Ansprüche möglicher Bewohner an eine neue Umgebung sowie die konkrete Bewertung des Wohnstandortes Görlitz [6]. Im Ergebnis wurde die Stadt Görlitz und das Quartier historische Altstadt als sehr positiv und durchaus vorstellbarer Wohnstandort bewertet. Die Teilnehmenden schätzten die sehenswerte historische Stadt und deren angenehme Atmosphäre. Des Weiteren wurden das kulturelle Angebot sowie die 50 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Lage im Dreiländereck und vor allem die Nähe zur polnischen Nachbarstadt Zgorzelec als sehr positiv bewertet. Auch der historischen Altstadt wurde bezüglich Gebäudebestand, Ausstattung sowohl mit gastronomischen als auch kulturellen Einrichtungen sowie der Verfügbarkeit von Parks und Grünanlagen ein positives Zeugnis ausgestellt. Aus den Beurteilungen der Teilnehmenden ließen sich auch Anknüpfungspunkte für eine Optimierung des Wohnstandortes ableiten. So wurden Verbesserungsbedarfe beim Einkaufsangebot, der Barrierefreiheit sowie dem Radwegenetz der Stadt gesehen. Viele der Teilnehmenden wünschten sich auch mehr Grünflächen im direkten Wohnumfeld und eine jüngere und dynamischere Ausstrahlung der Stadt. Insgesamt gaben 78 % der Teilnehmenden eine positive Rückmeldung auf die Frage, ob sie sich einen Umzug in die Stadt Görlitz vorstellen könnten. 47 % bejahten diese Frage ohne Einschränkungen, 31 % machten ihre positive Antwort von weiteren Faktoren abhängig. Häufig genannt wurden hierbei die Arbeitsplatzsituation, familiäre Rahmenbedingungen oder das Vorhandensein eines entsprechenden Wohnangebotes zu akzeptablen Preisen [7]. Rückschlüsse für einen neuen Projektansatz Auf Grundlage dieser positiven Erfahrungen, aber auch noch offener Fragen, entschieden sich die Projektpartner für eine Weiterführung des Projektes mit veränderten Rahmenbedingungen. Aufgrund ihrer sowohl zeitlichen als auch räumlichen Flexibilität wurde das vorangegangene Projekt Probewohnen Altstadt stark von Personen im Rentenalter nachgefragt. Für den neuen Ansatz sollte nun eine Möglichkeit gefunden werden, vor allem jüngere Personen anzusprechen, da deren Bedarfe bisher in der wissenschaftlichen Analyse unterrepräsentiert waren. Insbesondere hinsichtlich einer wirtschaftlichen Stabilisierung der Stadt sollte auch das Thema Arbeiten eine Rolle spielen. Im Projekt Probewohnen „Görlitz-Altstadt“ fiel insbesondere auf, dass das Ausprobieren des Lebens in einer Mittelstadt vor allem für Personen aus Großstädten attraktiv war. Zunehmende Engpässe auf dem Wohnungsmarkt, Preissteigerungen, aber auch Lärm und fehlende Umweltqualität wurden als Gründe hierfür genannt. Außerdem ergab die Auswertung, dass viele Teilnehmende einen Aufenthalt von einer Woche als zu kurz empfanden, um ein abschließendes Urteil und eine Umzugsentscheidung zu treffen. Für die Neuauflage des Projekt entschied man sich daher, neben den Wohnungen auch Arbeitsräume auf Probe anzubieten und ganz gezielt Personen anzusprechen, die selbstständig und standortunabhängig arbeiten können. Diese Personen werden vier Wochen in Görlitz verbringen, ihre Arbeit „mitbringen“ und so den Standort und das dortige Leben intensiver ausprobieren. Die Kreativwirtschaft stellt damit die Zielgruppe für das Projekt dar. Die Branche ermöglicht jungen und gut ausgebildeten Personen Erwerbs- und Verwirklichungspotenziale für die sie Bild 1: Straßenzug in der Görlitzer Innenstadt Ost. © R. Knippschild, IÖR-Media 51 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt jedoch geeignete Räumlichkeiten benötigen (Bild 2). Gleichzeitig wird der „kreativen Szene“ oder Kreativwirtschaft häufig eine Bereicherung des Stadtlebens zugesprochen [8]. Angesichts der Verdrängungseffekte gegenüber dieser Gruppe in den großen und wachsenden Städten, mit angespannten Wohnungsmärkten und immer knapper werdenden freien und preiswerten Gewerberäumen, könnten Mittelstädte interessante Alternativen sein. Im Rahmen des Projektes „Stadt auf Probe - Wohnen und Arbeiten in Görlitz“ soll nun untersucht werden, ob Mittelstädte als Wohn- und Arbeitsstandorte für Menschen, die in der Kreativwirtschaft tätig sind, in Frage kommen und ob der Zuzug jüngerer und gut ausgebildeter Personen zur Stabilisierung und Steigerung der Attraktivität dieser Städte beitragen kann. Das Projekt wird von der Frage geleitet, welche Chancen Mittelstädte haben, sich als zukünftige Wohn- und Arbeitsstandorte, vor allem vor dem Hintergrund einer sich verändernden Arbeitswelt, unter anderem im Zuge der Digitalisierung, zu etablieren. Es soll ermittelt werden, welches Transformationspotenzial Mittelstädte für eine nachhaltige Raumentwicklung haben, indem sie zu einer Entlastung der sich stark verdichtenden Großstädte und Agglomerationsräume sowie zu einer ausgewogenen und dezentralen Siedlungsstruktur beitragen. Konkret soll analysiert werden, welche Standortanforderungen junge, gut ausgebildete Personen aus den kreativen Milieus haben und welche Erfahrungen sie bei ihrem Aufenthalt in Görlitz machen. Ziel ist es, Empfehlungen für die Görlitzer Stadtentwicklung abzuleiten, aber auch übertragbare Erkenntnisse für Mittelstädte mit ähnlichen Ausgangsbedingungen zu gewinnen. Stadt auf Probe - Wohnen und Arbeiten in Görlitz Das Projekt „Stadt auf Probe“ startete im Juli 2018 mit einer Laufzeit von 30 Monaten. Ab Januar 2019 können für insgesamt 18 Monate jeweils drei Haushalte für je vier Wochen das Wohnen und Arbeiten in Görlitz testen. Somit können Erkenntnisse von insgesamt 54 Haushalten gewonnen werden. Sie bekommen eine Probewohnung zur Verfügung gestellt und werden in einem der drei bereitgestellten Arbeitsräume ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen können. Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung werden die Teilnehmenden vor ihrem Aufenthalt in Görlitz gebeten, einen Online-Fragebogen auszufüllen. Gegen Ende ihres Aufenthaltes wird ein leitfadengestütztes Interview mit jedem Teilnehmenden geführt. Neben der Stadt Görlitz ist die kommunale Wohnungsbaugesellschaft KommWohnen Service GmbH wieder als Partner im Projekt beteiligt und stellt drei Wohnungen in der Görlitzer Innenstadt zur Verfügung. Die Arbeitsräume werden von drei ansässigen Vereinen zur Verfügung gestellt. Um ein breites Spektrum von Tätigkeiten abdecken zu können, wurden unterschiedliche Arbeitsräume gewählt. Der Kolaboracja e. V. stellt einen Büroarbeitsplatz Bild 2: Gelände der Rabryka in Görlitz. © R. Knippschild, IÖR-Media 52 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt 17% 28% 15% 24% 13% 3% Altersgruppen der Bewerber/ -innen 18 30 Jahre 31 40 Jahre 41 50 Jahre 51 60 Jahre 61 70 Jahre 71 Jahre und älter N= 149 in einem Co-Working-Space zur Verfügung, im Kühlhaus Görlitz e. V. können verschiedene Werkstätten genutzt werden und der Wildwuchs- e. V. bietet Ausstellungsräume und ein Künstleratelier. Für ein schnelles Einleben in der Stadt und eine gute Vernetzung mit bereits ansässigen Initiativen und Vereinen wird den Teilnehmenden im Rahmen des Projektes „Stadt auf Probe“ ein Ansprechpartner zum Knüpfen von Netzwerken in der Stadt zur Seite gestellt. Die wissenschaftliche Begleitstudie wird wieder vom IÖR mit seinem in Görlitz ansässigen Interdisziplinären Zentrum für ökologischen und revitalisierenden Stadtumbau (IZS) geleitet. Das Projekt wird im Rahmen der „Nationalen Stadtentwicklungspolitik“ vom Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat (BMI)/ Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) gefördert. Erste Erkenntnisse Ab Mitte September 2018 erfolgte über eine breit angelegte Öffentlichkeitsarbeit der Aufruf zur Projektteilnahme. Interessierte Personen konnten sich online zur Teilnahme am Projekt bewerben. Während der sechswöchigen Bewerbungsfrist gingen insgesamt 149 Bewerbungen ein. Aus nahezu allen Bundesländern wurden Bewerbungen eingereicht, auffällig ist jedoch die Bewerberzahl aus Berlin. Ein Drittel der Bewerbungen kamen aus der Bundeshauptstadt. Insgesamt mehr als zwei Drittel der sich bewerbenden Personen leben derzeit in einer Großstadt mit über 100 000 Einwohnern. Damit bestätigte sich die Annahme, dass es vor allem aus diesem Städtetyp großes Interesse an der Projektteilnahme gibt (Bild 3). Mehr als die Hälfte der Personen gab an, auf der Suche nach einem neuen Wohnort zu sein. Bei der Erläuterung der Motivation zur Projektteilnahme wurde häufig die Schwierigkeit genannt, auf dem aktuellen Wohnungsmarkt ein passendes Wohnangebot zu finden, jedoch auch andere Gründe, aus der Großstadt fortzuziehen. Für das Projekt konnte wie angedacht eine jüngere Personengruppe im erwerbsfähigen Alter gewonnen werden. 60 % der sich bewerbenden Personen sind unter 50 Jahre alt (Bild 4). Viele Bewerber*innen äußerten den Wunsch nach einer beruflichen oder privaten Veränderung, beziehungsweise auch die gezielte Suche nach einer neuen Herausforderung. Des Weiteren wurde häufig ein Interesse an der Region (Ober-)Lausitz sowie der Grenzlage im Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien angegeben. Auch die Suche nach neuen Netzwerken und neuen Inspirationen wurde häufig in der Motivationsbeschreibung erwähnt. Das Tätigkeitsfeld der Bewerber*innen ist weit gestreut. Beworben haben sich nicht nur zahlreiche Kunst- und Kulturschaffende aus verschiedenen Sparten der bildenden Kunst, sondern auch Autor*innen und einige Selbstständige aus dem IT- und Marketingbereich bzw. aus dem Bildungssektor. Ausblick Mit dem Start des Aufenthalts der ersten Projektteilnehmer*innen im Januar 2019 kann, wie auch schon bei dem vorangegangenen Projekt, ein großes mediales Interesse verzeichnet werden. Dies führt zu einer positiven Bewerbung des Standortes und weckt gegebenenfalls auch das Interesse weiterer Personen an der Stadt. Sehr positiv wird das Projekt in der Görlitzer Stadtgesellschaft aufgenommen. Erste Veranstaltungen und Planungen für künftige Kooperationen zeigen schon jetzt die positiven Effekte für die kreative Szene in Görlitz. Stadtverwaltung, aber auch Wirtschaftsförderung, Kunst- und Kreativwirtschaft sowie viele Initiativen und Vereine erhoffen sich Erkenntnisse zur Ausgangssituation und zu möglichen Potenzialen der Stadt. Aus wissenschaftlicher Sicht werden Antworten zu folgenden Forschungsfragen erwartet: Welche Standortvor- und -nachteile haben Mittelstädte in peripheren Lagen insbesondere 69% 13% 9% 9% Stadt- und Gemeindetypen der aktuellen Wohnorte der Bewerber/ -innen Großstadt Mittelstadt Kleinstadt größerer Ort oder Landgemeinde N= 149 Bild 3: Stadt- und Gemeindetyp der aktuellen Wohnorte der Bewerber*innen im Projekt „Stadt auf Probe“. © IÖR, eigene Darstellung Bild 4: Altersgruppen der Bewerber*innen im Projekt „Stadt auf Probe“. © IÖR, eigene Darstellung 53 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Dipl.-Geogr. Constanze Zöllter Wissenschaftliche Mitarbeiterin Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. Dresden / Interdisziplinäres Zentrum für ökologischen und revitalisierenden Stadtumbau, Görlitz Kontakt: c.zoellter@ioer.de Dr.-Ing., Dipl.-Ing. Stefanie Rößler Wissenschaftliche Mitarbeiterin Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. Dresden / Interdisziplinäres Zentrum für ökologischen und revitalisierenden Stadtumbau, Görlitz Kontakt: s.roessler@ioer.de Prof. Dr.-Ing. Robert Knippschild Universitätsprofessor Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. Dresden / Interdisziplinäres Zentrum für ökologischen und revitalisierenden Stadtumbau, Görlitz; Technische Universität Dresden Kontakt: r.knippschild@ioer.de Immobilien-Kffr. Sarah Hauck Sachbearbeiterin Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. Dresden / Interdisziplinäres Zentrum für ökologischen und revitalisierenden Stadtumbau, Görlitz Kontakt: s.hauck@ioer.de im Zuge einer sich ändernden Arbeitswelt und zunehmend überlasteter Großstädte und Agglomerationsräume? Können für Mittelstädte spezifische Standortvorteile etwaige Standortnachteile (zum Beispiel überregionale Erreichbarkeit) kompensieren? Welcher geänderten Rahmenbedingungen bedarf es etwa im Rahmen der Stadtentwicklungspolitik? Was lässt sich für die Weiterentwicklung des Reallabor-Ansatzes für eine nachhaltige Stadtentwicklung ableiten? LITERATUR [1] Stadt Görlitz, Stadtplanungs- und Bauordnungsamt: Große Kreisstadt Görlitz. Integriertes Stadtentwicklungskonzept INSEK. Demographie, Fachkonzepte Städtebau und Denkmalschutz Wohnen. Fortschreibung 2009/ 2010. Görlitz. [2] Kuder, T.: Der Städtebauliche Denkmalschutz im Wandel. In: Altrock, U., Kunze, R., Pahl-Weber, E., von Petz, U., Schubert, D. (Hrsg.): Jahrbuch Stadterneuerung (2008) S. 195-206. Universitätsverlag der Technischen Universität Berlin. [3] Stadt Görlitz, kommunale Statistikstelle: Statistische Monatszahlen Stadt Görlitz. Monat Dezember, 2018, Görlitz. [4] Stadt Görlitz, Stadtplanungs- und Bauordnungsamt: Neuordnungskonzept Historische Altstadt, Nikolaivorstadt. 2002, Görlitz. [5] Pfeil, A.: Leerstand nutzen - Perspektivenwechsel im Umgang mit dem strukturellen Wohnungsleerstand in ostdeutschen Grenzgebieten. IÖR Schriften Band 64. Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung, 2014, Dresden. Rhombos-Verlag Berlin. [https: / / rhombos.de/ shop/ leerstand-nutzen.html] [6] Zöllter, C., Rößler, S., Knippschild, R.: Probewohnen in Görlitz. Wohnen im historischen Altstadtkern einer Mittelstadt als Alternative zum Großstadtstress? In: RaumPlanung 195-1, (2018) S.26-32. [7] Zöllter, C., Rößler, S., Knippschild, R.: Probewohnen Görlitz-Altstadt. IÖR-Schriften Band 75. 2018, Dresden: Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung. [https: / / rhombos.de/ shop/ probewohnen-gorlitz-altstadt.html] [8] Florida, R.: Cities and the Creative Class. 2005, New York, London. AUTOR*INNEN All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren d im Ihr imm AAbboo www.tra 54 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Reverse Innovation für eine nachhaltige Mobilität Innovative Verkehrs- und Mobilitätslösungen durch globale Lerneffekte Reverse Innovation, Mobilitätslösungen, Globale Lerneffekte, Nachhaltigkeit Alina Ulrich Geprägt von den Herausforderungen der Urbanisierung und des Klimawandels sind Städte weltweit auf effiziente und nachhaltige Verkehrslösungen angewiesen. In der Vergangenheit erfolgten Lernprozesse meist einseitig von hochindustrialisierten Ländern gen Schwellen- und Entwicklungsländer, wohingegen umgekehrt gerichtete Lernprozesse vernachlässigt wurden. Der Artikel greift das ursprünglich aus der Produktentwicklung stammende Konzept von Reverse Innovation auf und untersucht, inwieweit Schwellen- und Entwicklungsländer als Ideengeber für die Verkehrsplanung in deutschen Städten fungieren können. Die Erfordernisse von innovativen, nachhaltigen Verkehrslösungen Weltweit wachsen Städte und damit auch die Signifikanz effizienter, nachhaltiger Verkehrslösungen zur langfristigen Sicherung der damit verbundenen Lebensqualität. „Make cities inclusive, safe, resilient and sustainable“ appellieren die Vereinten Nationen im Ziel- 11 ihrer Agenda zur nachhaltigen Entwicklung. Derzeit lebt die Hälfte der Weltbevölkerung im urbanen Raum, mit dem Trend zu weiterhin zunehmender Urbanisierung. Bis 2030 wird sich der Anteil der Stadtbewohner, nach derzeitigen Prognosen, auf 60 % der Bevölkerung erhöhen. Obwohl Städte flächenmäßig nur einen Anteil von 3 % der Erdoberfläche ausmachen, sind sie für 60 - 80 % des weltweiten Energieverbrauchs und 75 % der CO 2 -Emissionen verantwortlich. [1] Um den Herausforderungen der fortschreitenden Urbanisierung und der wachsenden Verkehrsnachfrage gerecht zu werden, sind innovative und nachhaltige Verkehrslösungen gefragt. Bisher waren es meist hochentwickelte Industrienationen, die Impulse für die Weiterentwicklung von städtischen Verkehrssystemen generierten. Daneben bieten aber auch weniger entwickelte Nationen und sich im Wandel befindende Schwellenländer zunehmend Lösungen mit Vorbildcharakter. In Schwellen- und Entwicklungsländern vollzieht sich die Urbanisierung besonders dynamisch, sodass deren Metropolen bereits jetzt mit den Herausforderungen des rapiden Bevölkerungszuwachses zu kämpfen haben. Die zunehmende Bevölkerungsdichte führt dabei zu einer ebenfalls wachsenden Verkehrsnachfrage: Die Motorisierung nimmt zu und bestehende Verkehrssysteme können parallel der Dynamik des stetig steigenden Verkehrsaufkommens nicht mehr standhalten. Eine dauerhafte Überlastung dieser bestehenden Verkehrssysteme ist die Konsequenz. Die daraus resultierenden Folgen, wie Staus, hohe Unfallzahlen, Luftverschmutzung, Treibhausgasemissionen oder Lärm, schränken die Lebensqualität der Städte in erheblichem Maße ein. Der starke Handlungsdruck in Schwellen- und Entwicklungsländern treibt die Entwicklung von innovativen, nachhaltigen und möglichst preiswerten Verkehrslösungen voran. Ein geringer Grad gesetzlicher Regulierung bietet zudem Spielraum für die versuchsweise Implementierung neuer Ideen und begünstigt somit die Innovationstätigkeit. Die vielfältigen und teilweise grundverschiedenen lokalen Kontexte der Schwellen- und Entwicklungsländer führten in der Vergangenheit zur Entwicklung von unterschiedlichsten Verkehrsstrukturen. Diese Diversität kann Industrienationen neue, alternative Ansätze in der Verkehrsplanung offerieren. In einem weniger regulierten und ausgeformten Umfeld werden in Schwellen- und Entwicklungsländern Verkehrslösungen erprobt. Diese Länder bieten somit einen in vielerlei Hinsicht günstigen Entstehungs- 55 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt und Entwicklungsrahmen für Innovationen. Die Innovationslandschaft in Schwellen- und Entwicklungsländern ist daher ein interessantes Betrachtungsfeld zur Ableitung von Verkehrslösungen für hochentwickelte Industriestaaten. „Reverse Innovation“ (RI) bezeichnet einen solchen Rücktransfer innovativer Technologien und Dienstleistungen aus eben diesen Schwellen- und Entwicklungsländern in Industrieländer. Reverse Innovation - eine Terminologie Der Begriff Reverse Innovation wurde 2009 vom Innovationsforscher und -experten Vijay Govindarajan im Bereich der Produkt- und Technologieentwicklung popularisiert. RI bezeichnet jede Innovation, die zuerst in einem Entwicklungsland angewendet wird, „bevor sie aufwärts, der Schwerkraft trotzend, gen industrialisierte Welt fließt“ [2, S. 4] 1 . Entgegen vorheriger Konzepte, werden RI zufolge Innovationen nicht in Industrieländern entwickelt und für Entwicklungs- und Schwellenmärkte modifiziert, sondern die Innovationen entstehen im lokalen Kontext der Entwicklungs- und Schwellenländer [3, S. 122]. Die Innovationen adressieren lokale Bedürfnisse, beispielsweise im Hinblick auf Preissegment, Funktionalitäten und Qualität, sprechen dadurch aber auch in entwickelten Märkten neue Marktsegmente an [4, S. 70; 5, S. 82 f.]. Sieht man das Konzept von RI als Möglichkeit, um innovative Verkehrslösungen ausfindig zu machen, so muss das ursprüngliche Konzept von RI jedoch erweitert werden. Dies ist vor allem durch konträre Betrachtungsgegenstände und Zielsetzungen der unterschiedlichen Anwendungsbereiche zu begründen. Während das ursprüngliche Konzept 1 „Reverse innovation is any innovation that is adopted first in the developing world. These innovations often defy gravity and flow uphill“ [2, S. 4]. auf die Entwicklung von Produkt- und Technologieinnovationen ausgerichtet ist, sind für Verkehrslösungen nicht nur herkömmliche materielle Produkte und Technologien von Bedeutung. Vielmehr tragen Dienstleistungen, Prozesse, Geschäftsmodelle, Strategien und Pläne zu einer zukunftsfähigen Verkehrsentwicklung bei [6, S. 2, 3, 13]. Beim Konzept von RI in der Produktentwicklung geht es vorrangig darum, neue Märkte zu erschließen, als Unternehmen zu expandieren und zusätzliche Profite zu erzielen [7] [8]. Das Auffinden von Verkehrslösungen ist hingegen weniger profitorientiert, sondern zielt auf eine nachhaltige Entwicklung von Städten ab. Verkehrslösungen sollen bestehende Systeme verbessern, Kapazitäten sichern, Umweltprobleme reduzieren, sozial gerecht und dabei möglichst kostendeckend sein. Die Notwendigkeit eines erweiterten Definitionsverständnisses Mit dem Ziel, innovative und nachhaltige Verkehrslösungen ausfindig zu machen, sollte das bisherige, auf Produkt- und Technologieinnovationen beschränkte Definitionsverständnis von RI auf Dienstleistungen, Geschäftsmodelle, Institutionen, Strategien, Pläne, Prozesse, Initiativen, Marketing oder auch Bauvorhaben erweitert werden [9, S. 5]. Mit dem Ziel, Lerneffekte zu nutzen, sollten nicht nur ganzheitliche Innovationen betrachtet werden, sondern auch innovative Teilaspekte von Verkehrslösungen, die einen Fortschritt in der Verkehrsentwicklung ermöglichen können. Darüber hinaus sind nicht nur jene Innovationen von Bedeutung, die bereits erfolgreich in ein Industrieland transferiert wurden oder die im Entwicklungsland erfolgreich waren. Vielmehr geht es um den Austausch von Erfahrungen, ob positiv oder negativ, die gemacht wurden und aus denen Lerneffekte resultieren. Bild 1: (links) BRT System in Buenos Aires. © F.Huber Bild 2: (rechts) Busschnellsystem, Essen. © Ruhrbahn GmbH 56 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Eine angepasste und adäquate Definition von Reverse Innovation im Bereich städtischer Verkehrslösungen umfasst „jede neue Idee, die vom lokalen Kontext geprägt in einem Entwicklungs- oder Schwellenland entsteht, dort erstmalig angewendet wird und die inspirierend für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung industrialisierter Städte wirkt.“ [9, S. 4][10, S. 14]. Eine Analyse von RI-Beispielen Populäre und erfolgreiche RI-Beispiele im Verkehrsbereich sind schnell gefunden. 1974 wurde in Curitiba in Brasilien erstmalig ein flächendeckendes Busschnellsystem „BRT“ umgesetzt. Das effektive sowie schnell und relativ kostengünstig umsetzbare BRT-System wurde zum Erfolg und diente Städten auf der ganzen Welt als Vorbild. Heute sind in vielen Städten Südamerikas, Asiens oder auch Europas, wie Amsterdam, Göteborg oder Essen, BRT-Systeme zu finden [11. S. 12-15] (Bilder- 1 und- 2). Auch die in London und Stockholm etablierte Citymaut hat ihre Ursprünge in Fernost. Dort wurde 1975 in Singapur erstmalig eine Citymaut umgesetzt [12, S. 16]. Für eine wissenschaftliche Analyse von RI-Anwendungsfällen im Stadtverkehr wurde eine Datenbank mit 150 Innovationen aus Schwellen- und Entwicklungsländern sowie zehn detaillierten Fallstudien untersucht [9, S. 12-57] [10, S. 15-53]. Als Auswahlkriterium galt, dass die Innovationen aus einer Entwicklungsregion stammen, im lokalen Kontext eine Innovation darstellen und eine innovative nachhaltige Verkehrslösung für urbane Räume bieten [10, S. 15 f.]. Die Beispiele wurden im Hinblick auf Regionen, Anwendungsbereiche, Innovationsarten sowie ihre Relevanz für den deutschen Kontext analysiert. RI sind divers: Die Regulation von Personal Mobility Devices in Singapur, die kultursensible Mitfahrbörse Raye7 in Ägypten, die auf Data Crowdsourcing basierende Sicherheitsapp SafetiPin und die Öffentlichkeitsbeteiligung beim Raahgiri Day in Indien, der Mobilitätsdienstleister Go-Jek aus Indonesien, die Regulation und Förderung von Permanent Parklets in Brasilien oder der Gogoro Smartscooter aus Taiwan geben einen ersten Eindruck von der Vielfältigkeit der Innovationen im Verkehrsbereich aus Schwellen- und Entwicklungsländern. Sie reichen von technologischen oder regulativen Innovationen, Dienstleistungsinnovationen, innovativen Geschäftsmodellen bis hin zu sozialen Innovationen. Allerdings sind nicht für alle Themenfelder in gleichem Maße Verkehrslösungen zu finden. In der Untersuchung kristallisierten sich die nachfolgenden acht wesentlichen Anwendungsbereiche heraus (Bild 3):  ÖPNV-Optimierung,  Aktive Mobilität,  Neue Mobilitätsdienstleistungen,  Management von motorisiertem Individualverkehr (MIV),  Fahrzeugtechnologien,  Digitalisierung,  Öffentliche Beteiligung sowie  Stadtplanung und -gestaltung. Besonders viele Innovationen sind den Bereichen neuer Mobilitätsdienstleistungen, Digitalisierung, Fahrzeugtechnologien und ÖPNV-Optimierung zuzuordnen. Während es zahlreiche Innovationen für den Personenverkehr gibt, konnten hingegen für den urbanen Wirtschafts- und Güterverkehr deutlich weniger Innovationen ausfindig gemacht Bild 3: Anwendungsbereiche. © A.Ulrich Bild 4: Bikesharing vom chinesischen Anbieter MoBike in Berlin. © A. Ulrich 57 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt werden. RI gibt es überall: Innovative Verkehrslösungen sind auf allen Kontinenten zu finden. Eine besonders dichte Innovationslandschaft mit zum Teil hochentwickelten Lösungen konnte für im Wandel stehende Schwellenländer, wie zum Beispiel Singapur, China oder Indien, festgestellt werden. In naheliegenden Regionen sind häufig ähnliche Innovationen zu erkennen. Beispiele, wie die vielfältigen Fahrradverleihsysteme aus Asien, zeigen, dass sich Innovationen vorerst in einem ähnlichen Umfeld verbreiten, bevor sie dann auch in andersartigen Kontexten erprobt werden. Exemplarisch dafür steht das Bikesharing-Unternehmen MoBike. Das chinesische Start-up etablierte sich zuerst in diversen Städten in China, bevor es nach Singapur expandierte. Als sich auch dort der Erfolg zeigte, wagte MoBike den Eintritt in den europäischen Markt in Manchester und später auch in Berlin (Bild 4). Der Kontext ist entscheidend: Der lokale Kontext spielt eine entscheidende Rolle für die Entstehung und Entwicklung von Innovation. Akuter Problemdruck ist eine begünstigende Ausgangssituation für Innovationsbestreben. Schwellen- und Entwicklungsländer haben sich gleichermaßen den Herausforderungen einer rapiden Urbanisierung zu stellen. Dies macht insbesondere die Mega-Cities der Länder für innovative Lösungsansätze besonders empfänglich. Unterschiede in lokalen Kontexten führen hingegen zu der Entwicklung unterschiedlichster innovativer Verkehrslösungen. Die Relevanz für den deutschen Kontext Erfolgreiche RI-Beispiele, wie etwa der Gogoro Scooter, der seit 2016 auf den Straßen Berlins unterwegs ist, zeigen, dass Innovationen aus Schwellen- und Entwicklungsländern durchaus eine Relevanz für Industriestaaten haben. Die Untersuchung der Beispiele stellte heraus, dass weniger Innovationen als Ganzes relevant sind, sondern insbesondere innovative Teilaspekte eine Relevanz für den deutschen Kontext haben. Innovationen können dabei in unterschiedlicher Weise im Industriestaat angewendet werden. Die in Indien entwickelte Sicherheitsapp SafetiPin ermöglicht es über Crowdsourcing die Sicherheitslage an öffentlichen Plätzen selbst zu bewerten sowie gleichzeitig die Bewertung durch andere Nutzer abzurufen. Eine solche App könnte ein Impuls sein, ein ähnliches neues System in Deutschland zu entwickeln. Es könnte aber auch dazu dienen, die Grundidee auf einen anderen Anwendungsbereich zu übertragen und beispielsweise über Crowdsourcing nicht die Sicherheit von öffentlichen Plätzen, sondern die Qualität von ÖPNV-Angeboten zu bewerten und abzufragen. Der Gogoro Smartscooter wird in Taiwan überwiegend für den Endverbraucher angeboten. Aufgrund fehlender öffentlicher Ladeinfrastruktur wäre die Einführung mit der Zielgruppe der Endverbraucher in Deutschland (vorerst) schwierig. Entwickelt man die Idee aber weiter und integriert den Roller in einen Fuhrpark und löst das Problem des Ladens durch private Ladeinfrastruktur, so ist der Ansatz von Gogoro-Scootern durchaus möglich und für die städtische Logistik, Dienstfahrzeuge oder Sharingdienste durchaus lukrativ. Das Berliner Scootersharing-Unternehmen COUP setzte dieses Konzept erfolgreich um und integrierte den Gogoro-Elektroroller in ihre Sharing-Flotte (Bild 5). Die Umgestaltung von Parkplätzen in Parklets ist nichts Neues und wird bereits in vielen europäischen Städten, wie Wien oder Stuttgart, umgesetzt. Eine dauerhafte Nutzung durch klare Regulierung und Bürgerbeteiligung zur Akzeptanzsteigerung sind allerdings innovative Teilaspekte, die aus Brasilien gewonnen werden können, um die Regelung von deutschen Parklets zu optimieren und bestehende Konflikte zu reduzieren (Bild 6). Bild 5: Das Scootersharing- Unternehmen Coup nutzt die Gogoro Scooter aus Taiwan. © COUP Bild 6: Permanent Parklets in Brasilien. © IMV 58 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Somit können die Innovationen ein Impuls zur Entwicklung neuer Systeme sein, bestehende Systeme zu optimieren, in einem neuen Anwendungsbereich eingesetzt oder in weiterentwickelter Gestalt umgesetzt zu werden. Vom Entwicklungs- und Schwellenland ins Industrieland - ein Prozess Der RI-Prozess lässt sich, in Anlehnung an bestehende Literatur 2 , in drei Phasen beschreiben: Die Innovationsentstehung, der Transfer und die Adoption. Die Innovationsentstehung beschreibt die Entstehung bzw. das Vorhandensein einer innovativen Verkehrslösung in einem Schwellen- oder Entwicklungsland, die auch gleichzeitig auf den dort vorherrschenden lokalen Bedürfnissen beruht. Der Transfer ist die Übertragung der Idee von einem Schwellen- oder Entwicklungsland in ein Industrieland. Ein geeigneter Selektionsmechanismus für relevante und übertragbare Innovationen sowie deren Anpassung zur Überwindung von auftretenden Barrieren ist essentiell für den Innovationstransfer. Die Adoption umfasst die Implementierung und (langfristige) Annahme der Idee im Kontext des Industrielandes (Bild 7). Besondere Achtsamkeit gilt den Phasen des Transfers sowie der Adoption. Durch Unterschiede im Entstehungs- und Adoptionskontext hinsichtlich 2 Zum Beispiel das Stage-Gate-Modell von Robert G. Cooper, der Innovationsprozess nach Christian Homburg, die Innovationsadoption nach Everett M. Rogers, die RI-Praxisphasen nach Jeffrey R. Immelt, Vijay Govindarajan und Chris Trimble oder der Technologietransfer nach Thomas Schulz. der Regulierung, den Politik- und Wirtschaftssystemen, unterschiedlich starkem Problemdruck sowie Transformationsdynamiken, der Historie, lokaler Gegebenheiten sowie Kultur und Mentalität wird der Transfer erschwert und bedarf einer gezielten Vorbereitung. Von Reverse Innovation zu globalem Lernen Städtische Mobilität ist ein vielversprechender Anwendungsbereich für das ehemals aus der Produktentwicklung stammende Konzept von Reverse Innovation. Die Betrachtung von RI-Beispielen verdeutlicht, dass Schwellen- und Entwicklungsländer ein in vielerlei Hinsicht interessantes Betrachtungsfeld für das Auffinden von innovativen Verkehrslösungen sind. Der - von bislang auf Industrieländer beschränkte - auf Schwellen- und Entwicklungsländer erweiterte Suchradius birgt innovative Lösungen und Lernpotenziale, die eine fortschrittliche und nachhaltige Mobilitätsentwicklung in deutschen Städten vorantreiben können. In einer globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts werden Lernprozesse nicht mehr ausschließlich in eine Richtung erfolgen, sondern vielmehr dynamisch, entgegengesetzt (reverse), wechselseitig und global. Das Konzept von Reverse Innovation ist ein fundamentaler Schritt für deutsche Städte, den Fokus zu erweitern und in Zukunft von globalen Lernprozessen zu profitieren. Anmerkung Die Erkenntnisse resultieren aus einer Zusammenarbeit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (GIZ) und des Umweltbundesamtes [9] sowie einer Begleitforschung der Bergischen Universität Wuppertal [10]. LITERATUR [1] UN (o.J.): Goal 11: Make cities inclusice, safe, resilien and sustainable. Online verfügbar unter: https: / / www.un.org/ sustainabledevelopment/ cities/ (17.01.2019). [2] Govindarajan, V., C. Trimble: Reverse Innovation: Create Far from Home, Win Everywhere. Boston, 2012. [3] Govindarajan, V.: A reverse-innovation playbook. In: Strategic Direction 28, 9 (2012). Online verfügbar unter: http: / / www.emeraldinsight.com/ doi/ 10.1108/ sd.2012.05628iaa.008 (11.01.2019). [4] Ostraszewska, Z., Tylec, A.: Reverse innovation - how it works. In: International Journal of Business and Management III, 1 (2015) S. 57-74. [5] Winter, A., Govindarajan, V.: Principles for creating successful products for emerging markets. In: Harvard Business Review ( July-August 2015): 11. [6] Adriaens, P., De Lange, D., Zielinski, S.: Reverse Innovation for the New Mobility. In: SSRN Electronic Journal (2013). Online verfügbar unter: http: / / www.ssrn. com/ abstract=2297912 (17.01.2019). Bild 7: Der RI-Prozess nach A.Ulrich. © A.Ulrich 59 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt [7] Govindarajan, V.: A reverse-innovation playbook. In: Strategic Direction 28, 9 (2012). Online verfügbar unter: http: / / www.emeraldinsight.com/ doi/ 10.1108/ sd.2012.05628iaa.008 (11.01.2019). [8] Immelt, J. R., Govindarajan, V., Trimble, C.: How GE Is Disrupting Itself. In: Harvard Business Review. (2009) S. 3-11. [9] UBA und GIZ: Reverse Innovation: Rethinking Urban Transport through Global Learning. Dessau-Roßlau, 2017. Online verfügbar unter: https: / / www.umweltbundesamt.de/ sites/ default/ files/ medien/ 376/ publikationen/ reverse_innovation_bf_0.pdf (11.01.2019). [10] Ulrich, A.: Reverse Innovation - Rethinking Urban Transport through Global Learning, 2017. Nicht veröffentlicht. [11] Nikitas, A., Karlsson, M.: A Worldwide State-of-the-Art Analysis for Bus Rapid Transit: Looking for the Success Formula. In: Journal of Public Transportation 18, 1 (2015) S. 1-33. [12] Trommler, S.: Auswirkungen einer City-Maut in Deutschland: Abschätzung von Parametern zur Übertragung in ein Verkehrsnachfragemodell. Hamburg, 2007. Alina Ulrich, M.Sc. Wissenschaftliche Mitartbeiterin Lehr- und Forschungsgebiet für umweltverträgliche Infrastrukturplanung, Stadtbauwesen im Fachzentrum Verkehr der Abteilung Bauingenieurwesen der Bergischen Universität Wuppertal; Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie Kontakt: aulrich@uni-wuppertal.de; alina.ulrich@wupperinst.org WISSEN WAS MORGEN BEWEGT Schiene, Straße, Luft und Wasser, globale Verbindungen und urbane Mobilität: Viermal im Jahr bringt Internationales Verkehrswesen fundierte Experten-Beiträge zu Hintergründen, Entwicklungen und Perspektiven der gesamten Verkehrsbranche - verkehrsträgerübergreifend und zukunftsorientiert. Ergänzt werden die deutschen Ausgaben durch die englischsprachige Themen-Ausgabe International Transportation. Mehr dazu im Web unter www.internationales-verkehrswesen.de Internationales Verkehrswesen gehört seit 1949 zu den führenden europäischen Verkehrsfachzeitschriften. Der wissenschaftliche Herausgeberkreis und ein Beirat aus Professoren, Vorständen, Geschäftsführern und Managern der ganzen Verkehrsbranche verankern das Magazin gleichermaßen in Wissenschaft und Praxis. Das technisch-wissenschaftliche Fachmagazin ist zudem Wissens-Partner des VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld. INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN - DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN »Internationales Verkehrswesen« und »International Transportation« erscheinen bei der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, Baiersbronn-Buhlbach, www.trialog-publishers.de AUTORIN 60 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Das Fahrrad als relevantes Verkehrsmittel in der Stadtplanung Die Diskussion um die zukünftige Mobilität in deutschen Städten ist im letzten Jahr sehr intensiviert worden, zunächst durch die Überlegungen zu einem grundsätzlich kostenlosen ÖPNV im Rahmen der Koalitionsverhandlungen im Frühjahr 2018, dann später durch die Rechtsprechung zu den Dieselfahrverboten, die ab Frühjahr 2019 deutlich ausgedehnt werden [1]. Insgesamt wird dabei entweder auf den ÖPNV oder aber auf die Nutzung des PKW innerhalb der Stadtgebiete fokussiert. In der öffentlichen Diskussion weniger beachtet ist das Verkehrsmittel, welches sowohl die geringsten Emissionen als auch den geringsten Flächenverbrauch verursacht und erheblich zur Entlastung der Verkehrssituation in den Städten beitragen kann: Das Fahrrad. Rad- und Fußverkehr sind erst seit wenigen Jahrzehnten verkehrspolitisches Thema [2]. Deutschlandweit beträgt der Modalanteil des Fahrrads 11 %, selbst in Metropolregionen klettert dieser Wert nur auf 15 % [3]. Damit ist das Fahrrad auch in den Städten das am wenigsten genutzte Verkehrsmittel. Wegen des Potenzials, motorisierten Verkehr zu ersetzen und zu Klimaschutz und Lebensqualität beizutragen, erhält das Fahrrad zunehmend Beachtung. In einer im August 2018 veröffentlichten Studie untersuchte Greenpeace die öffentlichen Haushalte der sechs größten deutschen Städte Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt am Main und Stuttgart in Hinblick auf die Aufwendungen für den Radverkehr [4]. Die Ausgaben liegen in einer Range von 2,30 EUR (München) bis 5,00 EUR pro Kopf und Jahr (Stuttgart). Andere europäische Städte kommen auf gänzlich andere Niveaus, so Amsterdam (11- EUR) oder Kopenhagen (rund 36 EUR). Mit Pro-Kopf-Investitionen in der Größenordnung von 100- EUR könnten deutsche Städte ihren enormen Rückstand in der Radinfrastruktur aufholen, so das Fazit. Während die Greenpeace-Studie die Argumentation aufbaut, mit zunehmenden Investitionen für die Radinfrastruktur würde auch der Modalanteil des Fahrrads erhöht werden, führen wissenschaftliche Untersuchungen ähnliche Ergebnisse an: So kommt die Studie von Buehler und Pucher (2011) zum Ergebnis, dass ein größeres Angebot an Fahrradwegen und -spuren einen stärkeren Einfluss auf die Umwelt haben als Stadtverkehr, Wetter, sozioökonomische Faktoren, öffentliche Verkehrsmittel und die Sicherheit des Radverkehrs [5]. Gleichzeitig haben Fahrradwege erhebliche Effizienzvorteile in Hinblick auf die Mobilität auf knappem Raum. Gehl (2013) weist darauf hin, dass eine Fahrrad-Spur in der Stadt die Beförderung von etwa fünf mal mehr Menschen zulässt als eine PKW-Spur [6]. Neben diesen objektiven Effizienzkriterien ist eine grundsätzlich positive Einstellung der mobilen Bevölkerung zur Fahrrad- Fahrrad-Nutzung in Städten - ein unterschätztes Verkehrsmittel Verkehrsmittelnutzung im Stadtverkehr mit besonderem Fokus auf Fahrräder Verkehrswende, Stadtmobilität, Fahrrad, ÖPNV Andreas Krämer, Robert Bongaerts Die Diskussion um eine veränderte Mobilität in Städten ist derzeit geprägt durch Themen wie Dieselfahrverbote, Stau- und Luftqualitätsprobleme, Konzepte zur Attraktivitätssteigerung des ÖPNV sowie Shared Mobility-Angebote (Car-, Bike-, Scooter-, RideSharing etc.). Demgegenüber ist die Nutzung des eigenen Fahrrads als Verkehrsmittel in der Stadt kein Top-Thema. Die eigene empirische Untersuchung belegt, dass ein großes Potenzial für den Ausbau der Fahrrad-Mobilität in Städten besteht. Während aktuell dem Ausbau von BikeSharing sehr viel mediale Aufmerksamkeit zukommt, liegen die eigentlichen Chancen in der stärkeren Nutzung privater Fahrräder. 61 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Nutzung zu berücksichtigen. In der Studie Mobilität in Deutschland erreicht die Aussage „Ich fahre gerne Fahrrad“ Zustimmungswerte von rund 60-% (die Vergleichswerte für den ÖPNV liegen nur etwa halb so hoch) [3]. Vor diesem Hintergrund wird untersucht, welchen Beitrag die Nutzung des Fahrrads zur Verkehrswende in Städten leisten kann. Dabei stehen folgende Fragen im Vordergrund:  Wie ist die Akzeptanz der Fahrradnutzung für die Mobilität im Stadtgebiet? Welche Treiber lassen sich dabei identifizieren?  Welche Unterschiede ergeben sich hinsichtlich der Nutzung des eigenen Fahrrads bzw. dem BikeSharing?  Welche Mobilitätscluster können für die Mobilität im Stadtgebiet bestimmt werden?  Welches Potenzial besteht für die Nutzung des Fahrrads? Die Beantwortung der Fragen aus Verbrauchersicht erfolgt unter anderem auf Basis einer empirischen Erhebung im Rahmen der Studie MobilitätsTRENDS 2018 (die Studie, aktuell die 7.- Untersuchungswelle, ist ein Kooperationsprojekt der exeo Strategic Consulting AG und der Rogator AG). Es handelt sich dabei um eine repräsentative Online-Befragung von mehr als 4000 Personen ab 18 Jahren (deutschsprachige Bevölkerung im D-A-CH-Gebiet) im Mai 2018 [7], die unter anderem Mobilitätsaspekte im Nah- und Fernverkehr, Verkehrsmittelwahlprozesse, Nutzungspotenziale sowie den Aspekt PKW-Kaufabsicht analysiert. In der aktuellen Welle wurden die Aspekte Stadtverkehr- Nutzung, Belastung durch den Stadtverkehr und die Bewertung von Lösungsansätzen zur Stickoxid- Reduzierung integriert. Verkehrsmittelnutzung im Stadtgebiet Relevanz des Stadtverkehrs aus Sicht der Verbraucher Bezüglich der Häufigkeit der Nutzung des Stadtverkehrs ergeben sich für die D-A-CH-Länder relativ deckungsgleiche Ergebnisse mit einer ausgewiesen hohen Relevanz des Stadtverkehrs für die Verbraucher: So sind rund 83 - 85 % der Befragten mindestens einmal pro Monat im Stadtverkehr unterwegs, etwa 35 - 47 % sogar täglich oder fast täglich. In diesen Werten spiegelt sich die zunehmende Verstädterung wider, so beträgt der Urbanisierungsgrad zum Beispiel in Deutschland mittlerweile 75 %. Gleichzeitig nutzen auch Berufspendler den Stadtverkehr. In Deutschland geben nur 16 % der Befragten an, dass sie nie oder selten im Stadtverkehr unterwegs sind. Während die Relevanz des Stadtverkehrs in den drei untersuchten Ländern sehr ähnlich ist, ergeben sich klare Unterschiede in der Verkehrsmittel-Präferenz (Bild 1). So ist der eigene PKW in Deutschland und Österreich das mit großem Abstand am häufigsten im Stadtverkehr genutzte Verkehrsmittel (73- bzw. 74 % der Befragten). Anders in der Schweiz: Zwar ist der PKW ebenso das wichtigste Verkehrsmittel im Stadtgebiet, allerdings auf einem deutlich niedrigeren Niveau und gleichbedeutend mit den Verkehrsmitteln Bus und Bahnen. Zusätzlich wurde erhoben, welches Verkehrsmittel grundsätzlich nicht für die Nutzung im Stadtverkehr in Frage kommt. Hier zeigt sich, dass insbesondere die Sharing-Angebote (PKW und Fahrrad) entgegen dem häufig formulierten Trend hin zu einer zunehmenden Sharing Economy offenbar noch nicht zu einer deutlichen Änderung der Mobilitätsstrukturen im Stadtverkehr geführt haben. Etwa 70 % Bild 1: Genutzte und nicht akzeptierte Verkehrsmittel im Stadtverkehr (% der Befragten). © exeo Strategic Consulting AG / Rogator AG (2018) 62 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt der Befragten in Deutschland und Österreich lehnen Angebote der Sharing Economy (CarSharing, BikeSharing) ab. Selbst in den Megacities Berlin und Wien ergibt sich kein komplett abweichendes Bild. Allerdings zeigen die Großstädte eine geringere Akzeptanz des PKW bzw. eine sehr hohe Akzeptanz des ÖPNV. Besonders stark ist die Akzeptanz des ÖPNV in Berlin. Während die Akzeptanz von BikeSharing (noch) begrenzt ist, spielt das Fahrrad als Verkehrsmittel im Stadtgebiet eine signifikante Rolle. In Deutschland geben 19 % der Befragten an, dass sie das eigene Fahrrad im Stadtverkehr nutzen. Relevanz der Fahrrad-Nutzung im Stadtverkehr Aus den Fragen zur Nutzung des eigenen Fahrrads sowie der Akzeptanz des Fahrrads als Verkehrsmittel in der Stadt, lassen sich drei Teilgruppen bilden (Bild 2): Die erste Gruppe (20 % der Befragten in der D-A-CH-Region) nutzt das Fahrrad bereits aktuell. Die zweite Gruppe (47 %) nutzt das Fahrrad zwar nicht, es kommt als Verkehrsmittel in der Stadt jedoch in Frage. Für die dritte Gruppe (33 %) ist das Fahrrad keine Option. Die Verteilung dieser Gruppen ist stark altersabhängig: Während 19 % in der Altersklasse unter 30 Jahren das Fahrrad ablehnen, sind dies bei den Senioren bereits 45 %. Diese Abhängigkeit zeigt sich in allen drei Zielregionen des D-A-CH-Gebiets. Allein aus der Größenordnung der Teilsegmente wird ersichtlich, welches Potenzial für eine stärkere Nutzung des Fahrrads besteht. Mobilisierbar ist dies, wenn bestehende Nutzer ihre Nutzungshäufigkeit erhöhen, oder Personen, die das Fahrrad im Stadtverkehr bisher nicht nutzen, zu einer Nutzung motiviert werden können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass rund 43 % aller Autofahrten in Städten weniger als fünf Kilometer weit sind - eine Distanz, die man mit öffentlichen Verkehrsmitteln und/ oder Fahrrad sehr gut zurücklegen kann (eigene Berechnung auf Basis MiD 2017). Insofern erscheint auch die in der Studie von Greenpeace genannte Größenordnung eines Modalanteils des Fahrrads von mehr als 30 % (Amsterdam oder Kopenhagen) nicht unerreichbar. Auch das Umweltbundesamt nennt entsprechende Größenordnungen und zählt ergänzend die Stadt Münster (Westfalen) auf, wo der Radverkehrsanteil mit 38 % bereits den MIV-Anteil (36 %) überholt hat [8]. Die Bedeutung des Fahrrads für die zukünftige Stadt- und Verkehrsplanung These 1: Primärer Ansatzpunkt ist die Nachfrageverlagerung vom PKW Eine Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie im Auftrag von Greenpeace stellt fest: „Soll die Verkehrswende in Stadtgebieten herbeigeführt werden, so ist dies gleichbedeutend mit einer Substitution von PKW-Fahrten durch alternative Verkehrsmittel“ [9]. Begründet wird dies unter anderem mit einer hohen Anzahl von Todesfällen, die, wie etwa das Bundesumweltamt annimmt, auf Stickstoffdioxid zurückzuführen sind, das zu einem großen Teil von Diesel-PKW verursacht wird [10]. Bild 2: Akzeptierte Verkehrsmittel im Stadtverkehr im D-A-CH-Gebiet (% der Befragten). © exeo Strategic Consulting AG / Rogator AG (2018) 63 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Die Rechtsprechung der deutschen Gerichte, die den Klagen der Deutschen Umwelthilfe in den letzten Monaten stattgegeben hat, erhöht den politischen und kommunalen Handlungsbedarf. Als Maßnahme zur gezielten Veränderung von Mobilitätsstrukturen reicht dies jedoch nicht aus - abgesehen davon ist die Akzeptanz der Bevölkerung und das Verständnis für die Maßnahmen bei den Verbrauchern sehr begrenzt [1]. Ein Verzicht auf das Auto setzt voraus, dass entsprechende Alternativen für die mobilen Menschen in der Stadt bestehen. Dabei werden häufig einerseits Busse und Bahnen oder aber der Ausbau von Sharing-Angeboten genannt. Gerade für kürzere Wege bietet sich das Fahrrad als echte Alternative zum PKW an. These 2: Shared Mobility-Konzepte mit begrenztem Hebel zur Lösung der Verkehrsprobleme in Städten Auch wenn die Sharing Mobility vielfältig als Megatrend dargestellt wird, so zeigt das tatsächliche Verbraucherverhalten in Deutschland bisher nur ein geringes, wenn auch wachsendes Interesse. Nicht erstaunlich ist, dass manche Beobachter denn auch eher von einem Hype sprechen [11] bzw. aufgrund der zu hohen Transaktionskosten bereits das Ende der Sharing Economy heraufbeschwören [12] (Bild-3). Auch die eigenen Studienergebnisse zeigen, dass die bisherige Nutzung von Car- und BikeSharing gering und das Wachstumspotenzial begrenzt ist. Ob private CarSharing-Angebote wie drivy oder GETAWAY gegebenenfalls aufgrund von Kostenvorteilen im Vergleich zu gewerblichen Anbietern zu einer spürbaren Ausweitung der Sharing Mobility führen können - insbesondere außerhalb der Groß- und Mittelstädte, also dort, wo stationsbasierte CarSharing-Anbieter nicht aktiv sind - bleibt abzuwarten. Voraussetzung ist, dass diese Anbieter eine kritische Masse von Angebot und Nachfrage erreichen und dass gleichzeitig die Prozesse stabilisiert werden müssen [13]. These 3: Die Fahrrad-Nutzung mit Relevanz in allen Mobilitätssegmenten Auf Basis der von den Befragten genutzten Verkehrsmittel im Stadtverkehr erfolgte eine Klassifizierung in drei Mobilitäts-Segmente (Bild 4). Etwa 56 % der mobilen Menschen im Stadtgebiet nutzen den PKW, verzichten dagegen auf die Nutzung von Bussen und Bahnen. In dieser Gruppe geben 12 % der Befragten an, auch das Fahrrad zu nutzen, 34 % lehnen das eigene Fahrrad als Verkehrsmittel im Stadtgebiet ab. Rund 15 % der mobilen Menschen im Stadtgebiet setzen sowohl auf den PKW als auch auf den ÖPNV. Dies kann der Fall sein, wenn zur regelmäßigen Mobilität (Weg zur Arbeit) der ÖPNV, für Einkäufe und Transportfahrten jedoch der PKW genutzt wird. In dieser Gruppe ist der Anteil der Fahrrad-Nutzer gegenüber der ersten Gruppe erhöht (26 %). Fast 30 % der Befragten verzichten auf den PKW als Verkehrsmittel im Stadtgebiet. Vorherrschende Verkehrsmittel sind in dieser Gruppe Bahnen (60 %) und Busse (51 %). Das eigene Fahrrad kommt auf einen Nutzeranteil von 31 % - gleichzeitig ist der Anteil der Fahrrad-Ablehner hier reduziert (27 %). Der Nutzeranteil für Shared Mobility-Angebote ist auch in diesem Segment nur sehr gering. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Nutzung des eigenen Fahrrads in der Stadt in allen drei Mobilitätsclustern eine signifikante Rolle spielt (wenn auch diese unterschiedlich groß ist). These 4: Handlungsdruck aus Sicht der Radfahrer besonders hoch Diejenigen Befragten, die in der Stadt mobil sind, wurden nach der subjektiven Belastung durch den Verkehr und konkret bezogen auf die Luftqualität befragt (Bild 5). Rund zwei Drittel der Menschen im Stadtverkehr fühlen sich durch den Stadtverkehr belastet, etwa 20 % sogar häufiger bzw. ständig [1]. Diese Ergebnisse unterscheiden sich in den betrachteten Ländern nur wenig. Bezüglich der subjektiven Belastung durch die Luftqualität ergibt sich Bild 3: BikeSharing in Frankfurt/ Main. © Krämer (2018) 64 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt ein ähnliches Bild, wenn auch auf einem leicht niedrigeren Niveau. So geben zum Beispiel annähernd die Hälfte der Nutzer im Stadtverkehr in Deutschland an, dass sie keine Belastung durch die Luftqualität in den Städten fühlen, während die korrespondierenden Werte für die Schweiz und Österreich niedriger liegen. In allen drei Ländern besteht eine statistisch hochsignifikante Abhängigkeit zwischen beiden Bewertungsdimensionen (Chi-Quadrat-Test, p < 0,001). Im Ergebnis zeigt sich, dass bezogen auf die Verkehrsproblematik und die Luftqualität bei rund zwei Dritteln der Verbraucher ein Problembewusstsein vorliegt. Zu erwarten ist, dass diese Verbraucher auch offen für Lösungsmöglichkeiten sind. In der Gruppe der Fahrradfahrer ist das Problembewusstsein vergleichsweise höher - und zwar sowohl was die Verkehrsbelastung als auch die Luftqualitäts-Problematik betrifft. These 5: Die Fahrrad-zentrierte Stadt als Vision Es klingt zunächst sinnvoll, die Verkehrsangebote ÖPNV, Fahrrad und Sharing-Angebote als gemeinsame Ziel-Verkehrsträger der Verkehrswende zu beschreiben. Das damit verbundene Risiko besteht allerdings darin, dass der Nutzung des privaten Fahrrads nicht der Stellenwert zukommt, der ihr angemessen ist. Öffentlichkeitswirksam lassen sich Konzepte zum BikeSharing als schnelle Erfolge verbuchen. Dabei darf bezweifelt werden, ob dies zu nachhaltig veränderten Mobilitätsstrukturen führt. Erfolgversprechender ist demgegenüber, das Fahrrad als Verkehrsträger der Zukunft in das politische und kommunale Leitbild aufzunehmen. Dies ist in Berlin mit dem Radgesetz (2016) erfolgt [14]. Bis dato wurden in Berlin 13 % aller Wege mit Fahrrädern zurückgelegt. Dieser Anteil soll bis 2025 steigen - innerhalb des S-Bahn-Rings auf 30 %, sonst auf 20 %. Es reicht dabei nicht, auf eine Renaissance des Fahrrads zu verweisen und damit die veränderte Wertschätzung in der Öffentlichkeit hervorzuheben [15]. Der Untersuchung „Mobilität in Deutschland“ zufolge kommt auf nahezu jeden Bewohner in Deutschland ein Fahrrad (2017 standen den bundesdeutschen Haushalten knapp 77 Millionen Fahrräder zur Verfügung, darunter vier Millionen Pedelecs). Nur etwa 22 % der deutschen Haushalte verfügen über kein Rad [3]. Eine stärkere Nutzung des Fahrrads ist daher in den meisten Fällen kein Verfügbarkeitsproblem. Allerdings ist der Ausbau der Fahrrad-Mobilität kein „Selbstläufer“. Ansatzpunkt muss sein, die Bedürfnisse der Radfahrer stärker in der Verkehrs- und Stadtplanung zu verankern. Dies sollte durch den Gedanken getragen sein, dass in fahrradorientierten Städten nicht nur die Anzahl der Todesfälle sinkt, sondern die Ausrichtung auf das Rad zu einem sich selbst verstärkenden Kreislauf führt, der die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer insgesamt verbessern kann [16]. Ausblick: Das Fahrrad als (ein) zentraler Baustein der Verkehrswende Das Fahrrad verfügt als Verkehrsmittel in Städten über erhebliche Effizienzvorteile in Hinblick auf Energieverbrauch, Emissionen (keine Schadstoffbelastung, geringe bis keine Lärmbelästigung), Flächenverbrauch und Fahrzeit (insbesondere auf kurzen Distanzen). Fahrräder werden die bisherige PKW- und ÖPNV-Mobilität in Städten nicht stärker ersetzen können, trotzdem erscheinen in Stadtgebieten Modalanteile von 30 % und mehr für das Fahrrad nicht unrealistisch - auch wenn die Rahmenbedingungen von Benchmarks wie Münster mit Bild 4: Nutzung und Nichtakzeptanz von Verkehrsmitteln im Stadtverkehr im D-A-CH-Gebiet (% der Befragten). © exeo Strategic Consulting AG / Rogator AG (2018) 65 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Prof. Dr. Andreas Krämer exeo Strategic Consulting AG, Bonn Professor für Pricing und Kundenwertmanagement / CRM an der University of Applied Sciences Europe, Fachbereich Wirtschaft, Iserlohn. Kontakt: andreas.kraemer@exeo-consulting.com Dr. Robert Bongaerts exeo Strategic Consulting AG, Bonn. Kontakt: robert.bongaerts@exeo-consulting.com einem Modalanteil von 38 % nicht grundsätzlich unterstellt werden können (Topographie, Wetter, saisonale Einflüsse, Anteil Studierende in der Bevölkerung etc.). Wie die empirischen Ergebnisse belegen, ist das Potenzial für eine ausgedehnte Nutzung der Radmobilität groß. Zu dessen Ausschöpfung bedarf es aber verbesserter Rahmenbedingungen und eines mittelfristigen Zielbildes. LITERATUR [1] Krämer, A., Bongaerts, R., Baake, J.-W.: Dieselfahrverbote in Großstädten. Hilft ein kostenloser ÖPNV? Rahmenbedingungen, Abhängigkeiten und die Perspektive der Menschen im Stadtverkehr. Der Nahverkehr, Jg. 36 (2018), Heft 10, S. 36-41. [2] Bracher, T.: Fahrrad- und Fußverkehr: Strukturen und Potentiale. Handbuch Verkehrspolitik (2014), S. 1-22. [3] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: Mobilität in Deutschland − MiD Ergebnisbericht (2018). Online verfügbar http: / / www.mobilitaet-in-deutschland.de/ pdf/ MiD2017_Ergebnisbericht. pdf. [4] Greenpeace: Radfahrende schützen - Klimaschutz stärken; Sichere und attraktive Wege für mehr Radverkehr in Städten (2018). Online verfügbar unter https: / / www.greenpeace.de/ sites/ www.greenpeace. de/ files/ publications/ mobilitaet-expertise-verkehrssicherheit.pdf. [5] Buehler, R., Pucher, J.: Cycling to work in 90 large American cities: new evidence on the role of bike paths and lanes. Transportation, 39 (2), 2012, S. 409-432. [6] Gehl, J.: Cities for people. Island press, 2013. [7] Krämer, A., Hercher, J.: Der Weg ist das Ziel - länderübergreifende Studie zu Reiseverhalten und -trends. Research & Results, Heft 5 (2014), S. 42-43. [8] Umweltbundesamt: Radverkehr. Online verfügbar https: / / www.umweltbundesamt.de/ themen/ verkehr-laerm/ nachhaltige-mobilitaet/ radverkehr#textpart-1 [9] Rudolph, F., Koska, T., Schneider, C.: Verkehrswende für Deutschland. Wuppertal Institut, Hamburg 2017. [10] Schneider, A., Cyrys, J., Breitner, S., Kraus, U., Peters, A., Diegmann, Volker., Neunhäuserer, L.: Reihe Umwelt & Gesundheit | 01/ 2018. Umweltbundesamt (Hrsg.) Ergebnisse der Studie zur Krankheitslast von NO 2 in der Außenluft, Dessau-Roßlau, 2018. [11] Witzke, S., Meier-Berberich, J.: ÖPNV und Carsharing: Ergänzung oder Substitution. Der Nahverkehr, Heft 4 (2015), S. 12-15. [12] Kowalsky, M.: Die Sharing Economy ist eine Blase. Online verfügbar unter https: / / www.bilanz.ch/ people/ die-sharing-economy-ist-eine-blase-761397 [13] Anonymus: Privates Carsharing - Gebremstes Vergnügen. Test 01/ 2015 S. 84-87. [14] Luedemann, M., Stroessenreuther, H.: Berlin dreht sich - vom Motto um Erfolg. Umweltpsychologie, 22 (1) 2018. [15] Canzler, W., Knie, A., Ruhrort, L., Scherf, C.: Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende: Soziologische Deutungen. transcript Verlag 2018. [16] Marshall, W. E., Garrick, N. W.: Evidence on why bikefriendly cities are safer for all road users. Environmental Practice, 13 (1), 2011, S. 16-27. Bild 5: Subjektive Belastung durch Verkehr bzw. Luftqualität in der Stadt (% der Nutzer Stadtverkehr). © exeo Strategic Consulting AG / Rogator AG (2018) AUTOREN 66 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Der Sommer 2018 war in Deutschland von anhaltender und außergewöhnlicher Trockenheit und Hitze geprägt. Laut Deutschem Wetterdienst hat sich die Zahl heißer Tage in den letzten 50 Jahren verdoppelt [1], mit eindeutigem Trend zu einem weiteren Anstieg in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. In der Medienwelt zirkulierte der Begriff Heißzeit, der kürzlich auch zum Wort des Jahres 2018 gekürt wurde. Allgemein sehen Klimaforscher einen Zusammenhang zwischen der Zunahme von Extremwetterereignissen und dem globalen Treibhausgaseffekt. Wir müssen davon ausgehen, dass die sogenannte Resilienz unserer Wirtschafts- und Versorgungssysteme in Zukunft häufiger und heftiger auf den Prüfstein gestellt wird. Verkehr intelligenter managen und das Klima schützen Mehr Mut und Entschlossenheit bei der Umsetzung von verkehrlichen Maßnahmen für die Stadt der Zukunft Mobilitätstrends, Innovationen, Verkehrsmanagement, Urbane Logistik, Mobilitätswende, Klimaschutz David Rüdiger, Alina Steindl, Daniela Kirsch, Arnd Bernsmann Bereits heute lebt ein Großteil der deutschen Bevölkerung in Städten. Durch den fortschreitenden Trend der Urbanisierung wird der Anteil der Stadtbevölkerung noch weiter ansteigen. Städte nehmen daher eine hervorgehobene Position für die Entwicklung der emissionsfreien Mobilität von morgen ein. Diese brauchen wir, um das globale Zwei-Grad-Ziel zu erreichen und die Klimafolgen in Deutschland auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Städte und Kommunen sind daher gezwungen, mehr stadt- und umweltverträgliche Maßnahmen in der urbanen Mobilität und Logistik voranzutreiben. Für den Klimaschutz in Deutschland ist es ein großes Problem, dass die Emissionen des Verkehrssektors in 2017 auf einen neuen Höchstwert von rund 171 Mio. t CO 2 angestiegen sind [2] - die Entwicklung geht in die falsche Richtung. Bisher getroffene Maßnahmen haben absolut gesehen keine großen Wirkungen erzielen können. Für 2030 ist ein Sektorziel von 95 Mio. t CO 2 -Äquivalent-Emissionen definiert [3]. Vereinfacht bedeutet dies: Es verbleiben nur noch rund 10 Jahre, um die CO 2 -Emissionen des Verkehrsbereichs zu halbieren. Ohne disruptive Änderungen wird dieses Ziel nicht zu erreichen sein. Ein Großteil der deutschen Bevölkerung lebt in Städten. Laut Analysen der Vereinten Nationen betrifft dies drei von vier Personen [4]. Stadt- und Raumforscher erkennen einen fortschreitenden Trend zur Urbanisierung, der Anteil der Stadtbevölkerung wird also noch weiter ansteigen - mittelfristig auf vier von fünf Personen [5]. Städte haben daher eine hervorgehobene Position für die Entwicklung einer zukünftigen emissionsfreien Mobilität. Mit anwendungsbezogener Forschung arbeiten Ingenieure, Verkehrswissenschaftler und Logistiker im Bereich Logistik, Verkehr und Umwelt des Fraunhofer IML an der Gestaltung dieses Entwicklungsprozesses. In enger Zusammenarbeit mit Städten, kommunalen Partnern sowie mit Partnern aus der Industrie werden neue Verkehrs- und Logistikkonzepte praxisnah entwickelt und erprobt. Für Bundes- und Landesministerien werden unter anderem Bild 1: Illustration zum Masterplan Green- City Mobility der Landeshauptstadt Düsseldorf, 2018. © Fraunhofer IML 67 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Beratungen zu Mobilitäts- und Kraftstoffstrategien durchgeführt und die CO 2 -Potenziale verkehrlicher Lösungen volkswirtschaftlich interpretiert. Für Städte und kommunale Partner werden beispielsweise strategische Masterpläne und integrierte Handlungskonzepte erarbeitet. Digitalisierung als Treiber alternativer und innovativer Mobilität Die Digitalisierung ist ein zentraler Treiber der Entwicklung neuer Mobilitäts- und Logistikangebote. Aufgrund des technologischen Fortschritts nehmen die Kosten, die mit der Erhebung, der Speicherung und der Verarbeitung von Daten verbunden sind, stetig ab. Gleichzeitig werden unsere Mobilfunknetze leistungsfähiger und bestehende Verkehrs- und Logistiksysteme werden in naher Zukunft von komplexen, cyber-physischen Systemen durchdrungen. Auf diesem Nährboden entstehen wiederum neue, sogenannte smarte Mobilitäts- und Logistikanwendungen, die Erleichterungen für Mobilitätsnachfrager versprechen. Vielerorts werden Mobilitätsplattformen für ein vernetztes und integriertes Mobilitätsangebot entwickelt. Neue Mobilitätsangebote, wie zum Beispiel On-Demand-Kleinbusse oder E-Scooter-Sharing- Systeme, können den klassischen ÖPNV ergänzen und die Attraktivität gegenüber der individuellen Mobilität mit dem eigenen PKW erhöhen. Der Zugang wird über eine zentrale Schnittstelle definiert; im Hintergrund laufen automatisierte Buchungs- und Abrechnungsprozesse (zum Beispiel mittels Blockchain-Technologien). Neue Forschungserkenntnisse legen nahe, dass es wichtig ist, die Plattformen umfassend zu definieren und auch das Thema der kollaborativen Mobilität (Fahrgemeinschaften) einzuplanen, um wirkungsvoll die Verkehrsbelastung zu reduzieren. Die Forscher des Fraunhofer IML beschäftigen sich auch mit der intelligenten Planung von öffentlicher Verkehrsleistung in Abhängigkeit von spontanen Nachfragen. Ein Beispiel sind hier Extremwetterlagen oder Großveranstaltungen, aus denen abweichende Bedarfe resultieren. Hier bedarf es einer größeren Angebotsflexibilität. Perspektivisch ist mit der Verbreitung von Mobilitätsplattformen - zum Beispiel als App-Anwendung auf dem Handy - auch eine verbesserte Verkehrsprognose und -steuerung möglich. Vorstellbar sind zum Beispiel weitestgehend automatisierte Analysen von anonymisierten Echtzeit-Mobilitätsdaten mit Methoden aus den Bereichen „Big Data“ und „Predictive Analytics“, die zum Beispiel mit Informationssystemen und Anzeigetafeln in den Städten direkt verknüpft sind. Einen „Urbanen Datenraum“ entstehen zu lassen, in dem für viele unterschiedliche Nutzer und Anwendungen Daten abrufbar sind, setzt allerdings auch eine Bereitschaft bei Nutzern voraus, ihre Mobilitätsdaten zum Zweck der verbesserten Verkehrsplanung in anonymisierter Form mit kommunalen Partnern zu teilen. Hier sind vor allem Datenschutzfragen zu klären. Auch im Bereich der urbanen Logistik hat die Digitalisierung bereits Einzug gehalten und innovative Lösungen hervorgebracht. Durch Informationen über die Empfänger wird unter anderem eine 100 %-Quote der Erstzustellung angestrebt. In der Paketbranche werden dazu Zustellorte und -zeiten flexibilisiert. Außerdem wächst das Angebot von Paketautomaten (zum Beispiel: Amazon Locker). Lokale Einzelhändler und Handelsunternehmen setzen auf digitale Einkaufserlebnisse und umweltfreundliche Zustellungen per Lastenrad (zum Beispiel: Kiezkaufhaus Wiesbaden). Auch das Thema des vernetzten und autonomen Fahrens ist wesentlich mit der Digitalisierung verbunden - unter anderem für die Fahrzeug-zu-Fahrzeug- und die Fahrzeug-zu-Infrastruktur-Kommunikation. Aus der Technologie des fahrerlosen Fahrens ergeben sich interessante neue Mobilitätslösungen und Geschäftsmodelle, die es frühzeitig zu integrieren gilt, um Wettbewerbsvorteile zu generieren. Autonome Klein-Shuttles als Zubringer zu größeren ÖPNV-Umsteigepunkten oder auch die Abkehr vom Privatbesitz zur gemeinschaftlichen Nutzung von autonomen Fahrzeugen sind hier Ansatzpunkte. Schon heute gibt es virtuelle Haltestellen und On- Demand-Kleinbus-Angebote als Vorboten für ein autonomes Verkehrsangebot (zum Beispiel: Moja, Ioki, Moovel, Berlkönig). Genehmigungsprozesse für neue Verkehrslösungen vereinfachen Entsprechend der gesetzten Klimaziele müssten die CO 2 -Emissionen des Verkehrs im Zeitraum 2020 bis 2030 nahezu halbiert werden. Dies wird mit Digitalisierungsmaßnahmen und der Entwicklung neuer Mobilitätsangeboten allein nicht zu erreichen sein. Als eine der Schlüsseltechnologien gilt hierbei die Elektromobilität. In Anbetracht der PKW-Zulassungszahlen des Kraftfahrtbundesamts nimmt diese allerdings nach wie vor ein Nischendasein gegenüber den klassischen Verbrennern ein. In 2018 waren rund 46,5 Mio. PKW in Deutschland registriert, davon 98 280 als Fahrzeuge mit batterieelektrischem oder mit Plug-in-Hybrid-Antrieb. Der relative Anteil liegt also nur bei 0,2 %, was auch damit zu tun hat, dass die Gesamtzahl zugelassener PKW in 68 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Deutschland seit 2010 um rund 5 Mio. PKW absolut zugenommen hat (vgl. Trend des steigenden Motorisierungsgrads in Deutschland) [6]. Auch im Bereich der Nutzfahrzeuge zeigt sich kein anderes Bild. In 2018 waren rund 3 Mio. Nutzfahrzeuge bzw. LKW in Deutschland registriert, davon ein Großteil in der Fahrzeugklasse bis 2 t Nutzlast (2,5 Mio. Fahrzeuge). Der Anteil der E-Fahrzeuge in diesem Teilsegment beträgt 0,4 %. Rund ein Drittel der E-Fahrzeuge sind StreetScooter. Verschiedene Hemmnisse stehen derzeit einer stärkeren Marktdurchdringung batterie- und brennstoffzellenelektrischer Fahrzeuge entgegen. Am Fraunhofer-Institut prüfen die Verkehrsforscher daher die Umsetzbarkeit neuer Lösungen, wie zum Beispiel die der Leise-Nacht-Logistik. Aktuell bedarf es weiterer Argumente und Anreize für Fahrzeughalter, um nicht nur im Idealfall ein gleichwertiges, sondern letztendlich ein höherwertiges Mobilitätsangebot zu erhalten. Gemeinsam mit der Lebensmittel-Handelskette REWE und der Stadt Köln wurde in einem fünfwöchigen Test unter Realbedingungen die Ver- und Entsorgung von Filialen mit rein-elektrischen LKW im Zeitfenster 22 bis 24 Uhr im Rahmen des Forschungsprojekts GeNaLog (Geräuscharme Nachtlogistik) getestet [7]. Aufgrund der positiven Ergebnisse würden Einzelhandelsunternehmen die Versorgung mit den geräuschärmeren Elektro-LKW in Tagesrandzeiten bzw. der Nacht gerne ausweiten. Es gibt jedoch genehmigungsrechtliche Schwierigkeiten aufgrund der bestehenden Verordnungs- und Gesetzeslage in Deutschland, die einer Verbreitung (noch) entgegenstehen. Hier setzt das Forscherteam auf die Entwicklung eines „Leise-Logistik“-Zertifikats nach niederländischem Vorbild (vgl. PIEK-Zertifikat). Aufteilung des Straßenraums überdenken und Parkraum aktiv managen Neben der zeitlichen Anreizsetzung sollten sich Verkehrs- und Stadtplaner auch mit der räumlichen Bevorzugung für E-Fahrzeuge stärker auseinandersetzen. Hierzu bedarf es unter anderem einer Überprüfung der bestehenden Aufteilung des Straßenraums und eines aktiveren Parkraummanagements, wie es in neu geplanten Quartieren und Stadtteilen zum Teil schon der Fall ist (zum Beispiel: Wien-Seestadt). Zu nennen sind auch Umweltspuren, die einen wirkungsvollen Beitrag zum Klimaschutz liefern können, wenn diese für Elektro-Fahrzeuge und Busse geplant und eingerichtet werden. Für Parkraum in urbanen Stadträumen könnten zum Beispiel Anlieferzonen standardmäßig eingerichtet und gleichmäßig entlang der Straßenzüge in Anwohnervierteln verteilt werden, um tagsüber ein Kurz-Parken von Liefer-, Handwerker- und Pflegefahrzeugen auf diesen Flächen zu gestatten - das Parken in der zweiten Reihe wird hierdurch ebenfalls reduziert. Nachts könnten diese Flächen dann für Elektrofahrzeuge freigegeben werden, um für sie einen Parkvorteil zu schaffen. Umsetzbar wäre dies zum Beispiel mit Verweis auf das Elektromobilitätsgesetz (EMoG). Aufgrund einer Vielzahl von Interessenskonflikten um das begrenzte Gut Straßenraum scheuen sich Städte und Kommunen aber, die innovativen Maßnahmen für den öffentlichen Raum konsequent umzusetzen. Integrierte Lösungen schaffen und alternative Mobilität stärker priorisieren Die Erreichbarkeit von innerstädtischen Zielen mit dem eigenen PKW ist in Deutschland nach wie vor eine Planungsprämisse. Parkgebühren werden beispielweise so abgestimmt, dass sie Tagesgäste und Touristen nicht zu sehr abschrecken. Zu groß ist die Sorge vor Umsatzeinbußen bei innerstädtischen Einzelhändlern - insbesondere in Zeiten wachsenden Online-Handels [8]. Alternative Park-and-Ride-Konzepte für Städte erhalten von kommunalen Entscheidern und Politikern im Allgemeinen relativ wenig Zustimmung. Sie haben jedoch hohes Potenzial, Verkehrsemissionen zu vermeiden (wie zum Beispiel in Straßburg). Weniger Staus sowie weniger Verkehrs- und Umweltbelastungen machen die Innenstädte attraktiver - für Besucher als auch für Anwohner. Dieser Effekt wird oftmals vergessen. Praxisbeispiel: Masterplan Green-City-Mobility Düsseldorf Wie viele andere Städte setzt sich auch Düsseldorf für saubere Luft, vor allen in den Innenstadtbereichen, ein. Insbesondere dort ist die NO 2 -Belastung zu hoch. Laut Pendleratlas NRW kommen jeden Tag bis zu 300 000 Pendler in die Stadt - 75 % davon mit dem eigenen PKW. Im Stadtgebiet stehen aber nur rund 1800 Park-and-Ride-Plätze zur Verfügung - ein deutliches Missverhältnis. Hier setzt der Düsseldorfer Masterplan für zukunftsweisende Mobilität an; er verbindet und erweitert die schon bestehenden Pläne verschiedener Ämter der Stadt zu einem visionären Gesamtbild. Die durch den Masterplan spezifizierten Maßnahmen sind vielfältig und greifen wie Zahnräder ineinander: Bessere Radwege und neue Radschnellwege, neue ÖPNV-Angebote wie Metro- und Schnellbusse, ergänzt um Sharing-Systeme für Fahrräder und Elektroroller, bieten Bürgern und Besuchern der Stadt zusammen mit der Entwicklung eines digitalen multimodalen Front-Ends eine echte 69 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Alternative zur Mobilität mit dem eigenen PKW. In Form von sieben, sogenannten User-Stories wurden die Planungsinhalte auch bildlich dargestellt. So werden der Dialog mit der Bevölkerung und die gemeinsame Entwicklung neuer Ideen einfacher. Denn letztendlich müssen die Angebote von den Bürgen angenommen werden. Zukunftsbilder zur Mobilität fördern dabei die Akzeptanz neuer Lösungen (Bild-1). In den nächsten zehn Jahren die Verkehrsemissionen halbieren Es ist ein sehr anspruchsvolles Ziel, die CO 2 -Emissionen des Verkehrs innerhalb der nächsten zehn Jahre zu halbieren, zumal der Trend noch gegenläufig ist. Es ist nun wichtig, dass Kommunen, kommunale Unternehmen und Industriepartner verstärkt kooperieren, ihre Mittel und Kräfte bündeln und die Mobilitätswende mit großer Entschlossenheit weiter umsetzen. Übergeordnet ist auch ein Umdenken bei der Bundesregierung und den Landesregierungen wichtig. Die Finanz- und Verkehrspolitik setzt der kommunalen Verkehrsentwicklung (noch) enge Entscheidungs- und Handlungsgrenzen. Statt einer Nutzerfinanzierung des ÖPNV sollte auch über die Einführung einer Nahverkehrsabgabe diskutiert werden. Hier kann Wien als Vorbild dienen: Mit einem Pauschalbeitrag von 2 EUR pro Mitarbeiter und Kalenderwoche müssen sich Unternehmen seit den 1970er Jahren an dem kontinuierlichen Ausbau des ÖPNV finanziell beteiligen (Dienstgeberabgabe). In diesem Fall werden Nutzer erheblich entlastet und zahlen für die ÖPNV-Nutzung bei einem Jahresabo nur 1 EUR pro Tag. Gleichzeitig weist das Angebot eine hohe Netzdichte und Taktung auf. Fazit Starke Verkehrs-, Umwelt- und Gesundheitsbelastungen gefährden Lebensraum, Klima und den Bürger selbst. Zwar stehen die Zeichen auf Wandel, trotzdem sehen sich Städte und Kommunen großen Herausforderungen gegenüber. Kleinteilige Ansätze gilt es zusammenzuführen und ein Gesamtkonzept für die Stadt der Zukunft zu erarbeiten. Die Digitalisierung und Entwicklung neuer Geschäftsmodelle sowie Lösungen rund um Mobilität und Verkehr, aber auch alternative Konzepte für Verkehrsräume stellen Chancen für den Klimaschutz dar. Übergeordnete Strategien und Zielvorstellungen treiben den Ansatz in die richtige Richtung. Nichtsdestotrotz benötigt es weiterhin Mut und Umsetzungswille, neue Wege bei der Verkehrsplanung zu gehen und der klassischen Individualmobilität entschlossener zu begegnen. LITERATUR [1] https: / / www.umweltbundesamt.de/ indikator-heisse-tage (UBA 2018). [2] https: / / www.bmu.de/ fileadmin/ Daten_BMU/ Download_ PDF/ Klimaschutz/ klimaschutz _ zahlen_ 2018 _ verkehr_bf.pdf (BMU 2018a). [3] https: / / www.bmu.de/ fileadmin/ Daten_BMU/ Download_ PDF/ Klimaschutz/ klimaschutz _ zahlen_ 2018 _ sektorenziele_bf.pdf (BMU 2018b). [4] h t t p s : / / d e . s t a t i s t a . c o m / s t a t i s t i k / d a t e n / s t u die/ 152879/ umfrage/ in-staedten-lebende-bevoelkerung-in-deutschland-und-weltweit/ (UN DESA 2014). [5] https: / / www.bertelsmann-stiftung.de/ de/ themen/ aktuelle-meldungen/ 2015/ juli/ demographischerwandel-verstaerkt-unterschiede-zwischen-stadtund-land/ (Bertelsmann 2015). [6] https: / / w w w.kba.de/ DE / Statistik / Fahrzeuge/ Be stand/ Umwelt/ b_umwelt_z.html? nn=663524 (KBA 2018). [7] https: / / www.genalog.de/ vorbereitungen-fuer-pilotphase-in-koeln-gestartet/ (GeNaLog 2017). [8] Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg 2016: Parkraumbewirtschaftung - Nutzen und Effekte (VMBW 2016). Dr.-Ing. David Rüdiger Senior Projektmanager Umwelt und Verkehr Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML Kontakt: david.ruediger@iml.fraunhofer.de Alina Steindl, M.Sc. Projektmanagerin Mobilität und Personenverkehr Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML Kontakt: alina.maria.steindl@prien.iml.fraunhofer.de Dipl.-Logist. Daniela Kirsch Teamleiterin Urbane Logistik und Elektromobilität Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML Kontakt: daniela.kirsch@iml.fraunhofer.de Dipl.-Ing. Arnd Bernsmann Sprecher Arbeitskreis Urbane Logistik Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML Kontakt: arnd.bernsmann@iml.fraunhofer.de AUTOR*INNEN 70 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt Staat und Digitalisierung Die Digitalisierung in Kommunen bildet keinen Selbstzweck, sie ist dennoch Akzelerator vieler Konzepte, mit denen Städte und ländliche Räume zukunftsfähig gestaltet werden können. Allerdings sind a- priori Anwendungsfelder zu identifizieren und deren Vernetzung zu forcieren. Dabei können interne Organisationsstrukturen der öffentlichen Verwaltung so umstrukturiert werden, dass sich Prozesse effizienter steuern lassen. Derartige Konzepte können die Teilhabe der Bürger an kurzfristigen Entscheidungen und langfristigen Entwicklungen verbessern. Die Öffentliche Hand hat hierbei die Rolle als Vermittler zwischen privaten und lokalen Unternehmen und den Bürgern wahrzunehmen. Die Gesellschaft unterliegt einem stetigen Wandel, der auch die Funktion des Staates betrifft. Für die sich wandelnden staatlichen Herausforderungen sind drei gesellschaftliche Entwicklungen entscheidend. Erstens führen die Digitalisierung und der damit zunehmende Grad der Vernetzung zu neuen technischen Anwendungen und zu neuen Ansprüchen an die Leistungen der öffentlichen Hand. Zweitens erhöht die fortschreitende Globalisierung den Wettbewerb auf den Güter- und Faktormärkten, wodurch auch staatlich determinierte Standortfaktoren an Relevanz gewinnen. Drittens bestimmen die demographische Entwicklung sowie Urbanisierungsprozesse die regionalen Bedürfnisse an den Staat und seine Kommunen maßgeblich. Die demographische Entwicklung stellt auf lokaler Ebene zunächst die wesentliche Größe dar, da sich die Nachfrage nach öffentlichen Leistungen aus der Gesamtbevölkerung sowie deren Alters- und Sozialstruktur ableitet. Ländliche Regionen sind mehrheitlich durch Überalterung und Schrumpfung gekennzeichnet, was die Nachfrage nach öffentlichen Dienstleistungen reduziert bzw. nach altersspezifischen Leistungen, wie Gesundheitsdiensten, Smarte Konzepte Herausforderungen einer nachhaltigen und effizienten kommunalen Entwicklung in Zeiten der Digitalisierung Smart City, Smart Country, Digitalisierung, Daseinsvorsorge Oliver Rottmann, Niklas Günther, Christoph Mengs Die Digitalisierung verändert die Gesellschaft und den Staat. Daraus ergeben sich Chancen und Risiken, die den ländlichen Raum und die großen Städte vor unterschiedliche Herausforderungen stellen. Im Rahmen der Daseinsvorsorge gilt es, die öffentlichen Leistungen zu erhalten bzw. bedarfsorientiert zu erbringen. Vor diesem Hintergrund wird seit einigen Jahren vermehrt über „smarte“ Konzepte diskutiert. Aus ökonomischer Perspektive steckt dahinter ein Effizienzgedanke, jedoch lassen sich weitere Funktionen (beispielsweise im Rahmen der Diskussion um gleichwertige Lebensverhältnisse) identifizieren. Der Beitrag grenzt die Begriffe „Smart City“ und „Smart Country“ voneinander ab und bettet diese in den Kontext der aktuellen Herausforderungen für die Daseinsvorsorge ein. © pixabay 71 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt verschiebt. Urbane Regionen sind mehrheitlich durch eine ausgeprägte ökonomische Prosperität als auch eine positive Bildungs- und Arbeitsmigration gekennzeichnet, sodass vielerorts ein Anpassungsbzw. Wachstumsdruck für die öffentlichen Leistungen entsteht. Zusammen mit den bereits genannten Faktoren, Digitalisierung und Globalisierung, erhöhen die demographischen Änderungen den Druck auf die öffentliche Leistungserbringung zunehmend. Kommunale Verwaltungen sind gefragt, neue Antworten zu finden. Da die Digitalisierung einen disruptiven Prozess darstellt, sind die Folgewirkungen für Staat und Gesellschaft a priori schwer abzuschätzen. Vor dem Hintergrund politisch festgelegter Ziele - hervorzuheben sind das Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) und das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse (Art. 72 GG) - obliegt es der öffentlichen Hand, öffentliche Leistungen zu gewährleisten (Daseinsvorsorge). Smarte Konzepte können diese Prozesse bereichern. Der institutionelle Rahmen für smarte Konzepte Die gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen schaffen allerdings nicht nur Herausforderungen, sondern bieten viele Chancen. Neue technische Anwendungen führen in vielen Bereichen zu Effizienzsteigerungen, die einen zusätzlichen Handlungsspielraum schaffen können. Im Zuge der Digitalisierung können bisherige öffentliche Leistungen als Teil von smarten Konzepten angepasst sowie durch neue Anwendungen ergänzt werden. Neben der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) spielt die Anwendung neuer Organisations- und Erbringungsformen eine tragende Rolle. Zugleich sind die Möglichkeiten der öffentlichen Hand zur Ausgestaltung der Leistungen sehr heterogen verteilt. Dies bildet sich auch in der Trennung zwischen dem urbanen und ländlichen Raum ab. Folglich sind die strategischen Konzepte, die sich dieser Herausforderungen annehmen, an die regionalen Besonderheiten anzupassen. Die entwickelten smarten Konzepte sind in der Regel nicht rechtskräftig, sondern bilden einen Zielkatalog, an dem sich das Verwaltungshandeln zu orientieren hat. Erst durch die konkrete Umsetzung von Einzelmaßnahmen entfalten die Konzepte ihre Wirkung. Seit den 1990er Jahren wird vor diesem Hintergrund vermehrt über den Begriff der „Smart City“ diskutiert. Der Begriff „smart“ wird dabei nicht monokausal verwendet, sondern zielt auf Inhalte wie intelligent, integrativ, vernetzt, systemübergreifend, effizient, effektiv, adaptiv und attraktiv. Im Laufe der Jahre entwickelten sich Smart Cities zum Symbol der IKT-basierten urbanen Transformation. Mehrheitlich wird unter dem Begriff verstanden, dass sich die politischen Entscheidungsträger von Städten bzw. Stadtverbänden in einem top-down geführten Prozess auf einen integrativen Verwaltungsansatz verständigen und sich darauf basierend auf strategische Ziele konzentrieren. Mit Stakeholdern aus Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft wird das Konzept gemeinsam entwickelt und umgesetzt. Häufig nimmt der Einsatz von IKT, im Sinne der Nutzung von digitalen Anwendungen und Infrastrukturen - wie Sensoren, Netzwerken und Plattformen - eine tragende Rolle ein. Ein weiterer Schwerpunkt von Smart City-Konzepten liegt im Ausbau der E-Governance, einer systematischen digitalisierten Verwaltungskommunikation, in internen Verwaltungsprozessen als auch gegenüber den Bürgern. In der in diesem Beitrag fokussierten ökonomischen Perspektive steht der Effizienzgedanke im Vordergrund. Kommunen haben einen substanziellen Einfluss auf ihre Umwelt. Mit dem Ausstoß von Treibhausgasemissionen tragen sie ihren Anteil zur Erderwärmung bei. Durch die Produktion und den Verbrauch von Gütern werden erhebliche Mengen Abfälle produziert, was mit negativen Externalitäten korrespondiert. Mit Skaleneffekten und Verbundvorteilen kann der knappen finanziellen Ausstattung vieler Kommunen begegnet werden. Stadt- und Regionalentwicklungskonzepte bieten sich vor diesem Hintergrund als Instrument an, um einen kompetitiven Vorteil zu konkurrierenden Städten bzw. Regionen zu erlangen. Dieser Vorteil im Standortwettbewerb bildet sich im Zufluss von mobilen Produktionsfaktoren wie Kapital und Humankapital ab. Auch Fragen der Resilienz von baulichen und infrastrukturellen Einrichtungen unterliegen dieser Diskussion. Smart City soll dabei helfen, die Störanfälligkeit zentraler Bereiche gegenüber äußeren Einflüssen wie dem Klimawandel zu senken. Die Vernetzung von Akteuren, Verwaltungseinheiten und Infrastrukturen steht im Vordergrund eines jeden Smart City-Konzeptes. Dabei umfasst die systemübergreifende Funktion die Überwindung von räumlich administrativen Grenzen und die Verknüpfung von getrennten Aufgabenfeldern innerhalb der Verwaltung. Speziell kann es beispielsweise zur Zielerreichung hilfreich sein, die interkommunalen Kooperationen zu intensivieren. Sie können zur Bündelung von Ressourcen beitragen oder den Austausch verstärken. Zudem können innerhalb einer Kommune durch die engere Vernetzung verschiedener Aufgabenfelder vergleichbare Erfolge erreicht werden. Eine derartige Vernetzung 72 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt ist durch Sektorkopplung möglich. Separat verwaltete Bereiche, wie zum Beispiel Energie und Wohnen, können durch eine gezielte Kopplung das städtische Leben komfortabler und effizienter gestalten. Die Sektorkopplung bietet gerade im Rahmen der städtischen Energiewende die Möglichkeit, Bereiche zu verbinden, die vorher von unterschiedlichen Energieträgern dominiert waren. Auf den ländlichen Raum hingegen lassen sich Smart-City-Konzepte nicht ohne Weiteres übertragen, zu verschieden sind die Herausforderungen im sozio-demographischen sowie infrastrukturellen Bereich. Der ländliche Raum wird deutlicher mit Schrumpfungstendenzen sowie dem Erhalt - nicht Ausbau - seiner Infrastrukturen konfrontiert als Städte. Zwar finden sich erste Entwürfe, wie zum Beispiel das „Smart Country-Konzept“ der Bertelsmann Stiftung oder das „Smart Rural Areas- Konzept“ des Fraunhofer Instituts. Dennoch fehlt wissenschaftliche Forschung, die smarte Konzepte für den ländlichen Raum zusammenfasst und den Untersuchungsgegenstand enger definiert. Smart Country-Konzepte können dieselben drei Schwerpunkte - digitale Technologie, Humankapital und Governance - enthalten. Auch die Ideen der Vernetzung, Partizipation sowie der langfristige und integrative Ansatz sind übertragbar. Allerdings steht die Aufrechterhaltung der Daseinsvorsorge im Mittelpunkt und weniger - wie in Smart City- Konzepten - das Schaffen neuer Anwendungsfelder für die lokale Wirtschaft und Verwaltung. Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist der politische Leitgedanke und bildet die normative Begründung, die bundesweit heterogen aufgestellten Regionen an ein gleichwertiges Niveau heranzuführen. Die größte Herausforderung im ländlichen Raum verursachen die anhaltende Abwanderung und die fortschreitende Überalterung der Bevölkerung. Vielerorts stehen bereits Gebäude leer und die Ortszentren verwaisen. Als Folge der sich abzeichnenden Entvölkerung, die mit einer fallende Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen korrespondiert, kommt es zu einer Reduktion des privatwirtschaftlichen Versorgungsangebots. Somit lastet ein Anpassungsdruck auf den öffentlichen Leistungen bei gleichzeitigem Auftreten von Kostenremanenzen. Derartige Kosten liegen vor, wenn öffentliche Strukturen oder Ausgaben nicht oder nur unzureichend an Veränderung der Nutzergruppen angepasst werden können bzw. wenn es bei einer rückläufigen Nutzerzahl zu steigenden Pro-Kopf- Kosten kommt. Da die öffentlichen Leistungen in zahlreichen Fällen mit einem relativ hohen Fixkostenanteil erbracht werden, werden sie relativ zur Bevölkerungsschrumpfung nicht in gleichem Maße bzw. nur mit zeitlicher Verzögerung gesenkt. Diese Remanenzen betreffen unter anderem öffentliche Leistungen, wie Kitas, Schulen, Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung. Der ländliche Raum besteht häufig aus kleinen Gemeinden, die nur eine geringe territoriale Ausdehnung und eine knappe personelle Ausstattung aufweisen. Deshalb kann den Landkreisen eine Schlüsselrolle zugewiesen werden. Die Landkreise besitzen eine angemessene Verwaltungsgröße und verfügen zugleich über eine strukturelle Homogenität, wodurch sie Anpassungen für die Region initiieren können, was beispielsweise in den kleineren und mittleren kreisangehörigen Gemeinden nur unter großem Aufwand möglich wäre. Zunächst erscheint es aufwendiger, sich in einem Zusammenschluss mehrerer Gebietskörperschaften zu einer administrativen Einheit im Planungs- und Umsetzungsprozess zu koordinieren. Die Digitalisierung kann hier Abhilfe in Form von neuen Kommunikationswegen und Möglichkeiten des Datenaustauschs schaffen. Ein weiteres substanzielles Problem stellt das fehlende Wissen dar, wie ein transformativer Prozess zu gestalten ist. Großstädte verfügen häufig über einen ausgeprägten Wissenschaftsstandort sowie starke Unternehmensansiedlungen. Öffentliche wie private Institutionen können die Planungs- und Umsetzungsprozesse vor Ort begleiten. Dies ist in peripheren ländlichen Regionen nicht immer gegeben. Daher erscheint eine externe Unterstützung, die beispielsweise von einer übergeordneten Ebene (Land, Bund, EU) getragen wird, wichtig, um ein Gelingen in der Breite zu ermöglichen. Während sich Smart City-Konzepte eher an der wissensbasierten Wirtschaft orientieren, bieten ländliche Regionen flächenintensiven Sektoren, wie der Landwirtschaft und Industrie, genügend Raum. Die technische Infrastruktur kann auch hier verbessert werden, mit Smart Grid-Anwendungen, die das Erkennen ineffizienter Verbräuche ermöglichen. Im Stromsektor kann eine digitale Vernetzung helfen, ein Lastenmanagement zu betreiben, wodurch sich die Umfang des Netzausbaus verringern lässt. In ländlichen Regionen können IKT-Anwendungen das statische Angebot des ÖPNV flexibilisieren und anpassen. Dabei sind zwei Bereiche wesentlich: der flächendeckende Breitbandausbau und die E-Governance. Im ländlichen Raum unterstützen digitale Technologien nicht nur die Modernisierung und Steuerung der Verwaltung sondern erleichtern auch deren Zugänglichkeit für die Bürger, etwa wenn für einfache Verwaltungsvorgänge lange Anfahrten vermieden 73 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Leben und arbeiten in der Stadt werden. Ähnliche Möglichkeiten bestehen im Gesundheitswesen, beispielsweise bei Routineuntersuchungen. Mithilfe der sogenannten Telemedizin können Kosten in der Gesundheitsprävention und bei leichten, ambulanten Eingriffen reduziert werden. Die Rolle des Staates ist hier eine völlig andere. Er tritt als Akteur auf, um bezahlbare öffentlich erbrachte Leistungen zu gewährleisten, die in urbanen Räumen von Privaten erbracht werden. Da die potenzielle Kundendichte in vielen ländlichen Regionen allerdings sehr gering ist, werden private Leistungen häufig unter der Maßgabe der Wirtschaftlichkeit nur bedingt bereitgestellt und die Anbieter privater Leistungen wandern von der Fläche in die Grund- und Mittelzentren der ländlichen Gebiete ab. Die sich abbildende Lücke in der Fläche gilt es seitens des Staates mit öffentlich bereitgestellten Leistungen zu schließen. Besonders wenn eine Wirtschaftlichkeitslücke im Rahmen einer Gewährleistungspflicht vorliegt, kann der Staat eingreifen. Ausblick Die Digitalisierung wird weiter voranschreiten. Im urbanen wie im ländlichen Raum stellen sich nicht nur neue Herausforderungen, sondern implizieren „smarte“ Entwicklungskonzepte für Bürger einen Anstieg der Lebensqualität, für Unternehmen auch neue Geschäftsfelder. Schlagwörter wie „Digitalkapitalismus verhindern“ des Deutschen Städte- und Gemeindebundes machen deutlich, welche Vorbehalte mit der Gigabitgesellschaft verbunden bzw. welche Gefahren gesehen werden. Häufig werden Bedenken geäußert, dass es zu einer Verstärkung des Wettbewerbs kommt, der nicht allen gesellschaftlichen Gruppen vergleichbare Vorteile bietet. Außerdem liegen für den Umgang mit Daten (Management, Sicherheit, Zugänglichkeit) in smarten Stadt- und Regionalkonzepten (noch) zahlreiche rechtliche Herausforderungen vor. Da urbane Räume weiter an Bevölkerung gewinnen, ergibt sich in den Städten ein Wachstumsdruck, der die Politik sowohl in sozialer, finanzieller und umweltpolitischer Hinsicht fordert. Die Bewältigung der daraus resultierenden Probleme, wie der Ausbau der öffentlichen Infrastruktur und der Erhalt der Standortattraktivität durch das Management der zunehmenden Flächennutzungskonflikte, bilden die Kernpunkte von Smart City-Strategien. Bei aller Notwendigkeit des (Standort-)Wettbewerbs darf dennoch die Nachhaltigkeitsperspektive nicht vernachlässigt werden. Zahlreiche Versuche, smarte Konzepte breitenwirksam im ländlichen Raum zu implementieren, scheiterten bisher. Die Hindernisse liegen in unterschiedlichen Interessen und Zeithorizonten. Besonders die mangelnde Kommunikation und fehlende Partizipationsmöglichkeiten erzeugen ein Akzeptanzproblem. Es bleibt zu betonen, dass ländliche Regionen ihre Standortvorteile in den jeweiligen Anwendungsfeldern suchen und hier die Potenziale ausschöpfen sollten. Beispielhaft ist die Erzeugung von erneuerbaren Energien, in dem der ländliche Raum weiterhin eine Vorreiterrolle übernehmen kann. Bild 1: Anwendungsfelder in Smart-City- und Smart-Country- Konzepten. © Uni-Leipzig: eigene Abbildung, in Anlehnung an Technische Universität Wien: European Smart Cities. Akteure Politik Bürger Verwaltung private und öffentliche Interessensvertretungen Forschung, Wissenschaft und Bildung Unternehmen Rahmenbedingungen Digitalisierung demograph. Wandel Globalisierung Energiewende gleichwertige Lebensverhältnisse Governance Wirtschaft Mobilität Umwelt Humankapital und soziales Kapial Lebensqualität Anwendungsfelder Dr. Oliver Rottmann Geschäftsführender Vorstand Kompetenzzentrum Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge e.V. an der Universität Leipzig Kontakt: rottmann@wifa.uni-leipzig.de Niklas Günther, B.Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter, KOMKIS · Kompetenzzentrum für kommunale Infrastruktur Sachsen der Universität Leipzig Kontakt: nguenther@wifa.uni-leipzig.de Christoph Mengs, B.Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter KOMKIS · Kompetenzzentrum für kommunale Infrastruktur Sachsen der Universität Leipzig Kontakt: mengs@wifa.uni-leipzig.de AUTOREN 74 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Fachliteratur Der Frankfurter Riedberg Stadtentwicklung für das 21. Jahrhundert Der neue Stadtteil Riedberg liegt im Nordwesten von Frankfurt am Main und ist mit einer Gesamtfläche von 267 Hektar derzeit eines der größten städtebaulichen Projekte Deutschlands. Im Jahr 1997 mit der Planung begonnen, soll das Neubaugebiet bis 2020 fertiggestellt sein und dann Wohnraum für 16 000 Einwohner bieten. Neben den Wohngebieten sind Flächen für naturwissenschaftliche Institute und Forschungseinrichtungen der Frankfurter Goethe-Universität vorgesehen. Mit einem zentralen Versorgungsbereich, sozialen Infrastruktureinrichtungen, wie Kitas und Schulen, sowie Grünzügen und integrierten Landschaftsflächen richtet sich das Angebot städtischen Wohnens am Rande Frankfurts vor allem an junge, gut situierte Familien. Das im Herbst 2018 im Jovis Verlag erschienene Buch „Der Frankfurter Riedberg - Stadtentwicklung für das 21. Jahrhundert“ zieht zum Ende der Bauphase ein Resümee über Anspruch und Wirklichkeit bei der städtebaulichen Umsetzung. Die Herausgeber Christian Kaufmann und Michael Peterek versammeln namhafte Autori*nnen, die in wissenschaftlichen und interdisziplinären Beiträgen die Frage aufwerfen, ob der Riedberg mit seinen Strukturen und städtebaulichen Maßnahmen Vorbildfunktion für zukünftige Stadterweiterungsprojekte haben kann. Einen eigenen Akzent setzt der künstlerische Beitrag des renommierten Fotografen Gerd Kittel, der die Entwicklung des Viertels und der Alltagsarchitekturen in einem Langzeitprojekt verfolgt hat. Kritisch betrachtet wird im Buch das Leitbild der Neunzigerjahre, mit dem ein neuer Stadtteil geschaffen wurde, der in seiner Bautypologie zwar nicht gerade spektakulär erscheint, dafür aber für eine „gute Normalität eines Städtebaues am Stadtrand“ steht. In einer Phase neuer Stadterweiterungen in letzter Zeit beispielsweise in Freiburg, Hamburg, München oder Wien steht auf dem Prüfstand, ob die Anforderungen, wie sie für den Riedberg formuliert wurden, heute aktuell noch Gültigkeit besitzen. So wird am Projekt Riedberg exemplarisch aufgezeigt, unter welchen Bedingungen Städtebau entsteht, welche Sachzwänge, Interessen und Konventionen zu den jeweiligen Ergebnissen führen oder welchen Einfluss Finanzierung und Projektmanagement auf derlei Großprojekte haben. Die Autor*innen beurteilen das neue Stadtgebiet nicht pauschal, sondern diskutieren differenziert über die Qualität der Architektur und des Städtebaus, erörtern Vor- und Nachteile suburbanen Lebens am Rande der Großstadt oder beschreiben auch subjektive Erfahrungen als betroffene Neubürger. Erkenntnisse für andere künftige städtebauliche Projekte werden anhand der Autorenbeiträge im Buch gewonnen und für acht verschiedene Gebiete zusammengefasst. Kriterien zur Bewertung städtebaulicher Qualität finden sich demnach  im instrumentellen Verfahren,  in den städtebaulichen Strukturen,  der architektonischen Qualität,  in Freiraumgestaltung, Umwelt und Ökologie,  in Infrastrukturen und Nutzungsvielfalt  in Wohnungsbau, Typologien und Trägerschaften für unterschiedliche Zielgruppen  in der Gestaltung der Mobilität  und in der Innovation. Der Frankfurter Riedberg wird im Ergebnis als funktionierender Stadtteil betrachtet, bei dessen Realisierung Normalität im Vordergrund stand und nicht allzu viel falsch gemacht wurde. Der Ökologie und Energieeffizienz wurde weitgehend Rechnung getragen, neuartige Mobilitätskonzepte jedoch fehlen gänzlich. Zudem mangelte aus Sicht der Verfasser an Mut zu innovativen Lösungen und zum Experimentellen. Als Anschauungsbeispiel könnte der Stadtteil Riedberg jedoch dienen, im Positiven wie im Negativen, um Anregungen für die Stadtgestaltung der Zukunft zu erhalten. CZ Titel. © jovis Stadtentwicklung für das 21. Jahrhundert Christian Kaufmann / Michael Peterek (Hrsg.) Mit Fotografien von Gerd Kittel Hardcover 21 x 28 cm 240 Seiten, 257 farb. Abb. Deutsch ISBN 978-3-86859-537-6 09.2018 35.00 EUR DER FRANKFURTER RIEDBERG 75 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Fachliteratur Die Herausgeberinnen verfolgen das Thema intensiv seit 2015 und haben 35 Autoren aus der Stadtforschung, die am Ende des Sammelbands alle mit ihren Wirkungsstätte und Arbeitsschwerpunkten vorgestellt werden, motiviert, ihre unterschiedlichen Bewertungen der „Smart City“ aufzuschreiben. Damit liegt ein umfassender Überblick über bisher zu wenig bekannte Aspekte der Digitalisierung vor. Wie ändern sich Städte durch den digitalisierten Alltag ihrer Bewohner? Welchen Einfluss haben die großen IT-Konzerne auf die Gestaltung und das Management von Städten? Wie verändert der Einsatz digitaler Technologien und Infrastrukturen die aktuelle Raumwahrnehmung, Raumproduktion und Raumnutzung in Städten? Welche sozialräumlichen und politischen Folgen hat das Smart City-Konzept und welche alternativen und emanzipativen Nutzungen digitaler Infrastrukturen jenseits ökonomischer Datenverwertungsinteressen existieren? Die im Sammelband enthaltenen 26 Fachaufsätze sind sechs Kapiteln zugeordnet: 1. Einleitung 2. Politiken der Raum- und Wissensproduktion in Smart Cities 3. Neue Verbindungen digitaler und anderer Technologien 4. Digitale Governance und Intervention 5. Digitale Urbanisierung und soziale Transformation. Die Herausgeberinnen fordern, (mindestens) zwischen den folgenden drei Strängen zu differenzieren: 1. Urbanisierung digitaler Technologien ... weil digitale Technologien Möglichkeiten bieten, scheinbar alle Interessen, die eben in Städten geballt auftreten, zu verwirklichen. 2. Digitalisierung in Städten ... weil insbesondere interaktive und Kommunikationstechnologien zur Demokratisierung in Städten beitragen. 3. Globalisierung von Smart- City-Visionen ... zugespitzt auf die Fragen: Wie verbinden sich mit der Materialisierung digitaler Infrastrukturen auch Formen eines postkolonialen Urbanismus und der Universalisierung der europäischen Stadt, und welche gesellschaftlichen Normierungen werden damit erzeugt und verbreitet? Die Herausgeberinnen erläutern weiter: „Die Beiträge in diesem Sammelband überprüfen einerseits dominante Narrative, Praktiken und Materialitäten der Smart City bezüglich ihrer sozialen und räumlichen Implikationen und fragen, welche Hinweise auf alternative Zukünfte von Digitalisierung in Städten eher marginalisiert sind. Alternative Ideen von Stadtzukunft, Digitalisierung und Gemeinschaft erscheinen uns mit Blick auf die Smart City- Debatte besonders wichtig, um den affirmativen Beiträgen, die sich an den Kontrollinteressen von globalen IT- Unternehmen und unternehmerischer Stadtpolitik orientieren, etwas entgegenzusetzen. Andererseits ist aber Digitalisierung nicht die einzige Dynamik, die beeinflusst, wie die Bedeutungen von Raum und Ort erfahren und belebt werden. Gleichzeitig verändern sich sehr viele andere Aspekte des städtischen Lebens: Digitalisierung trifft auf Bevölkerungswachstum in Städten, trifft auf Gentrifizierung und soziale Segregation, auf Privatisierung und Rekommunalisierung, trifft auf Klimawandel und veränderte Mobilitätsformen, trifft auf Rechtspopulismus und auf Rechtauf-Stadt-Bewegung, trifft auf alternde Stadtgesellschaft und auf neue Wohnformen.“ An praktischen Beispielen wird die Verknüpfung von Echtzeitdaten sowie die Nutzung von Geoinformationen im urbanen Alltag beschrieben und deren Beitrag für eine nachhaltige Stadtentwicklung, partizipative Demokratie und soziale Gerechtigkeit in Städten diskutiert. Die unterschiedlichen Dynamiken von Informations- und Kommunikations technologien werden kritisch in den Blick genommen, so unter anderem auch Google, Uber, bereits angewandte Gesundheitsprogramme und Telecare oder auch polizeiliche Prognoseprogramme. Die Kritik richtet sich aber weder gegen Digitalisierung per se noch geht Smart City Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten Renzension: Rainer R. Hamann © transcript Verlag, Bielefeld 76 1 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Fachliteratur Impressum Transforming Cities erscheint im 4. Jahrgang Herausgeber Eberhard Buhl, M.A. Verlag Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22, D-72270 Baiersbronn-Buhlbach Tel. +49 7449 91386.36 · Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de · www.trialog.de Redaktionsleitung Dipl.-Ing. arch. Christine Ziegler VDI (verantwortlich) Tel: +49 7449 91386.43 Fax: +49 7449 91386.37 christine.ziegler@transforming-cities.de Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 4 vom 01.01.2019 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 vertrieb@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist zum Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. 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Eine Publikation der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, Baiersbronn-Buhlbach ISSN 2366-7281 (print) www.trialog.de/ agb es um eine Warnung vor der Nutzung digitaler Technologien und Medien. Dennoch ist die digitale Transformation ein umkämpftes Terrain von IT-Unternehmen, Stadtregierungen und stadtpolitischen Bewegungen. Weshalb die Kritik auch auf die Stadtregierungen, die IT-Konzernen durch Public-Private-Partnerships Tür und Tor öffnen, zielt, ohne eine langfristige Strategie zur Vermeidung von Konflikten um das Eigentum und die Zugangsrechte zu erhobenen Daten und zur Vermeidung von Abhängigkeiten von Betriebssoftware (unter anderem durch die Verwendung proprietärer Software an Stelle von Systemen mit offenen Quellcodes; „Lock-In Effekt“) zu entwickeln. Dabei werden sehr wohl die Intransparenz der Datenverschränkung und die Sorge um die Informationsverarbeitung gesehen. Daneben werden Aktivitäten von Open Data-Initiativen beschrieben. Der Sammelband ist wissenschaftsbasiert geschrieben und deshalb nicht immer leicht zu lesen und für Laien verständlich. Es gibt nur wenige Abbildungen, aber je Artikel jede Menge Literaturquellen. Dennoch sollte er Pflichtlektüre für kommunale Entscheider und gesellschaftspolitische Gruppen aber auch für mit dem Thema technisch befasste Fachleute sein, trägt er doch dankenswerterweise kritische Gedanken zusammen, die der Allgemeinheit wohl bisher außerhalb von Fachzirkeln von Stadt- und Sozialforschung überwiegend verborgen geblieben sind. Dabei sollte auch der Umfang von 364 Seiten nicht abschrecken. Es wäre zu wünschen, wenn sich die hier zusammengestellten Erkenntnisse zeitnah verbreiten und in den praktischen Umgang mit der Digitalisierung Eingang finden würden. Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten Sybille Bauriedl / Anke Strüver (Hrsg.) transcript Verlag, Bielefeld 364 Seiten Print-ISBN: 978-3-8376-4336-7 PDF-ISBN: 978-3-8394-4336-1 EPUP-ISBN: 978-3-7328-4336-7 1. Auflage 2018 PRINT 29,99 EUR, PDF oder EPUP 26,99 EUR SMART CITY Dr.-Ing. Rainer R. Hamann Büro StadtVerkehr Planungsgesellschaft mbH & Co. KG Kontakt: raiham47@gmail.com AUTOR © pixabay Städte im Krisenmodus? Am 5. Juni 2019 erscheint die nächste Ausgabe von Transforming Cities mit dem Themenschwerpunkt  Der öffentliche Raum  Urbane Sicherheit  Schutzmechanismen  Planung und Entwicklung resilienter Städte  Kommunale Prävention  Bürgerbeteiligung  Sichere Kommunikation