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Transforming cities
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expert verlag Tübingen
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Digitalisierung und Vernetzung städtischer Infrastrukturen KritischeInfrastrukturen|Versorgungssicherheit|Krisenmanagement|Wasserwirtschaft4.0|Resilienz 4 · 2019 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Urbane Netze All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Baiersbronn | service@trialog.de 1 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, Längst ist Vernetzung mehr als ein Modewort für technikverliebte Nerds. Denn die Digitalisierung von Städten, die Verknüpfung bisher getrennter Infrastrukturen oder ihrer Teilsysteme sowie die Nutzbarmachung kommunaler Daten für neue Anwendungen könnte der Schlüssel zur Lösung vieler Probleme sein. Die Ziele sind weitgehend klar: Städte sollen effizienter im Umgang mit Ressourcen werden, weniger CO 2 ausstoßen, ihre Verkehrsprobleme lösen und gleichzeitig genügend Wohnraum und gute Lebensverhältnisse bieten. Ebenso gilt es, die Versorgung der Bevölkerung auf dem Land zu gewährleisten und so weitere Abwanderung in die Städte zu verhindern. Wie kann das gelingen? Digitale Technologien haben die Welt bereits grundlegend verändert. Kommunizieren, das Beschaffen von Informationen ist so einfach wie nie zuvor. Fast nichts, was sich nicht mit ein paar Klicks durchs Internet in Erfahrung bringen ließe. Mit wachsender Rechnerleistung lassen sich unvorstellbar große Datenmengen erheben und so aufbereiten, dass jederzeit schnelle Analysen und damit zügige Entscheidungen möglich sind - oder der Gewinn ganz neuer Erkenntnisse. Die Verknüpfung von Daten aus verschiedenen Bereichen, wie etwa aus Wetterbeobachtung und Abwasserbehandlung, Energieversorgung und Mobilität kann Synergien schaffen, die, einzeln betrachtet, schlecht möglich sind. Beispiel Hochwasserschutz: Ein Netz aus Wettersensoren, verteilt über ein ganzes Stadtgebiet, in Verbindung mit überregionalen Daten von Satelliten oder Radareinrichtungen, kann sehr genaue Prognosen zu aufkommenden Unwettern liefern. Orts- und zeitgenaue Vorhersagen, etwa lokaler Starkniederschläge, dienen der Frühwarnung, und Schutzmaßnahmen für gefährdete Gebäude und Infrastrukturen könnten ohne Verzögerung etwa mittels innovativer Aktortechnik automatisch anlaufen. Doch wie immer, wenn wir uns zu vollmundig Fortschritt und Wohlstand durch neue Technologien versprechen, ist Augenmaß geboten. Daten, der Rohstoff der digitalen Wirtschaft, eröffnen einerseits völlig neue Möglichkeiten des Wirtschaftens, aber andererseits wird auch immer deutlicher, dass unverantwortlicher Gebrauch von Daten der Gesellschaft erheblich schaden kann. In diesem Spannungsfeld widmen sich die Autoren dieser Ausgabe der Frage, was urbane Netze widerstandsfähig und sicher machen kann. Lesen Sie selbst. Ihre Christine Ziegler Redaktionsleitung „Transforming Cities“ Urbane Netze 2 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES INHALT 4 · 2019 FORUM Interview 4 Der Mensch im Zentrum Prof. Dr. Edy Portmann vom Human-IST Institute der Universität Fribourg, Schweiz, im Interview über eine den Menschen gemäße Digitalisierung. Veranstaltungen 8 Cybersicherheit ist wichtigstes Thema auf der E-world energy & water 2020 Branchentreff vom 11. bis 13. Februar 2020 in der Messe Essen 10 Energiegeladen in die Zukunft 34. Oldenburger Rohrleitungsforum Stadtgrün 12 Photovoltaik und Gebäudebegrünung Lösungen und Vorteile Nicole Pfoser Mobilität 14 E-Tretroller: Chance für die Verkehrswende? Verkehrsentlastung oder vorüber gehende Erscheinung? Wie lassen sich E-Scooter in bestehende Mobilitäts dienste integrieren? Rainer Hamann, Sebastian Schulz 19 Buchtipp Sören Groth: Von der automobilen zur multimodalen Gesellschaft? Multioptionalität als Voraussetzung für multimodales Verhalten Rainer Hamann 20 Intelligentes Laden muss zum Standard für Elektrofahrzeuge werden Robert Busch, Fanny Tausendteufel PRAXIS + PROJEKTE Mobilität 22 Zukunftstechnologie Power-to-Fuel CO 2 -Reduktion im Verkehr: Schweizer Unternehmen bauen rentable Tankstellen- Infrastruktur auf Basis von grünem Wasserstoff auf. Jonathan Paul Energie 26 Lokal erzeugte erneuerbare Energie Gemeinsame Ressource aus der Nachbarschaft - für die Nachbarschaft Esben Pejstrup, Alexandra Pfohl Kommunikation 29 Mobilfunk im Wandel Umfassende Konnektivität als Ziel Andreas H. Schmidt 32 Basis für die Stadt der Zukunft Die Technologie LoRaWAN als Funkstandard für smarte Services in der Stadt Bernhard Kirchmair Seite 14 Seite 22 Seite 41 © büro stadt-Verkehr, Rainer Hamann © Coop Genossenschaft © Bruno 3 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES INHALT 4 · 2019 34 Visualisierungen machen Stadtplanung verständlich Bürgerbeteiligung sichert Akzeptanz neuer Projekte Infrastruktur 36 Leitungsauskunft - Einblick in unterirdische Netze Digitale Transformation der unterirdischen Infrastruktur Lukas Ikenmeyer 38 Sind kommunale Glasfasernetze noch zeitgemäß? Manuel Hommel, Lukas Glaser, Wolfgang Weiß Stadtraum 41 Einzigartiges Bauvorhaben für innovatives Wohnen Überbauung einer Bahntrasse schafft Wohnraum in Köln Anton Bausinger, Raphael Hüffelmann THEMA Urbane Netze 46 Wie resilient ist die Stadt Zürich? Lilian Blaser, Markus Meile 50 Regelkreise der Cybersecurity Das Wechselspiel von Managementsystemen für Informationssicherheit und behördlicher Aufsicht Lars Schnieder 55 Breitbandausbau im ländlichen Raum Gestaltungserfordernisse und Ausbauhemmnisse Corinna Hilbig, Oliver Rottmann 60 Stromversorgung und urbanes Kontinuitätsmanagement Versorgungssicherheit 2.0 - Sadeeb Simon Ottenburger 64 Integriertes Krisenmanagement für KRITIS Der Ansatz der Interdependenzanalyse Axel Dierich, Katerina Tzavella, Sven Wurbs, Alexander Fekete 70 Digitalisierung als Herausforderung Die Vulnerabilität Kritischer Infrastrukturen in der Siedlungswasserwirtschaft Martin Zimmermann, Engelbert Schramm 75 Kopplung technischer Infrastruktursysteme am Beispiel Wasser Potenziale, Hemmnisse und deren Überwindung Thomas Hillenbrand, Claudia Hohmann, Susanne Bieker, Jutta Niederste-Hollenberg, Felix Tettenborn, Anna Grimm 80 Wärmenetze der 5. Generation Thermische Netze: Plattform für den Energieausgleich zwischen Gebäuden Peter Remmen, Tobias Blacha, Michael Mans, Marco Wirtz, Dirk Müller PRODUKTE + LÖSUNGEN Infrastruktur 84 Platzsparend reinigen und sedimentieren 84 Impressum Seite 50 Seite 55 © Piron Guillaume on Unsplash Seite 64 © Fekete © Horrido auf Pixabay 4 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Der Begriff der „Smart City“ hat sich fast schon etwas abgenutzt, steht er doch als Sammelbegriff für zahlreiche Konzepte, die Städte durch Digitalisierung fortschrittlicher machen wollen. Wie wichtig ist Digitalisierung als Schüssel zur intelligenten, zukunftsfähigen Stadt? Sie haben Recht, der Begriff Smart City ist in die Jahre gekommen. Wir am Human-IST Institut der Universität Freiburg (Schweiz), welches sich mit humanistischen Konzepten für die Digitalisierung unserer Lebenswelt beschäftigt, haben diesen Begriff um den vorangestellten Zusatz „human-centred“ erweitert. In unserer Vision steht klar der Bürger im Zentrum der Digitalisierung und somit auch der Smart City und nicht etwa Daten, maschinelles Lernen oder künstliche Intelligenz. Die Digitalisierung ist also ein Bestandteil des soziotechnischen Systems Stadt, aber die Bürger müssen in der Human Smart City als weiterer Bestandteil unbedingt mitadressiert werden. In einer komplexen Welt werden Daten als neuer Rohstoff gesehen. Macht nicht die schiere Menge an Informationen die Welt eher noch unübersichtlicher? Vor zehn Jahren fragt sich Chris Anderson in einem Artikel des Wired-Magazins, was denn die Wissenschaft von Google lernen könnte. Seiner Ansicht nach werden heute immer stärker große Datenmengen, sogenannte Big Data gefunden. Dabei wird die klassische Wissenschaft der sorgfältigen Analyse, Entwicklung von Modellen und Konzepten, deren Vorhersagen getestet und für die Entwicklung neuer Therapien und Strategien genutzt werden können, um Smart Tools und Devices zur Erfassung dieser Datenmengen erweitert. Im Gegensatz zu Anderson steht etwa die Sichtweise von Sydney Brenner. Er findet, dass wir heute in einem Datenmeer ertrinken, aber eigentlich nach einem theoretischen Rahmen dürsten, um dieses Meer auch nur annähernd zu verstehen. Ich kann nicht sagen, wer richtig und wer falsch liegt, die Antwort findet sich wohl irgendwo in der Mitte. Wir sollten meines Erachtens aber mancher Daten Lebendigkeit anerkennen, diese akzeptieren, wie sie ist, und für ihre Erklärung natürlichere Theorien finden, die Vielfalt und Komplexität auf unkompliziertere Art und Weise erklären können und so die Ganzheitlichkeit unserer Welt repräsentieren. Mit Algorithmen lassen sich aus großen Datenmengen Handlungsempfehlungen ableiten, Geräte oder ganze Systeme steuern - ein offenes Tor auch für Fehler oder Manipulation? Was Sie bereits angedeutet haben, gilt auch hier wieder: Daten sind das Rohöl unserer digitalen Wirtschaft. Und das führt nicht nur in der Smart City zu offenen Fragen, die wir bald lösen müssen. Heute sind wir sowie unser Verhalten immer mehr der Treibstoff des globalen Überwachungskapitalismus. Mit diesem Begriff beschreibt Shoshana Zuboff marktwirtschaftliche Systeme, die unsere abgeschöpften, persönlichen Daten dazu nutzen, Informationen über unsere Verhaltensweisen zu sammeln, zu analysieren und für Entscheidungsfindungen aufzubereiten, um daraus Verhaltensvorhersagen zu generieren und über deren Nutzung Gewinne zu erwirtschaften. Die Frage stellt sich also, was wir dagegen tun können. Ist möglicherweise Regulation dieses digitalen Wilden Westens eine Antwort? Ist es überhaupt möglich, für vielschichtige Probleme einen einzigen richtigen Lösungsweg zu programmieren? Eins oder Null? Ja oder Nein? Der vor zwei Jahren verstorbene Lotfi Zadeh, bei dem ich meine Zeit als Postdoktorand verbrachte, meinte, dass ein System, so komplex wie unsere Gesellschaft, nicht mit traditionellen, quantitativen und analytischen Techniken untersucht werden kann. Der Mensch im Zentrum Prof. Dr. Edy Portmann vom Human-IST Institute der Universität Fribourg, Schweiz, im Interview über eine den Menschen gemäße Digitalisierung. 5 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Sein Prinzip der Inkompatibilität besagt etwa, dass mit zunehmender Systemkomplexität unsere Fähigkeit, absolute, präzise und dennoch prägnante Aussagen über das Verhalten des Systems zu treffen, bis zu einem Grenzwert abnimmt, über den hinaus Präzision, Bedeutung und/ oder Relevanz zu sich gegenseitig ausschließenden Merkmalen werden. Nach Zadeh ist eine exakte, quantitative Analyse menschlicher Systeme also mit Vorsicht zu genießen - hohe Komplexität ist oft unvereinbar mit absoluter Ja-Nein-Präzision. Oder können Sie mir detailliert erklären, wie Ihr Gehirn denkt? Sind Algorithmen eigentlich nur so gut oder schlecht wie ihre Entwickler? Das ist eine schwierige Frage. Fest steht, dass viele unsere Systeme tendenziös sind: Haben Sie „falsche“ Freunde in Ihren sozialen Netzwerken, die etwa ihre Schulden nicht begleichen, dann lernen heutige Algorithmen der Überwachungskapitalisten, dass man auch Ihnen besser keinen Kredit geben sollte. Sie wechseln aus der Klasse kreditwürdiger in die Klasse kreditunwürdiger Kunden. Das angesprochene Binärproblem steckt also auch in den Algorithmen von Google, Facebook & Co. Woher kommt das? Meines Erachtens eben von den besagten Silicon Valley-Entwicklern. Kann man als zunehmend komplex wahrgenommene Prozesse mittels digitaler Technologien zumindest transparenter machen? Ja, das glaube ich. Im Smart Home-Bereich etwa können uns Sensoren Daten aus der Umgebung verfügbar machen. Kombiniert man diese Daten mit weiteren Informationsquellen, so können beispielsweise ökologisch nachhaltigere Lösungen entstehen. Temperatursensordaten können zum Beispiel mit Meteodaten kombiniert und zu Sprachinformationen aufbereitet werden, die wir etwa als optimierte Lüftungsanleitung per Kurzmitteilung, SMS oder Whatsapp erhalten. Meines Erachtens geht es in der intelligenten Stadt der Zukunft unter anderem auch darum, einen guten Mix aus analogen und digitalen Prozessen und Technologien zu gestalten, um die Smart City nachhaltiger zu machen und so ganz konkret unseren blauen Planeten vor der totalen Plünderung zu schützen. Die so entstehende Symbiose umschreibt Luciano Floridi etwa als unser digitales Habitat von Menschen und Maschinen. Reicht es, unsere Lebenswelt mathematisch zu beschreiben? Wo bleiben menschliche Gefühle und Empfindungen, Intuition, Kreativität und Neugier? Brian Uzzi, der sich in einem Aufsatz fragt, ob Maschinen uns je verstehen werden, verortet in unseren menschlichen Emotionen den integralen, essentiellen Bestandteil guter Entscheidungen. Die Forschung hat mittlerweile erkannt, dass die klassische Mathematik für die Beschreibung unserer Realität zu präzise ist. Wir Menschen konstruieren unsere Lebenswelten doch aus dem, was unser Gehirn aus unseren unzähligen Sinneseindrücken als relevant herausfiltert. Indem heutige Systeme aber gezielt das als relevant Vorgegebene suchen, funktionieren sie genau umgekehrt. Um das zu umgehen, entwickelte etwa Rolf Pfeifer die Theorie, dass Intelligenz einen Körper braucht, um mit der Umwelt zu interagieren. Sie pflichten mir sicher bei, dass ein System, welches nur etwas durch eine Kamera erkennen kann mit einem dahinter verborgenen Elektronengehirn, nicht wirklich intelligent ist. Wir Menschen brauchen die Sensormentalitäten unseres Körpers, die mit dem Gehirn korrespondieren. Ein Roomba-Roboter erkennt höchstens eine Tür - und das ist sein großes Problem. Er nimmt seine Umwelt nur durch ein winziges Guckloch wahr, wir aber spüren einen Apfel, riechen ihn, schmecken ihn. Der Apfel produziert in unserem Gehirn Stimulationen. Die Komplexität dieser Sensorik geht einvernehmlich mit der Komplexität unseres Gehirns einher. Um das zu erforschen, sollten wir als Metapher besser analoge, elektronische Organismen als Digitaltechnologie verwenden. Sind nicht mitunter gerade irrationale Handlungen oder skurrile Ideen Auslöser für neue (r)evolutionäre Entwicklungen? Das stimmt - wirklich revolutionäre Ideen sind oftmals irrational und mit herkömmlicher Technologie nicht imitier- oder vorhersagbar. Das erschwert auch Prognosen - wirklich disruptive Entwicklungen, wie etwa das Internet und, soviel ich weiß, GPS prognostizierte niemand. Niels Bohr soll mal während eines Seminars zur Quantenphysik gesagt haben, dass Prognosen schwierig seien - besonders wenn sie die Zukunft beträfen. Daran sollten wir uns halten. Ist es klug, Computern weitreichende Entscheidungen zu überlassen? Beispiel: Personalwesen, Finanzsystem, Sicherheit? Hier stellt sich dieselbe Frage, wie bei den befangenen Algorithmen. Heute wird uns wohl immer stärker bewusst, dass die zugrundeliegenden Computersysteme großmehrheitlich von einer kleinen Gruppe junger Männer aus dem Silicon Valley, die exklusive US-amerikanische Eliteuniversitäten absolviert haben, konzipiert wurden. Das kann zu 6 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Betriebsblindheit und Diskriminierung führen, denn Algorithmen sind, wie gesagt, nicht neutral - sie bauen auf Vorurteilen ihrer Entwickler auf und können diese noch verstärken. Darum braucht es für die Gestaltung von Smartness jeder Art einen transdisziplinären Einbezug aller. Steht zu befürchten, dass die Bürger die Hoheit über ihre Daten sowie über ihre Entscheidungsfreiheit verlieren? Wir haben diese Hoheit wegen den vermeintlichen Gratisangeboten von Google, Facebook & Co. bereits seit langem verloren. Aber langsam beginnen wir zu realisieren, dass unsere Daten wirklich das neue Öl sind, und wir durch deren unbedachte Weitergabe unseren künftigen wirtschaftlichen Wert, die Wirtschaftskraft, einfach so vergeben. Wir sind das, was die Überwachungskapitalisten in ihren Serverfarmen bewirtschaften. Immer mehr erkennen wir also das antihumanistische System, in dem wir diesen Kapitalisten fast alles im Austausch für fast nichts geben. Als eine mögliche Antwort darauf sehe ich Datenmediatoren, also so etwas wie eine digitale Netzwerkindustrie, wie sie beispielsweise Jaron Lanier vorschlägt. Diese ermöglichten uns, aus unseren, von Google, Facebook & Co. für ihr maschinelles Lernen eingesetzten Daten, in einem vermittelnden Datenmarktplatz von Nachfrage/ Angebot, Geld zu verdienen. In der Schweiz hat Bürgerbeteiligung eine lange Tradition. Wie können aus Ihrer Sicht Meinungsbildungsprozesse so gestaltet werden, dass Gesellschaften nicht polarisiert werden, sondern stattdessen zum Konsens und zu guten und akzeptablen Lösungen für alle finden? In vielen demokratischen Ländern befinden sich die politischen und gesellschaftlichen Normen eines respektvollen Zusammenlebens in der Krise: Es wird lieber schwarz und weiß gemalt als mit differenzierten Grautönen nach Kompromissen gesucht. Eine mögliche Lösung für eine smartere Gestaltung von Meinungsbildungs- und Abstimmungsprozessen sehe ich deshalb im Fuzzy-Voting: Darin gibt es meines Erachtens mehrere, gemeinsam auftretende, systemtheoretische Methoden, die sich herauskristallisieren. Einerseits spreche ich hier von soziokratischen Modellen, die Institute und Organisationen verschiedener Größe - von der Kleinfamilie, über ein Unternehmen bis hin zur Megacity - erlauben, Selbstorganisation umsetzen zu können. In diesen Soziokratien werden sodann neue Konsensmechanismen eingesetzt, die nicht nach einer Zu- oder Abstimmung, sondern nach Widerständen zwischen 0 und 1 fragen. Beide Methoden können mit heutiger Technologie einfach implementiert und getestet werden. Sie werden uns womöglich bald einmal erlauben, unsere Demokratie und unseren Föderalismus zu erweitern und so viel agiler zu machen. Was spricht für eine Digitalisierung von Bürgerabstimmungen? Die größte Hürde für E-Voting-Systeme sehe ich heute im Schutz und in der Garantie der Unversehrtheit dieser Systeme. E-Voting ermöglicht es uns Bürgern, elektronisch abzustimmen und zu wählen. Die Stimmabgabe erfolgt dabei per Computer, Smartphone und/ oder Tablet. So nutzen wir also die Chancen der Digitalisierung, um unser Leben zu vereinfachen. Bestmöglich geschützte Systeme werden uns, wie ich bereits andeutete, wohl dereinst eine viel agilere Demokratie ermöglichen. Gepaart mit Ideen zur Soziokratie und zum systemischem Konsensieren wird unsere Wirtschaft, Politik und Gesellschaft dadurch mehr Zeit sowie Selbst- und Mitbestimmung erhalten. Dank solchen E-Voting-Systemen 2.0 werden wir alle Access zu Abstimmungen und Wahlen erhalten und es werden alle mit diesen Systemen auch absolut gleichbehandelt. Ich spreche hier etwa von körperlich und geistig beeinträchtigten oder im Ausland lebenden Bürgern, die heutige Systeme leider noch allzu oft ausschließen. Für Internet und digitale Kommunikation werden riesige Rechenzentren gebraucht, die mit gewaltigen Energiemengen betrieben werden. Ist der Stromverbrauch für Smart Communities in Smart Cities also alles andere als smart? Big Data, maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz werden heute, wie bereits gesagt, oft mit der Ölindustrie verglichen. Die Metapher reicht leider sehr weit, denn wie fossile Brennstoffe hat beispielsweise der hochgejubelte Deep-Learning- Prozess auch überproportionale Auswirkungen auf unsere Umwelt: Forscher der University of Massachusetts fanden nämlich heraus, dass solche Prozesse fast fünfmal soviele Emissionen wie ein Auto verursachen - bezogen auf dessen gesamte Lebensdauer, inklusive Herstellung. Wie wollen wir damit nachhaltig umgehen? In Anbetracht der schlechten Ökobilanz sollten wir uns also überlegen, künftige Entwicklungen an elektronischen Organismen auszurichten, also unsere Digitaltechnologie mit biologieinspirierten Modellen zu erweitern. Als Vorbild könnte wiederum unser Gehirn dienen: Dessen analoge Struktur kommt nämlich mit einer Leistung von 20 Watt aus, während Supercomputer, die unsere heutige Digitaltechnologie anheizen, 7 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES das Tausendfache an Energie brauchen. Digitalisierung könnte in Zukunft also bedeuten, dass wir Smartphones, Häuser, Autos, Städte, Unternehmen, Verwaltungen und Verkehrssysteme in Organismen verwandeln. Aber dazu müssten wir die offenen, kulturellen Klüfte zwischen den verschiedenen Forschungsdisziplinen überwinden und diese zu einem konzeptuellen Ganzen, einer Einheit verschmelzen. Welche Disziplinen neben der Informatik müssten für eine „humane“ Digitaltechnologie zusammenwirken? Philosophie? Psychologie? ...? Wie bereits gesagt, müssen wir, um zu einer humaneren Digitaltechnologie zu kommen, kulturelle Gräben überwinden. Laut Christoph von der Malsburg sind möglicherweise die notwendigen Ideen längst in Disziplinen wie Biologie, Informatik, Linguistik, Philosophie, Physik sowie Psychologie entstanden, müssen aber zur besagten Einheit verschmolzen werden. In diesen Disziplinen beschäftigt man sich nämlich unter anderem mit für elektronische Organismen wichtigen Themen wie Emergenz, Erkennung durch Komponenten, Gestaltphänomen, indirekte Algorithmen, Kompositionalität, neuromorphe Informationssysteme, schemabasiertem Verständnis sowie unscharfer, biomimetischer Mathematik. Glauben Sie, dass der Grundgedanke zu Smart Cities, mittels Technologie bessere Lebenswelten zu schaffen und gleichzeitig einen Beitrag zum Umwelt- und Klimaschutz zu leisten, schlussendlich umgesetzt werden kann? Diesen Sommer verbrachte ich in Ecuador, wo ich das Sumak Kawsay-Prinzip mit dem heimlichen Hintergedanken einer Übertragung in unsere Smart Cities erforschte. Als zentrales Prinzip einer indigenen Denkweise, die Anknüpfungspunkte zu unserem westlichen Modell einer nachhaltigen Entwicklung hat, kennzeichnet dieses nämlich einen suffizienteren Weg zwischen kalifornischem Überwachungskapitalismus und chinesischem Sozialkreditsystem. Sumak Kawsay zielt, vereinfacht dargestellt, auf materielle, soziale und spirituelle Zufriedenheit aller Mitglieder einer Gemeinschaft, jedoch nicht auf Kosten anderer und nicht auf Kosten der natürlichen Lebensgrundlagen. Das Prinzip kann, wie es in der ecuadorianischen Verfassung heißt, als Zusammenleben in Vielfalt und Harmonie mit der Natur interpretiert werden. Wenn es uns gelingt, unser binäres Denken zu einem Denken in Organismen weiterzuentwickeln, so glaube ich, sollte diese indigene Denkweise auch in unseren Städten umgesetzt werden können. Maßgeschneidertes Energiedatenmanagement Flexible Visualisierung und Bedienung der Wasserversorgung Steuerung und Überwachung des öffentlichen Nahverkehrs Gebäudeautomation www.copadata.com/ smartcity Mehr Infos? Schreiben Sie an: smartcity@copadata.com Realisieren Sie Ihre Smart City mit der Softwareplattform zenon Make your life easier. 11.-13.2.2020 Stand 2-104 ESSEN / GERMANY www.e-world-essen.com besuchen sie uns: : 8 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen Hackerangriffe, Manipulationen, Viren, Malware, menschliches Versagen - die Liste potenzieller Sicherheitsrisiken für digitale Systeme ist lang. Besonders dramatisch können die Auswirkungen bei einem Angriff auf kritische Infrastrukturen wie das Gesundheitssystem, Transportinfrastrukturen oder die Wasser- und Energieversorgung sein. Die Folgen eines flächendeckenden Blackouts waren Mitte Juni in Argentinien und Uruguay zu beobachten: liegen gebliebene Züge, Verkehrschaos, ein Zusammenbruch des öffentlichen Lebens, Krankenhäuser und Flughäfen wurden mit Notstrom versorgt. Erhöhte gesetzliche Anforderungen für kritische Infrastrukturen Natürliche Faktoren und technische Mängel können nie ganz ausgeschlossen werden, doch um einem solchen Szenario aufgrund von Hackerangriffen vorzubeugen, gelten für den Energiesektor mit dem IT- Sicherheitsgesetz verschärfte Anforderungen. „Die gesetzlich gemäß dem ‚Stand der Technik‘ geforderte Cyber-Sicherheit setzt voraus, entsprechende Maßnahmen als intrinsisch motivierten Prozess umzusetzen. Auch das europäische Recht sieht mit der EU NIS-RL Schutzanforderungen für wesentliche Dienste vor, und auch auf internationaler Ebene gelten für kritische Infrastrukturen wie Energieunternehmen erhöhte gesetzliche Anforderungen zur Cyber-Sicherheit“, sagt Dr. Dennis-Kenji Kipker, Energierechtsexperte der Universität Bremen. IT-Sicherheit ganzheitlich denken Initiativen wie das Cyberabwehr-Trainingszentrum, das der Essener Energiekonzern Innogy SE vor Kurzem eröffnete, verdeutlichen die zunehmende Bedeutung des Themas für die gesamte Branche. Vor allem Energieversorger und Netzbetreiber müssen ein umfassendes Verständnis von Cybersecurity im Cybersicherheit ist wichtigstes Thema auf der E-world energy & water 2020 Branchentreff vom 11. bis 13. Februar 2020 in der Messe Essen © E-world, Messe Essen 9 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen Know-how und dem Neuesten aus der Rohrleitungswelt. Institut für Rohrleitungsbau an der Fachhochschule Oldenburg e.V. Ofener Straße 18 / 26121 Oldenburg Frau Ina Kleist Tel.: +49 (0) 441 361039-0 / Fax: +49 (0) 441 361039-10 E-mail: Kleist@iro-online.de / www.iro-online.de über 3.000 Besucher aus Versorgungswirtschaft, Behörden, Ingenieurbüros, Bauunternehmen und Rohr- und Zubehörherstellern über 350 internationale Aussteller mit dem Neues- 34. Oldenburger Rohrleitungsforum 13. / 14. Februar 2020 Anmeldungen und weitere Informationen: Rohre und Kabel - Leitungen für eine moderne Infrastruktur Forum Forum Versorgungsnetz entwickeln und ihre Mitarbeiter in puncto IT-Sicherheit von Strominfrastrukturen schulen. Das ist Grundvoraussetzung für den Umbau und die Weiterentwicklung unserer Energiebereitstellung und -versorgung, besonders in Hinblick auf die Erneuerbaren. Diesen Ansatz begrüßt Klaus Mochalski, CEO der Rhebo GmbH mit langjähriger Präsenz auf der E-world energy & water: „Eine moderne Stromversorgung benötigt ein flächendeckendes Sicherheitskonzept, das Manipulationsversuche und technische Störungen innerhalb der Netzleittechnik lückenlos aufdeckt, bevor es zu Störungen kommt.“ Wichtig sei dabei eine ganzheitliche, ausgereifte Defense-in-Depth-Strategie: „Neben Schulungen unter realen Bedingungen, Netzwerksegmentierung und Perimetersicherung steht ein kontinuierliches Netzwerkmonitoring mit Anomalieerkennung im Mittelpunkt. Das Monitoring erkennt und meldet auch unbekannte Angriffsvektoren und versteckte Gefährdungen in der Netzleittechnik und steigert so nachhaltig die Cybersicherheit und Versorgungsstabilität.“ Mehr als Technologie Auch international ist sich die Branche einig, dass das gesamte Energiesystem und nicht nur einzelne Elemente auf die neuen Herausforderungen angepasst werden muss. In seinem Vortrag auf dem Smart Tech Forum der E-world 2019 plädierte Yuval Porat, Gründer und CEO der israelischen Firma KAZUAR ebenfalls für einen holistischen Ansatz bei der Bekämpfung von IT-Sicherheitslücken des Stromnetzes. Er forderte nichts anderes als einen Paradigmenwechsel: Sensibelste Daten müssten noch stärker geschützt, Hard- und Software neu designt und nicht zuletzt der Faktor Mensch stärker mitgedacht werden. Nur so könne ein umfassender Schutz kritischer Infrastruktur auch zukünftig gewährleistet werden. Wie bei Cybersecurity nicht länger nur die Technologie im Mittelpunkt steht, sondern auch Menschen und Unternehmen mitgedacht werden, wird auf der E-world 2020 diskutiert werden. Wie auch schon in diesem Jahr, werden wieder zahlreiche Aussteller aus verschiedensten Bereichen der Branche ihre Lösungen an den Ständen und im Vortragsprogramm der Messe präsentieren. Weitere Informationen: www.e-world-essen.com E-world energy & water 10 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen Für Prof. Dipl-Ing. Thomas Wegener, Vorstandsmitglied des Instituts für Rohrleitungsbau an der Fachhochschule Oldenburg e. V., Geschäftsführer der iro GmbH Oldenburg und Vizepräsident der Jade Hochschule Wilhelmshaven/ Oldenburg/ Elsfleth, ist das Motto des 34. Oldenburger Rohrleitungsforums „Rohre und Kabel - Leitungen für eine moderne Infrastruktur“ angesichts der Energiewende nur konsequent: „Die derzeitigen Veränderungen in der Energiewelt sind rasant. Uns ist wichtig, neue Aufgaben und Herausforderungen, die sich daraus auch für den Rohrleitungsbau ergeben, aufzugreifen und zu diskutieren.“ Erstmals wird daher das Thema Kabelleitungsbau, das außer dem Breitbandausbau vor allem auch die geplanten Stromtrassen von Nordnach Süddeutschland berücksichtigt, in den Mittelpunkt der Veranstaltung gestellt. Doch nicht nur die Frage, wie der aus Windkraft an den Küsten gewonnene Strom über weite Strecken in die Ballungs- und Industriezentren in Deutschland transportiert wird, ist Bestandteil der insgesamt fünf Vortragsreihen. Neben den Themen Rohrwerkstoffe, Verlegeverfahren und Digitalisierung widmet sich eine weitere Vortragsreihe dem Energieträger Wasserstoff. „Das zeigt, welche Bedeutung wir der Wasserstofftechnologie in Verbindung mit der klassischen Erdgasversorgung beimessen. An einem Ausbau der Gasnetze wird kein Weg vorbeiführen“, betont Wegener. Schlüsselenergieträger Wasserstoff Regenerativ erzeugter Wasserstoff gilt als Schlüsselenergieträger, um die Klimaziele zu erreichen. Denn die durch Sonnen- und Windkraft gewonnene Energie unterliegt starken Schwankungen, die eine Speicherlösung erforderlich machen, um eine zuverlässige Energieversorgung zum Beispiel auch in windstillen Dunkelzeiten sicherzustellen. Derzeit beschäftigen sich zahlreiche Studien und Projekte mit der Nutzung von Wasserstoff: Ab 2020 wird der Energiepark Bad Lauchstädt als Reallabor die Herstellung per Großelektrolyse, den Transport durch umgewidmete Erdgaspipelines und den wirtschaftlichen Einsatz im industriellen Maßstab erproben. Für die Zwischenspeicherung soll dabei eine unterirdische Salzkaverne dienen. Weltweit wäre das die erste Kaverne, die mit Hilfe von erneuerbarem Strom gewonnenen Wasserstoff einspeichert. Auch mit Blick auf den Verkehrssektor ist Wasserstoff ein Hoffnungsträger. Bereits seit September 2018 sind im Elbe-Weser-Netz in Niedersachsen zwei Wasserstoffzüge im regelmäßigen Fahrgasteinsatz; auch in Hessen sollen bald Coradia iLint-Züge in Betrieb gehen. Im Gegensatz zu Dieselzügen fahren sie emissionsfrei, denn Brennstoffzellen an Bord erzeugen durch die Reaktion von Wasserstoff mit Sauerstoff aus der Umgebungsluft die für den Antrieb erforderliche elektrische Energie. Beim Oldenburger Rohrleitungsforum erhalten Teilnehmer Einblicke in aktuelle Studien zur Zukunft der Gasinfrastruktur mit Wasserstoff und werden mit Strategien zur Wasserstoffeinspeisung in das Erdgasnetz sowie mit Voraussetzungen und Sicherheitsfragen bei Wasserstoff in Hochdruckleitungen konfrontiert. Wissenschaft und Praxis Die Tagung mit Fachausstellung versteht sich als Plattform für Information und Kommunikation und bietet den Besuchern ausreichend Möglichkeiten zu Diskussionen über neue Trends und aktuelle Projekte. Den Auftakt für die Veranstaltung bildet wie schon in den Vorjahren eine feierliche Eröffnung Energiegeladen in die Zukunft 34. Oldenburger Rohrleitungsforum Es ist eine gewaltige Aufgabe, die sich Deutschland mit der Energiewende gestellt hat. Angesichts einer verstärkten Nutzung regenerativer Energien anstelle von Kohle und Nuklearenergie bedeutet sie auch eine Chance für die Rohrleitungsbranche: Die Integration des Energieträgers Wasserstoff in die Gasinfrastruktur und die geplanten Höchstspannungs-Erdkabeltrassen vom Norden in den Süden der Republik machen das Knowhow des klassischen Rohrleitungsbaus erforderlich. Das 34. Oldenburger Rohrleitungsforum vom 12. bis 14. Februar 2020 setzt sich daher unter dem Motto „Rohre und Kabel - Leitungen für eine moderne Infrastruktur“ mit den drängenden Zukunftsthemen auseinander. Coradia iLint für emissionsfreien Schienenverkehr auf nicht-elektrifizierten Strecken: In Brennstoffzellen wird durch die Reaktion von Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasserdampf und Wasser elektrische Energie erzeugt. © Alstom 11 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen im Sitzungssaal des ehemaligen Landtags am 12. Februar. Mit seinem Impulsvortrag „Zusammenspiel von innovativer Hochschule und regionaler Entwicklung“ will der niedersächsische Minister für Wissenschaft und Kultur, Björn Thümler, dabei für einen fruchtbaren Austausch zwischen Wissenschaft und Wirtschaft werben - und könnte damit wohl kaum treffender auf die Veranstaltung einstimmen: Schließlich bilden aktuelle Forschungsergebnisse, Innovationen und Erfahrungen aus der Praxis die Grundlage für die Fachreferate. „Der Widerstand wächst - kann man überhaupt noch Leitungen bauen? “ - unter dieser provokanten Fragestellung startet die „Diskussion im Café“ am Veranstaltungsdonnerstag. Angesichts der vehementen Proteste, die die derzeitigen Planungen zu den Stromtrassen begleiten, die aber auch bei anderen Projekten wie zum Beispiel Stuttgart 21 laut geworden sind, können Teilnehmer erörtern, ob eine zeitnahe und budgetkonforme Realisierung von Bauvorhaben heutzutage noch möglich ist. Ein weiterer Höhepunkt des 34. Oldenburger Rohrleitungsforums ist der „Ollnburger Gröönkohlabend“ in der Weser-Ems-Halle am Donnerstag. Künftige Aufgaben und Herausforderungen im Blick Das breit gefächerte Veranstaltungsprogramm mit seinen aktuellen Themen zeigt, dass das Oldenburger Rohrleitungsforum den Blick fest auf künftige Aufgaben und Herausforderungen der Branche richtet. Damit unterstreicht es auch den Anspruch des vor zwei Jahren ins Leben gerufenen Strategieprozesses, der das Institut für Rohrleitungsbau an der Fachhochschule Oldenburg e.V. (iro) unter der Bezeichnung „iro 2030“ zukunftsfähig machen will. Mit besonderer Fokussierung auf die Themenfelder „Technologien der Zukunft“, „Sozialer Wandel“, „Strukturwandel“ und „Änderung der Marktstruktur“ sollen dabei die sich verändernden Bedingungen im Rohrleitungsbau berücksichtigt werden. „Mit der Schwerpunktsetzung auf Kabelleitungen und Wasserstoff stellen wir uns beim 34. Oldenburger Rohrleitungsforum den wichtigen Zukunftsthemen der Branche, die sich aus der Energiewende ergeben“, ist Wegener überzeugt. Weitere Informationen: http: / / www.iro-online.de/ index.php? id=106- Professionell planen mit ACO Systemlösungen ACO Produkte und Systemlösungen dienen einem Regenwassermanagement, das ebenso ökologisch wie ökonomisch ist. Konkret stehen im Rahmen des Umweltschutzes für ACO der Schutz des Grundwassers, die Entlastung der Kanalisation, die Grundwasserneubildung und der Hochwasserschutz im Vordergrund. www.aco-tiefbau.de Urbanisierung - Klimawandel - Umweltschutz Regenwassermanagement ACO Tiefbau Vertrieb GmbH · Am Ahlmannkai · 24782 Büdelsdorf · Tel. 04331 354-500 ACO. creating the future of drainage Besuchen Sie uns in Halle 3A auf dem Stand 3B14. 12 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Stadtgrün Die Kombination aus solarer Energiegewinnung und Dachbegrünung bietet bei der Flächennutzung diverse Vorteile. Diese liegen, je nach Art der Kombination, in der Leistungssteigerung der PV-Module durch eine Senkung der Betriebstemperatur infolge der Verdunstungskühlung von Pflanzen, in der Sicherung der Module gegen Kippen durch Beschweren der Aufständerung mit Substrat und Begrünung sowie in einer einfachen und schnellen Montage. [1] Eine Kosteneinsparung bei Dacheindichtungsarbeiten durch die Vermeidung von Durchdringungen der Dachabdichtung und Punktlasten sowie der Schutz der Dachabdichtung vor UV-Belastung, Temperaturextremen und Witterungseinflüssen bilden die wesentlichen Vorteile der Begrünung für das Bauwerk. Dachbegrünungen führen zudem zu einer höheren Biodiversität am Standort. Solarmodule fördern in der Kombination die Artenvielfalt durch Beschattung und Feuchte. Gründächer unterstützen die Klimaregulierung für Gebäude und Stadt, mildern die Folgen von Wolkenbrüchen und entlasten durch Rückhalt von Niederschlagswasser die Abwassersysteme. [2] Die technische Weiterentwicklung von Solarmodulen und Gründachlösungen ermöglichen heute diverse Kombinationen und Anwendungen mit unterschiedlichen Potenzialen. [2] Für die Planung eines Solar-Gründachs ist es zunächst sinnvoll, sich über die Fördermöglichkeiten zu informieren und den Unterhaltungsaufwand einzuschätzen. Erforderliche Genehmigungen (zum Beispiel Bauordnungsamt, Denkmalamt, Eigentümer) sind einzuholen. Die Dachkonstruktion ist auf ihre Eignung für ein Solar-Gründach zu prüfen, die Tragfähigkeit bzw. mögliche Punkte zur Lasteinleitung zu ermitteln, Auflast und Windsog sind zu berücksichtigen. [3] Weiterhin ist zu klären, ob und auf welche Weise umgebende Gebäude und Vegetation die geplante Installation beeinflussen. Die Zugänglichkeit des Daches für die Bereitstellung und den Transport von Materialien sowie für Pflege und Wartung ist zu klären. Details zur Wasserver- und Entsorgung sind festzulegen, Dachneigungen sind in Hinblick auf eine Vermeidung von Staunässe zu optimieren. [4] Das Pflanzenwachstum wird über die Substratdicke und die Bewässerung gesteuert. Photovoltaik und Gebäudebegrünung Lösungen und Vorteile Gebäudebegrünung, Gründächer, erneuerbare Energien, Photovoltaik, Nicole Pfoser Der in Siedlungsräumen nicht nachlassende bauliche Flächenbedarf, das Thema der dezentralen Energiebereitstellung sowie die Linderung des Defizits an klimaaktiven Vegetationsflächen zeigen die Notwendigkeit multifunktionaler Flächenbelegungen. Bild 1: Diverse Kombinationen und Anwendungen von Solarmodulen und Gründachlösungen. © Pfoser PV-Anwendung Flachkollektoren Sheddach mit PV-Nutzung neigungsoptimiert lichtgesteuert, nachgeführt aufgeständert, neigungsoptimiert Ost-West- Anlage, semitransparent bifazial, senkrechte Aufständerung semitransparent, auf Pergola Flächenbelegung anteilig, monofunktional anteilig, monofunktional bifunktional bifunktional bifunktional bifunktional bifunktional dreifach Durchdringung der Abdichtungsebene ja ja/ nein Aufdachlösung oder gebäudeintegriert ja minimiert ja punktuell nein nein nein ja minimiert Zugänglichkeit Pflege & Wartung optimal optimal sehr gut sehr gut gut gut sehr gut optimal Begrünungsanwendung, Kühlungspotenzial extensiv/ intensiv extensiv/ intensiv extensiv/ einfach intensiv extensiv/ einfach intensiv extensiv extensiv extensiv extensiv/ intensiv Nutzungsvielfalt Grünfläche, Energieertrag, Aufenthalt Grünfläche, Energieertrag Grünfläche, Energieertrag Grünfläche, Energieertrag Grünfläche, Energieertrag Grünfläche, Energieertrag Grünfläche, Energieertrag (schneefrei) Grünfläche, Energieertrag, Aufenthalt 13 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Stadtgrün Die Pflanzenauswahl ist möglichst zugunsten einer vielfältigen Vegetation und zur Förderung des Artenreichtums zu treffen. Die Aufständerungshöhe der Module und die Pflanzenauswahl sind aufeinander abzustimmen. Dabei ist darauf zu achten, dass Solarmodule auch zukünftig nicht verschattet werden. Abstände der Paneelreihen sind in Abhängigkeit zu Substratdicke, Pflanzenart, Wuchshöhe und Wartungszugänglichkeit festzulegen. Gewerke und Ausführungsschritte (Dachaufbau und -abdichtung, Be- und Entwässerung, Dachbegrünung, Gebäudetechnik: Solaranlage, Blitzableitung, Klima, Lüftung) sind im Vorfeld entsprechend zu koordinieren. Eine technisch funktionale und sichere Bündelung der Energieversorgung kommt der Instandhaltung zugute. Konsequente Absturzsicherungen für Installation und Zugänglichkeit müssen gewährleistet sein, der Markt bietet hierzu bewährte Lösungen. Pflege- und Wartungsintervalle sind festzulegen und einzuhalten. Angebote sind einzuholen, um die Kosten realistisch abzuschätzen zu können. [2] Um die Begrünungsfläche nicht unnötig einzuschränken, können Anlagen zur solaren Energiegewinnung aufgeständert in die Dachbegrünung integriert werden. Um verschattenden Pflanzenaufwuchs im Bereich von niedrigen Solaranlagen zu vermeiden, kann die zu erwartende Pflanzenhöhe vor energieaktiven Paneelvorderseiten durch eine reduzierte Substrathöhe (bis 7 cm) oder durch eine geringere Wasserhaltung in diesem Bereich geregelt werden. Zur Bepflanzung eignen sich hierbei niedrigwachsende Arten ohne Blütenstände bzw. mit kurzen Blütenständen. Zur Unterstützung einer höheren Artenvielfalt am Standort kann die Substrathöhe unter und hinter den Paneelen höher aufgebaut werden (12 cm). Damit wird in der Regel auch der Pflanzenaufwuchs kräftiger. Der Aufwand für Pflege und Wartung der Dachbegrünung kann auf diese Weise wirtschaftlich gestaltet werden. [5] Als interdisziplinäre Aufgabe führt der Einbezug von Landschaftsarchitekten und Anlagenbauern oder Bild 2: PV-Anwendung neigungsoptimiert, aufgeständert. Substratmodulation zur Regelung des Pflanzenwachstums sowie zur Erhöhung der Biodiversität. © Nicole Pfoser nach [5) von spezialisierten Fachfirmen zum Erfolg. Ziel ist eine optimierte PV-Anlage auf einem vitalen Gründach mit all seinen Leistungsfaktoren zur Gebäudeoptimierung und Umfeldverbesserung. LITERATUR [1] Pfoser, N., Jenner, N. et al.: Gebäude, Begrünung und Energie. Potenziale und Wechselwirkungen, 2013. Unter: https: / / www.baufachinformation.de/ literatur. jsp? bu=2013109006683 [17.09.2017]; Druckversion (Hrsg. FLL 2014), unter: www.fll.de/ shop/ bauwerksbegruenung/ gebaude-begrunung-energie-potenziale-und-wechselwirkungen.html [17.09.2017] [2] Pfoser, N.: Das Solar-Gründach. Mehr Grün. Vier Vorteile auf einmal, 2018. Hrsg. Freie Hansestadt Hamburg, BehördefürUmweltund Energie, Hamburg; unter: https: / / www.hamburg.de/ gruendach/ 11622392/ das-solargruendach/ [16.12.2018] [3] Pfoser, N.: Dachbegrünung - Leitfaden zur Planung. Begründungsunterlagen für Dachbegrünungen in der verbindlichen Bauleitplanung sowie in der Baugenehmigungspraxis. Hrsg. Freie Hansestadt Hamburg, Behörde für Umwelt und Energie, Hamburg, 2018. Unter: https: / / www.hamburg.de/ gruendach/ 10603556/ leitfaden-dachbegruenung/ [16.12.2018] [4] Forschungsgesellschaft Landschaftsentwicklung, Landschaftsbau e. V. (FLL) (Hrsg.): Dachbegrünungsrichtlinien - Richtlinien für die Planung, den Bau und die Instandhaltung von Dachbegrünungen. Bonn, 2018. [5] Brenneisen, S.: Naturschutz auf Dachbgrünungen in Verbindung mit Solaranlagen, Basel, 2014. Prof. Dr.-Ing. Nicole Pfoser Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen, Studiengang Landschaftsarchitektur [www.hfwu.de] / Geschäftsführerin Kompetenzzentrum Gebäudebegrünung und Stadtklima e.V. (kgs) [www.kgs-nt.de] / Stellv. Institutsleiterin der Akademie für Landschaftsbau und Vegetationsplanung (avela) [www.avela.de] Kontakt: mail@pfoser.de AUTORIN 14 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Mobilität Der Artikel befasst sich mit der Anwendung und Implementierung von Leih-E-Tretrollern in deutschen Städten. 1 Hierbei soll geklärt werden, welche Potenziale und Herausforderungen bei E-Tretrollern bestehen, ob sie sich mit bestehenden Verkehrsmitteln und mit Verkehrsteilnehmenden vernetzen lassen und einen Beitrag zur Multimodalität leisten können, ferner wie Kommunen mit potenziellen Anbietern umgehen können. Sharing-Konzepte gewinnen langsam an Bedeutung Sicher ist derzeit ein Trend zu beobachten: weg vom Besitz hin zum Mieten bzw. Sharing. Zukunftsvision von Verkehrswissenschaftlern ist eine Mobility Flatrate, mit Hilfe derer die intermodale Nutzung von Auto, ÖPNV, Fahrrad, usw. erleichtert wird und weitere Kunden begeistern könnte. Eine große, schon weit verbreitete Gruppe stellen neben Car-Sharing und Leihfahrrädern jetzt die E-Tretroller dar, zumindest sind sie die derzeit am meisten kontrovers diskutierten Fortbewegungsmittel, weshalb sie hier im Weiteren näher betrachtet werden. Beispiele in den Pioniermärkten USA und China zeigten, dass Sharing-Konzepte sinnvoll geplant und gesteuert werden müssen. Lässt man den operierenden Anbietern in einem neuen Markt zu viel Spielraum, können exzessive Konkurrenzkämpfe negative Folgen für Kommunen und ihre Bewohner haben, so wie es auch in Deutschland einige Städte mit stationslosen Leihfahrrädern, zum Beispiel von 1 Dieser Aufsatz ist angelehnt an: Hamann, Knöll, Schimanski, Bayer, Schulz: (E-)Kleinstfahrzeuge - Tech-Blase oder Verkehrsrevolution? Internationales Verkehrswesen, Heft 3 (Teil 1) und Heft 4 (Teil 2) 2019 E-Tretroller: Chance für die Verkehrswende? Verkehrsentlastung oder vorübergehende Erscheinung? Wie lassen sich E-Scooter in bestehende Mobilitätsdienste integrieren? (E-)Kleinstfahrzeuge, Tretroller, Mikromobilität, Multimodalität, Sharing, MaaS, Vernetzung, Letzte Meile, Implementierung Rainer Hamann, Sebastian Schulz Klimawandel und gesundheitsschädliche Emissionen beflügeln die aktuelle Diskussion um eine nötige Verkehrswende. Der Markt reagiert mit einem Hype um E-Tretroller, die Politik mit der Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung (eKFV) [1]. Beschwerden über wild abgestellte behindernde E-Tretroller sowie über Entsorgungen in Grünanlagen oder Gewässern und wiederkehrende Meldungen über sich nun häufende Unfälle haben eine weitreichende Debatte über das Für und Wider neuer Mobilitätsformen der Mikromobilität entfacht. oBike, erlebt haben [2]. Werden Regulierungen und Gesetze jedoch zu streng und fernab pragmatischer Lösungen gefasst, bringt es den Markt in kürzester Zeit zur Implosion. Dies kann dem Ziel, städtische Mobilität im 21. Jahrhundert umweltfreundlich und mit Alternativen zum Autoverkehr zu gestalten, schaden. Beim derzeitigen „Start-Up“-Umfeld der Anbieter ist zu erwarten, dass sich einzelne Wettbewerber im E-Tretroller-Sharing-Markt zusammenschließen oder sich auch wieder komplett zurückziehen. Kommunen sollten sich dessen bewusst sein und sich deshalb möglichst anbieterneutral aufstellen. Dies gilt insbesondere für die Verknüpfung mit dem ÖPNV und anderen städtischen Mobilitätsangeboten, als auch vor allem für die Bereitstellung exklusiver Infrastruktur, wie zum Beispiel anbietergebundenen Ladestationen, Stellplätzen und Ähnlichem. Lizenzvergaben für limitierte Zeiträume und Regulierungen der Stückzahlen und des Flottenmanagements, wie sie bereits größtenteils praktiziert werden, sind auch in Deutschland zu empfehlen, gleichwohl unter dem Gesichtspunkt, dass gerade bei Tretrollern und Fahrrädern die Größe der bereitgestellten Fahrzeugflotten stark fluktuieren. [3] Das Problem der „Letzten Meile“ Eines der Hauptargumente der Befürworter und internationalen Anbieter von E-Tretrollern und Bike- Sharing-Angeboten ist die Lösung des Problems der „Letzten Meile“, also den Anschlusswegen von und zur ÖPNV/ SPNV-Haltestelle. Und das, obwohl die ÖPNV-Netz- und Haltestellendichte in deutschen Städten im Vergleich zu nordamerikanischen oder chinesischen ÖPNV-Netzen, bei denen zwischen Metro- oder Bushaltestellen gerne schon mal mehrere 15 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Mobilität Kilometer liegen, sehr viel enger sind. In Deutschland liegen die Probleme eher im Bereich des zeitnahen und sicheren Anschlusses und Umstiegs sowie an der generellen Bedienungshäufigkeit einzelner Haltestellen, welche das Reisen mit dem ÖPNV erschweren. Außerörtliche Bereiche, wo Haltestellendichten, Anschlüsse und Verbindungen die größten Hemmnisse darstellen, sind zudem bislang nicht die Hauptstandorte der Sharing-Anbieter. Hier müssen Verkehrsunternehmen und Aufgabenträger unter Betrachtung der Mikromobilitätsangebote nachsteuern, um auch in Außenbereichen attraktive Angebote zu schaffen. Strategien für deutsche Anwenderkommunen Kommunen müssen in genauer Abwägung entscheiden, ob und in welcher Form Sharing-Angebote unterstützt oder gefördert werden. Das bisherige Vorgehen der Kommunen, mit Lizenzen und strikten Regulierungen dem E-Tretroller-Hype zu begegnen, scheint sich zu bewähren. Um jedoch keinen Flickenteppich unterschiedlichster Regelsysteme und Verordnungen entstehen zu lassen, haben - sehr vorbildlich und hilfreich - im September 2019 Deutscher Städtetag (DST) und Deutscher Städte- und Gemeindebund (DStGB) zusammen mit den Anbietern von E-Tretroller-Verleihsystemen (Circ, Lime, TIER und Voi) das Memorandum of Understanding „Nahmobilität gemeinsam stärken“ [4] erarbeitet und herausgegeben und damit bundesweit praktikable einheitliche Vorgehensweisen kommuniziert, die jedoch weder für Kommunen noch für Anbieter von E-Tretroller-Verleihsystemen bindend sind. Darin werden behandelt: Bedarfsermittlung und Geschäftsgebiet, Auf- und Abstellstandorte und Fahrverbotszonen, ÖPNV-Integration, Datenbereitstellung und -auswertung, Datenschutz, Umverteilung, Wartung, Reaktionszeiten und Entsorgung, Kommunikation zwischen Anbietern und Kommunen sowie Beschwerdemanagement, Bürgerkommunikation, Verkehrssicherheit und Unfallprävention. Insgesamt gilt für deutsche Kommunen, sich grundsätzlich mit folgenden Punken zu beschäftigen:  Potenzialabschätzungen neuer Angebote wie E-Tretroller unter Beachtung möglicher Kannibalisierungseffekte  Analyse von lokalen Chancen und Risiken für den Einsatz neuer Mobilitätsformen  Abgrenzung zu oder Integration in bestehende Mobilitätsangebote, wie zum Beispiel ÖPNV  Bereitstellung von Angeboten durch private Firmen oder eigenes Management durch kommunale Gesellschaften Bild 1: Geordnet und nicht behindernd auf einem Düsseldorfer Bürgersteig abgestellte Tretroller. © büro stadt- Verkehr, Michael Kopp, 2019  Förderung von Selbstbesitz (zum Beispiel durch öffentliche Ladestationen, Abstellanlagen, usw.) oder Sharing-Angebote  Lokale Förderung im Zuge von (und/ oder Abstimmung mit) Zielen aus: Verkehrsentwicklungsplänen, Klimaschutzkonzepten, Luftreinhalteplanung, Lärmaktions- und Nahverkehrsplänen usw. Förderung von „Mobility-as-a-Service (MaaS)“, d. h. Mobilitätsdienste verschiedener Anbieter werden verknüpft, zum Beispiel über eine App, bereitgestellt und als ein kombinierter, multimodaler Service angeboten und abgerechnet. Mobilitätsdaten Ein wichtiger Aspekt bei der Bereitstellung von Sharing-Angeboten war und ist für viele Anbieterfirmen die Generierung von Daten. Auch Kommunen können und sollten davon profitieren. So wie es zum Beispiel die Hansestadt Hamburg [5] vormacht, sollten Gebietskörperschaften Vereinbarungen, die über die grundsätzlichen Regelungen der eKFV [1] hinausgehen, mit den jeweiligen Anbietern treffen. Damit können sich Kommunen den Zugriff auf anonymisierte Mobilitätsdaten sichern, um die städtische Mobilität effektiver zu planen und andere, evtl. konkurrierende oder ergänzende Angebote anzupassen. Im Zuge der Neuaufstellung oder Fortschreibung von Verkehrsentwicklungsplänen, Klimaschutzplänen oder Mobilitätskonzepten können diese Daten ausgewertet und somit in die mittelbis langfristige Planung mit eingebunden werden. Ebenso können auf dieser Basis - analog zu Fahrgastzählungen im ÖPNV - Konzessionen, Flottenmanagement und die Anzahl der Fahrzeuge im Bereich der Mikromobilität fortlaufend angepasst werden. 16 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Mobilität Praktikabilität der Tretroller Deutliche Risiken ergeben sich insbesondere durch kleine Räder von Tretrollern, vor allem in Kombination mit Bremsverhalten und Geschwindigkeit. Das in deutschen Städten weit verbreitete Kopfsteinpflaster, aber auch abgesenkte Bordsteinkanten erhöhen das Sturzrisiko bei Rollern mit kleinen Rädern. Mit Luft gefüllte größere Reifen können anders als Vollgummireifen Stöße abfedern. Klappbare Tretroller können besser in Gebäude oder Fahrzeuge des ÖPNV mitgenommen werden. Fahrverbote tragen sicher mit dazu bei, dass nicht auch in Innenhöfen, Atrien oder gar in Gebäuden auf den Fluren mit Tretrollern gefahren wird. Infrastruktur und Integration ins städtische Mobilitätsangebot Kommunen und Planer sollten offen an die neuen Mobilitätsangebote herantreten. Stationäre Leihfahrräder haben bereits gezeigt, dass Kooperationen zwischen Anbietern, Kommunen, Aufgabenträgern und Interessenverbänden sinnvoll funktionieren können. Für Betreiber von Mikromobilitätsangeboten ist es demnach absolut zwingend, mit den Kommunen eng von Anfang an zusammenzuarbeiten. Für Kommunen wiederum gilt, die Angebote sinnvoll in die bestehende Planung und Stadtentwicklung zu integrieren. Beispiele, wie im Münchener Stadtquartier Schwabinger Tor [6] zeigen, dass auch über querschnittsorientierte Ansätze nachgedacht werden sollte. So wird dort in einem kleineren Bereich, in dem keine privaten PKW abgestellt werden dürfen, mit E-Tretrollern der Firma Hive ein alternativer Ansatz der Nachbarschaftsbzw. Nahmobilität getestet. Zukünftig könnten auch im Zuge aktueller Diskussionen um City-Maut und innerstädtische Fahrverbote die Bereitstellung und aktive Integration von E-Tretroller-Verleihsystemen mit geplant werden. Durch Fahr- und Parkverbote frei werdende Verkehrsflächen sollten für alternative Mobilitätsangebote genutzt werden. Als Abstellflächen von E-Tretrollern bieten sich - wie es bereits für Leihfahrräder geschieht - ehemalige Stellflächen, zum Beispiel Parkstreifen, an. Nicht sinnvoll oder gar behindernd ist dagegen das Abstellen einzelner Tretroller zwischen geparkten PKW. Die Investitionen, die viele Kommunen heute in den Radverkehr tätigen, werden auch E-Tretrollern & Co. zu Gute kommen. Lückenlose Radwegenetze sind auch für die Nutzung von Tretrollern attraktiv. Weiterhin müssen Konfliktpotenziale zwischen Radfahrern und Nutzern von E-Tretrollern thematisiert werden. Ob die derzeit geplanten Radverkehrswege ausreichend dimensioniert sind, wenn sich Radfahrer den Platz mit weiteren Formen der Mikromobilität teilen müssen, ist eine offene Frage, die neben weiteren Untersuchungen vor allem erst einmal Praxiserfahrungen bedarf. Neben dem Radwegeausbau sollte aber auch der Fußverkehr nicht vernachlässigt werden. Ausreichend dimensionierte Gehwege sind Voraussetzung für das Abstellen von E-Tretrollern oder Leihfahrrädern ohne direkte Behinderung und Barrierewirkung für Fußgänger (siehe Bild 1). Wesentlich sind Stellplätze an wichtigen Einrichtungen, Bahnhöfen und ÖPNV-Verknüpfungspunkten. Mögliche Konsequenzen für Verkehrsunternehmen/ Verkehrsverbünde und Bike-Sharing-Anbieter Unbestreitbar werden durch E-Tretroller und andere Angebote die Wege von und zur Haltestelle kürzer bzw. schneller. Den eigentlichen Fußweg von 5 bis 15 Minuten in einem Bruchteil der Zeit per E-Tretroller oder Fahrrad zu substituieren, hat seinen Charme und stellt definitiv für einen Teil der heutigen ÖPNV- Bild 2: Umwandlung von Autostellplätzen in StadtRad- Ausleihflächen in Hamburg. Genauso sollten sie für Leih-Tretroller geschaffen werden. © büro stadt- Verkehr, Rainer Hamann, 2019 17 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Mobilität Nutzer eine Verbesserung des Komforts und der persönlichen Zeitplanung dar. Auch wenn E-Tretroller als Verkehrsmittel teilweise anders als das klassische Bike-Sharing zu handhaben sind, ist gerade die Verknüpfung mit dem ÖPNV als willkommene Ergänzung anzusehen. Dass aber der ÖPNV durch E-Tretroller-Angebote nun deutlich und ganzjährig an Attraktivität gewinnen und mehr Fahrgästen bekommen wird, weil das große Handicap der bisher nicht vorhandenen Tür-zu-Tür Bedienung eliminiert wird, ist auch in Deutschland wohl nicht zu erwarten. Dennoch sollten Verkehrsunternehmen generell ihre Beförderungsbestimmungen anpassen bzw. erweitern und die Mitnahme von Kleinstfahrzeugen im ÖPNV zulassen. Allerdings ist davor zu warnen, dass solche Angebote in Kombination mit dem vermehrten Aufbau multimodaler Haltestellen dazu führen, dass Qualitätsstandards im ÖPNV mittelbis langfristig aufgeweicht werden. Mikromobilitätsangebote erweitern die Möglichkeiten, ersetzen aber allgemein keine Zubringerfunktionen zu übergeordneten Verknüpfungspunkten. E-Tretroller eignen sich demnach nicht, defizitäre ÖPNV-Angebote durch „Letzte Meile“-Angebote zu substituieren. Die Autoren begrüßen jedoch ausdrücklich, dass Anbieter ihre Fahrzeuge auch am Stadtrand positionieren, beispielsweise durch die Einrichtung sogenannter Mobilstationen. So macht es etwa Voi in Hamburg: In den Stadtteilen Berne und Poppenbüttel helfen die E-Tretroller der schwedischen Marke den Anwohnern dabei, die Strecke zwischen Haus und Haltestelle zu bewältigen. Vorgaben für das Fuhrparkmanagement Stationsgebundenheit sorgt für das Abstellen der Tretroller an dafür vorgesehenen Stellen. Potenzielle Standorte sollten Straßenverkehrsbehörden mit Planungsämtern der Gebietskörperschaften vorgeben. Den Abtransport achtlos oder gar gefährlich abgestellter Tretroller müssen Betreiber in ihr Fuhrparkmanagement integrieren. Beim Tretroller-Verleiher Lime müssen zum Beispiel Nutzer das Abstellen per Foto dokumentieren, so dass ein gewisser Druck entsteht, dies in ordentlicher Form zu tun. Das Fuhrparkmanagement umfasst das regelmäßige Einsammeln von falsch abgestellten Tretrollern - auch in Grünanlagen, deren Übernacht-Aufladung -, Reinigung und Wartung. Umweltschutz E-Tretroller erscheinen zunächst durchaus umweltfreundlich, sie sind aber nicht emissionsfrei. Werden die notwendigen permanenten Einsammel- und Verteilfahrten mit stark emittierenden Fahrzeugen durchgeführt, verschlechtert sich die eh schon zweifelhafte Ökobilanz der Kleinstfahrzeuge. Sie wird beeinflusst vom Herstellungsprozess (Energieart und -verbrauch, Materialart, -gewinnung und -verbrauch), vom Aufladestrom sowie von der Lebensdauer und Laufleistung der Tretroller. Eine amerikanische Studie verweist darauf, dass das Fahren mit dem E-Tretroller mehr CO 2 -Ausstoß pro Meile verursacht als das Fahren mit dem Bus, Fahrrad oder sogar dem Moped. [7] Verbindliche Sicherheitshinweise für Nutzer Von den steigenden Unfallzahlen mit Tretrollerfahrern sollte man sich noch nicht abschrecken lassen. Dass es dazu kommt, ist zwar im Einzelfall bedauerlich, aber ein Anstieg der Zahlen scheint zunächst einmal unvermeidbar, da diese Verkehrsmittel bislang nicht existent waren. Sehr wohl bedarf es aber seitens der Anbieter deutlicher Hinweise auf die Verkehrsregeln und auf spezielle Verletzungsgefahren. Das Lesen dieser Hinweise sollte in den Apps vor der Freigabe quittiert werden müssen. In Abhängigkeit der tatsächlichen Nutzungszahlen und der gesamtgesellschaftliche Relevanz können in Schulen und/ oder Bildungseinrichtungen analog zu Fahrsicherheitstrainings für Radfahren auch solche für Kleinstfahrzeuge eingeführt werden. Bild 3: Leicht von Fahrgästen zu prüfende Mitnahmeregelung an Stationen in Singapur. Quelle: https: / / www.lta.gov.sg/ content/ dam/ ltaweb/ corp/ Green- Transport/ 2016/ Foldable%20 bike%20trial.pdf 18 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Mobilität Fazit Ob sich E-Tretroller durchsetzen und als dauerhafte Mobilitätsalternative etablieren, ist noch nicht abzusehen. Tretroller und andere elektrifizierte Mikromobile werden im künftigen Mobilitätsmix und der Vernetzung von Mobilitätsdienstleistungen wohl eher eine untergeordnete, kleine Rolle spielen. Ob die E-Tretroller-Betreiber den Weg von der Gründerphase in die Profitabilität finden, ist ebenso noch unsicher. Die Entwicklung ist noch nicht so weit fortgeschritten, als dass man dies seriös beurteilen könnte. Es ist Aufgabe der Kommunen, sinnvolle Regeln mit Augenmaß aufzustellen, um einerseits Innovationen und Mobilitätsalternativen im Zuge von Klimaschutz- und Feinstaubdiskussionen nicht von vorn herein zu verhindern oder gleichzeitig zu bereits bestehenden Angeboten nicht unnötig Konkurrenz zu schaffen. Dies ist ein Balance-Akt, der nicht immer und überall zur vollsten Zufriedenheit per Patentlösung zu meistern ist. Es ist daher wichtig, dass alle Akteure strategisch und mit Unterstützung durch fachliches Know-How in den Kommunen eingebunden werden und vor Ort Lösungen finden, die den Nutzerwünschen und dem öffentlichen Interesse entsprechen. Hier bestehen vor allem zwischen Großstädten, kleineren Städten und Gemeinden erhebliche Unterschiede, sowohl was die Mobilitätsbedürfnisse als auch die Infrastruktur betrifft. Die Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung (eKFV) [1] hat einen ersten Rahmen gesteckt, der es den Gebietskörperschaften erlaubt, ihren Mobilitätsmix zu erweitern. Hier können künftig verschiedene Formen der Nutzung und Bewirtschaftung entstehen, wovon sich einige bewähren, andere wiederum nur von kurzer Dauer sein werden. Ein generell offener Experimentierwille kann helfen, adäquate Angebote für deutsche Städte und Gemeinden in der Praxis herauszufiltern und sie in das Mobilitätsangebot und dessen Vernetzung dauerhaft zu integrieren. Alle Verkehrsteilnehmer (und Auguren) sollten gelassen mit Neuerungen umgehen, ihnen und den Nutzern längere Eingewöhnungszeit einräumen und das Thema mit der nötigen Sachlichkeit behandeln. Vorschnelle Umfragen, Statistiken und Panikmache sind keine guten Berater. In den kommenden Jahren werden bereits größere und bei weitem komplexere Neuerungen auf die Gesellschaft zukommen - autonomes, vernetztes Fahren, Lieferdrohnen oder Flugtaxis seien als aktuelle Beispiele genannt. Hier wird sich zeigen, inwieweit Gesellschaft und Politik für Innovationen offen und zur wirklichen Verkehrswende bereit sind. Drei Jahre nach Inkrafttreten der Elektrokleinstfahrzeuge-Verordnung (eKFV) [1] soll eine Evaluierung durch die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) durchgeführt werden, in der bisher gesammelte und relevante Daten ausgewertet und ggf. die eKFV überarbeitet werden sollen. LITERATUR [1] Bundesgesetzblatt Jahrgang 2019 Teil I Nr. 21, ausgegeben zu Bonn am 14. Juni 2019, Verordnung über die Teilnahme von Elektrokleinstfahrzeugen am Straßenverkehr und zur Änderung weiterer straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften vom 6.6.19. https: / / w w w.bgbl.de/ xaver/ bgbl/ text.xav? SID=&tf=xaver. component.Text_0&tocf=&qmf=&hlf=xaver.component.Hitlist _0&bk=bgbl&start=%2F%2F*%5B%40n ode_id%3D%27446798%27%5D&skin=pdf&tlevel=- 2&nohist=1 [2] Wikipedia, oBike. https: / / de.wikipedia.org/ wiki/ OBike [3] Suter, J., Jan Maurer, J., Mayer, M.: Shared Mobility. Kollaborative Mobilitätsservices europäischer Städte im Vergleich. Internationales Verkehrswesen, 2 (2019). [4] Memorandum of Understanding zwischen Deutscher Städtetag (DST), Deutscher Städte- und Gemeindebund (DStGB) und Anbietern von E-Tretroller-Verleihsystemen (Circ, Lime, TIER und VOI), Nahmobilität gemeinsam stärken, 26.8.2019. [5] newstix.de: Vor dem Start der E-Tretroller in Deutschland: So hat sich Hamburg vorbereitet, 16.6.2019 (ar). https: / / www.newstix.de/ index.php? site=&entmsg=tr ue&ref=RNL&mid=457086#sthash.wemwLn1A.dpbs [6] Handelsblatt, E-Scooter von Hive für München und Hamburg, 9.4.2019. https: / / www.handelsblatt.com/ unternehmen/ dienstleister/ pilotprojekt-e-scootervon-hive-fuer-muenchen-und-hamburg/ 24198916. html? ticket=ST-8375505-JEUDLVbmBUMWNFPIba1eap5 [7] ebike-news.de: Giessmann, E-Scooter offenbar umweltschädlicher als gedacht, 13.8.2019; https: / / ebikenews.de/ e-scooter-offenbar-umweltschaedlicherals-gedacht/ 183529/ ? utm_source=Newsletter&utm_ medium=email&utm_campaign=Weekly190817 AUTOREN Sebastian Schulz, M.Sc. Obermeyer Engineering Consulting Shanghai Branch Kontakt: sebastian.schulz@opb.de Dr.-Ing. Rainer Hamann büro stadtVerkehr Planungsgesellschaft mbH & Co. KG Kontakt: hamann@buero-stadtverkehr.de 19 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Mobilität Buchtipp Sören Groth: Von der automobilen zur multimodalen Gesellschaft? Multioptionalität als Voraussetzung für multimodales Verhalten Die digitalen Techniken begünstigen den Trend von der automobilen hin zur multimodalen Gesellschaft. Der Besitz eines eigenen privaten Automobils wird zunehmend obsolet, wenn künftig eine flexible Nutzung unterschiedlicher Verkehrsmittel überall und einfach handhabbar möglich wird. Die bereits heute vermehrt multimodale Verkehrsmittelwahl meist junger Erwachsener in Großstädten und das Konzept der Smart Mobility bzw. Mobility-as-a-Service (MaaS), das vernetzte Mobilitätsdienstleistungen per App abrufbar zur Verfügung stellt, ermöglichen künftig zunehmende Anwendungen. Sören Groths Buch ist seine überarbeitete und am ILS Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung Dortmund erweiterte Dissertation an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, AG Mobilitätsforschung, Institut für Humangeographie. Groth postuliert logischerweise eine Verteilung individueller Voraussetzungen für multimodales Verhalten als notwendige Voraussetzung für Multioptionalität. Er weist schon zu Beginn in seiner Literaturrecherche nach, dass die Verkehrsmittelwahl auch im Digitalisierungszeitalter immer noch von unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Kompetenzen, Ansichten und in differenten Räumen individualisiert realisiert wird. Dabei sind wir alle früher und heute noch von der autogerechten Stadt und Verkehrsplanung sozialisiert und geprägt. Anhand eines Datensatzes aus Offenbach am Main arbeitet er beispielhaft eine Reihe ungleicher (materieller und mentaler) Voraussetzungen zur möglichen Teilhabe an der multimodalen Gesellschaft heraus und stellt so die potenzielle ortsungebundene Allgegenwart multimodaler Verhaltensweisen infrage. Damit werden interessante Hinweise gegeben für kommende Entwicklungen. So können sinkende Reallöhne und steigende Mobilitätskosten vielenorts sozial marginalisierten Gruppen eine gesellschaftliche Teilhabe auf der Grundlage von Mobilität nicht mehr sicherstellen („Transport Poverty“). Auch ist eine gesellschaftliche Spaltung in Onliner und Offliner zu beobachten, in der ungleiche Zugangsvoraussetzungen zu einer Smart Mobility herrschen („Digital Divide“). Befragungsergebnisse sind: „Die „Autoablehnenden Trioptionalisten“ repräsentieren stereotypisch eine junge, gut ausgebildete, neue Generation, die sich von der tradiert symbolisch-emotionalen Autobindung emanzipiert zu haben scheint und eine souveräne und situationsspezifische Verkehrsmittelwahl mit alternativen Verkehrsmitteln mental bevorzugt und auch praktiziert. Demgegenüber werden die „autoliebenden Monooptionalisten“ von einem mutmaßlich scheidenden, häufiger älteren und männlichen Personenkreis vertreten, der seinen Lebensmittelpunkt tendenziell in den monofunktionalen Ein- und Zweifamilienhausstrukturen am Stadtrand hat und seinen Mobilitätsalltag entsprechend monooptional rund um das eigene Auto organisiert.“ Im Mobilitätstrend „Cycling Boom“ gewinnt das Fahrrad als traditionell multimodales Verkehrsmittel über alle Altersgruppen hinweg und unabhängig vom siedlungsstrukturellen Wohnen des Menschen an Bedeutung. Je mehr materielle Verkehrsmitteloptionen absolut zur Verfügung stehen, desto weniger werden sie relativ genutzt. Erst wenn eine praktikable App miteinander vernetzter Mobilitätsdienstleistungen zur Verfügung steht, ist auch ein junger Smartphonbesitzer bereit, diese zu nutzen. Die für MaaS erforderlichen leistungsstarken Smartphones sind allerdings noch nicht so durchgängig verbreitet, wie sie für eine umfassende, flächendeckende Nutzung erforderlich wären. Schließlich weist Groth darauf hin, dass ein nicht zu vernachlässigender Anteil befragter Personen die Apps aus datenschutzrechtlicher Sicht ablehnt, weil umfangreiche Zugriffe auf private Daten für die Nutzung und Abrechnung erforderlich sind. Entweder man überlässt seine Daten dem Mobilitätsanbieter, oder man ist von Multioptionalität vernetzter Mobilitätsleistungen ausgeschlossen. Fazit: Eine marktliberale Realisierung von Multimodalität heißt noch nicht „Der automobilen folgt die multimodale Gesellschaft“, dazu bedarf es erst einer stärkeren umfassenden Inklusion. Auf der Basis umfangreicher Literaturquellen bedient sich die vorliegende wissenschaftliche Arbeit einer entsprechenden Sprache mit vielen Fremdwörtern, oft aus dem sozialwissenschaftlichen und soziologischen Spektrum, die zu lesen Fachfremden schwerfallen dürfte. Es ist also zu hoffen, dass Groth seine Ergebnisse in Fachaufsätzen auch in eher verkehrstechnisch populärwissenschaftlich ausgerichteten Zeitschriften veröffentlicht, so dass sich seine Erkenntnisse unter Technikern, Ökonomen, bei Politikern bei Aufgabenträgern des ÖPNV und in der Verkehrswirtschaft verbreiten. Dr.-Ing. Rainer Hamann transcript GmbH, 282 Seiten, 18 sw- und 6 Farbabbildungen, Preis Printexemplar (kartoniert): 39,99 Euro, auch als eBook, ISBN: 978-3-8376-4793-8 20 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Mobilität Im Jahr 2030 sollen sieben bis zehn Mio. E-Autos auf unseren Straßen unterwegs sein und an öffentlichen und privaten Ladesäulen Strom tanken [1]. Mittelfristig ist von einer erheblichen zusätzlichen Stromnachfrage durch E-Fahrzeuge von mehreren Gigawattstunden auszugehen [2]. Bis zum Markthochlauf muss das Laden von Elektrofahrzeugen noch einen Paradigmenwechsel vollziehen: Vom ungesteuerten zum intelligenten Laden. „Intelligent“ laden E-Autos, wenn sich der Ladevorgang nach dem Kundenbedürfnis, der Stromerzeugung und der Netzauslastung ausrichtet. Flexibilitätspotenzial von Elektrofahrzeugen Im Durchschnitt ist jeder Deutsche pro Tag rund 80- Minuten unterwegs [3]. Für die PKW-Flotte bedeutet das: Den größten Teil des Tages verbringen Autos parkend vor dem Büro, dem Supermarkt oder auf dem privaten Stellplatz. Durch ihre langen Standzeiten bieten E-Fahrzeuge ein erhebliches Flexibilitätspotenzial, denn innerhalb dieses Zeitraums kann bei Elektrofahrzeugen der Ladevorgang je nach Stromangebot (zum Beispiel hohe Stromeinspeisung aus Photovoltaikanlagen) und Netzauslastung verschoben und angepasst werden. Doch bisher wird dieses Potenzial nicht ausgeschöpft. Stattdessen laden Elektrofahrzeuge derzeit am Ladepunkt Strom - völlig unabhängig davon, wie lange das Parken dauern wird, ob die Stromnachfrage bereits besonders hoch ist oder wie viel Ökostrom in einem bestimmten Moment erzeugt wird [4]. Ungesteuertes Laden mag in der Pionierphase der Elektromobilität tolerierbar gewesen sein. Mit dem Markthochlauf von Elektrofahrzeugen muss sich nun aber intelligentes Laden zum Standard entwickeln - nur so kann die Einbindung der Elektromobilität in das Energiesystem gelingen. Damit „intelligent“ geladen wird, sind zwei Punkte notwendig: Erstens: eine marktbasierte Flexibilitätsbeschaffung im Verteilnetz. Zweitens: der freie Zugriff auf die jeweiligen Fahrzeugdaten. Mit steigender Zahl an E-Fahrzeugen bietet die Elektromobilität perspektivisch ein erhebliches Flexibilitätspotenzial für die Energiewirtschaft: Unter den passenden regulatorischen Rahmenbedingungen können E-Fahrzeuge helfen, mehr erneuerbare Energien in das Energiesystem zu integrieren und bestehende Netzkapazitäten besser auszulasten. Die Kosten der Energiewende könnten so deutlich gesenkt werden. Intelligentes Laden muss zum Standard für Elektrofahrzeuge werden Robert Busch, Fanny Tausendteufel 21 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES FORUM Mobilität Intelligentes Laden über die Stromrechnung anreizen Eine ungesteuerte Einbindung einer Vielzahl von Elektrofahrzeugen in das Energiesystem würde enorme Investitionen für die Deckung des zusätzlichen Strom- und Transportbedarfs notwendig machen. Es besteht zum Beispiel die Gefahr, dass Elektroautomobilisten vor allem dann laden, wenn die Stromnachfrage bereits besonders hoch ist. Das erhöht mittelfristig die Spitzennachfrage und führt zu höheren Kosten für alle Stromkunden. Es muss also ein Anreizsystem geschaffen werden, das die Systemkosten in das Kalkül des Endverbrauchers einbringt und so eine Verhaltensänderung des Kunden bewirkt. Die Stromrechnung muss am günstigsten ausfallen, wenn beispielsweise entsprechend aktueller Stromverfügbarkeit und Netzauslastung geladen wird. Für die Stromverfügbarkeit existieren bereits Preissignale. Für die Netzauslastung fehlt allerdings ein variables Preissignal, das die tatsächliche Netzauslastung widerspiegelt. Die gesetzliche Grundlage dafür existiert bereits: Nach § 14a EnWG erhalten Verbraucher für eine netzdienliche Steuerung eine Reduktion der Netzentgelte. Bisher steht allerdings eine Konkretisierung des Paragrafen aus. Mittels einer Verordnung müssen wichtige Details geklärt werden. Hier ist es wichtig, eine marktbasierte Flexibilitätsbeschaffung im Verteilnetz festzulegen. In regionalen Flexmärkten, für die auch der bne ein Konzept entwickelt hat, kommunizieren Netzbetreiber ihren Flexibilitätsbedarf an teilnehmende Verbraucher. Erfüllen die Verbraucher diesen Bedarf, erhalten sie einen Flexibilitätsbonus bzw. eine Netzentgeltreduktion. Für die rechtzeitige Realisierung des großen Flexibilitätspotenzials der Elektromobilität ist eine zeitnahe Verabschiedung der Verordnung nach § 14a EnWG notwendig: Aktuell handhaben die über 800 Verteilnetzbetreiber in Deutschland die Anwendung des § 14a EnWG sehr unterschiedlich. Je nach Netzgebiet haben jeweils andere Verbraucher Anspruch auf die Nutzung des Paragrafen, muss unterschiedliche Steuerungstechnik installiert werden oder fällt die Höhe der Netzentgeltreduktion verschieden aus. Mit einer Verordnung nach § 14a EnWG muss hier notwendige Rechtsklarheit geschaffen und eine kosten- und zeitintensive Auseinandersetzung zwischen Netzbetreiber und Endkunde vermieden werden. Ohne Verordnung fehlt ein wichtiger Anreiz, intelligente Ladeinfrastruktur zu nutzen. Je länger die Verordnung ausbleibt, desto höher wächst die Zahl der „stranded investments“ in Form von nicht-steuerungsfähiger Ladeinfrastruktur. Für ein intelligentes Lademanagement ist der freie Zugang zu bestimmten Fahrzeugdaten notwendig Um das intelligente Laden von Elektrofahrzeugen zu ermöglichen, werden die aktuellen Daten über den Ladezustand, die Kapazität der Fahrzeugbatterie sowie die Maximal- und Mindestladeleistung der Fahrzeugbatterie benötigt. Momentan ist der Fahrzeughalter nicht in der Lage, diese Daten standardisiert weiterzugeben, damit ein von ihm beauftragter Dienstleister den Ladevorgang optimal taktet. Um intelligentes Laden zu ermöglichen, ist daher für Fahrzeughalter der freie Zugang zu für den Ladevorgang notwendigen Daten erforderlich. Beide Faktoren - marktbasierte Flexibilitätsbeschaffung im Verteilnetz sowie die Verfügbarkeit der jeweiligen Fahrzeugdaten - sind Bedingungen für das intelligente Laden von Elektrofahrzeugen. Nur so gelingt es, Elektromobilität systemdienlich in das bestehende Energiesystem einzubinden und die Verkehrswende zu fördern. Der Bundesverband Neue Energiewirtschaft hat in seinem Positionspapier „Flexibilität durch Elektromobilität“ vorgeschlagen, wie Flexibilitätspotenziale der Elektromobilität kosteneffizient und kundenfreundlich gehoben werden können. https: / / www.bne-online.de/ de/ presse/ positionspapiere/ QUELLEN: [1] bundesregierung.de: Verkehr. https: / / www.bundesregierung.de/ breg-de/ themen/ klimaschutz/ verkehr-1672896 (Abgerufen am 2.10.2019). [2] Agora Energiewende: „Stromspeicher in der Energiewende“. 2014. [3] Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur: Mobilität in Deutschland. Kurzreport. Verkehrsaufkommen - Struktur - Trends. 2019. [4] Regulatory Assistance Project: Start with smart. 2019. Robert Busch Geschäftsführer bne - Bundesverband Neue Energiewirtschaft e.V. Kontakt: robert.busch@bne-online.de Fanny Tausendteufel Referentin Energiewirtschaft bne - Bundesverband Neue Energiewirtschaft e.V. Kontakt: fanny.tausendteufel@bne-online.de AUTOR*INNEN 22 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität „Viele Betriebe haben erkannt, dass Wasserstoff großes Potenzial für eine klimafreundliche Produktion bietet“, erklärt Friedrich Haas, Geschäftsführer der Haas Engineering GmbH & Co. KG. „So wird der Energieträger etwa in der Stahl- und Metallindustrie, bei der Glasherstellung oder bei der Siliziumproduktion genutzt.“ Während der Einsatz in der Industrie bereits zum Alltag gehört, Zukunftstechnologie Power-to-Fuel CO 2 -Reduktion im Verkehr: Schweizer Unternehmen bauen rentable Tankstellen- Infrastruktur auf Basis von grünem Wasserstoff auf. Zusammenarbeit mit deutschem Ingenieurbüro bei Planung der Elektrolyseanlagen. Jonathan Paul E-Mobility gilt vielerorts als Allheilmittel zur CO 2 -Reduzierung. Doch die geringe Reichweite und mehrstündige Ladezeiten stellen ein Problem für privatwirtschaftliche Unternehmen dar. Eine sinnvolle Alternative besteht in der Nutzung von Wasserstoff (H 2 ) als Treibstoff bei Fahrzeugen mit Brennstoffzellen. Damit erreichen Kraftfahrzeuge ähnliche Reichweiten wie mittels herkömmlichem Treibstoff und sie lassen sich innerhalb weniger Minuten betanken. Doch um Wasserstoff effizient nutzen zu können, ist ein flächendeckendes Tankstellennetzwerk notwendig. Dass das keine unlösbare Aufgabe ist, zeigt das Vorbild Schweiz. Dort hat sich ein Förderverein, bestehend aus mehreren Unternehmen - darunter der Handelskonzern Coop -, zum Ziel gesetzt, die Wasserstofftankstellen-Infrastruktur sukzessive auszubauen. Parallel haben die teilnehmenden Betriebe bereits angefangen, ihre Fuhrparks auf H 2 -betriebene Fahrzeuge umzustellen, damit von Anfang an die Rentabilität der Tankstellen sichergestellt werden kann. Produziert wird der CO 2 -neutrale Wasserstoff in einem Wasserkraftwerk. Das Ingenieurbüro Haas Engineering aus dem baden-württembergischen Gundelfingen war von Anfang an in dieses Vorhaben involviert und erbrachte alle zur Wasserstoff-Produktion notwendigen Ingenieurdienstleistungen. Bild 1: Die aktuell 17 Mitgliedsunternehmen betreiben bis jetzt zusammen insgesamt 2 000 konventionelle Tankstellen und einen Fuhrpark mit rund 4 000 schweren Nutzfahrzeugen. © Coop Genossenschaft 23 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität wird er im Bereich der Mobilität noch skeptisch betrachtet. Ein Grund dafür ist unter anderem das lückenhafte Tankstellennetz, aufgrund dessen bisher noch keine flächendeckende Versorgung mit Wasserstoff gewährleistet ist. Ein weiteres, finanzielles Hindernis stellt die sogenannte EEG-Umlage dar, die nach dem Erneuerbare - Energien - Geset z (EEG) bei der Herstellung von H 2 anfällt. Im Gegensatz dazu wird die batteriebetriebene Elektromobilität durch Kaufprämien subventioniert. Der erste Schritt zu einem flächendeckenden Netzwerk Auch in der Schweiz spielte die Nutzung von Wasserstoff in der Mobilität nur eine unbedeutende Rolle, bis die Coop Genossenschaft, ein dort ansässiger, europaweit tätiger Handelskonzern, im Jahr 2008 beschloss, bis spätestens 2023 CO 2 -neutral zu werden. Das Unternehmen integrierte zunächst sechs Lastkraftwagen mit Batterieantrieb in die betriebseigene Flotte. „Die Anforderungen an unsere Fahrzeuge waren sehr hoch: Sie mussten in der Lage sein, einen Diesel-LKW mit Anhängerbetrieb der 34-Tonnen-Klasse und identischem Leistungsvermögen zu ersetzen, sprich: in erster Linie eine ähnliche Reichweite generieren“, erklärt Jörg Ackermann, der bei Coop für den energietechnischen Wandel mit verantwortlich ist. „Dies konnten gewöhnliche Elektrofahrzeuge bisher nicht leisten.“ Bei der Suche nach einer Alternative stieß Ackermann 2013 auf die Wasserstofftechnologie, die in der Schweiz bis dato kaum praxiserprobt war. Um gemeinsam den Aufbau eines flächendeckenden Wasserstoffnetzes voranzutreiben sowie in Kooperation mit den zuständigen Behörden die notwendigen regulatorischen Grundlagen zu erarbeiten, führte Coop verschiedene Partner und Forschungsanstalten zusammen. Aus diesen Bemühungen heraus entstand im November 2016 die erste Wasserstofftankstelle in der Schweiz, die von einem nahen, CO 2 -neutralen und schadstofffreien Wasserkraftwerk versorgt wird. 2018 folgte die Gründung des Fördervereins H2 Mobilität Schweiz mit heute 17 Mitgliedsunternehmen, dem Ackermann als Präsident vorsteht. Zu den am Projekt beteiligten Unternehmen zählt auch Haas Engineering, das bereits vor 20 Jahren erste Pläne für H 2 -betriebene Industrie- und Mobilitätsanlagen erfolgreich umsetzte. „Wir unterstützen Coop und Unternehmen im Umfeld des neu gegründeten Fördervereins seit 2015 durch umfangreiche Ingenieursdienstleistungen“, erklärt Haas. „Dazu zählt zum Beispiel die Planung von Wasserstoffproduktionsanlagen. Die Herausforderung liegt hier vor allem darin, die Projektziele bereits zu Beginn klar zu definieren, um spätere Änderungen möglichst gering halten zu können.“ Das Schweizer Projekt nimmt auch für die erfahrenen Ingenieure von Haas Engineering eine Sonderrolle ein, da eine ungewohnte Ausgangslage vorliegt. Dies betrifft insbesondere die gesetzlichen Richtlinien und Genehmigungsverfahren für die Elektrolyseanlagen und Tankstellen. Neu gegründeter Förderverein beschließt Aufbau eines flächendeckenden Tankstellennetzes Mit der Inbetriebnahme einer einzigen Tankstelle gab sich der Schweizer Förderverein jedoch nicht zufrieden: „Die Umrüstung des Fuhrparks auf wasserstoffbetriebene Fahrzeuge lohnt sich nur, wenn die Infrastruktur flächendeckend vorhanden ist“, erläutert Ackermann. „Damit sich ein solches Tankstellennetz jedoch rentiert und ausgelastet ist, müssen wiederum genügend Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs sein, die mit Wasserstoff betrieben werden.“ Der Förderverein hat es sich deshalb zum Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2023 ein flächendeckendes Wasserstofftankstellennetz in der Schweiz aufzubauen. Die aktuell 17 Mitgliedsunternehmen betreiben bis Bild 3: Die Coop Genossenschaft, ein europaweit tätiger Handelskonzern aus der Schweiz, eröffnete im Jahr 2016 die erste Wasserstofftankstelle in der Schweiz. © Coop Genossenschaft Bild 2: Betankung eines Fahrzeugs mit Wasserstoff. © Coop Genossenschaft 24 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität jetzt zusammen insgesamt 2000 konventionelle Tankstellen und einen Fuhrpark mit rund 4000 schweren Nutzfahrzeugen. Dadurch ist der Verein in der Lage, die notwendige Infrastruktur mit einem vergleichsweise moderaten Aufwand selbst zu etablieren und diese durch einen eigenen Fuhrpark auch wirtschaftlich zu nutzen. Auf diese Weise entsteht wiederum ein Anreiz für andere Unternehmen und Privatpersonen, ebenfalls auf mit Wasserstoff betriebene Fahrzeuge umzusteigen. Eine Hürde, die der Förderverein zu meistern hatte, war ein Mangel an Lastkraftwagen, die den Leistungsanforderungen der Unternehmen entsprachen. Dafür arbeitete der Verein eng mit der H2 Energy AG zusammen, welche wiederum eine Kooperation mit Hyundai Motor einging. Im Rahmen dieser Kooperation wird der südkoreanische Automobilhersteller bis 2023 etwa 1000 wasserstoffbetriebene Lastkraftwagen der 34-Tonnen-Klasse an die Mitgliedsunternehmen in der Schweiz liefern. Durch diese Vorgehensweise schließt sich ein CO 2 -neutraler, für alle beteiligten Unternehmen wirtschaftlicher Wasserstoffkreislauf von der Herstellung des Energieträgers am Wasserkraftwerk über den Transport zur Tankstelle mittels b r e n n s tof f z e l l e n b e tr i e b e n e r Fahrzeuge bis zur schadstofffreien Nutzung im betriebseigenen Fuhrpark. Auch ein Modell für Deutschland? Während Unternehmen in der Schweiz bereits einen wichtigen Schritt in Richtung CO 2 -Neutralität im Verkehr gemacht haben, steht Deutschland erst am Anfang der Entwicklung. „Deutschland und die Schweiz unterscheiden sich vor allem in steuerlicher Der Förderverein H2 Mobilität Schweiz wurde im Mai 2018 von den Unternehmen Agrola AG, AVIA Vereinigung, Coop, Coop Mineraloel AG, fenaco Genossenschaft, Migrol AG und Migros-Genossenschafts-Bund als gemeinsame Plattform gegründet, um den Aufbau der Wasserstoffmobilität in der Schweiz konkret zu fördern und zu beschleunigen. Ziel des Vereins ist es, in der Schweiz ein flächendeckendes Netz an Wasserstofftankstellen aufzubauen. Zwischenzeitlich haben sich auch die SOCAR Energy Switzerland GmbH, Shell, die Emil Frey Group, Galliker Transport & Logistics, Camion Transport, G. Leclerc Transport, F. Murpf, Tamoil, Chr. Cavegn und die Emmi Schweiz angeschlossen. Sie vereinen über 4000 schwere Nutzfahrzeuge und über 2000 Tankstellen in der Schweiz. Die Vereinsmitglieder wollen durch die Unterstützung dieser nachhaltigen Form der Elektromobilität einen Beitrag zur Erreichung der CO 2 -Ziele im Straßenverkehr leisten. FÖRDERVEREIN H2 MOBILITÄT SCHWEIZ Haas Engineering GmbH & Co. KG ist ein verfahrenstechnisches Ingenieurbüro mit mehr als 30-jähriger Erfahrung. Das Unternehmen bietet die gesamte Bandbreite an Ingenieurdienstleistungen für die pharmazeutische und chemische Industrie sowie für den Bereich der erneuerbaren Energien an. Das Portfolio umfasst unter anderem die Durchführung von Machbarkeitsstudien, Vorstudien, Basic Engineering, Detail Engineering sowie die Überwachung und Inbetriebnahme aller Projektphasen. HAAS ENGINEERING GMBH & CO. KG Bild 4: Produziert wird der Wasserstoff CO 2 -neutral und ohne Schadstoffe in einem nahen Wasserkraftwerk mit Hilfe von Elektrolyseuren. © Haas Engineering GmbH & Co. KG 25 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität SMARTE IDEEN SMARTE LÖSUNGEN SMART ENERGY GEMEINSAM ZUKUNFTS- TECHNOLOGIEN ERLEBEN. EUROPAS FÜHRENDE ENERGIEFACHMESSE E-WORLD ENERGY & WATER 11. - 13. FEBRUAR 2020 ESSEN | GERMANY #Eworld2020 www.e-world-essen.com und wirtschaftlicher Hinsicht“, berichtet Haas von seinen Erfahrungen. „Die CO 2 -freie Mobilität wird in der Schweiz vorteilhafter behandelt als hierzulande. Außerdem sind die Genehmigungsverfahren für die notwendigen Anlagen kürzer, was die Umsetzung der Projekte vereinfacht.“ In den vergangenen Monaten ist jedoch ein zunehmendes Interesse der Öffentlichkeit an der Brennstoffzellenthematik und der CO 2 -Freiheit zu bemerken. So wurden erst kürzlich beim vom Bundeswirtschaftsministerium ausgelobten Ideenwettbewerb „Reallabore der Energiewende“ zahlreiche Projekte ausgezeichnet, die sich im industriellen Maßstab mit Wasserstofftechnologien befassen. „Wenn diese Stimmung anhält und langfristig die politischen Rahmenbedingungen verbessert werden, stehen die Chancen für ein Projekt wie in der Schweiz durchaus gut. Dies setzt aber voraus, dass sich einerseits Investoren finden, um die notwendigen Technologien voranzutreiben, und andererseits Unternehmen bereit stehen, die gewillt sind, solche Projekte zu unterstützen und mitzutragen“, so Haas. Ackermann ist mit dem bisherigen Projektverlauf in der Schweiz sehr zufrieden: „Aus meiner Sicht hat das System dann dauerhaft Erfolg, wenn ausschließlich grüner Wasserstoff eingesetzt, ein privatwirtschaftlicher Ansatz verfolgt und die Wirtschaftlichkeit für alle Beteiligten sichergestellt wird.“ Weitere Informationen im Internet unter: https: / / h2mobilitaet.ch und www.haasengineering.de Dipl.-Ing. Jonathan Paul Projektleiter Haas Engineering GmbH & Co. KG Kontakt: info@haasengineering.de AUTOR 26 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Im Kölner Stadtteil Mülheim (Stegerwaldsiedlung) funktionieren Energiegewinnung und -management anders als in anderen Nachbarschaften. Das liegt vor allem an dem lokalen Energiemanagement-System „Siedlungsmanagement“, welches die Stadt als sogenannte Leuchtturmstadt im Rahmen des EU Horizon 2020 finanzierten GrowSmarter-Projektes entwickelt hat. In seiner Größenordnung und Reichweite auf Nachbarschaftsebene ist das System dabei europaweit einzigartig. In Form einer Software wurde das „Siedlungsmanagement“ zunächst von dem Energieunternehmen RheinEnergie in den Häusern der Wohnungsbaugesellschaft DEWOG installiert, um große Teile der dortigen Energieproduktion, wie auch den Verbrauch des gesamten Wohngebiets mit seinen 16 Wohnblöcken und mehr als 700 Häusern zu organisieren. Die Software ist ein wichtiges Element der umfassenden, umweltfreundlichen Sanierung der 16 Wohnblöcke in der Stegerwaldsiedlung, erklärt Christian Remacly von RheinEnergie und Verantwortlicher der Stadt Köln für den Bereich Intelligente Netze im GrowSmarter Projekt. „‚Siedlungsmanagement ‘ verwaltet die Leistung von 41 neuen Wärmepumpen mit 492- kWth, Photovoltaikanlagen mit einer Leistung von bis zu 1000- kWp, sowie die der 16 Batterien mit 210kW/ 655kWh, die wir in dem Wohngebiet eingesetzt haben. Um sicherzustellen, dass die dabei erzeugte Energie direkt vor Ort wieder verbraucht wird, analysiert das System die Daten Lokal erzeugte erneuerbare Energie Gemeinsame Ressource aus der Nachbarschaft - für die Nachbarschaft Esben Pejstrup, Alexandra Pfohl Bereits seit langem experimentieren Städte in ganz Europa mit lokaler Energiegewinnung, um ihre zentralen Stromnetze zu entlasten. Die dabei gewonnene Energie in eine Ressource für die gesamte Nachbarschaft zu verwandeln, ist dabei allerdings weiterhin eine Herausforderung. Die Stadt Köln hat dafür nun womöglich eine Lösung gefunden. Bild 1: Stegerwaldsiedlung. © DEWOG 27 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie anhand spezieller Algorithmen. Im Rahmen von GrowSmarter haben wir damit nicht nur die Energieeffizienz erhöht und die Einspeisung erneuerbarer Energien in den Energiemix gesichert, sondern auch dafür gesorgt, dass der Verbrauch auf die bestmögliche Weise erfolgt.“ Das System kann zudem auf eine Reihe von Zählern zurückgreifen, um Energieverbrauchsmuster in der Nachbarschaft zu erkennen und vorherzusagen. Dies erlaubt es dem System nicht nur die Energieerzeugung im Wohnblock bis zu 36 Stunden im Voraus zu prognostizieren, sondern diese auch zu optimieren. Die Prognosen werden anhand von etwa 6000 verschiedenen Datenpunkten ermittelt, die jedes Haus alle 15 Minuten an das System übermittelt. Ein gekoppeltes Energienetz für die Nachbarschaft Dabei verwaltet das Siedlungsmanagementsystem jedoch nicht nur die von den Photovoltaikanlagen (PV) produzierte Energie und verteilt sie zwischen Batterie und Anlage, sondern es vernetzt sich zudem mit insgesamt 73 weiteren Energiesystemen in der Umgebung, einschließlich dem externen Fernwärmenetzwerk. „Siedlungsmanagement ermöglicht einen weitaus höheren Selbstversorgungsanteil der gesamten Nachbarschaft. Gleichzeitig ist dabei gerade die Anbindung an das städtische Energienetzwerk besonders wichtig für die Stadt. Die Kontrolle und die Erkenntnisse, die wir durch das lokale Energiemanagementsystem gewinnen, tragen zu einer Entlastung der Netze bei und ermöglichen es uns, die derzeitige Versorgung mit fossilen Brennstoffen durch nachhaltige, dezentral erzeugte Energie zu ersetzen,“ so Christian Remacly. Darüber hinaus versorgt das System noch eine weitere Smart City-Initiative, die im Rahmen des GrowSmarter-Projektes in Köln durchgeführt wird. An einer in der Siedlung eingerichteten Mobilitätsstation können Anwohner nun auf eine Reihe von E-Fahrzeugen und andere Mobilitätsoptionen zugreifen. Die Station nutzt dabei die in der Nachbarschaft erzeugte Energie für den Antrieb der dort verfügbaren Elektroautos und Fahrräder. In Zukunft soll das intelligente Netz der Stegerwaldsiedlung auch dazu beitragen, den Stromverbrauch einzelner Wohnungen besser vorhersagen zu können. Dafür wird Anwohnern derzeit eine „Smart Home Management System“-Option angeboten. Erste Schritte, um das Energiemanagement künftig auch auf einzelne Haushalte auszudehnen und damit den Bewohnern ihre individuellen Verbrauchsdaten zur Verfügung zu stellen, wurden dafür bereits im Rahmen von GrowSmarter unternommen. Das System selbst ermittelt den Verbrauch einzelner Wohnungen nicht grundsätzlich, sondern nur den Verbrauch derjenigen Anwohner, welche spezielle, intelligente Zähler in ihren Wohnungen installiert haben wollten. Die Bewohner können ihre persönlichen Verbrauchsdaten in einer App einsehen. Es besteht zudem die Möglichkeit die Energieverbrauchsdaten der Nachbarschaft über eine von GrowSmarter ins Leben gerufenen, offenen Plattform zu teilen. „Vernetzung und eine sensible, angemessene Nutzung und Verwaltung von Daten sind zwei Kernpunkte für intelligente Städte, die Smart Cities der Zukunft. In Köln haben wird dazu in den letzten Jahren große Fortschritte Bild 3: Mobility Station. © StadtKöln Bild 2: Überblick- Siedlungsmanagement 2018. © RheinEnergie 28 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie erzielt. Das Energiemanagementsystem in der Stegerwaldsiedlung beweist wie viel in einzelnen Nachbarschaften bewegt werden kann. Mehr als die Hälfte des Energiebedarfs wird jetzt von vor Ort erzeugten erneuerbaren Energien abgedeckt und dabei von ‚Siedlungsmanagement ‘ gesteuert. Wir haben das Knowhow, um diese Lösung weiter auszuweiten und auch in anderen deutschen Städten anzuwenden“, erklärt Christian Remacly. Europäische Zusammenarbeit für intelligente Netze Im Rahmen von GrowSmarter arbeitet Köln seit Beginn des Projektes 2015 eng mit Stockholm und Barcelona, zwei weiteren Leuchtturmstädten, zusammen. Beide Städte haben dabei ebenfalls neue Ansätze entwickelt, um ihre Stadtgebiete nachhaltiger zu gestalten und gleichzeitig die Netze zu entlasten. In Barcelona umfasst das intelligente Stromnetz eine umfangreiche Installation von Photovoltaikanlagen in Dienstleistungs- und Wohngebäuden. Anschließend wurden die einzelnen Gebäude zudem mit einer eigenen Batterie- und Speicherkapazität sowie einer intelligenten Energiemanagement-Software versehen, um die einzelnen Gebäude so autark wie möglich zu machen. Zusätzlich werden dem Managementsystem Wettervorhersagen und die aktuellen Strompreise übermittelt, um Produktion und Verbrauch bestmöglich anzupassen. In Stockholm wurde besonderes Augenmerk auf die Reduzierung der Bedarfsspitzen gelegt - eines der Hauptziele der Stadt bei der Energieoptimierung innerhalb eines intelligenten Stromnetzes. Die Stadt installierte in verschiedenen Gebäuden PV-Anlagen, Stromspeicher und Wechselrichter wodurch wichtige Schlussfolgerungen hinsichtlich des Spitzenstromverbrauchs und der optimalen Anbringung von Photovoltaikanlagen gezogen werden konnten. So ermittelte das GrowSmarter-Team in Stockholm etwa, dass die Photovoltaikanlagen für einen optimalen Ertrag nicht nach der höchstmöglichen Gesamtproduktionsleistung ausgerichtet werden sollten, sondern so, dass die Anlagen eine optimale Produktion gegen 16 Uhr erreichen - nämlich dann, wenn der Verbrauch im Gebäude am höchsten ist. Esben Pejstrup Kommunikation ICLEI Europa Kontakt: esben.pejstrup@iclei.org Alexandra Pfohl Kommunikation ICLEI Europa Kontakt: alexandra.pfohl@iclei.org AUTOR*INNEN Jetzt geht es vor allem darum, dass solche Lösungen europaweit von Städten aufgegriffen und etabliert werden, erklärt Carsten Rothballer, Koordinator für Nachhaltige Ressourcen bei ICLEI Europe, einem globalen Verband von Städten, Gemeinden und Landkreisen für Umweltschutz und nachhaltige Entwicklung, und verantwortlich für die Anwendung des Systems in anderen europäischen Städten. „Köln und die anderen Leuchtturmstädte im Projekt haben hervorragende Arbeit im Bereich lokale Energieproduktion geleistet und einige der größten Hindernisse auf dem Weg zu dezentralen, intelligenten Netzwerken adressiert. Eine flexible Herangehensweise an lokale Energieproduktion und deren Rolle im gesamten Energiesystem ist eine der Hauptaufgabenbereiche für Städte, die das Pariser Abkommen und die Energiewende unterstützen wollen. Die Lösungen, die wir in GrowSmarter gefunden haben, können dabei für Städte eine große Hilfe sein“. Das GrowSmarter Projekt endet im Dezember 2019. Informationen zu dem Projekt und den entwickelten Lösungsansätzen und Systemen sind abrufbar unter: www.grow-smarter.eu. Bild 4: Mobility Station. © StadtKöln 29 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Als erstes deutsches „Mobilfunknetz“ ging das A-Netz 1958 in Betrieb. Seinerzeit wurden Gespräche manuell vermittelt. Auch die Mobilität war sehr eingeschränkt, da die erforderliche voluminöse Röhrenfunkanlage in den Kofferraum eines großen Autos eingebaut werden musste. Aufgrund der deshalb lediglich knapp 11 000 Teilnehmer erwies sich das A-Netz nicht als massentaugliche Technologie. Das analoge B-Netz - immerhin bereits für Selbstwähler konzipiert - sollte ebenfalls kein Massenprodukt werden. Es funkte von 1972 bis 1994 und ersetzte das 1977 eingestellte A-Netz. Die Übertragung zwischen Feststation und Mobiltelefon erfolgte analog und unverschlüsselt, sodass jeder, der ein Funkgerät mit entsprechendem Empfangsbereich besaß, die Gespräche mithören konnte. 1985 wurde das B-Netz dann vom C-Netz abgelöst. Analoges C-Netz mit ersten Mobiltelefonen Mit dem analogen C-Netz reduzierten sich die Größe und der Preis der Autotelefone. Erste tragbare Mobiltelefone kamen auf den Markt und der uns jetzt bekannte Mobilfunk begann. Das auf dem C-450-Standard basierende C-Netz war die letzte analoge Generation des Mobilfunks. Es wurde von 1985 bis 2000 auf den Frequenzen um 450 MHz betrieben und bot den Nutzern einige heute selbstverständliche Vorteile: den zellularen Aufbau sowie eine unterbrechungsfreie Verbindungsübergabe zwischen den Funkzellen. Damals gab es die einheitliche Vorwahl 0161, Mobilfunk im Wandel Umfassende Konnektivität als Ziel Andreas H. Schmidt Heute ist fast jeder Mensch rund um die Uhr mobil erreichbar. Mit seinem Smartphone surft er zudem im Internet, streamt Musik und lädt Filme in HD-Qualität herunter. Im Bereich der Maschinen, Anlagen und dezentralen Stationen fehlt oft eine solch durchgängige Vernetzung. Doch um Prozesse noch flexibler und effizienter zu gestalten, wird eine umfassende Konnektivität benötigt. Der neue Kommunikationsstandard 5G eröffnet hier wichtige Perspektiven. © Phoenix Contact 30 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation unter der bis zu 850 000 Teilnehmer erreicht werden konnten. Ab 1990 wurde das C-Netz um eine automatische Rufweiterleitung und den netzgestützten Anrufbeantworter ergänzt. Eine Verschleierung des Funksignals erschwerte das unberechtigte Abhören der Kommunikation. Weitere europäische Länder setzten allerdings andere, nicht miteinander kompatible Standards wie NMT (NMT-450) oder TACS ein. Das verhinderte ein internationales Roaming der Nutzer und war einer der wesentlichen Gründe für die Entwicklung von GSM (Global System for Mobile Communications). Digitales GSM-Netz (2G) für die grenzüberschreitende Nutzung Anfang der 1990er Jahre wurde das digitale GSM-Mobilfunknetz erst in Europa und später weltweit aufgebaut. Schon 1987 einigten sich die europäischen Länder auf die erste GSM-Spezifikation. Parallel sorgte die EU-Kommission für die Harmonisierung des Spektrums auf 900- MHz. Der weltweit erste Anruf über GSM fand 1991 im Netz des finnischen Anbieters Radiolinja statt. In Deutschland funkten 1992 die ersten D-Netze als zellulares, digitales Mobilfunksystem im GSM-900-Frequenzbereich im Regelbetrieb. 2005 wurde der GSM-Standard bereits von mehr als 200 Staaten weltweit unterstützt. Durch das Roaming-Abkommen war es möglich, Mobiltelefone grenzüberschreitend zu verwenden. Seinerzeit sollte per GSM Sprache übertragen werden. Die heute bekannte Datenkommunikation war zu diesem Zeitpunkt nicht relevant. Die SMS, die eigentlich für Störungsmeldungen geplant war, startete ihren Siegeszug als Messaging-Dienst ab Mitte der 1990er Jahre (Bild- 1). Mit seinen 160 Zeichen erfreute sich der Dienst so großer Beliebtheit, dass die Netzbetreiber einen hohen Umsatz erwirtschafteten. Erst durch den Boom der New Economy an den Börsen stieg Ende der 1990er Jahre der Bedarf, Daten über das bestehende Mobilfunknetz zu senden. Aus diesem Grund wurden die GSM-Mobilfunknetze zunächst um GPRS (General Packet Radio Service) und danach um EDGE (Enhanced Data Rates for GSM Evolution) erweitert. Die entsprechend modernisierten GSM- Netze werden auch als Generation- 2.5 bezeichnet. Selbst wenn die technischen Unterschiede nicht sofort ersichtlich sind, erweisen sie sich als gravierend: Bei GSM ist der Datenaustausch leitungsvermittelnd, bei GPRS/ EDGE paketorientiert, will heißen die Kommunikation erfolgt per IP-Adresse mit einer Datenrate bis 64 kBit/ s. Schnelleres UMTS- Netz (3G) zur stärkeren Berücksichtigung der Datenübertragung Rund acht Jahre nach der Einführung von GSM wurden 2000 die Mobilfunknetze der dritten Generation (3G) auf der Grundlage von UMTS (Universal Mobile Telecommunications System) aufgebaut. Das Europäische Institut für Telekommunikationsnormen (ETSI) hatte UMTS ursprünglich standardisiert. Heute wird der Standard durch das 3rd Generation Partnership Project (3GPP) weitergepflegt. Anders als bei GSM fand die Datenübertragung im Vergleich zur Telefonie nun eine wesentlich stärkere Berücksichtigung. Neue Technologien innerhalb der 3G-Netze ermöglichen deutlich höhere Datenraten als bei GSM, GPRS oder EDGE: bis zu 42 MBit/ s mit HSPA+ respektive maximal 384 kBit/ s bei UMTS. Mit den 3G-Netzen haben das mobile Internet, Multimedia- Streaming und Global Roaming Einzug in den Alltag gehalten. Im August 2000 zahlten die deutschen Netzbetreiber rund 100 Milliarden Deutsche Mark für das 3G-Spektrum im 2,1-GHz-Band. Dies war der höchste Betrag, der Bild 1: Mit dem Gerät der Produktfamilie TC Mobile IO werden die Mitarbeiter per SMS beispielsweise über eine Störung informiert. © Phoenix Contact Bild 2: Phoenix Contact stellt verschiedene Geräte für den Mobilfunkstandard 4G zur Verfügung. © Phoenix Contact Bild 3: ZVEI und Telekommunikationsbranche haben die Initiative 5G-ACIA gegründet, in der Phoenix Contact von Beginn an mitarbeitet. © Phoenix Contact 31 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation weltweit für die Frequenzen erlöst wurde. Aus den hohen Kosten resultierte unter anderem der schleppende Durchbruch von UMTS im Massenmarkt. Latenzoptimiertes LTE-A- Netz (4G) für High-Speed Internet und Multimedia- Streaming 4G steht für den Mobilfunkstandard der vierten Generation. Im August 2010 nahm die Deutsche Telekom den ersten LTE-Mast (Long Term Evolution) in Deutschland in Betrieb. Streng genommen erfüllte die erste LTE-Generation mit einer Datenrate von 150 MBit/ s noch nicht die Kriterien, welche die 3GPP für 4G formuliert hatte. Daher handelt es sich bei LTE aus technischer Sicht nur um 3.9G. Erst bei LTE Advanced (LTE-A), das mit Trägerbündelung und MIMO-Antennentechnik (Multiple Input Multiple Output) Bitraten von mehr als 1 GBit/ s erreicht, kann von 4G gesprochen werden. Die Architektur von LTE ist rein paketorientiert und im Evolved Packet System (EPV) beschrieben. Aufgrund der geringen Latenzzeit von LTE lassen sich Sprachdienste (VoIP) und Videotelefonie über das IP-Protokoll sowie mobiles High-Speed Internet und Multimedia-Streaming in HD übertragen (Bild 2). Ultraschnelles 5G-Netz als Schlüsseltechnologie der digitalen Transformation Anfang 2017 begann die 3GPP mit den Spezifikationsarbeiten zu 5G. Laut Bundesregierung stellt 5G die „Schlüsseltechnologie der digitalen Transformation“ dar. Sicher ist, dass der Funkstandard die digitale Zukunft Deutschlands prägen wird. Mit ihm lassen sich Daten wesentlich schneller - mit bis zu 10 GBit/ s - drahtlos weiterleiten. Große Fortschritte bringt 5G zudem hinsichtlich der Latenz, die unter einer Millisekunde betragen kann (Bild 3). Darüber hinaus können 5G- Netze so aufgebaut werden, dass sie hunderttausende in smarten Städten und Industrieanlagen installierte Sensoren miteinander vernetzen. Möglich wird dies durch das sogenannte Network Slicing. Die zugrunde liegende Technologie erlaubt, in einem physischen 5G-Netz mehrere virtuelle Netze aufzuspannen. Diese Slices können dann unterschiedliche Merkmale aufweisen, zum Beispiel geringe Latenz, eine besonders hohe Datenrate oder die Fähigkeit, Daten von sehr vielen Geräten gleichzeitig zu kommunizieren. Auf diese Weise wird das Mobilfunknetz gleichzeitig den Bedürfnissen verschiedener Benutzergruppen gerecht. Ab dem zweiten Halbjahr 2019 vergibt die Bundesnetzagentur über ein Antragsverfahren weitere für 5G geeignete Frequenzen im Bereich von 3,7 bis 3,8 GHz. Diese Frequenzen sollen beispielsweise Industrieunternehmen lokal nutzen können, um eigene, nicht-öffentliche 5G-Industrienetze zum Datenaustausch in ihren Fabriken zu errichten und privat zu betreiben. So lassen sich anspruchsvolle Anwendungen realisieren, wie die Steuerung und Vernetzung von Robotern, Maschinen und anderen Geräten, in der Warenlogistik sowie beim autonomen Fahren, da 5G höchste Anforderungen an die Verfügbarkeit und Latenz erfüllt. Doch selbst wenn private schneller als öffentliche 5G-Netze installiert sein werden, müssen entsprechende Geräte erhältlich sein. Bis die notwendigen Chips entwickelt sind und in die Geräte eingebaut werden können, wird noch einige Zeit vergehen. Es ist also ein wenig Geduld beim Anwender gefragt (Bild 4). 1. Verbessertes mobiles Broadband Enhanced Mobile Broadband (eMBB) steht für eine hohe Verfügbarkeit des Netzes sowie hohe Kapazität und Datenraten. Hierzu führt das Anwenderprofil technische Neuerungen ein: zusätzliche Frequenzen und weiterentwickelte Gruppenantennen, die Massive MIMO und Beamforming - ein Verfahren zur Positionsbestimmung von Quellen - erlauben. 2. Massive Maschine-zu-Maschine- Kommunikation Mit Massive Machine Type Communications (mMTC) sollen kosteneffiziente und robuste Verbindungen zwischen Milliarden von Geräten ermöglicht werden, ohne das Netzwerk zu überlasten. Wichtig dabei sind ein geringer Energieverbrauch, langfristige Verfügbarkeit, niedrige Wartungskosten sowie eine sehr gute Netzabdeckung. 3. Ultrazuverlässige, verzögerungsfreie Kommunikation Ultra-Reliable Low Latency Communications (URLLC) erschließt eine völlig neue Klasse von Anwendungsfällen. Es werden neue Anforderungen verschiedener Branchen unterstützt, zum Beispiel autonomes Fahren, selbstlenkende Gabelstapler, intelligente Roboter in der Produktion sowie weitere Industrie 4.0-Anwendungen. VERSCHIEDENE ANWENDUNGSFELDER VON 5G Andreas H. Schmidt Senior Specialist Mobile Networks Phoenix Contact Electronics GmbH Kontakt: info@phoenixcontact.de AUTOR Bild 4: Der 4G-Standard wird integraler Bestandteil von 5G bleiben. © Phoenix Contact Mehr Informationen: phoe.co/ industrial-communication-standards 32 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Im dicht besiedelten Deutschland leben 77,3 Prozent der Einwohner in Städten [1]. Doch je mehr Menschen in die Städte ziehen, desto mehr verschärfen sich auch Probleme durch die Verkehrs- und Umweltbelastung oder das Müllaufkommen. Dem wollen Smart-City-Initiativen entgegenwirken. Digitalisierung soll nicht bloßer Selbstzweck sein, neue Technologien und Vernetzung werden eingesetzt, um die Lebensqualität der Bürger zu verbessern. Aus Situation und Identität jeder Stadt lässt sich ableiten, wo Handlungsbedarf besteht. Doch für Smart City-Anwendungen muss zuerst eine Kommunikationsinfrastruktur aufgebaut werden. Diese wird dann mit einer zentralen IoT-Plattform verbunden, welche die übertragenen Sensordaten auswertet und den smarten Apps bereitstellt. Die Datenübertragung muss über weite Strecken kabellos sowie durch Betonwände und Häuserblocks funktionieren. Sensoren, die an Parkplätzen, Laternenmasten, Müllcontainern oder Feinstaub-Messstationen installiert werden, sollen für das Erfassen und Senden von Messwerten wenig Strom verbrauchen. Die Messfühler laufen in der Regel im Batteriebetrieb. Ein Wechsel der Akkus ist aufwendig, was es zu vermeiden gilt. Darüber hinaus muss die Datenübertragung sicher sein und gewährleisten, dass die Daten authentisch sind. WLAN und Mobilfunk scheiden aus Welche Funktechnik - WLAN, Mobilfunk oder LoRaWAN (Long Range Wide Area Network) - erfüllt die Kriterien für eine Kommunikationsinfrastruktur am besten? WLAN scheidet für Smart-City- Projekte schnell aus, auch wenn diese Technik wenig kostet und lizenzfrei ist. Denn die Nachteile wiegen schwerer: WLAN verbraucht viel Strom, reicht nicht weit und Probleme gibt es beim Durchdringen dicker Betonmauern oder tiefer Keller. Außerdem kann jeder, der will, die schmalen Frequenzbänder belegen. Aus diesem Grund ist eine künftige Überlastung anzunehmen. Im Gegensatz dazu kann Mobilfunk große Entfernungen überwinden. Allerdings verbraucht die Technik viel Energie - und ist teuer, denn für den Provider entstehen monatliche Kosten. Daneben zahlen Nutzer einen weiteren Preis: Die Datenhoheit liegt beim Mobilfunknetzbetreiber. Abgesehen davon liegt aber der große Vorteil darin, dass der aktuelle Mobilfunkstandard LTE größere Datenmengen schnell drahtlos über weite Distanzen transportiert. Er eignet sich also für Video-Streams oder Echtzeit- Datentransfers, bei denen viel Bandbreite gefragt ist und eine geringe Latenz entscheidend ist. Der neue Mobilfunkstandard 5G hingegen verspricht einen Leistungsschub, was ihn künftig prädestiniert, den Datentransfer für viele IoT-Anwendungen abzuwickeln, insbesondere für autonomes Fahren. Denn hierbei geht es um Sekundenbruchteile, um Sicherheit im Verkehr zu gewährleisten. Es wird jedoch noch ein wenig dauern, bis die 5G-Netze vollständig aufgebaut sind. LoRaWAN ist erste Wahl Auf 5G zu warten, ist jedoch nicht der einzige Weg, den vernetzte Städte gehen können: Bei Smart- City-Projekten fallen in erster Linie kleine Datenpakete an, die nicht latenzkritisch sind und keine kontinuierliche Kommunikation erfordern. Die Vorzüge des Mobilfunks kämen nicht zum Tragen. Im Vergleich zum Mobilfunk und WLAN ist LoRaWAN stromsparend, hat eine große Reichweite und kostet keine monatliche Gebühr. Seine geringe Datenrate von 50 KB/ s liegt noch Basis für die Stadt der Zukunft Die Technologie LoRaWAN wird sich zum Funkstandard für smarte Services in der Stadt etablieren Bernhard Kirchmair Smart-City-Anwendungen verbessern die Lebensqualität in Städten, benötigen jedoch eine geeignete Kommunikationsinfrastruktur, um reibungslos zu funktionieren. Das Mittel der Wahl ist hier der Funkstandard LoRaWAN. Denn mit LoRaWAN können Daten störungsfrei und kabellos über weite Distanzen, in tiefe Keller und durch dicke Betonwände übertragen werden. Auch der Netzaufbau geht schnell und kostet nicht viel. © Gerd Altmann auf Pixabay 33 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation unter denen der 56K-Modems, die früher geräuschvoll den Internetzugang herstellten. In smarten Städten reicht LoRaWAN aus, um die dortigen kleinen Datenpakete sicher zu übertragen. Dazu bietet es weitere Vorteile: LoRaWAN ist technisch gesehen ein Low Power Wide Area Network (LPWAN), es zeichnet sich durch langlebigen Batteriebetrieb der einfachen Sensoren aus. Charakteristisch ist für solch ein Funknetz, dass es eine hohe Empfangsempfindlichkeit aufweist. Insgesamt ist der Netzaufbau einfach und kostengünstig herzustellen. Für eine Stadt mittlerer Größe reicht beispielsweise schon eine einzige Basisstation, solange diese in großer Höhe installiert wird und nur im Außenbereich funken soll. Sie deckt unter diesen Voraussetzungen maximal einen Umkreis von 15 Kilometern ab. Ihre Signale gehen mit TCP/ IP SSL-verschlüsselt an einen Netzwerk-Server, der mit dem Applikationsserver für Smart-City-Anwendungen verbunden ist, um beispielsweise den Status der Straßenbeleuchtung anzuzeigen. Genutzt wird für LoRaWAN in Europa das 868-Megaherz- Frequenzband - ein öffentliches Band, auf dem jeder Funkdienste lizenzfrei betreiben darf. Die Anbindung erfolgt über offene Schnittstellen (Apllication Programming Interfaces, APIs), sodass es schnell und einfach möglich ist, Sensoren hinzuzufügen. Daher kann eine Stadt ihr Netz, über das sie die Datenhoheit hat, einfach über weitere Basisstationen erweitern. Verkehr, Müll, Abwasser und das Ganze im Blick Das Einsatzfeld für LoRaWAN ist groß. Denn der Bedarf, lokal begrenzte Projekte umzusetzen, bei denen sensible Daten verarbeitet werden, besteht eigentlich überall. Je nach Situation vor Ort haben unterschiedliche Projekte Vorrang. Großstädte gewinnen viel, wenn sie den Verkehr flüssiger gestalten. In Winterthur lag der Bedarf zuerst in einer intelligenten Straßenbeleuchtung, während man sich in Heidelberg zunächst auf eine optimierte Müllentsorgung konzentrierte. Auch Freiburg praktiziert Smart-City-Technik. Die Stadt im Breisgau hat insgesamt 20 Gateways für ein flächendeckendes LoRaWAN installiert. Ein erstes Projekt ist die Überwachung des Abwassersystems [2]. Bisher mussten die Monteure tief in die Schächte klettern, um die Wasserzähler abzulesen. Eine mühsame Angelegenheit - zwei Arbeitskräfte schafften am Tag gerade einmal fünf Einheiten. Jetzt wurden in den Kanalschächten Sensoren angebracht, die die Wassermenge, den Druck, die Fließgeschwindigkeit und die Temperatur messen. Die Sensoren senden die Informationen ans nächste LoRaWAN-Gateway, das sie zur Auswertung an den Server des Abwassernetzbetreibers bnNetze weiterleitet. Die Funktechnik LoRaWAN bildet die Basis in einem Gesamtkonzept für eine Smart City, das mögliche Vorhaben auflistet und priorisiert, Verantwortlichkeiten benennt und Entscheidungsstrukturen schafft. Ein weiterer wichtiger Baustein ist eine Plattform, auf der Anwendungen entwickelt und betrieben, Daten ausgetauscht und die Identitäten von Bürgern sicher verwaltet werden. Diese Plattform benötigt offene APIs, um sie an die digitalen Verwaltungsprozesse, IT-Systeme sowie Operational Technologie (OT) wie Verkehrssteuerungen oder Wasserversorgung anzubinden. Zudem muss die Plattform skalieren können, um Projekte nach und nach umzusetzen. Smarte Services für die Bürger - und mit ihnen Mit LoRaWAN steht eine Funktechnik zur Verfügung, mit der Großstädte, kleinere Städte und Gemeinden Smart-City-Projekte schnell und kostengünstig realisieren können. Die Infrastruktur stellt sie nicht vor riesige Herausforderungen. Nicht zu unterschätzen ist hingegen, dass Stadtverantwortliche den Bürgern erklären müssen, wie und wo die smarten Services ihren Alltag verbessern. Bürgerbeteiligung ist daher ein wesentlicher Aspekt - sie lässt sich beispielsweise über eine Kommunikationsplattform herstellen. Auf der können sich Bürger mit ihren Ideen einbringen und am Entwicklungsprozess teilhaben. Das gelingt am besten, wenn eine Stadt mit einem kleinen Pilotprojekt in einem ausgewählten Stadtbezirk beginnt und dies dann von den Bürgern testen lässt. Im Gegenzug gibt es wertvolles Feedback, das die Entwickler aufgreifen sollten. Letztendlich steigt so die Akzeptanz gegenüber den digitalen Neurungen. QUELLEN [1] Urbanisierungsgrad: Anteil der Stadtbewohner an der Gesamtbevölkerung in Deutschland, von 2000 bis 2017, statista, 19. 09. 2018. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 662560/ umfrage/ urbanisierung-in-deutschland/ [2] LoRaWAN: Ein Netzwerk für die Smart City; Angela Schmid: Edison powered by Tagesspiegel, 30. 04. 2018; https: / / edison. h a n d e l s b l a t t . c o m / e r k l a e r e n / lorawanein-netz werk-fuer-diesmart-city/ 21212384.html Dr. Bernhard Kirchmair Chief Digital Officer VINCI Energies Europe East Kontakt: ved@akima.de AUTOR 34 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Was macht Städte und Gemeinden smart? Big Data: Die Möglichkeiten, die das Sammeln und Auswerten großer Datenmengen schafft, sind gigantisch. Die Datenflut aus elektronischer Kommunikation in sozialen Netzwerken, aus Smartphones oder Navigationsgeräten, von Kundenkarten oder Überwachungssystemen ist die Basis für völlig neue Anwendungen und Geschäftsmodelle. Ein Ansatz des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung, IGD, ist es, beispielsring, Steuerung und Analyse von Gebäuden, optimierte Verkehrsplanung und für individualisierte Mobilität. Dafür entwickelt das Fraunhofer IGD Technologien für die Datenintegration und -exploration, es verarbeitet große Datenmengen in der Cloud und betreibt Big Data Analytics. Die Analyse von Sensordaten sowie die Ausführung und Optimierung von dreidimensionaler Visualisierung und Simulation gehören zum Portfolio. Mit zwei neuen Software-Systemen zur digitalen Stadtplanung legt das IGD nun anpassungsfähige Werkzeuge für verschiedene kommunale Aufgabenstellungen vor. Zum bürgerschaftlichen Dialog mit smarticipate Im Rahmen des EU-Projektes smarticipate hat das Fraunhofer IGD eine Plattform entwickelt, mit der Bürger*innen online Ideen für die Gestaltung der eigenen Nachbarschaft einreichen können. So werden Bürger*innen intensiver an politischen Entscheidungen und Planungsprozessen ihrer Städte beteiligt. Durch die Visualisierung verschiedener Planungsparameter lässt sich ein direktes Feedback zur Umsetzbarkeit einholen. Vorteil: Die Stadtverwaltung beschäftigt sich nur mit den Fällen, die grundsätzlich durchführbar sind und später von den Anwohnern auch akzeptiert werden. Das Risiko von Fehlinvestitionen wird durch das Einbeziehen der Anwohner bereits in der Phase der Entscheidungsfindung verringert. Ergebnis ist ein intelligentes System, dessen anschauliche 3D-Visualisierungen und Feedback-Funktionen leicht zu bedienen sind. In Rom, London und Hamburg wurde die Anwendung an konkreten Fallbeispielen getestet. Visualisierungen machen Stadtplanung verständlich Bürgerbeteiligung sichert Akzeptanz neuer Projekte Stadtplanung ist in heutiger Zeit weit mehr erfolgversprechend, wenn sie alle Beteiligten digital und unkompliziert einbezieht. Das Fraunhofer IGD hat zwei Systeme zur digitalen Stadtplanung entwickelt, die nach Pilotphasen und Praxistests nun für den Einsatz in Kommunen zur Verfügung stehen. Mit realitätsgetreuen Visualisierungen können bereits in der Planungsphase alle Beteiligten optimal einbezogen werden. © Fraunhofer IGD weise kommunale Daten und Geobasisdaten so zusammenzuführen und aufzubereiten, dass urbane Planungsprozesse verdeutlicht und somit Bürgerinteressen frühzeitig mit einbezogen werden können. Visual Computing - also die Umsetzung von Daten in dreidimensionale Modelle bis hin zur Erzeugung von „Virtual Reality“ - schafft viele Möglichkeiten, neue intelligente Dienste zu installieren: für die digitale Stadtverwaltung, Sicherheit und Einsatzplanung, Umweltmonito- 35 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Hamburg will seine Bürger beispielsweise dabei einbinden, geeignete Standorte für neue Baumpflanzungen im Stadtgebiet zu finden und integriert dazu die Bäume virtuell in eine 3D- Landschaft. Bei dieser Anwendung kann die Realisierbarkeit der Pflanzaktion direkt überprüft werden. So wird ein gewählter Baumstandort auf bereits vorhandene Nutzungen an dieser Stelle - wie etwa bestehende Ampelanlagen - abgeglichen oder gezeigt, welche Baumarten an diesem Ort gut vorankommen. Auch künftige Auswirkungen des gepflanzten Baumes, etwa seine Höhe und Kronenbildung und damit eine mögliche Verschattung der Nachbarhäuser, lässt sich simulieren - ebenso wie sein Beitrag zum Stadtklima und zur CO 2 -Bilanz. In Rom ist das Thema Urban Gardening. Hier wird smarticipate dazu benutzt, möglichst viele freie Flächen für städtische Gartenfreunde zu finden, zu markieren und anhand eines Feedback- Systems zu prüfen, ob sich der jeweilige Grund und Boden für Pflanzen eignet oder ob vor Ort ein Wasseranschluss besteht. In London zeigte die 3D-Visualisierung eine neuen Museums, wie exakt und anschaulich auch ein komplexes Gebäude bereits bei der Planung dargestellt werden kann. AktVis - Aktivierung von Flächenpotenzialen Der demografische Wandel hat in den vergangenen Jahrzehnten vor allem alten Ortskernen zugesetzt. Einkaufs- und Wohnangebote verlagerten sich immer stärker an die Ortsränder; Altstädte haben mit Problemen wie Leerständen und Verfall zu kämpfen. Viele Gebäude entsprechen weder aktuell nachgefragten Wohnungszuschnitten noch modernen energetischen Standards. Mit einem innovativen und interaktiven Forschungsprojekt sollen in den historischen Ortskernen der hessischen Gemeinden Münster und Otzberg sowie der Stadt Bensheim Flächenpotenziale aktiviert und Innenstadtbereiche reaktiviert werden. Gemeinsam mit Bewohnern, Immobilieneigentümern und der Politik werden nachhaltige und ressourcenschonende Ideen entwickelt, wie Altstädte erhalten und strukturell aufgewertet werden können. Im Rahmen des Projekts Akt- Vis erarbeitete das Fraunhofer IGD eine interaktive 3D-Webanwendung, auf deren Grundlage Ideen zur künftigen Gestaltung eines Orts ausgetauscht und diskutiert werden können. Die Anwendung bereitet die vielfältigen Geodaten einer Kommune einheitlich auf und integriert sie in eine interaktive Visualisierungsumgebung. Das erhöht die Transparenz im gesamten Planungsprozess enorm und erleichtert die Kommunikation zwischen Stadtplanern, Architekten und Infrastrukturunternehmen sowie Bürger*innen. Die realitätsgetreue Ansicht von Gebäuden und Straßenzügen auf einem Multi-Touch-Tisch war Basis für Bürgerbeteiligungsgespräche in den drei hessischen Kommunen, mit denen gemeinsam das interaktive Tool aufgebaut wurde. Nach Abschluss des BMBF-geförderten Projektes steht nun die funktionstüchtige Endversion einer WebGIS-Anwendung für Planungs-Workshops und Beteiligungsverfahren zur Verfügung, damit Baulücken, Leerstand und Modernisierungsstau in Ortskernen bald Vergangenheit sind. Sogar eine Wirtschaftlichkeits- und Baurechtsprüfung ist enthalten. So können Ideen live auf ihre Machbarkeit geprüft werden. „Es wird immer deutlicher, wie wichtig die Bürgerbeteiligung bei der Umsetzung von Projekten ist. Vorhaben wie Windkraftanlagen sollten nicht gegen den Willen der Bevölkerung, sondern mit ihr verwirklicht werden. Dazu ist es unabdingbar, dass alle Beteiligten schon vor Baubeginn wissen, was auf sie zukommen wird. Unser Ansatz ist es, Projekte bereits in einer frühen Phase sichtbar und nachvollziehbar zu machen. Mit 3D-Visualisierung können wir Vorhaben so realitätsnah darstellen, dass sie auch von Bürgern ohne Expertenwissen leicht verstanden werden. Ein Beispiel, wie man es nicht machen sollte, ist Stuttgart 21. Warum ging das so daneben? Informationen lagen zwar vor, ja, es gab sogar eine Ausstellung, aber das waren alles Informationen für Fachleute. Stapel von Aktenordnern und irgendwelche Tunnelbilder interessieren Bürger nur bedingt. Die wollen wissen, wie es am Ende tatsächlich aussieht, welche Einflüsse das Vorhaben auf den Stadtraum und auf die Infrastruktur haben wird und inwiefern Naherholungs- und Grünflächen davon betroffen sind. Wichtig ist, dass der Beteiligungsprozess so früh wie möglich anläuft. Je weiter ein Vorhaben voranschreitet, desto geringer werden die Einflussmöglichkeiten und desto größer wird der Frust. Und je früher klar ist, was geht und was nicht, desto eher kann Einvernehmen hergestellt werden und somit lassen sich spätere Einsprüche und langwierige Verfahren und damit verbundene Kostensteigerungen deutlich eindämmen.“ Dr. Joachim Rix ist stellvertretender Leiter der Abteilung Geoinformationsmanagement am Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD in Darmstadt DR. JOACHIM RIX: WIR MÜSSEN DIE BÜRGER INS BOOT HOLEN © Fraunhofer IGD (red) 36 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur LAO Leitungsauskunft Vor Baubeginn gilt es in Erfahrung zu bringen, was alles im Untergrund bereits verbaut ist. Mangels eines zentralen Registers mit Informationen darüber, wo welche Leitungen unterirdisch verlaufen oder wer die Betreiber dieser Leitungsnetze sind, ist die Recherche und die Kontaktaufnahme mit den Netzbetreibern ein aufwändiges Unterfangen. In Ballungsräumen, wie beispielsweise Frankfurt am Main, verlaufen Leitungen von mehr als 50 verschiedenen Netzbetreibern im Untergrund - dazu kommen immer mehr Glasfasernetze. Allein in diesem Stadtraum entstehen bei Bauvorhaben jährlich rund 100 000 Schäden durch Baggerarbeiten mit Schadenssummen von mehreren 100 Mio. Euro. Grund genug für die LAO Ingenieurgesellschaft mbH, Offenbach, einen Service zu entwickeln, um diesen Prozess zu strukturieren und zu vereinfachen: Der Online-Service LAO Leitungsauskunft gibt Planern und Ausführenden schnell und einfach Auskunft darüber, welche unterirdischen Leitungen im jeweiligen Projektgebiet liegen. Statt beim zuständigen Tiefbauamt nach einer aktuellen Liste von Ver- und Entsorgungsträgern anzufragen und diese einzeln abzuarbeiten, kann man mit dem Tool alle Informationen aus einer Hand erhalten. Der Anwender gibt einfach alle wesentlichen Informationen zum Vorhaben an (wo, was, wer, wann, wie, etc.) und die Anfrage wird automatisch und in professioneller Form an die zuständigen Netzbetreiber im entsprechenden Gebiet versendet. Der Empfang, die Dokumentation und die Ablage der Antwortschreiben mit Plänen und Stellungnahmen erfolgt automatisch an eine Stelle in übersichtlicher Tabellenform. Leitungsauskunft - Einblick in unterirdische Netze Die digitale Transformation der unterirdischen Infrastruktur Netze, Netzbetreiber, Leitungen, kritische Infrastruktur, digitale Transformation, Smart City Lukas Ikenmeyer Bauausführende sind gesetzlich dazu verpflichtet, Auskunft bei Betreibern von Netzen, bei Stadtwerken und Unternehmen vor Baubeginn einzuholen, um Beschädigungen während der Erdarbeiten zu vermeiden. LAO Leitungsauskunft ist ein Start-Up der LAO Ingenieurgesellschaft mbH, das Bauleitern und Planern Informationen über unterirdisch verlegte Leitungen digital zur Verfügung stellt. Illustration zur Problematik im Untergrund. © L AO Leitungsauskunft 37 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Bei der Entwicklung des Tools wurde großer Wert auf Nutzerfreundlichkeit und einfache Handhabung gelegt; die Anwendungsoberfläche wird stetig optimiert und angepasst. Die Nutzer der Leitungsauskunft ersparen sich zahlreiche Kommunikationsprozesse, denn die Versorgungsträgerlisten sind mittlerweile sehr lang. Und sie vermeiden Fehler: So soll die Ursache für den großen Stromausfall in Berlin im Frühjahr 2019 mit 30 000 von der Energieversorgung abgeschnittenen Haushalten das mangelhafte Einholen von Leitungsauskünften gewesen sein. Hintergrund Das Start-up LAO Leitungsauskunft besteht aus einem jungen Team von Geoinformatikern und Vermessungsingenieuren, mit Büro nahe Frankfurt am Main, im Gründerzentrum Ostpol in Offenbach. Gründer und Geschäftsführer, Dipl.-Ing. Mario Blanke, war früher selbst jahrelang für die Planung und Verwaltung einer Gashochdruckleitung durch drei Bundesländer verantwortlich und kennt daher die Bedürfnisse, Perspektiven und Stakeholder, die ein solches Spannungsfeld mit sich bringt. Das Bauunternehmen August Fichter aus Raunheim unterstützt das Start-up als Investor. Zudem besteht seit neuestem eine Zusammenarbeit mit dem Verband „Sicherer Tiefbau“, der sich für sicheres Arbeiten im Bereich von Versorgungsnetzen einsetzt. Zur Entwicklung der LAO Leitungsauskunft wurde im Vorfeld eine große Recherche-Kampagne durchgeführt; daraus entstand eine Datenbank mit über 10 000 Netzbetreibern in Deutschland. Diese Datenbank enthält nicht nur Informationen darüber, wo die Leitungen der Netzbetreiber genau liegen, sondern auch an welchen Stellen man die konkreten Auskünfte dazu bekommt. Die Datenbank wird ständig aktualisiert, fortgeführt und verbessert, um etwa Wechsel und Veränderungen bei den Netzbetreibern auf dem neuesten Stand zu halten. Die Datenpflege ist entsprechend aufwändig, doch für die Anwender rechnet sich die Arbeits- und Zeitersparnis. Das Tool bietet neben gängigen Portaltechniken zudem eine eigenentwickelte KI-Funktion, die die Antwortschreiben klassifizieren und richtig einsortieren kann, was wiederum der Prozessoptimierung und Übersichtlichkeit dient. Erfahrungen Das Team um Mario Blanke steht im Austausch mit vielen unterschiedlichsten Akteuren der Baubranche. Als Vermittlungsstelle zwischen denen, die Informationen brauchen, und denen, die sie ausgeben, konnte es reichlich Erfahrungen über den Status quo in der Branche sammeln - etwa zum Stand der Digitalisierung oder dem Umgang mit Neuerungen schlechthin. Zwar scheint, so die Beobachtungen im Laufe des Projekts, die Baubranche bei der Adaption von Innovationen vergleichsweise vorsichtig zu sein. Doch bei Technologien, die Arbeitsprozesse vereinfachen und verkürzen können, etwa durch den Einsatz neuer Informationstechnik oder durch die Automatisierung von Kommunikationsprozessen, ist definitiv großes Interesse vorhanden. Schließlich zeigt sich deutlich: Die Digitalisierung schafft vielerlei Möglichkeiten, um durch strukturierte und sinnvoll zusammengestellte Informationen Bauvorhaben, Planungs- und Genehmigungsprozesse zu beschleunigen. Zukunft In unterschiedlichen Servicepaketen bietet die LAO Leitungsauskunft, von einer Unterstützung bei der Einzelabfrage bis hin zur vollständigen Abwicklung der Leitungsauskunft, alles an. Neben den jetzt schon vorhandenen Leitungsauskünften, Kontaktdaten von zuständigen Behörden und Informationen zu Natur- und Wasserschutzgebieten sind künftig weitere Dienstleistungen denkbar - etwa Miet- oder Vermittlungs-Services. In Zukunft wird es zudem immer besser möglich sein, den Untergrund per Bodenradar zu scannen und 3D-Modelle davon zu erzeugen. Mit einer entsprechenden Schnittstelle ließen sich die zugehörigen Metadaten liefern: zum Beispiel Art der Leitung, Eigentümer, Ansprechpartner. Solche 3D-Informationsmodelle wären ein großer Schritt in Richtung digitale Stadt und Building Information Management (BIM). Damit wäre es beispielsweise auch möglich, den Untergrund per Augmented Reality zu betrachten - eine weitere Hilfestellung für Bauausführende und Planer. Weitere Informationen: www.leitungsauskunft-online.de Lukas Ikenmeyer Werkstudent LAO Ingenieurgesellschaft mbH Kontakt: ikenmeyer@lao-ing.de AUTOR 38 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Eine zeitgemäße Glasfaserinfrastruktur (fiber to the home, kurz: FTTH) ist sicherlich weiterhin eine unverzichtbare Basisvoraussetzung für die Digitalisierung unserer Welt und die Generierung von echten Mehrwerten für private und gewerbliche Nutzergruppen. Die Nutzung von modernen Technologien ist in Zukunftsprojekten, wie der Vernetzung von allen nur denkbaren Dingen (IoT, Internet of Things), der Digitalisierung der industriellen Produktion, der sogenannten Industrie 4.0 oder dem 5G-Mobilfunkausbau, unerlässlich. Diese Zukunftsprojekte setzen ein weitestgehend flächendeckendes und lichtwellenleiterbasiertes Netz voraus. Telekommunikationsinfrastruktur jedoch auf Glasfaser und Mobilfunk zu beschränken, ist unzureichend. Konvergenz Die Zukunft der Telekommunikationsinfrastruktur ist konvergent (von lat. convergere, sich annähern). Doch was bedeutet „Konvergenz“ in diesem Zusammenhang? Kein 5G-Mobilfunknetz kann ohne eine glasfaserbasierte Zuführung leistungsfähige Dienste anbieten. Für zahlreiche kommunale Anwendungen (zum Beispiel: Sensorik-Anwendungen wie Parkraummanagement oder Füllstandsmessung in der Entsorgung) ist wiederum ein aufwändig und kostspielig hergestellter Glasfaseranschluss nicht wirtschaftlich. Auch die Anforderungen an das Netz selbst sind andere, beispielsweise werden im Parkraummanagement oder der Entsorgung weder Echtzeitkommunikation noch hohe Datenraten benötigt. Daher werden hier, den Anforderungen angepasste Schmalbandtechnologien, sogenannte Low Power Wide Area Networks (LPWAN), wie LoraWAN, Narrow- Sind kommunale Glasfasernetze noch zeitgemäß? Manuel Hommel, Lukas Glaser, Wolfgang Weiß Diese auf den ersten Blick klar zu bejahende Frage ist auf den zweiten Blick gar nicht so eindeutig zu beantworten. Klar ist, dass kommunale Netzinfrastruktur zukünftig deutlich vielschichtiger gedacht werden muss, als bislang. Die Zukunft unserer kommunalen Netze ist konvergent. Bild 1: Unterschiedliche Technologien wachsen zusammen, dadurch entstehen zahlreichen Wechselwirkungen und Abhängigkeiten. © ZDE 39 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Band-IOT oder LTE-M eingesetzt. Konvergenz beschreibt demnach das Zusammenwachsen unterschiedlicher Technologien und die zahlreichen Wechselwirkungen und Abhängigkeiten der Teilbereiche untereinander (siehe Bild 1). Unsere Telekommunikationsnetze sind also komplex. Und mit jeder Innovation, jeder neuen Anwendung werden sie komplexer. Durch den kommunalen Breitbandausbau wurden in den vergangenen 10 Jahren vorwiegend fiber to the curb-Netze (VDSL und VDSL-Vectoring) gebaut. Hierbei handelt es sich um Hybridnetze auf Basis von Kupfer- und Glasfasertechnologie. Dies ändert sich nun durch das aktuelle Breitband-Förderprogramm des Bundes, welches ausschließlich auf direkte Glasfaseranschlüsse (fiber to the home) setzt. Dadurch findet erstmals ein weitgehend flächendeckender Ausbau statt. Gerade für kleinere Gemeinden ist dieser Ausbau eines eigenen, kommunalen Glasfasernetzes zur Stärkung und Sicherung der Attraktivität als Wohn- und Gewerbestandort die größte Investition der letzten Jahrzehnte. Da der FTTH-Ausbau deutlich umfangreicher ist als der vorangegangene FTTC-Ausbau und demnach auch Tiefbaumaßnahmen in noch größerem Maßstab durchgeführt werden, sollte nun die Gelegenheit seitens der Städte und Gemeinden dafür genutzt werden rechtzeitig Synergien zu prüfen, um im Zuge des Glasfaserausbaus andere Netzinfrastrukturen - und insbesondere auch weitere zu digitalisierende Anschlussobjekte - mitzudenken. Die Digitalisierung der öffentlichen Infrastrukturen sollte jedoch nicht in Form der Trialand-Error-Methode angegangen werden, sondern vielmehr strukturiert und strategisch. Bestandsanalyse und Datenerfassung Zunächst ist es zwingend notwendig, dass sich jede Gemeinde bewusst macht, dass in Zukunft nicht nur Gebäude an die kommunale Netzinfrastruktur angeschlossen werden müssen, sondern auch zahlreiche neue Anschlussobjekte. Dies betrifft viele Aspekte der Stadtmöblierung oder auch der technischen Ausstattung in öffentlichen Bereichen und geht von Ampelanlagen über Straßenleuchten bis hin zu öffentlichen Mülleimern und zur Entwässerungsinfrastruktur. Die Anschlüsse erfolgen nicht überall auf Glasfaserbasis, sondern häufig werden oben beschriebene LPWANs eingesetzt. Demnach ist vor allem wichtig zu wissen, welche Objekte mit welcher Netztechnologie angeschlossen werden müssen. Hierfür ist zunächst die digitale Erfassung der gesamten städtischen Infrastruktur zu leisten - beispielweise durch eine entsprechende Aufnahmebefahrung des gesamten Stadtraums. Doch die reine Aufnahme ist nur der erste Schritt der digitalen Erfassung. Die Georeferenzierung der Objekte im städtischen Geoinformationssystem und die Anreicherung der Metadaten mit Objektdaten, wie etwa Typenbezeichnungen und Wartungsintervalle sind notwendige Weiterführungen. Für die meisten Kommunen kündigt sich hiermit die erstmalige Erstellung des Digital Twins, dem Digitalen Zwilling der realweltlichen Objekte an. Diese Digital Twins sind notwendige Grundlage der Digitalisierung und selbst als Datenbündel zu sehen, welches es erlaubt, Simulationen oder Planungen kosteneffizient zu gestalten. Produzierende Wirtschaftsunternehmen haben die Vorteile des Digital Twins schon lange erkannt und setzen diesen in eigenen Unternehmensprozessen ein. Ergänzt wird der Datenbestand um bereits vorhandene und nutzbare TK-Infrastruktur, etwa bereits verlegte LWL-Kabel und Leerrohre inklusive der technischen Bauwerke (Multifunktionsgehäuse, Schächte, Muffen) der Kommune. Das daraus entstehende Digitalkataster stellt die Basis für alle weiteren Schritte der Planung und Umsetzung dar. Zugang und Teilhabe Die eingangs erwähnten Zukunftsprojekte (IoT, Industrie 4.0 und 5G-Ausbau) sind der ideale Anlass für eine tiefgründige Beschäftigung mit der TK-Infrastruktur, denn die neuen Technologien sind gleichermaßen Zugangspunkte wie Befähiger zu Diensten und Wirtschaftlichkeit. War eine Stadt früher kein Marktstandort, so erschwerte dies den Zugang zu den Warenströmen und damit letztendlich das Wachstum der Stadt. Dieses Beispiel lässt sich auf die Telekommunikationsinfrastruktur übertragen. Wenn der Zugang zu den digitalen Dienstleistungen und Wirtschaftsmodellen fehlt, fehlt der Zugang zum größten und umsatzstärksten Marktsegment der Zukunft. Ohne Teilhabe an diesem Segment, kann es keine adäquate Wirtschaftlichkeit geben und auch der Konsum der Dienstleistungen und Services wird für die Bürger*innen, für Verwaltung und Unternehmen nicht möglich sein. Eine Nicht-Teilhabe ist keine Perspektive für die Zukunft und zeigt die Signifikanz der Telekommunikation sehr deutlich. Für den aktuellen 5G-Rollout werden in den nächsten Jahren zahlreiche weitere Funkstandorte benötigt. Nicht nur im Makrobereich werden neue Sendeeinrichtungen benötigt, sondern auch für die sogenannten small cells, oder microcells, mit Radien 40 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur von 30 bis 250 Metern, werden innerstädtische Standorte benötigt. Ein kommunales FTTH-Netz ist hierfür die ideale Basisinfrastruktur. Der Kommune bieten sich durch die Verpachtung von Glasfaser an die Mobilfunkanbieter interessante Refinanzierungsmöglichkeiten. Ebenso kann die Kommune durch die Bereitstellung von Basisnetzen eine Steuerungsfunktion im 5G-Ausbau einnehmen und so womöglich auch bei der Priorisierung des Ausbaus mitwirken. Eine zentrale Rolle können hierbei die Straßenlaternen übernehmen. Diese werden nach dem FTTI (fibre to the infrastructure)-Konzept in die Glasfaserplanung mit einbezogen und stehen durchschnittlich alle 40 Meter im Stadtraum. Dies stellt ein ideales Netz an Trägerstrukturen für die 5G-Technologie dar. Die Leuchtmittel der Straßenlaternen werden ohnehin auf LED umgerüstet und es gibt heute smarte Lösungen, die nicht nur durch Energieeinsparung und damit verbundenen kurzen Amortisationszeitraum wirtschaftlich sind, sondern auch weitere Funktionen, wie beispielsweise Metering, öffentliches WLAN, LPWAN- Gateways, Umweltmessungen und Sicherheitsanwendungen, enthalten. Mit der Sanierung der Straßenbeleuchtung kann somit gleichzeitig die kommunale Netzinfrastruktur sinnvoll um zusätzliche Träger für verschiedene Technologien ergänzt werden. Grundvoraussetzung Netz Durch die wachsende Zahl von Anwendungsszenarien sowie die Steigerung von Effizienz und Bequemlichkeiten werden im Themenfeld des Internet of Things zahlreiche Dinge in naher Zukunft mit Sensorik ausgestattet. Die Städte werden smart. Sensorbasiertes Parkraummanagement, Sensorik in der Entsorgung, sensorbasiertes Gebäudemanagement und auch die konstante Überwachung von Umweltfaktoren sind hierbei nur exemplarisch zu nennen. Auch hier gilt der Aufbau der notwendigen Infrastruktur als wichtigstes Ziel, denn Grundvoraussetzung für alle Anwendungsszenarien ist die Verfügbarkeit des Netzes. Durch die exponentiell verlaufende technologische Entwicklung wird es in Zukunft Anwendungsszenarien geben, die heute nicht vorstellbar sind. Vergleichbar ist dies mit dem rasanten Anwachsen der verfügbaren Apps, also der mehrwertbietenden Anwendungen auf Smartphones. Die nächsten Schritte, wie die Fortschreibung des kommunalen Glasfaser-Masterplans, die Umplanung auf die neuen Fördervorgaben des Bundes, den Einbezug der FTTI- (fibre to the infrastructure) Anschlussobjekte, die synergetische Mobilfunkplanung einschließlich Evaluierung der passenden Standorte, um, neben dem Glasfasernetz, möglichst schnell 5G-Mobilfunk und LPWANs in jede noch so ländliche Kommune zu bringen, sind die nötigen Meilensteine zur Realisierung eines umfassenden und zukunftsgerichteten konvergenten Netzes. Nur durch diese strukturierte Vorgehensweise und die Vorbetrachtung der infrastrukturellen Basis in einer Kommune lassen sich dann sinnvolle und zielgerichtete Strategien im Hinblick auf die Digitalisierung entwickeln - die eben nicht nur „trial and error“ sind. Genau hier sollte eine kommunale Digitalisierungsstrategie ansetzen, um kommunale Prozesse neu zu denken, die Bürger*innen bei der Digitalisierung einzubinden und ausgehend von konkreten lokalen Ansätzen Lösungen zu erarbeiten und technisch umzusetzen. Da vor dem Hintergrund früherer Zyklen der Stadtentwicklung die Digitalisierung auf kommunaler Ebene, insbesondere der öffentlichen Räume, ein sehr junges Themenfeld ist, werden die Inhalte an den Hochschulen erst seit kurzer Zeit vermittelt. Es ist daher von elementarer Bedeutung, den Kommunen zügig Zugang zu Know-how und Umsetzungskompetenz zu gewähren, um die mit diesen Themen betrauten Personen zu befähigen, die digitale Zukunftskommune proaktiv zu gestalten. Ist ein Glasfasernetz noch zeitgemäß? Die Aufschlüsselung der Antwort ist, wie hier erörtert, vielschichtig und komplex. Doch durch die Kombination von Bewusstmachung und Wissen braucht diese Antwort nicht abschrecken, sondern kann zum Handeln animieren, um die eigene Zukunft zu bestimmen. Dies steht im Einklang mit Alan Kay - „Die Zukunft kann man am besten voraussagen, wenn man sie selbst gestaltet“. Manuel Hommel Geschäftsbereichsleiter Beratung & Planung GEO DATA GmbH Kontakt: m.hommel@geodata-gmbh.de Lukas Glaser Teamleiter Software & Innovation GEO DATA GmbH Kontakt: l.glaser@geodata-gmbh.de Wolfgang Weiß Geschäftsführer Zentr. f. Digitale Entwicklung GmbH Kontakt: w.weiss@digitaleentwicklung.de AUTOREN 41 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Einzigartiges Bauvorhaben für innovatives Wohnen Überbauung einer Bahntrasse schafft Wohnraum in Köln Stadtplanung, Wohnungsbau, Nachverdichtung, Verkehrsflächen, Wohnungsnot, Bürgerbeteiligung Anton Bausinger, Raphael Hüffelmann Ein außergewöhnliches Wohnungsbauprojekt in Köln erweckt derzeit durch eine besondere Form der Stadtverdichtung nationales Interesse. Private Investoren überbauen hier erstmalig in Europa eine 160- Meter lange Güterzugstrecke mit drei Neubauten und schaffen so knapp 70 neue Wohnungen, 600- Quadratmeter Gewerbefläche und rund 100 Tiefgaragenstellplätze. Das städtebauliche Pilotprojekt zeigt, wie sich brachliegende Verkehrsflächen im Gleisbereich für qualitativen Wohnungsbau nutzen lassen. Bild 1: Nach Fertigstellung des Bauvorhabens verläuft die Zugstrecke tunnelartig durch die Neubauten hindurch. © Bruno Laut Statistischem Bundesamt leben 77 Prozent der Gesamtbevölkerung Deutschlands in Städten oder Ballungsgebieten - Tendenz steigend. Während die Einwohnerzahlen der meisten Metropolen stetig wachsen, sind verfügbare Entwicklungsflächen innerhalb der Stadtareale knapp. Vor diesem Hintergrund rückt qualitätsvolle Nachverdichtung, die Wohnraum in zentralen Lagen schafft, immer mehr in den Fokus der Stadtplaner und Bauunternehmer. So auch in Köln. In der Innenstadt steigt die Nachfrage nach Wohnungen rapide und Platz für Neubauten ist 42 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Architekten Matthias Dittmann entsteht auf der Freifläche Clarenbachplatz ein modernes neues Wohnquartier. Unbebaute Verkehrsfläche mit verstecktem Potenzial Der Clarenbachplatz westlich der Kölner Innenstadt und mitten im beliebten Stadtteil Braunsfeld wurde lange Zeit untergenutzt. Bislang parkten dort überwiegend Autos und es gab einige Müllcontainer. Zusätzlich durchsetzten Risse und Schlaglöcher den Platz, auf dem zweimal wöchentlich ein Wochenmarkt stattfand. Als Baugrund schien die Fläche ungeeignet. Denn zusätzlich zum Bahngleis ist das Areal äußerst ungünstig geschnitten. Mit einer Länge von 650 Metern, 40 Metern Breite im vorderen Bereich und vier Metern Breite im hinteren Bereich ist das Grundstück eigentlich zu schmal, um es mit Häusern zu bebauen. Hinzu kommt ein denkmalgeschütztes Bahnwärterhäuschen an der Südwestecke, das es in das Planungskonzept zu integrieren galt. Trotz der schwierigen Bedingungen gelingt es mit den aktuellen Entwürfen, die ungenutzte Fläche in das angrenzende Wohnviertel sinnvoll einzubeziehen. Der Schlüssel liegt in der Integration der Bahntrasse in den Bebauungsplan. Überbautes Schienengleis verringert Lärmbelästigung vor Ort Der Clarenbachplatz ist mehreren Lärmquellen ausgesetzt. Neben dem Schienen- und Güterverkehr geht auch von der angrenzenden sechsspurigen Hauptverkehrsader Aachener Straße eine starke Geräuschbelastung aus. Um die Lärmsituation in der Wohngegend zu verbessern, trafen die Bauherren zahlreiche Maßnahmen. Zum einen unterfütterten sie die Gleise vor Baustart mit einer 50 Zentimeter dicken Betonschicht und mit Gummipolstern. Die entkoppelten Gleise verhindern, dass Schwingungen in den Untergrund eindringen, sodass das Gleis die Erschütterungen des Güterzuges vom Boden und dem Gebäudetrakt in Zukunft direkt abfängt. Eine schallabsorbierende, 1,20 Meter hohe Lärmschutzwand, die parallel zum teilüberbauten Gleis verläuft, fängt den Schall von den Gleisen ab. Über dem Bahngleis befindet sich ein 160 Meter langes Galeriegebäude. Die Gleisanlage verläuft somit zukünftig ähnlich wie ein Tunnel durch die Neubauten hindurch. Dieser Überbau fängt Emissionen aus dem Zug ab und kanalisiert diese. Absorbierendes Dämmmaterial, das im Gleisbereich die seitlichen Wand- und Deckenflächen belegt, führt zu einer Eindämmung des Lärms aus dem Bahnverkehr. Eine Lärmpegeluntersuchung hat ergeben, dass dank der Teil-Überbauung der Zugstrecke nahezu alle Anwohner den Lärm der Züge und der stark befahrenen Straße in Zukunft deutlich weniger wahrnehmen werden. Bild 2: Durch die Unterfütterung der Gleise können die Erschütterungen direkt dort abgefangen werden, wo sie entstehen. Schon heute merken die Anwohner eine deutliche Reduktion der Vibrationsbelastung. © Bruno Mangelware. Nach Angaben der Kölner Stadtverwaltung müssten jedes Jahr mindestens 6000 neue Wohnungen gebaut werden, um den wachsenden Bedarf zu decken. Wie es dennoch gelingen kann, in der dicht bebauten Innenstadt neuen Wohnraum zu schaffen, zeigt das außergewöhnliche Bauprojekt am Clarenbachplatz im Stadtteil Braunsfeld. Das Bauvorhaben unterstreicht einmal mehr das enorme Potenzial von Nachverdichtung zur Schaffung von Wohnraum und führt gleichzeitig zu einer Aufwertung der städtebaulichen Situation. Die Projektentwickler Friedrich Wassermann und die WvM Immobilien + Projektentwicklung GmbH bauen auf einem ehemaligen Bahngelände drei Neubauten. Die Besonderheit: Auf der Brachfläche verläuft eine eingleisige, vom Güterverkehr befahrene Gleisstrecke, was die Bebauung der Fläche bislang verhinderte. Mit einem innovativen Projektkonzept gelingt es den Bauherren jedoch, die bestehende Gleisanlage, auf der täglich Güterzüge verkehren, mit Wohnraum zu überbauen. Basierend auf dem Entwurf des Kölner 43 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Umfangreiches Brand- und Sicherheitskonzept sorgt für optimalen Gefahrenschutz Nach Vorgaben der Stadt Köln galt es bei der Erstellung des Brandschutz- und Sicherheitskonzeptes die Richtlinien des Eisenbahnbundesamtes für geschlossene Tunnel sowie die für den allgemeinen Wohnungsbau geltenden Vorgaben gleichermaßen zu erfüllen. In Braunsfeld passieren täglich rund 20 Güterzüge in stündlichen Intervallen mit einer Geschwindigkeit von ca. 25 Kilometern pro Stunde die Zugstrecke. Für den unwahrscheinlichen Fall einer Zugentgleisung sichern bis zu einem Meter starke massive Betonwände als Poller an den Wandenden die Neubauten. Die Poller sind darauf ausgelegt, Entgleisungen von Zügen abfangen zu können, die mit Geschwindigkeiten von bis zu 120 km/ h fahren dürfen. Für den Fall, dass im Bahnbetrieb ein Feuer ausbrechen sollte, schützen geschlossene Dachdecken über den Gleisen vor einem Brandüberschlag auf das Gebäude. Diese sind in einer Tiefe von fünf Metern vor den aufsteigenden Fassaden verankert. Die Gebäude im direkten Gleisbereich können so Temperaturen von bis zu 1200 Grad Celsius über 90 Minuten standhalten. Gemäß den Anforderungen der Bauordnung NRW trennt eine feuerbeständige Brandwand bzw. Branddecke die Überbauung vom Gleisbetrieb. Eine Zier- und Schutzdecke (Schabracke) sowie Deckenlüfter, die entlang der Deckenkante an den offenen Bereichen angebracht sind, halten die Luftschadstoffimmissionen gering. Die Deckenlüfter schalten sich mit einer Nachlaufzeit von etwa zehn Minuten nach Durchfahrt eines Zuges ein. Für das städtebauliche Pionierprojekt gibt es bislang keine Vergleichswerke. Viele Parameter sind ungewöhnlich und erfordern überdurchschnittlich viele Referenzen zu den technischen Gegebenheiten. Im Rahmen des Bebauungsplanverfahrens sowie für den Bauantrag und die Plangenehmigung der Bezirksregierung benötigten die Bauherren mehrere zusätzliche Gutachten, die insbesondere die Qualität und Sicherheit des Wohnraumes über der Bahn und der umliegenden Nachbargebäude untersuchten. Dazu gehören beispielsweise eine Analyse der Gefährdung der öffentlichen und privaten Sicherheit durch die Überbauung und den Betrieb des Güterverkehrs und ein eisenbahntechnisches Brandschutzgutachten für den Brand- und Katastrophenschutz im Betrieb des Eisenbahntunnels. Das Kölner Bauamt prüfte über 14 Monate hinweg intensiv das auch für sie außergewöhnliche Bauvorhaben. Seit August 2017 liegt die Baugenehmigung vor. Die Abstimmung mit der Bezirksregierung zum Umbau und zur Überbauung der Gleisanlage in einem Plangenehmigungsverfahren nahm ein weiteres Jahr in Anspruch. Erst im August 2018 erteilte die Bezirksregierung die Genehmigung zum Umbau der Bahngleise der Güterverkehrslinie. Clarenbachplatz wird zum modernem Raum mit urbanem Charme Durch den Bau einer Tiefgarage verschwinden die bislang auf der Freifläche parkenden Autos vom Platz. Gleichzeitig entsteht ein attraktiver, städtischer Markplatz mit zahlreichen Gastronomieangeboten und Geschäften. Für die Entstehung der neuen Platzfläche integrierte Architekt Dittmann die angrenzende evangelische Clarenbachkirche aus den 50er- Jahren als zentrales Element. Dadurch kommt es zu einer deutlichen Aufwertung des öffentlichen Raums, von der sowohl die Kirchengemeinde als auch die Bewohner des angrenzenden Altenheims deutlich profitieren. Neben dem Platz sind Spiel- und Ruhezonen vorgesehen. Im hinteren Teil entsteht eine offene Spielfläche für Heranwachsende. Bild 3: Der Clarenbachplatz im Herzen Braunsfelds wurde jahrzehntelang untergenutzt und galt als „Unraum“. © Bruno 44 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Zusätzlich zum angrenzenden Birkenwäldchen durchgrünen zukünftig Neuanpflanzungen von Bäumen und Sträuchern das neue Wohnquartier. Der bislang hier stattfindende Wochenmarkt kann nach der Fertigstellung an seinen Ort zurückkehren und gewinnt durch den entstehenden modernen, urbanen Raum deutlich an Attraktivität. Das denkmalgeschützte Bahnwärterhäuschen wird ebenfalls in die Planung miteinbezogen und in Abstimmung mit dem Denkmalschutzamt saniert. Zusätzlich entsteht ein Fuß- und Radweg, der parallel zu den Gleisanlagen verläuft und eine wichtige Durchwegung im Quartier darstellt. Bürgerbeteiligungsprozess sorgt für breite Zustimmung in der Nachbarschaft Wie häufig bei Neubauprojekten der Fall, gab es auch hier Vorbehalte seitens der Nachbarschaft gegenüber der baulichen Maßnahmen innerhalb des Wohnviertels. Kurz nachdem die Bauunternehmung Friedrich Wassermann im Jahr 2012 das Gelände von der Häfen und Güterverkehr Köln AG abkaufte, erreichte den Projektentwickler aus der Nachbarschaft viel Gegenwind. Die Anwohner starteten eine Petition und sammelten innerhalb kurzer Zeit 2000 Unterschriften gegen das Projekt. Die Bürger befürchteten, dass Freiflächen reduziert würden und werteten den Neubaukomplex als Trennkörper innerhalb des Wohnmilieus. Aus diesem Grund rief Friedrich Wassermann im Jahr 2013 einen umfangreichen Bürgerbeteiligungsprozess in Leben, um die Bürger des Stadtteils in den Entstehungsprozess miteinzubeziehen. Es galt, ein Konzept zu entwerfen, das die Öffentlichkeit mitträgt und auf die Wünsche der Anwohner eingeht. Über knapp drei Jahre hinweg diskutierten betroffene Bürger und Anlieger in einer offenen Bürgerwerkstatt mit dem Stadtplanungsamt der Stadt Köln verschiedene Bebauungskonzepte. So sah ein früherer Entwurf die Überbauung des Bahngleises mit Stelzenhäusern vor. Das in der Öffentlichkeit kritisierte Konzept basierte auf sogenannten „Kraghäusern“. Es griff die Idee der Stelzenhäuser auf, die Fläche der Bahngleise zu nutzen. Im Rahmen des Bürgerbeteiligungsprozesses setzte sich schließlich der Entwurf Dittmanns durch. Ergebnis der Bürgerwerkstatt war es, dass die Bevölkerung von dem aktuellen Planungsentwurf zur Bebauung der Bahngleise überzeugt und die Akzeptanz für das Projekt gesteigert wurde. Die Nachbarschaft erkannte, dass das Bauvorhaben nicht nur dringend benötigten neuen Wohnraum schafft, sondern auch gleichzeitig öffentlichen Raum bietet, der Qualität in das Wohnquartier bringt. Auf Grundlage der diskutierten Ergebnisse stimmten schließlich die Bezirksvertretung sowie der Stadtentwicklungsausschuss einstimmig dem neuen Konzept zu. Im Rahmen des Bebauungsplanverfahrens trafen die Projektentwickler mit angrenzenden Nachbarn, die von der geplanten Bebauung unmittelbar betroffen sind, nachbarschaftliche Vereinbarungen. Diese teilweise notariell beglaubigten Einigungen umfassten umfangreiche Zustimmungen zu den geplanten Maßnahmen und sichert die dauerhafte Umsetzung des Vorhabens. Nachverdichtung als Antwort auf fortschreitende Urbanisierung Nach Umbau der Gleisanlage und Aushub der 160 Meter langen Tiefgarage legten im Mai 2019 Matthias Dittmann (55) ist Gründer und Inhaber des Kölner Architekturbüros md3+ Architekten. Die Architekten von md3+ fokussieren sich auf Bauvorhaben im urbanen Raum. Dabei legen sie besonderen Wert auf die Förderung funktionaler, baulicher, sozialer und kultureller Vielfalt und Mischung. www.md3plus.de Die Friedrich Wassermann GmbH & Co. KG ist eine mittelständische Bauunternehmung mit inzwischen über 111-jähriger Tradition. Kerngeschäftsfelder des Unternehmens sind der Hochbau (Wohnen, Gewerbe, Industrie) und der Tiefbau sowie eigene Projektentwicklungen. Aufbauend auf der langjährigen Erfahrung setzt das Unternehmen dabei gezielt auf den Einsatz innovativer Technologien. www.friedrich-wassermann.de Die WvM Immobilien + Projektentwicklung GmbH wurde 1992 von Wolfgang von Moers gegründet und belegte als Kölns größter inhabergeführter Bauträger für Wohnimmobilien in den Jahren 2017 und 2018 Platz 1 der bulwiengesa-Studie in der Kategorie „Wohnen“. Derzeit beschäftigt das Unternehmen 115 Mitarbeiter; neben Bauingenieuren und Architekten sind Immobilienkaufleute, Marketing- und Vertriebsspezialisten vertreten. Das Leistungsspektrum umfasst die gesamte Wertschöpfungskette vom Einkauf über die Entwicklung und Realisierung bis zum Verkauf und der Verwaltung der Immobilien. www.wvm.de ÜBER DIE BAUTRÄGER ÜBER DEN ARCHITEKTEN 45 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum 3. - 5. März 2020 Messe Karlsruhe FRÜH BUCHEN & SPAREN! ONLINE REGISTRIEREN UNTER WWW.IT-TRANS.ORG Partner Schirmherrschaft Veranstalter Anton Bausinger Geschäftsführer Bauunternehmung Friedrich Wassermann GmbH, Köln Kontakt: bausinger@fw-koeln.de Raphael Hüffelmann Projektleiter WvM Immobilien + Projektentwicklung GmbH in Köln Kontakt: hueffelmann@wvm.de die Projektentwickler den Grundstein für das richtungsweisende Pionierprojekt. Mit dabei waren auch Ina Scharrenbach, Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes NRW, sowie Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker. Die zukünftigen Mieter können Anfang 2021 in die Neubauten einziehen. Mit seinem innovativen Baukonzept ermöglicht das außergewöhnliche Bauvorhaben am Clarenbachplatz etwas, was vorher undenkbar gewesen wäre: Nicht nur in Deutschland, sondern weltweit lassen sich zukünftig ungenutzte Flächen im Gleisbereich für den Wohnungsbau nutzen. Das Beispiel in Köln Braunsfeld zeigt, dass Nachverdichtung nicht nur bauliche Veränderungen anstößt, sondern auch zur Verbesserung städtebaulicher Situationen führen und attraktive Wohnquartiere schaffen kann. Herausforderung ist es, diese innerstädtischen Bauflächenpotenziale zu entdecken und auf eine mögliche Verwendung zum Bau dringend benötigten Wohnraums zu prüfen. Dass Nachverdichtung eine nachhaltige Strategie für eine effiziente Stadtbebauung ist, zeigt auch eine Anfang des Jahres veröffentlichte Studie der TU Darmstadt und des Pestel Instituts. Sie beziffert das Potenzial von Aufstocken, Umnutzung und Bebauung von Brachflächen auf bis zu 2,7 Millionen neuer Wohnungen deutschlandweit. Mehr Infos unter: www.clarenbachplatz.koeln AUTOREN 46 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Zürich ist die größte Stadt der Schweiz und zeichnet sich durch eine hohe Lebensqualität aus. Regelmäßig erhält Zürich im weltweiten Lebensqualitätsranking Top-Werte. Dies liegt unter anderem an den hochstehenden städtischen Infrastruktursystemen wie dem engmaschigen Netz des öffentlichen Verkehrs, der guten medizinischen Versorgung, der qualitativ sehr guten Wasserversorgung sowie an der Sauberkeit, der hohen Luftqualität und der politischen Stabilität. Die Stadt und ihre Partner sorgen mit ihrer täglichen Arbeit für ein reibungsfreies Funktionieren ihrer Infrastruktursysteme im Alltag. Auch setzt sich die Stadt regelmäßig mit Entwicklungen und potenziellen Ereignissen auseinander, die das Leben der Bürger*innen und Besucher gefährden oder die Lebensgrundlagen beeinträchtigen könnten. So verfügt Zürich beispielsweise über eine Gefährdungs- und Risikoanalyse und auch über verschiedene Vorsorgeplanungen für die Bewältigung schwerwiegender Ereignisse wie beispielsweise Hochwasser. Basierend auf diesen Grundlagen wollte die Stadt Zürich auf innovative Weise Verbesserungspotenzial identifizieren, um Funktionsausfälle möglichst zu verhindern und im Ereignisfall bestmöglich zu funktionieren. Das Pilotprojekt „Resilienz Stadt Zürich“ befasst sich seit 2018 mit diesen Fragestellungen und identifiziert Maßnahmen, um Zürich resilienter zu machen. Resilienz einer Stadt: Was heißt das? Für die Stadt Zürich setzt sich Resilienz zusammen aus der Widerstandsfähigkeit und der Anpassungsfähigkeit der Stadt und ihrer Bevölkerung gegenüber verschiedenen Einwirkungen und Entwicklungen. Hilfreich ist die grafische Illustration der Resilienz. Die in Bild 1 schwarz dargestellte „Resilienzkurve“ beschreibt, wie sich die Funktionsfähigkeit eines Systems aufgrund eines externen Ereignisses, beispielsweise eines Erdbebens, über die Zeit verändert. Ein System ist umso resilienter, je geringer die Reduktion der Funktionsfähigkeit ist und umso schneller die ursprüngliche Funktionsfähigkeit, auch Soll-Versorgung genannt, wieder erreicht ist. Oder bildlich gesprochen: Je kleiner die gelb eingefärbte Fläche in Bild 1 ist, desto resilienter ist das System. Das Ziel ist es also, diese Fläche möglichst gering zu halten. Resilienz-steigernde Maßnahmen minimieren entweder einen Verlust der Funktionsfähigkeit und stärken damit die Widerstandsfähigkeit oder sie verkürzen die notwendige Zeit für den Wiederaufbau. Ziel dabei ist es, in einem ersten Schritt möglichst schnell die Grundversorgung zu gewährleisten und danach die Soll-Versorgung mit der vollen Funktionsfähigkeit wiederherzustellen. Wie resilient ist die Stadt Zürich? Resilienz, Vorsorgeplanung, Urbane Sicherheit Lilian Blaser, Markus Meile Im Bereich Trinkwasser ist Zürich äußerst resilient. Im Bereich der Mobilität ist eine Aussage zur Resilienz hingegen schwieriger. Klar ist jedoch: Gewisse Entwicklungen wie beispielsweise die Elektrifizierung der Fahrzeugflotten im öffentlichen Verkehr bis hin zum Rettungswesen werden die Stadt Zürich weniger resilient machen. Doch der Reihe nach. Die Stadt Zürich und das Beratungsunternehmen EBP haben sich in einem Pilotprojekt mit der Resilienz der städtischen Infrastruktursysteme auseinandergesetzt und auf innovative Weise Maßnahmen identifiziert, um die Resilienz zu steigern. © Stadt Zürich © Stadt Zürich 47 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Was gehört in der Stadt Zürich zur Grundversorgung? Im Rahmen des Pilotprojekts befassten sich verschiedene Vertreter der städtischen Verwaltung sowie von Sicherheitsorganisationen mit der Grundversorgung der Stadt. Welche Güter des täglichen Bedarfs und welche „vitalen Leistungen“ muss die Stadt Zürich ihrer Bevölkerung und ihren Besuchern auch in außerordentlichen Lagen gewährleisten können? Essenzielle Bereiche der Grundversorgung sind beispielsweise die Versorgung mit Trinkwasser, das Gesundheitswesen, die öffentliche Sicherheit, Mobilität, Energie aber beispielsweise auch die Entsorgung von Abfall und Abwasser. Die konkrete Quantifizierung der erforderlichen Grundversorgung in den verschiedenen Bereichen ist herausfordernd. Für die Trinkwasserversorgung existiert eine gesetzliche Grundlage, die festlegt, wie viele Liter pro Person und Tag die Gemeinwesen nach wie vielen Tagen nach Ereigniseintritt bereitzustellen haben. In anderen Bereichen gestaltet sich die konkrete Beschreibung der Grundversorgung wesentlich schwieriger. Im Rahmen des Pilotprojekts analysierte die Stadt Zürich ihre Trinkwasserversorgung und die Mobilität anhand der Straßeninfrastruktur. Wie resilient ist die Stadt Zürich im Bereich Trinkwasser? Um das Resultat dieser Teilanalyse vorweg zu nehmen: Die Stadt Zürich ist im Bereich Trinkwasser fast unschlagbar resilient! Die Stadt bezieht rund 70 % ihres Trinkwassers aus dem Zürichsee, ein (notstromversorgtes) Grundwasserpumpwerk speist weitere 15 % ein und die restlichen 15 % stammen aus 280-Quellen in und rund um die Stadt. Das Quellwasser fließt in einem separaten Wassernetz von 150 km, beliefert rund 400 Brunnen und funktioniert gänzlich ohne Strom. In der Schweiz muss ein Gemeinwesen bei einer Katastrophe oder Notlage ihrer Bevölkerung spätestens ab dem vierten Tag vier Liter und ab dem sechsten Tag 15 Liter sauberes Trinkwasser pro Person und Tag zur Verfügung stellen. In der Stadt Zürich ist eine solche Notversorgung mittels des redundanten Quellwassernetzes und 80 Notwasserbrunnen möglich. In einem weiteren Schritt kann die Bevölkerung bei eingeschränkter Netzversorgung mit rund 200 Litern pro Person und Tag versorgt werden. Bild 2 stellt diese Anforderungen grafisch dar. Es ist kaum ein Fall denkbar, bei dem die Stadt Zürich diese Anforderungen an die Grundversorgung nicht erfüllen könnte. Somit ist Zürich im Bereich der Trinkwasserversorgung als äußerst resilient zu bezeichnen. Während der drei ersten Tage hat die Stadt Zürich keine gesetzliche Verpflichtung, Trinkwasser zur Verfügung zu stellen. In der Schweiz wird allgemein davon ausgegangen, dass sich die Bevölkerung für diesen Zeitraum selbst versorgen kann. Doch erfahrungsgemäß verfügt die Bevölkerung gerade in urbanen Räumen kaum noch über den empfohlenen Notvorrat. Die Projektbeteiligten diskutierten an einem Workshop unter anderem, ob die Stadt zumindest eine implizite Verpflichtung habe, für das lebensnotwendige Gut „Trinkwasser“ auch bereits während der ersten drei Tage eine Minimallösung anzubieten. Als Maßnahme könnte die Stadt Lösungsansätze prüfen, beispielsweise eine Vereinbarung mit Mineralwasserherstellern, um die Resilienz weiter zu steigern. Auch zeigte sich während der Diskussionen, dass der Betrieb der Notwasserbrunnen zwar vorgesehen, jedoch noch unzureichend eingeübt ist: Welche der knapp 300 Mitarbeitenden der Zürcher Wasserversorgung betreiben die 80 Notbrunnen? Wer verteilt mit welchen Mitteln die eingelagerten Verteilbatterien? Müssen die Notbrunnen in einer außerordentlichen Lage polizeilich gesichert werden? Wie erfährt die Bevölkerung, wo sie Trinkwasser beziehen kann? Die städtischen Wasserwerke wollen diese Fragestellungen in enger Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen wie Zivilschutz oder Polizei baldmöglichst klären. Anpassungsfähigkeit Widerstandsfähigkeit ~300 ~200 15 4 so viel wie möglich 1.-3. Tag 6. Tag Eingeschränkte Netzversorgung (Grund- und Quellwasser) Normale Netzversorgung (Grund-, Quell- und Seewasser) Trinkwasser in l/ E/ d so schnell wie möglich Notversorgung mit Quellwasser Bild 1: Die Resilienz setzt sich aus Widerstands- und Anpassungsfähigkeit zusammen. © EBP Schweiz AG Bild 2: Anforderungen an die Trinkwasserversorgung in Liter pro Einwohner und Tag (l/ E/ d). © EBP Schweiz AG 48 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Wie resilient ist Zürich im Bereich „Mobilität“? Während sich bei der Trinkwasserversorgung die Funktionsfähigkeit des Systems gut über den Indikator „verfügbare Menge sauberes Wasser in Litern pro Person und Tag“ abbilden lässt, ist die Festlegung eines Indikators zur Beschreibung der Funktionsfähigkeit des Systems „Straße“ wesentlich schwieriger. Unbestritten ist, dass die Straßeninfrastruktur eine der zentralen „Lebensadern“ jeder Stadt ist: Straßen sind die Grundlage für die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, die Mobilität der Bevölkerung steht und fällt mit der Straßeninfrastruktur, ohne voll funktionsfähige Straßen sind zudem schnelle Einsätze der Blaulichtorganisationen nicht möglich. Die Projektbeteiligten entwickelten folgendes Set an Indikatoren, das die Funktionalität der Mobilität anhand der Straßeninfrastruktur beschreibt:  Erreichbarkeit der Unfallorte und der Notfallinfrastrukturen (Spitäler, Wachen etc.) für Rettungsdienste, Feuerwehr und Polizei  Erreichbarkeit der Versorgungszentren für die Lebensmittelversorgung  Erschließung der Wohn- und Arbeitsgebiete mit öffentlichen Verkehrsmitteln Rettungskräfte haben die Weisung, innerhalb von zehn Minuten am Unfallort eintreffen zu müssen und Verletzte innerhalb einer Stunde ins nächstgelegene Krankenhaus bringen zu können. Diese Richtwerte gelten sowohl für den Alltag wie auch bei einem schwerwiegenden Ereignis - auch wenn klar ist, dass im Fall einer umfassenden Beeinträchtigung der Straßeninfrastruktur die Richtwerte nicht einzuhalten sind. Bezüglich der Erreichbarkeit der Versorgungszentren oder der Erschließung der Wohn- und Arbeitsgebiete gibt es keine Vorgaben zur Grundversorgung. Damit fehlt eine wichtige Planungsgrundlage, um die Resilienz der Stadt Zürich abzuschätzen. Die Resilienz-Diskussion mit den verschiedenen Vertretern des Bereichs Mobilität führte jedoch zu interessanten Erkenntnissen und Maßnahmenvorschlägen zuhanden der Stadt:  Die Rettungsorganisationen der Stadt Zürich haben die wichtigsten Rettungsachsen zu den zwei größten Krankenhäusern in der Stadt und zu ihren Wachen definiert. Diese würden in einem Ereignisfall prioritär wiederinstandgesetzt. Bislang nicht systematisch analysiert wurde jedoch die Verletzlichkeit dieser Rettungsachsen bezüglich verschiedener Gefährdungen wie beispielsweise durch Hochwasser. Auch wäre es sinnvoll, das Netz der prioritären Rettungsrouten zu erweitern mit Zufahrten zu den weiteren (kleineren) Krankenhäusern und beispielsweise mit Verkehrsachsen zu potenziellen Aufnahmeorten außerhalb des Stadtgebiets für den Fall einer großräumigen Evakuierung.  Das städtische Tiefbauamt, das für die Wiederinstandsetzung der Rettungsachsen zuständig ist, verfügt über keine Priorisierung der Achsen. Zusammen mit den Rettungsorganisationen soll festgelegt werden, nach welchen Kriterien die Achsen im Ereignisfall priorisiert werden können.  Bei Stromausfall kann nicht mehr evaluiert werden, welches Rettungsfahrzeug sich am nächsten zu einem Unfallort befindet. Die Prozesse für die Rettung bei Stromausfall müssen geklärt werden. Ändert sich die Resilienz der Stadt Zürich in der Zukunft? Klimawandel, steigender Siedlungsdruck, Digitalisierung, Elektromobilität - Zahlreiche Trends und Entwicklungen haben Auswirkungen auf Zürich und auch auf die Resilienz. Das Pilotprojekt analysierte die wichtigsten künftigen Veränderungen in Hinblick auf ihren Einfluss auf die Resilienz der Stadt. Das Projektteam identifizierte folgende Herausforderungen im Bereich Trinkwasser:  Steigender Siedlungsdruck gefährdet den Schutz der Gebiete mit Trinkwasserfassungen. Energie Sicherheit Versorgung Entsorgung Mobilität Wohnen Kultur Bildung Kommunikation Information Gesundheit Strom Gas Polizei Feuerwehr Rettungswesen Zivilschutz Wasser Nahrungsmittel Abwasser Abfall Straßen ÖV Notunterkünfte Schulen Universitäten Fachhochschulen Forschung Telekommunikation Medien Post IT-Dienstleistungen Spitäler Labordienstleistungen Medizinische Versorgung Behörden Friedhöfe Kulturgüter Erdöl Benzin/ Diesel Bevölkerungsamt Fernwärme Recycling Arzneimittel Sport Gütertransport Bild 3: Was gehört zur Grundversorgung der Stadt Zürich? © EBP Schweiz AG 49 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze  Aufgrund des Klimawandels nehmen Phasen mit Trockenheit an Intensität und Dauer zu. Bei einer Trockenheit steigt der Mehrbedarf der Partnerversorgungen substanziell an.  Knappere finanzielle Ressourcen der Stadt Zürich könnten zu einem Spardruck im Bereich der Investitionen in die Werterhaltung führen. Im Bereich der Mobilität kommen folgende resilienzbezogene Herausforderungen auf Zürich zu:  Wie oben erwähnt, planen die Rettungsorganisationen ihre Einsätze heute basierend auf Echtzeit- Daten, die bei einem Stromausfall nicht mehr verfügbar wären. Die Abhängigkeit von solchen Daten wird künftig weiter zunehmen. Für eine ereignisunabhängige Funktionsfähigkeit sind alternative Mittel und Prozesse, die nicht von der Stromversorgung und/ oder der Kommunikationsinfrastruktur abhängig sind, zu erstellen und regelmäßig mit allen Beteiligten zu üben. Für die Resilienz der Stadt Zürich ist dies eine wichtige Voraussetzung.  Aus Umwelt- und Klimaschutzgründen wollen die Verkehrsbetriebe der Stadt Zürich bis ins Jahr 2030 nur noch elektrifizierte Fahrzeuge auf ihrem Liniennetz einsetzen. Entsprechende Vorstöße gibt es auch bezüglich der Rettungsfahrzeuge. Diese Entwicklung schwächt die Resilienz der Stadt Zürich enorm. Denn ohne Strom würde dann die Funktionalität der Mobilität - von der Personenrettung bis hin zu möglichen Evakuierungen - stark beeinträchtigt. Auch würde sich der Wiederaufbau nach einem Ereignis stark verzögern. Erkenntnisse Die Diskussionen zur Resilienz der Stadt Zürich brachten wertvolle Erkenntnisse mit sich. Sowohl für den äußerst resilienten Bereich Trinkwasser wie auch für den Bereich Mobilität - selbst wenn die Frage zur Resilienz der Straßeninfrastruktur nicht abschließend geklärt werden konnte. Das Pilotprojekt gab zudem einen Überblick zu den resilienz-bezogenen Herausforderungen und identifizierte rund 20 Maßnahmen zur Steigerung der Resilienz heute - und in Zukunft. Eine wichtige Maßnahme besteht darin, die politischen Entscheidungsträger für das Thema Resilienz zu sensibilisieren und aufzuzeigen, welche Konsequenzen Entscheidungen beispielsweise zur Elektrifizierung der Fahrzeugflotten auf die Resilienz ihrer Stadt haben würden. Denn wird an diesem Entscheid festgehalten und die Elektrifizierung beispielsweise auch auf die Rettungsfahrzeuge ausgeweitet, nimmt die Resilienz der Stadt Zürich künftig ab. Der Einbezug der Resilienz in die politische Entscheidungsfindung wird in Zukunft noch wichtiger, beispielsweise für die langfristige Sicherung von Gebieten zur Trinkwasserfassung oder der Finanzplanung für die Werterhaltung. Wertvoll war auch die Auseinandersetzung mit der Grund- und der Soll-Versorgung, die die Stadt Zürich während einem Ereignis wie auch im Verlauf des Wiederaufbaus gewährleisten soll. Viel ist dabei noch ungeklärt. Für eine umfassende Vorsorgeplanung ist das Festlegen oder mindestens die bewusste Auseinandersetzung mit der Grundversorgung jedoch eine wichtige Grundlage. Im Gegensatz zu herkömmlichen Gefährdungsanalysen steht beim Resilienz-Ansatz die Funktionalität der Stadt im Fokus und nicht einzelne gefährdungsspezifische Schäden. Die ganzheitliche Betrachtung ermöglicht es, das „System Stadt“ zu beleuchten, Stärken zu identifizieren und Verbesserungspotenzial ausfindig zu machen - für die Vorsorge, die Bewältigung und den Wiederaufbau. Der interdisziplinäre Austausch in Workshops leistet zudem einen wichtigen Beitrag zum Wissensmanagement innerhalb der Stadt. Die Stadt Zürich führt das Pilotprojekt weiter und wird die Resilienz in den Bereichen Entsorgung, öffentliche Sicherheit, Behörden, Gesundheitswesen und Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs diskutieren. Zudem ist eine Analyse der Abhängigkeiten der verschiedenen Bereiche geplant, auch als Grundlage für die Priorisierung der effektivsten Maßnahmen aus dem Blickwinkel „Gesamtsystem Stadt Zürich“. Die Stadt Zürich ist überzeugt: Die Analyse ihrer Resilienz leistet einen wichtigen Beitrag, um ihre Lebensqualität auch künftig auf dem sehr hohen Niveau zu halten und auf Krisen oder Notlagen besser vorbereitet zu sein. Dr. Lilian Blaser Projektleiterin Urbane Sicherheit + Bevölkerungsschutz EBP Schweiz AG, Zollikon Kontakt: lilian.blaser@ebp.ch Markus Meile Stabschef der städtischen Führungsorganisation Sicherheitsdepartement der Stadt Zürich Kontakt: markus.meile@zuerich.ch AUTOR*INNEN 50 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Funktionierende und leistungsfähige städtische Bahnsysteme sind in den Großstädten das Rückgrat urbaner Mobilität. Stehen diese Verkehrsinfrastrukturen nicht zur Verfügung, hat dies erhebliche, unter anderem wirtschaftliche Auswirkungen. Daher gelten städtische Bahnsysteme in den Ballungszentren als Kritische Infrastrukturen. Die Betreiber müssen deshalb besondere Maßnahmen zur Gewährleistung der Angriffssicherheit (Security) ergreifen (vgl. [1], [2] und [3]). Ein wirksamer Schutz gegen unberechtigte Zugriffe Dritter auf für den Betrieb essentielle informationstechnische Systeme geschieht durch die Umsetzung eines Managementsystems für die Informationssicherheit (ISMS) durch die Be- Regelkreise der Cybersecurity Das Wechselspiel von Managementsystemen für Informationssicherheit und behördlicher Aufsicht Cybersecurity, IT-Sicherheit, Kritische Infrastrukturen, Informationssicherheits- Managementsystem, Security in Depth Lars Schnieder Leistungsfähige städtische Bahnsysteme sind das Rückgrat urbaner Mobilität. Zum Schutz Kritischer Infrastrukturen müssen die Betreiber städtischer Bahnsysteme wirksame Managementsysteme für die Informationssicherheit (ISMS) etablieren. Erfahrungen mit den Prozessen in der Anwendung führen zu deren kontinuierlicher Verbesserung. Dieser organisationsinterne Optimierungszyklus ist in einen übergeordneten Regelkreis eingebettet. IT-Störungen werden der Aufsichtsbehörde gemeldet. Hierdurch werden IT-Störungen organisationsübergreifend verhindert oder ihre gesellschaftlichen Auswirkungen abgemildert. © Piron Guillaume on Unsplash 51 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze treiber. Gleichzeitig ist dieser organisationsinterne Optimierungszyklus in einen übergeordneten Regelkreis behördlicher Aufsicht eingebettet. Durch die Auswertung von Meldungen IT-bezogener Störungen können diese organisationsübergreifend verhindert oder ihre gesellschaftlichen Auswirkungen abgemildert werden. Dieser Beitrag stellt diese beiden Regelkreise in ihrem systematischen Zusammenhang dar (vgl. Bild 1). Kontinuierliche Verbesserung des Managementsystems der Informationssicherheit Betreiber Kritischer Infrastrukturen erfüllen ihre Rechtspflichten durch den Aufbau wirksamer ISMS. Ausgangspunkt hierfür ist stets eine Risikoanalyse. Die Risikoanalyse steuert die bedarfsgerechte Auswahl und Umsetzung von Schutzmechanismen. Die Risikoanalyse wird fortlaufend gepflegt und kontinuierlich an die sich verändernde Bedrohungslage angepasst. Aus der Risikoanalyse resultieren konkrete Schutzmaßnahmen. Hierbei handelt es sich stets um eine wirksame Kombination aus technischen und organisatorischen Maßnahmen sowie Maßnahmen des physischen Zugriffsschutzes. Dieser ganzheitliche Ansatz wird als „Security in Depth“ (tiefgestaffelte Verteidigung) bezeichnet. Der Kombination dieser verschiedenen Schutzmechanismen liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass eine Barriere allein für einen wirksamen Ausschluss unberechtigter Zugriffe Dritter unzureichend ist. Die Wahrscheinlichkeit eines unberechtigten Zugriffs kann jedoch durch die Anordnung mehrerer voneinander unabhängiger Barrieren wesentlich verringert werden. Diese einzelnen Barrieren werden nachfolgend umrissen. Umsetzung organisatorischer Schutzkonzepte Über den Aufbau, den Betrieb und die erfolgreichen Zertifizierung eines wirksamen ISMS können Betreiber städtischer Bahnsysteme einerseits die Forderungen des Gesetzgebers erfüllen. Andererseits besteht für die Betreiber die Chance, die Informationssicherheit nachhaltig auf ein angemessenes Niveau zu bringen. Die Grundlagen eines solchen ISMS sind im internationalen Standard ISO 27001 beschrieben [4]. Das wesentliche Ziel eines ISMS ist es, Risiken für die Organisation in Bezug auf die Verfügbarkeit, die Integrität und die Vertraulichkeit der „Informationswerte“ zu identifizieren, zu analysieren und durch geeignete Maßnahmen beherrschbar zu machen. Ein ISMS besteht aus zwei integralen Bestandteilen:  Der erste integrale Bestandteil ist hierbei der risikoorientierte Ansatz. Die realisierten Schutzmechanismen werden kontinuierlich weiterentwickelt und an die sich stetig verändernde Risikosituation angepasst. Dies bedingt eine integrierte Vorgehensweise, in der Risiken strukturiert analysiert und priorisiert werden, um effektive Schutzmaßnahmen zu identifizieren und nachfolgend umzusetzen [5].  Der zweite integrale Bestandteil ist die rückgekoppelte und geschlossene Wirkungskette. In Managementsystemen wird dies auch als klassischer Deming-Kreislauf oder PDCA-Zyklus (Plan - Do - Check - Act) bezeichnet. Hierdurch ist es einer Organisation möglich, ein bestimmtes Sicherheitsniveau zu definieren und zu planen, umzusetzen, zu überwachen und kontinuierlich weiterzuentwickeln [6]. Bild 2 zeigt, wie der Regelkreis geschlossen wird. Rechtspflichten der Exekutive (Aufsichtsbehörde) Rechtspflichten des Betreibers Umsetzung technischer Schutzmaßnahmen Ausübung der behördlichen Aufsicht Umsetzung organisatorischer Schutzmaßnahmen Umsetzung physischer Zugriffsschutz Betrieb des Verkehrssystems (Regelstrecke) Risikoanalyse (effektive Gefahrsteuerung) Bewertung des Schutzniveaus (Monitoring) Umsetzung von Maßnahmen nach Gefährdungslage Störgröße Regelgröße Stellgröße Führungsgröße Messgröße Messgröße Stellleistung Bild 1: Regelkreis der organisationsinternen Optimierung des ISMS und seine Einbettung in die behördliche Aufsicht. © Schnieder 52 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Umsetzung technischer Schutzkonzepte Security-Eigenschaften müssen bereits in der Entwicklung technischer Systeme berücksichtigt werden (Security Engineering), beziehungsweise ihre Realisierung vor Inbetriebnahme aber auch im Betrieb nachgewiesen werden (Security Testing). Internationale Normen zur funktionalen Sicherheit von Bahnanwendungen definieren einen allgemeinen Lebenszyklus [7], beziehungsweise einen speziellen Lebenszyklus für die Software für Eisenbahnsteuerungs- und Überwachungssysteme [8] mit Aktivitäten von der Anfangsplanung bis hin zur Stilllegung und Entsorgung. Es gibt auch bereits allgemein anerkannte Regeln der Technik, welche Prozessanforderungen für die Integration des Entwurfsmerkmals Cybersecurity in die Entwicklung automatisierter Produktionsanlagen festlegen [9]. Hierbei werden Vorgaben zur Definition von Security-Anforderungen, zur (angriffs-)sicheren Implementierung, für den Nachweis der Security-Eigenschaften (Verifikation und Validierung) sowie die Berücksichtigung von Anwendungsregeln in internen technischen und betrieblichen Regelwerken des Betreibers getroffen. Eine nationale Vornorm [10] greift die Idee eines Security-Entwicklungslebenszyklus auf und integriert diese Aktivitäten in den Lebenszyklus des umfassenden RAMS 1 -Managements für Bahnanwendungen (vgl. [7]). Das Thema Angriffssicherheit muss während des gesamten Entwicklungsprozesses dezidiert berücksichtigt werden. Geschieht dies nicht, werden schwerwiegende Sicherheitslücken erst kurz vor einer geplanten Inbetriebnahme offenbart und sind zu diesem Zeitpunkt gar nicht mehr oder nur noch mit hohem Aufwand zu beheben. Die wirksame Umsetzung technischer Schutzkonzepte erfordert neue Modelle der Zusammenarbeit zwischen Herstellern und Betreibern. Die Hersteller müssen über den gesamten Lebenszyklus hinweg an der Behebung von Schwachstellen der von ihnen gelieferten Systeme mitwirken. Sie müssen die Ursachen analysieren, erforderliche Korrekturen im System umsetzen und die getesteten Korrekturstände der Software kurzfristig bereitstellen (Patch Management). Umsetzung von Maßnahmen des physischen Zugriffsschutzes Der physische Angriffsschutz befasst sich mit Maßnahmen zur Vermeidung von Gefahren durch unmittelbare körperliche (physische) Einwirkung auf informationstechnische Systeme zur Verkehrssteuerung. Der Bereich des physischen Angriffsschutzes beginnt mit einfachen Mitteln wie verschlossene Rechnergehäuse und reicht bis zum Einschließen von Systemen in Rechenzentren der Betreiber. Alle physischen Schutzmaßnahmen zielen auf eine Abschottung der Systeme vor Gefahrenquellen wie beispielsweise die mechanische Einwirkung durch Personen, bzw. das Ermöglichen des Einspielens von Schadsoftware durch physischen Zugang. Die Maßnahmen werden unterschieden in Ansätze der Prävention, Detektion und Intervention [11].  Prävention bedeutet, den weit reichenden Ausschluss eines physischen Zutritts zu den zu schützenswerten Assets durch bauliche Maßnahmen. Dies umfasst die bauliche Ausführung von Wänden, Fenstern und Türen sowie die ergänzende Ausstattung mit Sicherheits- und Überwachungstechnik. Bei der Planung eines neuen Gebäudes oder der Bewertung eines Bestandsgebäudes, welches informationstechnische Systeme für die Steuerung Kritischer Infrastrukturen aufnehmen soll, werden die Räume ähnlichen Schutzbedarfs 1 R AMS: Reliability, Availability, Maintainability, Safety Do (ISMS umsetzen / betrieben)  Aufstellen und umsetzen eines Risikobehandlungsplans  Umsetzen der ausgewählten Maßnahmen  Abschätzen der Wirksamkeit  Sensibilisieren und Schulen der Mitarbeiter  Verwaltung und Betrieb eines ISMS  Ressourcenmanagement für das ISMS  Erkennung und Behandlung von Sicherheitsvorfällen Plan (ISMS planen und festlegen)  Anwendungsbereich und Grenzen  Definition ISMS und Informationssicherheitsleitlinie  Identifizieren der Risiken, Risikoabschätzung und -bewertung  Optionen für die Risikobehandlung  Auswählen von Maßnahmenzielen und Maßnahmen Check (ISMS überwachen / überprüfen)  Überwachung und Überprüfung  Regelmäßige Überprüfung der Wirksamkeit des ISMS  Abschätzen der Wirksamkeit von Maßnahmen  Durchführung regelmäßiger interner Audits  Regelmäßige Managementbewertung des ISMS  Aufzeichnung von Handlungelungen und Ereignissen Act (ISMS instandhalten und verbessern)  Implementieren identifizierter Verbesserungen  Korrektur- und Präventionsmaßnahmen  Kommunizieren der (beabsichtigten) Verbesserungen  Erfolgskontrolle der Verbesserungen Bild 2: Kreislauf der kontinuierlichen Verbesserung des ISMS (Abbildung nach [11]). © Schnieder kontrollierter Innenbereich interner Bereich Hochsicherheitsbereich Außenbereich Bild 3: Konzept der tiefengestaffelten Sicherheitsmaßnahmen im baulichen Zugriffsschutz (Abbildung nach [11]). © Schnieder 53 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze in Zonen zusammengefasst werden. Bewährt ist eine Aufteilung in vier Sicherheitszonen, Außenbereich, kontrollierter Innenbereich, interner Bereich und Hochsicherheitsbereich (vgl. Bild 3).  Für die Detektion etwaiger Eindringlinge werden Gefahrenmeldeanlagen vorgesehen. Eine Gefahrenmeldeanlage (GMA) besteht aus einer Vielzahl lokaler Melder, die mit einer Zentrale kommunizieren, über die auch der Alarm ausgelöst wird. Beispiele für Meldesysteme zur Einbruchserkennung sind unter anderem Bewegungsmelder, Glasbruchsensoren, Öffnungskontakte oder Videokameras. Alarme werden an eine ständig besetzte Stelle weitergeleitet und gemäß der Prozessvorgaben (Notfallmanagement) des Betreibers weiterverfolgt.  Im Zuge der Intervention müssen unter Umständen andere Personengruppen aktiv werden. Für die handelnden Personengruppen ist festzulegen, welche Aufgaben und Kompetenzen diese haben. Ein Eskalationsplan legt fest, welche Unregelmäßigkeiten auf der ersten Bearbeiterebene gelöst werden können und ab wann die nächst höhere Eskalationsebene zu unterrichten ist. Hierbei sind Verantwortungen und Eckpunkte einer Eskalationsstrategie (Eskalationswege und Art der Eskalation) vorab festzulegen und ggf. in einem Werkzeug (mit Checklisten oder hinterlegten Arbeitsabläufen) digital vorzuhalten. Regelkreis der behördlichen Aufsicht Aufsichtstätigkeiten können unterschieden werden in reaktive Aufsichtstätigkeiten und proaktive Aufsichtstätigkeiten. Die Aufsichtsbehörde wird reaktiv tätig, wenn begründete Abweichungen (beispielsweise erkannte Sicherheitsvorfälle) vorliegen. Demgegenüber ist der Ansatz einer proaktiven Aufsichtstätigkeit eine Überprüfung der Wirksamkeit getroffener organisationsinterner Maßnahmen der Betreiber der Kritischen Infrastruktur. Diesem proaktiven Ansatz liegt die begründete Annahme zu Grunde, dass durch ein wohl definiertes, auf die Informationssicherheit ausgerichtetes Managementsystem die Wahrscheinlichkeit der Kompromittierung kritischer informationstechnischer Systeme deutlich reduziert werden kann. Die Durchführung einer solchen proaktiven Aufsichtstätigkeit folgt dem in Bild 4 dargestellten Kreislauf. Die einzelnen Prozessschritte werden nachfolgend skizziert.  Überwachen: Das Überwachen ist der gesetzliche Auftrag, der sich aus dem Gesetz über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik ergibt. Überwachen Kontrollen planen Kontrollen durchführen Maßnahmen durchführen Auswerten Berichten Ahnden gesetzliche Kontrollaufträge Checklisten getroffene Verwaltungsmaßnahmen Protokolle  Kontrollen planen: Das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) kann die Einhaltung der getroffenen Vorkehrungen zum Schutz Kritischer Infrastrukturen überprüfen. Hierbei kann es sich um eine Stichprobe der korrekten Durchführung der alle zwei Jahre wiederkehrenden Regelprüfung des vom Betreiber umgesetzten ISMS handeln. Möglicherweise ist auch ein gemeldetes Ereignis Auslöser der Kontrolle. In der Vorbereitung werden Kontrollorte, Zeiträume und relevante Kontrollobjekte festgelegt. Vorbereitete Checklisten orientieren sich an einschlägigen Maßnahmenkatalogen wie dem BSI-Grundschutz oder internationalen Standards (ISO 27001).  Kontrollen durchführen: Die Durchführung der Kontrollen beginnt mit der Anmeldung vor Ort. Anschließend werden eine oder mehrere Kontrollen durchgeführt. Die Durchführung der Kontrollen endet mit der vollständigen Dokumentation der Kontrolle und ihrer Ergebnisse. Das Ergebnis des Prozessschrittes Kontrollieren sind Protokolle über die Kontrolltätigkeiten und gegebenenfalls die festgestellten Mängel.  Maßnahmen durchführen: Der Prozessschritt Maßnahmen durchführen wird initiiert durch das Kontrollergebnis „Mangel“ und umfasst einerseits Maßnahmen der Gefahrenabwehr bei unmittelbaren Gefahren. Anderseits umfasst dies Maßnahmen des Verwaltungshandelns, also eine behördliche Anordnung. Diese geschieht unter Bild 4: Kreislauf der behördlichen Aufsicht. © Schnieder 54 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Einbindung der verkehrsträgerspezifischen Aufsichtsbehörde (zum Beispiel: die Technische Aufsichtsbehörde der Länder für Straßenbahnen).  Auswerten: Im Prozessschritt Auswerten werden die Ergebnisse der durchgeführten Kontrollen und Maßnahmen zusammengefasst und analysiert. Dabei werden Informationen zu Größen wie Zuverlässigkeit, Kontrollhäufigkeit, Kontrollquote ermittelt. Die Ergebnisse dieser Auswertungen gehen als statistische Daten an den Prozessschritt Berichten und als Informationen zur Ermittlung von Veranlassungen an den Prozessschritt Planen.  Ahnden: Der Prozessschritt umfasst Aufgaben zur Bewertung und gegebenenfalls Verfolgung von im Rahmen des Prozessschritts Kontrollieren festgestellten Ordnungswidrigkeiten (vgl. § 14 des Gesetzes über das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, bzw. ordnungswidrige Tatbestände der verkehrsträgerspezifischen Fachgesetze, Rechtsverordnungen, sowie dem Ordnungswidrigkeitengesetz). Ordnungswidrigkeiten können mit einer Geldbuße von fünfzigtausend Euro geahndet werden.  Berichten: Die Aufsichtsbehörden erstellen jährliche einen zusammenfassenden Bericht. Dieser Bericht sollte Informationen über die Anzahl der eingegangenen Meldungen sowie Angaben über die Art der gemeldeten Sicherheitsvorfälle, wie beispielsweise die Arten der Sicherheitsverletzungen, deren Schwere oder Dauer, enthalten [1]. Ausblick: Seit fast fünf Jahren liegen die rechtlichen Regelungen in Deutschland vor. Nach wie vor ist festzustellen, dass die Betreiber in der Umsetzung der rechtlich geforderten Maßnahmen noch am Anfang stehen. Gefordert ist eine Umsetzung der rechtlichen Vorgaben mit Augenmaß. Der Aufwand für von den Betreibern zu treffende technische und organisatorische Vorkehrungen gegen unerlaubte Zugriffe darf nicht außer Verhältnis zu den Folgen eines Ausfalls stehen. Ebenfalls sollten in der Umsetzung der behördlichen Aufsicht bewusst Synergien zur Auditierung bereits etablierter Managementsysteme (Sicherheitsmanagementsystem, SMS) gesucht werden. Auf diese Weise wird seitens der Betreiber und der Aufsichtsbehörde Doppelaufwand für ohnehin anstehende Kontrollen für Sicherheitsgenehmigungen (für Eisenbahninfrastrukturunternehmen) bzw. Sicherheitsbescheinigungen (für Eisenbahnverkehrsunternehmen) vermieden. Zu guter Letzt muss ein aufeinander abgestimmtes Zusammenwirken von Betreibern und Herstellern einerseits und verschiedenen Aufsichtsbehörden andererseits erreicht werden. Hier muss das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik gemeinsam mit den zuständigen Fachaufsichtsbehörden pragmatische Ansätze der Aufsicht definieren. LITERATUR [1] Richtlinie (EU) 2016/ 1148 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 2016 über Maßnahmen zur Gewährleistung eines hohen gemeinsamen Sicherheitsniveaus von Netz- und Informationssystemen in der Union. [2] Gesetz zur Erhöhung der Sicherheit informationstechnischer Systeme (IT-Sicherheitsgesetz) vom 17. Juli 2015 (BGBl. I S. 1324) geändert durch Artikel 5 Absatz 8 des Gesetzes vom 18. Juli 2016 (BGBl. I S. 1666). [3] BSI-Kritisverordnung vom 22. April 2016 (BGBl. I S. 958), die durch Artikel 1 der Verordnung vom 21. Juni 2017 (BGBl. I S. 1903) geändert worden ist. [4] DIN EN ISO/ IEC 27001: 2017-06 Informationstechnik - Sicherheitsverfahren - Informationssicherheitsmanagementsysteme - Anforderungen (Deutsche Fassung EN ISO/ IEC 27001: 2017) [5] Schnieder, L., Magerkurth, G.: Schutz kritischer Infrastrukturen im ÖPNV - Aufbau eines zertifizierungsfähigen Informationssicherheits-managementsystems (ISMS). in: Der Nahverkehr, 36 (2018) 11, S. 39 - 43. [6] Zeiner, A., Clément, C.: Große Relevanz der Informationssicherheit im Personennahverkehr. In: Der Nahverkehr 35 (2017) 10, S. 46 - 48. [7] DIN EN 50126: 2000-03: Bahnanwendungen - Spezifikation und Nachweis der Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit, Instandhaltbarkeit, Sicherheit (RAMS); Deutsche Fassung EN 50126: 1999. [8] DIN EN 50128: 2012-03: Bahnanwendungen - Telekommunikationstechnik, Signaltechnik und Datenverarbeitungssysteme - Software für Eisenbahnsteuerungs- und Überwachungssysteme; Deutsche Fassung EN 50128: 2011. [9] Normenreihe IEC 62443: Industrielle Kommunikationsnetze - IT-Sicherheit für Netze und Systeme. [10] DIN VDE V 0831-104: 2015-10: Elektrische Bahn-Signalanlagen - Teil 104: Leitfaden für die IT-Sicherheit auf Grundlage IEC 62443 [11] Schnieder, L.: Security Engineering - Ein ganzheitlicher Ansatz zum Schutz Kritischer Infrastrukturen im Verkehr. Springer Verlag (Berlin) 2018. Dr.-Ing. Lars Schnieder Director Assessment Service Center ESE Engineering und Software-Entwicklung GmbH Kontakt: Lars.schnieder@ese.de AUTOR 55 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Breitbandausbau im ländlichen Raum* Gestaltungserfordernisse und Ausbauhemmnisse Breitbandnetze, ländlicher Raum, Informations- und Kommunikationstechnik, Daseinsvorsorge Corinna Hilbig, Oliver Rottmann Die Digitalisierung hat eine strukturelle Veränderung in Gang gesetzt, die zunehmend alle Lebensbereiche erfasst. So stellt im Zeitalter der globalen, vernetzten Wirtschaft die Verfügbarkeit von Breitbandanschlüssen einen wichtigen Standortfaktor dar [1]. Der Aufbau einer leistungsfähigen Netzinfrastruktur trägt zur Steigerung des Wirtschaftswachstums, der Beschäftigung und der Produktivität bei und steigert die Wettbewerbsfähigkeit ansässiger Unternehmen [2]. Dies gilt für die Industrie gleichermaßen wie für moderne Dienstleistungsbranchen. Aber auch für die Leistungserbringung öffentlicher bzw. hoheitlicher Aufgaben in der Fläche gewinnt die Breitbandtechnologie zunehmend an Bedeutung, besonders vor dem Hintergrund abnehmender Bevölkerung in strukturschwachen oder ländlichen Räumen. * Der Text basiert auf einer Studie aus dem Jahre 2019, die das KOWID an der Universität Leipzig und die PSPC GmbH in Kooperation mit VKU, BDO, DAL, Plusnet, GasLINE, NordLB, LBBW, Primevest Capital Partners und Luther Rechtsanwaltsgesellschaft durchgeführt haben. © Horrido auf Pixabay 56 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Breitbandausbau als Standort- und Versorgungsfaktor Zahlreiche Bundesländer verfolgen im Rahmen ihrer Verwaltungsmodernisierung und deren zukunftsfähigem Umbau eine verstärkte Nutzung der elektronischen Verwaltungsführung - sowohl in internen Prozessen als auch bei externen Dienstleistungen (E-Government). Schließlich werden infolge der Auswirkungen des demographischen Wandels für weitere Leistungsbereiche Versorgungsleistungen unter Nutzung moderner Kommunikations- und Informationstechnologien diskutiert, beispielweise im Gesundheitsbereich, in der Nahversorgung oder im Rahmen der Energiewende (Steuerung von Windparks oder Solarenergie). Der Aufbau eines leistungsfähigen Datennetzes ist Grundvoraussetzung für die angestrebte Gigabit- Gesellschaft. Die Gigabit-Gesellschaft ist das von der Europäischen Kommission [3] und vom Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur [4] formulierte Ziel für das Jahr 2025. Sie wird beschrieben als eine „fortgeschrittene Informationsgesellschaft, die vollständig von Informations- und Kommunikationstechnik durchdrungen ist, so dass die Nutzer keine technischen Beschränkungen erfahren und vernetzte Anwendungen ohne Restriktionen möglich sind“ [5]. Dies bedeutet, dass Schulen, Krankenhäuser und öffentliche Verwaltungen über eine Anbindung von 1 Gbit/ s verfügen sollen. Für Privathaushalte wird eine Versorgung mit mindestens 100 Mbit/ s angestrebt, die bei Bedarf auf Gbit/ s-Geschwindigkeit aufgerüstet werden kann. Besonders für die vom demographischen und strukturellen Wandel betroffenen ländlichen Räume stellt die flächenhafte Verfügbarkeit entsprechender Anschlüsse einen wichtigen Faktor zum Erhalt eines ausreichenden Angebots an Versorgungsstrukturen der Daseinsvorsorge dar [6]. Jedoch zeigen sich in den ländlichen, strukturschwachen Räumen aktuell bzgl. der Versorgungsquoten die größten Defizite. Eine ausreichend hohe Anbindungsrate wird jedoch im Speziellen für moderne Anwendungsformen, welche zugleich ausdünnende physische Strukturen (teilweise) ersetzen sollen, benötigt. Die Bundesregierung hat einen 4-Phasen-Plan für die Erreichung der Ausbauziele der Gigabit-Gesellschaft formuliert. In der ersten Phase sollte ursprünglich bereits bis Ende 2018 eine gleichmäßige Versorgung mit mindestens 50 Mbit/ s hergestellt werden [7]. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Als neues Ziel wurde ein flächendeckendes Glasfasernetz (Gigabit-Netz) bis 2025 ausgegeben [8]. Um diesem Ziel gerecht zu werden, sind noch erhebliche Investitionen und Anstrengungen zu unternehmen und zeitnah Hindernisse abzubauen, die bisher einem zügigen Ausbau entgegenstanden. Status quo Der Glasfaserausbau in Deutschland geht im internationalen Vergleich nur schleppend voran. Bei der Marktdurchdringung der zukunftsfähigen „fiber to the home/ building“ (FTTH bzw. FTTB) Anschlüsse wird Ende 2018 nur eine Verfügbarkeit (homes passed) aller Haushalte von 8,9 % erreicht [9]. Andere europäische Staaten haben hier bereits einen deutlichen Vorsprung, wie Lettland (85,2 %) oder Schweden (60,8 %) [10]. Im internationalen Vergleich sind andere Industrienationen mit Anschlussquoten (connected and subscribing) von bereits 79,8 % der Haushalte in Südkorea oder 53,9 % der Haushalte in Japan führend [11]. Gleichwohl bedeutet eine landesweit vollständige Breitbandversorgung einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Zum einen, was die Attrahierung von Unternehmen und Bürgern für die einzelnen Regionen betrifft, und zum Vorgaben zur Fertigstellung im Förderbescheid Materialkonzept des Bundes Wegfall der Pflicht einer georeferenzierten Netzplanung auf der Basis der GIS- Nebenbestimmungen der ateneKOM Zusätzlicher Verwaltungsaufwand im Betreibermodell ist nicht förderfähig. Eine Kompensation durch Landes- oder Bundesmittel wäre wünschenswert Upgrade auf FTTB förderfähig machen (falls FTTC der Antragstellung zu Grunde lag) Aufgreifschwelle 30 Mbit/ s anpassen 11 % 15 % 19 % 22 % 37 % 71 % 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 80 % Bild 1: Anpassungsbedarf der Förderkulisse. © Rottmann/ Hilbig (2019). 57 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze anderen, welche Lösungen hierbei die demographische Entwicklung hervorruft. Vor diesem Hintergrund ist der verstärkte Ausbau der FTTH-Technik für Bürger und Wirtschaft essenziell. Zwar liegt die Breitbandverfügbarkeit von NGA-Anschlüssen (≥ 50 Mbit/ s) deutschlandweit betrachtet bei 76,7 % der Haushalte [12], allerdings gibt es besonders in den neuen Bundesländern überwiegend in ländlichen Regionen immer noch „weiße Flecken“. Sachsen- Anhalt weist beispielsweise nur eine Verfügbarkeit von NGA-Anschlüssen (≥ 50 Mbit/ s) von 50,9 % der Haushalte auf [12]. Die Versorgungsquoten, insbesondere mit Breitbandanschlüssen höherer Datenübertragungsraten im ländlichen Raum, liegen deutlich unter denen städtischer Regionen. Dort sind infolge der geringeren Bevölkerungsdichten und siedlungsstruktureller Gegebenheiten entsprechende Anschlüsse für Telekommunikationsunternehmen nur mit vergleichsweise hohem Aufwand, und daher für diese regelmäßig nicht wirtschaftlich, zu realisieren. Neben den technischen Lösungen und Erfordernissen sind vor allem zwei Punkte wesentlich für einen zügigen Ausbau: Zunächst ist zu fragen, wer für den Ausbau formal zuständig ist, und sodann, wie dieser finanziert werden soll. Grundsätzlich ist für die Gewährleistung flächendeckend angemessener und ausreichender Dienstleistungen im Bereich der Telekommunikation nach Art. 87 f Abs. 1 GG der Bund zuständig, dabei werden diese nach Abs. 2 und im Sinne des „Gewährleistungsstaates“ jedoch durch private Unternehmen erbracht. Die Hoheitsaufgaben im Bereich Telekommunikation werden dabei durch die bundeseigene Verwaltung vollzogen. In diesem Sinne hat der Bund folglich Sorge zu tragen, dass eine entsprechende Versorgung allerorts gewährleistet wird. Fraglich ist, ob sich die Versorgung mit Breitband im Sinne des Versorgungsauftrags aus Art. 87 f GG zweifelsfrei dem Bereich Telekommunikation zuordnen lässt und folglich auch hier der Gewährleistungsanspruch gilt. Wenngleich diese Frage hier in diesem Rahmen nicht weiter betrachtet werden kann, lässt sich jedoch vermuten, dass aus eingangs benannter, politisch konstatierter Bedeutung des Breitbands für Wirtschaft und Gesellschaft die Gewährleistung eines flächenhaften Angebots als staatliche Aufgabe gesehen werden kann. Hierfür spricht auch, dass die Bundesregierung entsprechend des Koalitionsvertrags im flächendeckenden Breitbandausbau eine Schlüsselaufgabe sieht und insbesondere die Kommunen in den ländlichen Räumen unterstützen will [13]. Der Ausbau kann dennoch nicht ohne private Investitionen gelingen. Untersuchungsergebnisse der Studie „Breitbandausbau im ländlichen Raum“ In der Studie wurden Hemmnisse des Breitbandausbaus sowie Verbesserungspotenziale analysiert. Es erfolgte eine Befragung von Kommunen, kommunalen Telekommunikationsunternehmen sowie Kapitalgebern. Als Hemmnisgründe eines beschleunigten Breitbandausbaus wurden die fehlende Unterstützung der Kommunen bei der Umsetzung der Förderprogramme, der strategische Überbau, ein unsicheres Regulierungsumfeld, insbesondere der regulatorische Rahmen von Mitnutzungen und Mitverlegungen, sowie fehlende Finanzierungsmöglichkeiten identifiziert. Die Befragung der Kommunen zeigte, dass kommunale Breitbandprojekte bisher mehrheitlich im Wege eines geförderten Wirtschaftlichkeitslückenmodells ausgeschrieben wurden. Das Betreibermodell liegt bei den Befragten noch hinter dem eigenwirtschaftlichen Ausbau ohne Fördermittel. Engagierten sich die befragten Kommunen bisher nicht im Breitbandausbau, so war dies im Wesentlichen auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführen. Für die Auswahl des Betreibermodells sprachen Öffentliches WiFi Intelligente Parklösungen Verkehrsmanagement/ vernetzte Fahrzeuge Intelligente Beleuchtung Small Cells - verteilte Mobilfunkantennen (IoT) Luftqualität Crowd Management Gewalterkennung Sonstiges 63 % 52 % 48 % 19 % 12 % 7 % 0 % 10 % 20 % 30 % 40 % 50 % 60 % 70 % 51 % 26 % 14 % Bild 2: Smart-City- Anwendungsfelder durch den Breitbandausbau. © Rottmann/ Hilbig (2019) 58 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze aus Sicht der Befragten das Netzeigentum als langfristiger Vermögenswert sowie die Möglichkeit der unmittelbaren Einflussnahme auf die Planung und die eingesetzte Technologie. Entsprechend wurde bei der Risikobewertung auch das Risiko der Kosten- und Bauzeitenüberschreitung als hoch eingestuft. Das Wirtschaftlichkeitslückenmodell wurde aufgrund des geringeren Verwaltungsaufbaus und Finanzierungsbedarfs positiv bewertet. Die Risiken der Bauzeiten- und Kostenüberschreitung wurden insgesamt deutlich niedriger eingestuft als im Betreibermodell. Die Mehrzahl der untersuchten Projekte befindet sich derzeit noch in der Umsetzungsphase, das heißt in der Vergabe- oder der Bauphase. Wurden geförderte Projekte umgesetzt, wurden dabei hauptsächlich Landes- und Bundesfördermittel in Anspruch genommen. Andere Förderprogramme, wie beispielsweise das Sonderprogramm Gewerbegebiete, sind von untergeordneter Bedeutung. Die im Förderprozess in Anspruch genommenen Unterstützungsleistungen, wie zum Beispiel Beratung durch den Fördermittelgeber, Landesberatung oder durch private Beratungsunternehmen wurden von den Kommunen überwiegend positiv bewertet. Vor dem Hintergrund des im Sommer 2018 erfolgten Relaunchs des Bundesförderprogrammes Breitband wurden die Kommunen auch hier um eine Einschätzung gebeten. Als besonders sinnvoll wurden der Wegfall des Scoring-Verfahrens und die Möglichkeit der Berücksichtigung von Kostensteigerungen bewertet. Ob die Möglichkeit der Berücksichtigung von Kostensteigerungen zukünftig zu einer verstärkten Nutzung des Betreibermodells, in dem Kostensteigerungen als hohes Risiko wahrgenommen werden, führen könnte, bleibt offen. Als Gründe für Verzögerungen im Förderverfahren wurden hauptsächlich sich verändernde Gebiete (Hinzunahme von Schulen, Hinzunahme und Wegfall von Gebieten durch Ausbauentscheidungen privater Anbieter) sowie fehlende personelle Kapazitäten genannt. Die überwiegende Mehrheit der Befragten sprach sich für eine Anpassung der Aufgreifschwelle von 30- Mbit/ s aus (Bild 1). Dies kann als Indikator für den steigenden Bandbreitenbedarf gewertet werden. Durch die Aufgreifschwelle entstehen vielerorts „neue“ weiße Flecken eben dort, wo die Aufgreifschwelle knapp überschritten wurde, aber dennoch keine hohen Bandbreiten von > 50 oder > 100- Mbit/ s zur Verfügung stehen. Dieser Aspekt wird, wie auch die von den Kommunen an zweiter Stelle des Anpassungsbedarfs der Förderkulisse genannte Förderfähigkeit durch ein Upgrade von FTTC auf FTTB, die Diskussionen der kommenden Jahre bestimmen und womöglich auch Einfluss auf die Gestaltung zukünftiger Förderprogramme nehmen. Im Rahmen der Studie wurde deutlich, dass der Breitbandausbau eine Grundlage zur Umsetzung für Smart City-Konzepte bildet (Bild 2). Das haben auch die befragten Kommunen erkannt und sehen Chancen insbesondere für die Umsetzung eines öffentlichen WiFi-Netzes sowie für (verkehrs-) infrastrukturbezogene Lösungen, wie intelligentes Parken, Verkehrsmanagement/ vernetzte Fahrzeuge und intelligente Beleuchtung. Zur Vermeidung der Gefährdung von Förderverfahren durch einen strategischen Überbau spricht sich eine klare Mehrheit der Befragten für Sanktionen gegenüber Unternehmen, die absichtlich irreführende, fehlerhafte oder unvollständige Aussagen zu ihren Ausbauabsichten tätigen, aus. Als wirksamste Maßnahme werden dabei finanzielle Sanktionen in Form von Schadensersatzzahlungen oder Bußgeldern angeführt. Die Befragung der kommunalen Unternehmen hat verdeutlicht, dass bei den Befragten bisher nur eingeschränkte Erfahrungen bei der Mitnutzung und Mitverlegung von passiver Infrastruktur bzw. von Leerrohren vorliegen. In der Mehrzahl der Fälle wurden Anfragen Dritter positiv beschieden und ein entsprechendes Angebot gelegt. Insgesamt gaben lediglich zwei bzw. einer der Befragten an, eine Mitnutzung nach § 77g TKG bzw. eine Mitverlegung nach § 77i TKG versagt zu haben. In keinem der betrachteten Fälle wurde die zentrale Streitbeilegungsstelle der BNetzA eingeschaltet. Aufgrund der geringen Anzahl an Stichproben sind diese Ergebnisse allerdings als nicht repräsentativ zu bewerten. Deutlich höher waren die Rückmeldungen in Bezug auf zukünftige Ausgestaltungen von Mitverlegungen oder Mitnutzungen. Die Mehrheit der Befragten bestätigt das Risiko eines Parallelausbaus von Glasfasernetzen und befürwortet eine Erweiterung der Ablehnungsmöglichkeit nach § 77g Abs. 2 TKG auch auf die Koordinierung von Bauarbeiten sowie die Ausdehnung der Ablehnungsmöglichkeit auch auf eigenwirtschaftliche Ausbauvorhaben. Zur Berechnung des Mitnutzungsentgeltes spricht sich die Mehrheit der Befragten dafür aus, dass die gesamte in der Urkalkulation (Business Case) kalkulierte Rendite berücksichtigt werden sollte. Als wirksamsten Ansatz zur Beschleunigung des FTTB-Breitbandausbaus wurden ein Investitionsschutz für Unternehmen, die in Glasfasernetze investiert haben und Netznutzung und Netzzugang zu marktgerechten Konditionen gewähren, eine deutliche Vereinfachung und Straffung der Richtlinien und 59 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Dr. Corinna Hilbig Geschäftsführende Gesellschafterin PSPC Public Sector Project Consultants GmbH Kontakt: info@psp-consult.de Dr. Oliver Rottmann Geschäftsführender Vorstand des KOWID-Kompetenzzentrums Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge e. V. an der Universität Leipzig Kontakt: rottmann@wifa.uni-leipzig.de AUTOR*INNEN Prozesse bei der Bundesförderung und ein freiwilliger Open Access genannt. Wesentliche Faktoren bei der Kooperation - sowohl aus Sicht der Eigenwie auch der Fremdkapitalgeber - sind das Know-how und die Erfahrung des Kooperationspartners. Für Fremdkapitalgeber ist zusätzlich eine langfristige Anlagestrategie entscheidend. Zusammenfassend lässt sich aus Sicht der Kapitalgeber festhalten, dass die kritischen Risiken dem operativen Bereich (Vermarktung, Bau, Wettbewerb) zuzuordnen sind und der rechtliche Rahmen als stabil bewertet wird. Die Förderung wird von einigen Kapitalgebern als Bremse für den Breitbandausbau wahrgenommen, da es durch fehlende personelle Kapazitäten und fehlendes Know-how auf Seiten der öffentlichen Hand zu zum Teil erheblichen Verzögerungen im Ausbau kommt. Es wird eine Erweiterung der Modellvielfalt gefordert, um auch privates Kapital investieren zu können. Insgesamt verdeutlicht die Studie die heterogene Struktur des Breitbandausbaus, was Ausbaufortschritt, Eigentums- und Organisationsstruktur und Netzabdeckung anbetrifft. Diese Heterogenität unterstreicht die Bedeutung des Ausbaus von Knowhow und des intensiven Austauschs zwischen allen Beteiligten. Es bleibt abzuwarten, wie die Fortschreibung der Fördermittelregularien, aber auch der für die operative Umsetzung relevanten Regularien zur Mitnutzung und Mitverlegung für eine Angleichung der Strukturen und eine Beschleunigung des Ausbaus, insbesondere im ländlichen Raum, sorgen werden. Zentraler Faktor dabei ist eine ganzheitliche, nachhaltige Betrachtung (FTTH/ B, Modellwahl), um den Anforderungen an eine zukunftsfähige Versorgung Rechnung zu tragen, auch im Hinblick auf zukünftige Anwendungen und die „Smart City“ bzw. das „Smart Country“. LITERATUR [1] Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (Hrsg.) (o. J.): Innovationspolitik, Informationsgesellschaft, Telekommunikation; Breitbandstrategie der Bundesregierung; S. 6. [2] Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (Hrsg.): Gigabitnetze für Deutschland; (2016) S. 15. [3] Vgl. European Commission (Hrsg.): Konnektivität für einen wettbewerbsfähigen digitalen Binnenmarkt; (2016) S. 6-8. [4] Vgl. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (Hrsg.): Eckpunkte Zukunftsoffensive Gigabit-Deutschland; (2016) S. 2. [5] Fraunhofer Fokus (Hrsg.): Netzinfrastrukturen für die Gigabitgesellschaft; (2016) S. 12. [6] Vgl. Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (Hrsg.): Nutzungschancen des Breitbandinternets für ländliche Räume; Innovative Anwendungen, neue Ideen, gute Beispiele; (2014) S. 4. [7] Vgl. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (Hrsg.): Eckpunkte Zukunftsoffensive Gigabit-Deutschland; (2016) S. 2. [8] Vgl. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur, https: / / www.bmvi.de/ DE/ Themen/ Digitales/ Breitbandausbau/ Breitbandfoerderung/ breitbandfoerderung.html; Abgerufen am 29.01.2019. [9] Vgl. Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (Hrsg.): Aktuelle Breitbandverfügbarkeit in Deutschland, im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI), Stand Ende 2018; S. 5. [10] Vgl. Broadband market developments in the EU 2017, Final dataset, https: / / ec.europa.eu/ digital-singlemarket/ en/ connectivity; Abgerufen am 18.12.2017. [11] Vgl. IDATE for FTTH Council Europe, Februar 2017, ht tp: / / f t thcouncil.eu/ document s/ Repor t s/ 2017/ FT TH_GlobalRanking _final_EndSeptember2016.pdf; Abgerufen am 18.12.2017 [12] Vgl. TÜV Rheinland Consulting GmbH (Hrsg.): Aktuelle Breitbandverfügbarkeit in Deutschland, im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI), Stand Mitte 2017; S. 3. [13] Vgl. Deutschlands Zukunft gestalten, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode; S. 47. 60 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Stromversorgung und urbanes Kontinuitätsmanagement Versorgungssicherheit 2.0 - Smarte Konzepte zur Erhöhung der Resilienz moderner Städte in Zeiten dezentraler Strombereitstellung Stromversorgung, Urbane Resilienz, Kontinuitätsmanagement, Versorgungssicherheit, Kritikalität, Cyber-Security Sadeeb Simon Ottenburger Neben den im Rahmen der Gewährleistung von Netzstabilität und Stromqualität viel diskutierten technischen und sozialen Herausforderungen einer dezentralen und erneuerbaren Stromversorgung existieren auch neue Risiken und Unsicherheiten: Diese entstehen als Folge der sich vergrößernden cyber-physikalischen Angriffsfläche smarter und dezentraler Systeme und der sich verändernden Rahmenbedingungen, welche unter anderem aus dem Klimawandel resultieren. Zudem wird in vielen Lösungsansätzen dem Verbraucher und seinem Verhalten eine größer werdende Teilverantwortung für die Netzstabilität zugeschrieben, was per se weitere Unsicherheiten erzeugt. Neue smarte Konzepte aus der Resilienzforschung können einen Großteil solcher Risiken und Unsicherheiten systematisch abfedern. Photo by Alex on Unsplash THEMA Urbane Netze 61 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Resilienz Was ist Resilienz? Zunächst einmal hängt der Begriff Resilienz eines Systems von der Art des Schock- Ereignisses, den Eigenschaften des Systems und seinen Strategien zur Erholung ab. Die urbane Resilienz bezieht sich auf die Fähigkeit eines städtischen Systems, seine kritischen Funktionen angesichts erwarteter und unerwarteter Bedrohungslagen aufrechtzuerhalten oder schnell wiederherzustellen. Da eine Stadt ein komplexes System gegenseitig abhängiger Infrastrukturen ist, umfasst das Konzept der urbanen Resilienz unterschiedliche Resilienz-Dimensionen, welche soziale, wirtschaftliche, physikalische oder ingenieurtechnische Aspekte betreffen. Hierbei sind die Lebensadern moderner Gesellschaften, also kritische Verteil- und Transportsysteme, welche unter Anderem die Versorgung mit Strom oder Trinkwasser ermöglichen, von herausragender Bedeutung, da diese lebenswichtige Dienstleistungen für die Bevölkerung darstellen - Störungen oder Ausfälle dieser können zu Verletzungen oder sogar zu Todesfällen, Sachschäden, soziale und wirtschaftliche Beeinträchtigungen oder Umweltschäden führen. Kritische Infrastrukturen sind daher von zentraler Bedeutung bei Betrachtungen zur urbanen Resilienz: Sowohl die Erhöhung der Robustheit solcher Infrastrukturen als auch die Etablierung und Umsetzung neuer Kontinuitätsmanagementkonzepte in Bezug auf kritische Dienstleistungen können als wichtige Bausteine zur Erhaltung oder Verbesserung urbaner Resilienz angesehen werden (siehe Bild 1). Die Tatsache, dass das Funktionieren der meisten kritischen Infrastrukturen wie die Wasserversorgung, Krankenhäuser oder Verkehrs- und Transportsysteme auf eine kontinuierliche Versorgung mit Strom angewiesen ist, macht die Stromversorgung zu einer besonders wichtigen kritischen Infrastruktur. Stromversorgung im Wandel Die Stromerzeugung und -versorgung wandelt sich derzeit grundlegend. Im Rahmen der Energiewende wird der klassische Verbraucher durch die Integration von intelligenten Zählern, sogenannter Smart Meter, auch in der Lage sein, selbst als Stromanbieter zur Versorgung beizutragen - beispielsweise durch den Besitz einer PV-Anlage. Die dafür notwendigen Smart Meter sind elektronische Geräte, die den Stromverbrauch und die Stromerzeugung messen und somit eine wechselseitige Kommunikation mit anderen Zählern und Managementeinheiten im Verteilnetz ermöglichen [1]. Der Einsatz von Smart Metern (und noch vieler anderer smarter Komponenten) in einem hoch dezentralen Versorgungssystem ist für eine stabile und zuverlässige Versorgung notwendig, um unter Anderem ein Gleichgewicht zwischen Einspeisung und Verbrauch zu gewährleisten. Für die Aufrechterhaltung einer hohen Stromqualität und Netzstabilität in einem dezentralen und über eine große Region verzweigten Stromversorgungssystem ist ein Energiemanagement notwendig, dessen Architektur eine Aufteilung in mehrere miteinander verbundene Betriebszentren vorsehen kann, die ihrerseits als lokale Energiemanagementeinheiten, sogenannte Microgrids, angesehen werden können. Neue Versorgungsrisiken Allerdings werden Instabilitäten in solchen smarten und dezentralen Versorgungssystemen systembedingt wahrscheinlicher. Viele Komponenten so eines Verteilnetzes befinden sich nicht auf dem Gelände des Versorgungsunternehmens und sind daher potenziell anfälliger für Sachschäden. Außerdem sind IT-Systeme relativ kurzlebig und Hardwarekomponenten genügen nicht immer den neuesten Anforderungen. Daher muss die Widerstandsfähigkeit dezentraler Systeme vor allem vor dem Hintergrund des Klimawandels und der damit einhergehenden Extremwetter kritisch betrachtet werden. So können auch ungünstige Großwetterlagen, welche mehrtägige großflächige Dunkelflauten mit sich bringen, in einem auf erneuerbare Energien basierenden Energiesystem eine zuverlässige Versorgung gefährden. Des Weiteren ist der präzise und zuverlässige Betrieb einer smarten Stromversorgung, welche aus den oben genannten Gründen automatisiert in Echtzeit arbeitet, stark vom Genauigkeitsgrad und der Vollständigkeit der übertragenen Strom-Daten Bild 1: Versorgungsqualität kritischer Dienstleistung während kritischer Phasen optimieren. © Ottenburger 100 Q ph (%) Time t 1 t 0 62 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze abhängig. Allerdings bildet die große Zahl eingesetzter Geräte potenzielle Einstiegspunkte für Cyberangriffe wie die Verbreitung von Schadsoftware, welche Smart Meter oder andere elektronische Vorrichtungen infizieren kann, was sich zum Beispiel dadurch ausdrückt, dass in Geräten Funktionen hinzugefügt oder ersetzt werden. Die Manipulation sensibler Smart Meter Daten bzw. das Verzögern der Übertragung dieser kann zu einer Destabilisierung der Stromversorgung führen, da solche Eingriffe zum Beispiel Energie-Ressourcen nicht verfügbar erscheinen lassen oder Erzeugungs- und Nachfragedaten verfälschen und somit das Energiemanagement dazu veranlassen, falsche Entscheidungen zu treffen. Trotz der aktuellen und zukünftigen Fortschritte im Bereich der Cyber-Security wächst aufgrund der Zunahme potenzieller Einstiegspunkte für Hacker-Angriffe die Wahrscheinlichkeit eintretender Störungen in der Stromversorgung, deren Auswirkungen auf das Gesamtstromsystem, je nach Systemarchitektur und Netztopologie, unterschiedliche Ausmaße erreichen können [2, 3]. Wie bereits angedeutet, hängen die meisten kritischen Infrastrukturen von einer kontinuierlichen Versorgung mit Strom ab! Über Wahrscheinlichkeiten hinsichtlich Störereignissen in zukünftigen Systemen, welche in einer Welt mit sich stets verändernden Rahmenbedingungen funktionieren sollen, lässt sich diskutieren, aber nichts eindeutiges sagen. Daher stellt sich die Frage, ob klassische Ansätze der Zuverlässigkeitsforschung um neue Resilienz-Ansätze in der Planung und im Management von Versorgungsnetzen ergänzt werden sollten, indem vor allem Symptome einer Systembeeinträchtigung und Flexibilitäten in der Nachfrage stärker berücksichtigt werden. Dies kann auf abstrakter Ebene bedeuten, dass Versorgungsnetze eine verbesserte Anpassungsfähigkeit hinsichtlich Störereignissen haben, welche sich beispielsweise durch einen mehrstündigen Strommangel manifestieren: statt eines Versorgungsausfalls, könnte eine smarte und kontinuierliche Verteilung zur Verfügung stehender Ressourcen erreicht werden. Falls es derartige Konzepte nicht gibt, laufen urbane Systeme tendenziell Gefahr, häufiger als bisher unter Stromausfällen und deren negativen Implikationen für die allgemeine Versorgungssicherheit zu leiden. Aber wie könnten solche Konzepte aussehen? Urbane resiliente Stromversorgung Hinsichtlich der Stromversorgung kann die sogenannte Kritikalität, welche Risiken bezüglich der negativen Konsequenzen eines Versorgungsausfalls für eine urbanen Bevölkerung vergleichbar macht [3 - 5], als ein wichtiges Kriterium in der Planung zukünftiger Netze wie auch in einem smarten Stromversorgungsmanagement angesehen werden. Kritikalität ist ein Attribut, das theoretisch jeder Infrastruktur anhaftet - wobei wir für eine bessere Lesbarkeit unter Infrastruktur alle Einrichtungen meinen, welche direkt an einem urbanen Verteilnetz hängen - also zum Beispiel Krankenhäuser, aber auch Haushalte. Die Relevanz einer Infrastruktur im Gesamtsystem und die zeitlich variable Nachfrage nach ihren Diensten beeinflussen ihre sogenannte globale Kritikalität innerhalb eines urbanen Versorgungsgebiets. Vereinfacht kann die globale Kritikalität einer Infrastruktur als Funktion ihrer Relevanz, weiterer globaler Systemvariablen, der Nachfragesituation und dem Grad der kritischen Situation, in der sie sich befindet, verstanden werden, wobei wir letzteres lokale Kritikalität nennen. Globale und lokale Kritikalität sind als zeitlich variabel anzusehen, da diese Größen vor allem durch das Strommangelszenario und die aktuelle Nachfrage bestimmt werden. In unkritischen bzw. normalen Situationen spiegelt die globale Kritikalität die unterschiedlichen statischen Relevanzen von Infrastrukturen in einem Versorgungsgebiet wider - diese nennen wir initiale Kritikalität. Mehr Details zu den beschriebenen Kritikalitätsfacetten finden sich in [3]. Die Operationalisierung des Kritikalitätskonzepts kann bereits in der Netzentwicklungsphase erfolgen. Hierbei sind zwei topologische Freiheitsgrade bei der Gestaltung von Smart Grids von besonderem Interesse. Der eine Freiheitsgrad bezieht sich auf die Zerlegung oder Untergliederung eines Versorgungsnetzes in Microgrids, welche vom Gesamtnetz entkoppelt werden und autonom im Inselbetrieb betrieben werden können, aber auch die stromphysikalischen Verbindungen untereinander. Ein in solch Microgrids unterteiltes Smart Grid hat das Potenzial, sich durch das System ausbreitende Störeffekte, aber auch den Wirkradius von Schadsoftware, räumlich zu begrenzen, indem die betroffenen Microgrids vom Gesamtnetz getrennt werden. Allerdings können aufgrund der Abhängigkeiten kritischer Infrastrukturen untereinander durch die Isolation gestörter oder dysfunktionaler Microgrids von einem urbanen Netz, Probleme und Versorgungsengpässe in anderen Teilen der Stadt entstehen - Kaskadeneffekte. Der zweite topologische Freiheitsgrad bezieht sich auf verschiedene Konfigurationsmöglichkeiten innerhalb eines Microgrids, zum Beispiel Überlagerung von Netzwerkstrukturen oder die Implementierung von Redundanzen. Die Operationalisierung der initialen Kritikalität von Infrastrukturen in der Netzentwicklung könnte darin bestehen, Infrastrukturen mit hoher initialer 63 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Kritikalität auf verschiedene Microgrids zu verteilen, um eine Konzentration hochrelevanter Infrastrukturen mit einem relativ großen Stromverbrauch in einem Microgrid zu vermeiden oder diese durch Versorgungsredundanzen systematisch auszustatten. Dieser Operationalisierungsansatz repräsentiert eine neue Klasse von Metriken, die kombiniert mit anderen graphtheoretischen oder topologischen Kennzahlen, welche Robustheit oder Effizienz von Netzwerken beschreiben, eine integrierte Bewertung von Versorgungsnetzen hinsichtlich urbaner Resilienz erlauben. Eine ausgefeilte Topologie von intelligenten Stromnetzen erhöht die städtische Widerstandsfähigkeit! Operationalisierung im Versorgungsmanagement: Ein Smart Meter kann als eine Schnittstelle zwischen einer Infrastruktur und dem Versorgungsnetz interpretiert werden. Eine smarte und moderne Messinfrastruktur, welche einen Datenaustausch zwischen den Smart Metern und dem Energiemanagementsystem erlaubt, ermöglicht es einer Infrastruktur, ihre aktuelle lokale Kritikalität, aber auch ihre Nachfrageflexibilität in Form einer minimalen und idealen Leistungsanforderung jederzeit zu übertragen. Es gibt Infrastrukturen, welche über eine in diesem Sinne hohe Flexibilität verfügen, aber auch solche, welche keine Flexibilität zulassen, wie Einrichtungen des Gesundheitswesens, zum Beispiel Dialyseeinrichtungen. Ein Energiemanagementsystem, welches alle lokalen und initialen Kritikalitäten im Versorgungsgebiet und weitere relevante globale Systemvariablen kennt, ist in der Lage, die aktuellen globalen Kritikalitäten für jede Infrastruktur zu berechnen. Im Falle eines Strommangels, welcher zum Beispiel durch eine Dunkelflaute verursacht wird und heute zu flächendeckenden Stromausfällen führen würde, kann dieses Systemwissen über eine globale Kritikalitätsverteilung und den Nachfrageflexibilitäten für eine kontinuierliche, resiliente und faire Stromversorgung genutzt werden [3]. Allerdings ist eine solche Stromversorgung kein reines Allokationsproblem, sondern muss durch physikalisch valide Stromflüsse realisierbar sein. Die Bandbreite der Möglichkeiten eines resilienten Versorgungsmanagements, welches während oder vor erwarteten kritischen Phasen agiert, hängt stark von der Topologie der Smart Grids ab und hat einen erheblichen Einfluss auf die urbane Resilienz. Statt eines Stromausfalls können resiliente Stromflüsse realisiert werden, so dass die Schwere der Auswirkungen eines Strommangels auf die Gesamtversorgungslage in einem städtischen Gebiet minimiert wird. Fazit ... Versorgungssicherheit 2.0! Vor dem Hintergrund neuer Risiken in einem auf erneuerbaren Energien beruhenden und hoch dezentralen und digitalen Energiesystem befasst sich aktuelle Forschung mit Konzepten zum Erhalt einer hohen Versorgungssicherheit. Sich verändernde Rahmenbedingungen und der Trend zu mehr Automatisierung und Elektrifizierung geben Anlass, über Möglichkeiten eines datengetriebenen Smart Grids hinsichtlich Konzepten resilienter Stromversorgung und den möglicherweise dafür notwendigen Novellierungen regulatorischer Richtlinien nachzudenken, um zukünftig eine hohe Versorgungssicherheit zu bewerkstelligen oder zumindest eine Verschlechterung zu vermeiden. Dies erfordert keine groben Korrekturen energiewirtschaftlicher Richtlinien, aber möglicherweise, angepasst an die neuen technischen Möglichkeiten und vor dem Hintergrund neuer Versorgungsrisiken und Unsicherheiten, eine veränderte Auslegung. LITERATUR [1] BMWi/ Bundestag, Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende. [Online] Available: https: / / www. bmwi.de/ Redaktion/ DE/ Downloads/ Gesetz/ gesetzzur-digitalisierung-der-energiewende.html. [2] Ottenburger, S. S., Ufer, U.: „Quartierspeicher für mehr urbane Resilienz: Ein Blick über den Tellerrand technischer Risiken bei der Energiewende,” Transforming Cities - Städte im Krisenmodus? , Jg. 4, 2 (2019), S.-66 - 69. [3] Ottenburger, S. S., Münzberg, T. Strittmatter, M.: „Smart Grid Topologies Paving the Way for an Urban Resilient Continuity Management,” Int. J. of Inf. Syst. for Crisis Response and Manag., vol. 9, 4, (2018 ), pp. 1 - 22. [4] BBK - Susanne Lenz: Vulnerabilität Kritischer Infrastrukturen, 2009. [5] Katina, P. F., Hester, P. T.: „Systemic determination of infrastructure criticality,” IJCIS, vol. 9, 3, (2013), p. 211. Dr. Sadeeb Simon Ottenburger Senior Researcher Institut für Kern- und Energietechnik (IKET) Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Kontakt: ottenburger@kit.edu AUTOR 64 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Hintergrund und methodischer Ansatz Das Zusammenleben in Städten ist unter den Bedingungen zunehmender Urbanisierung und technologischen Wandels auch für die Versorgungsunternehmen (Kritische Infrastrukturbetreiber) und öffentlichen Behörden mit wachsenden Herausforderungen verbunden. Um der zunehmenden Komplexität im technischen, kommunikativen wie auch räumlichen Zusammenspiel von Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) gerecht zu werden, sind integrierte, sektorübergreifende Ansätze für die Analyse der gegenseitigen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen gefragt. Im Normalbetrieb laufen die verschiedenen Versorgungssysteme (zum Integriertes Krisenmanagement für KRITIS Der Ansatz der Interdependenzanalyse KRITIS, Interdependenzen, Risikomanagement, Krisenvorsorge Axel Dierich, Katerina Tzavella, Sven Wurbs, Alexander Fekete Eine umfassende Risikovorsorge für Kritische Infrastrukturen (KRITIS) sollte eine gesamtsystemische Analyse der gegenseitigen Abhängigkeiten beinhalten, um potenzielle Kaskadeneffekte und die Gefahr eines daraus resultierenden (multiplen) Systemversagens angemessen zu berücksichtigen. Bislang nehmen Schutzkonzepte, Risikoanalysen und Risikomanagementpläne vorwiegend einzelne Systeme in den Fokus. Mit der „Interdependenzanalyse“ wurde eine anwendungsreife Methodik zur kollaborativen Bewertung jener Abhängigkeiten entwickelt, die die damit verbundenen Gefahren verdeutlicht. © Fekete 65 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Beispiel Wasser, Strom, Abwasser, Wärme oder Gas) weitgehend nebeneinander her. In welchem Maße diese dabei auf gegenseitige Bereitstellung von Ressourcen- oder Infrastrukturdienstleistungen angewiesen sind, findet in der Regel wenig Beachtung. Welche zum Teil überproportionalen Wirkungen eine Störung in einem Sektor auf die Bereitstellung anderer Versorgungsmedien haben kann, zeigt sich aber meist klar im Problem- oder Krisenfall. Erst mit einem realistischen Verständnis für die Wechselwirkungen und Schwachstellen im gesamtstädtischen Kontext können die Akteure daher bedarfsgerechte Versorgungs- und Notfallpläne für Störungs- und Krisenlagen entwickeln - sowohl im Sinne der Hilfe für die Bevölkerung, als auch zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit von KRITIS. Die im Projekt KIRMin (Kritische Infrastruktur- Resilienz als Mindestversorgungskonzept) durchgeführte Forschung zielte daher auf die Entwicklung eines sektorübergreifenden Konzepts für die Mindestversorgung von Bevölkerung und kritischen Infrastrukturen ab. Welche KRITIS in welcher Situation welche Art von Notfallversorgung benötigen, war eine der zentralen Fragestellungen. Um dies zu klären wurde untersucht, an welchen Stellen die Versorgungsinfrastrukturen für Strom, Wasser, Entwässerung und Hochwasserschutz sowie Feuerwehren und kommunale Katastrophenschutzbehörden aufgrund der vielfältigen gegenseitigen Abhängigkeiten bei Versorgungsausfällen besonders verletzlich sind. Dazu wurde ein qualitativer, GIS-gestützter Methodenansatz gewählt, der ganz gezielt die intersektoral relevanten Elemente der Einzelsysteme und ihre Beziehungen zueinander strukturell wie räumlich analysiert. Er stellt eine praxistaugliche Alternative zu einer umfangreichen Datensammlung und -auswertung dar, die für eine rein quantitative Erfassung der Komplexität des Gesamtsystems notwendig wäre. Bisherige Praxis: sektorale Herangehensweise Eine sektorale Risikoanalyse, ergänzt durch das Wissen um die verschiedenen einseitigen oder gegenseitigen Abhängigkeiten (Dependenzen bzw. Interdependenzen) zwischen den KRITIS, ist unerlässlich, um auch bei größeren Störungen die Versorgung zumindest eingeschränkt aufrechtzuerhalten bzw. sie zeitnah wiederherstellen zu können. In Deutschland wurde das Thema „Kritische Infrastruktur“ auf nationaler Ebene in Form einer nationalen Strategie [1], einem Basisschutzkonzept [2], Business-Continuity- Leitfäden, Risikomanagement-Leitfäden [3] und Risikoanalyse-Leitfäden [4, 5] auch zu speziellen Aspekten wie Vulnerabilitätsanalysen [4] aufbereitet. Die Interdependenzen werden darin konzeptionell und grundsätzlich angesprochen. Genauere Angaben zur Analyse von Abhängigkeiten finden sich jedoch eher in Leitfäden zu einzelnen Sektoren, so zum Beispiel zu Notstromversorgung, Krankenhäusern und Treibstoffversorgung. Auch ein Bericht für den Bundestag [6] hat die sektoralen Abhängigkeiten einzeln aufgeführt und auf Bundesländerebene gibt es einzelne Leitfäden wie etwa das Krisenhandbuch Stromausfall. Grundlegende Prinzipien der Interdependenzanalyse In Ergänzung zu diesen sektoralen Ansätzen wird mit dem in KIRMin entwickelten und getesteten Verfahren mit vertretbarem Aufwand ein Überblick über die intersektoralen Abhängigkeiten in einem gesamten Versorgungsgebiet ermöglicht. Dabei werden - als ein wichtiges Kriterium für ein umfassendes und realistisches Verständnis von komplexen, nicht-linearen Systemzusammenhängen - nicht nur Strukturen und Wirkungsbeziehungen der Systeme, sondern auch ihr dynamisches Verhalten/ ihre Variabilität erfasst. Ohne dieses Kriterium lassen sich zwar viele Fehlerquellen, aber bei weitem nicht alle Konsequenzen von Ausfällen und Störungen vorhersagen und verstehen (vgl. [7, 8]). Ein unzureichendes Verständnis der Dynamiken von Interdependenzen kann in uneffektiven Maßnahmen und einer unzureichenden Koordination zwischen Entscheidungsträgern und Katastrophenmanagern vor, während oder nach einer Krise münden. [9, 10] Erhebung und Bewertung qualitativer Informationen Der KIRMin-Ansatz hat einen stark partizipativen Charakter: Zunächst werden in Interviews und Workshops die Kenntnisse und Erfahrungen der verantwortlichen Akteure und Expert*innen in den verschiedenen KRITIS-Bereichen abgefragt. Durch gezielte Fragestellungen sollte nach Möglichkeit bereits in den Interviews eine Gesamtperspektive eingenommen und auf die intersektoral relevanten Komponenten und Beziehungen fokussiert werden (vgl. [11]). Die schriftliche und grafische Dokumentation der erhobenen Informationen ergibt schließlich ein realistisches, detailliertes Bild der systemischen Zusammenhänge zwischen Versorgungsinfrastrukturen in einer Stadt oder einem Versorgungsgebiet. Die Ergebnisse dieser noch statischen „Systemanalyse“ werden anschließend gezielt im Hinblick auf (versteckte) Dynamiken und Prozesse bewertet und interpretiert, um Schwachstellen besser 66 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze verstehen und im Störungsfall drohende Kaskadeneffekte antizipieren zu können. Dazu wurde in KIRMin eine „Cross-Impact-Analyse“ durchgeführt, welche es erlaubt, die Sensitivität der Verbindungen zwischen den Teilsystemen zu bewerten. Die vielfältigen identifizierten Systemelemente werden dazu in so genannten „Einflussfaktoren“ (Teilsysteme) gebündelt, um - gemeinsam mit Vertreter*innen aller betrachteten Infrastruktursysteme - die Auswirkungen einer Störung jeweils eines Einflussfaktors auf die anderen Faktoren zu bewerten. In Anlehnung an [12] findet dies auf einer Skala, zum Beispiel von 0 - keine Beziehung bzw. Auswirkung bis 3 - starke bzw. überproportionale Auswirkung, statt. (siehe Bild 1) Im Ergebnis zeigt ein Kritizitäts-Diagramm, welche Teilsysteme in welchem Maße auf andere Teilsysteme Einfluss nehmen (aktiv sind) bzw. wie stark sie von anderen Systemen beeinflusst werden (reaktiv sind). Weiterhin lassen sich aus dem Ergebnis mögliche Kettenreaktionen und Rückkopplungen zwischen den Einflussfaktoren darstellen. Das gesamte Verfahren ist in dem Leitfaden „Analyse von Interdependenzen zwischen KRITIS“ aufgeführt, der sich insbesondere an Praxisakteure aus Versorgungsunternehmen und aus kommunalen Behörden richtet [11]. Zusammenstellung verfügbarer Geodaten Parallel zu den obigen Analyseschritten wurden räumliche Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen den städtischen Infrastrukturbereichen in einer GIS 1 -Kartenanalyse ermittelt, mit besonderem Fokus auf Straßeninfrastruktur/ Rettungswege (im Hinblick auf die Verbesserung der Notfallreaktionszeit) sowie die Stromverteilungsinfrastruktur unter Hochwasserbedingungen. Dazu wurden vergleichsweise leicht zu beschaffende behördliche bzw. öffentlich verfügbare Daten zusammengetragen und im Hinblick auf Datensicherheit und Vertraulichkeit überprüft. Die in den Karten zusammengetragenen Geoinformationen wurden gemeinsam mit ausgewählten Experten plausibilisiert. Die Kartierung erlaubt die detaillierte Darstellung und räumliche Konkretisierung von in der qualitativen Systemanalyse ermittelten systemischen Strukturen und Dynamiken in den intersektoralen Beziehungen. Dabei wurden die Interdependenzen im Hinblick auf bestimmte Szenarien kartiert - etwa (Bild 2) ein 500-jähriges Rheinhochwasser. Ebenso erfolgte jeweils eine zeitliche Festlegung, so zum Beispiel auf die (im Krisenverlauf frühe) Phase des Notfallmanagements. Aus den Karten sind ablesbar: 1 GIS = Geographisches Informationssystem Bild 1: Cross-Impact- Matrix (anonymisiert). © Dierich et al., eigene Darstellung. 67 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze  eine räumliche Verortung spezifischer Infrastrukturkomponenten, KRITIS-Akteure und ihrer Ressourcen (allgemeine Systemelemente)  die konkrete räumliche Verortung, Dimensionierung und Plausibilisierung von zuvor als allgemein kritisch identifizierten geografischen Abhängigkeiten zwischen den Systemelementen und teilweise auch  die Georeferenzierung und Plausibilisierung der ermittelten technisch-funktionalen (also nichtgeografischen) Abhängigkeiten (zum Beispiel durch Stromausfall betroffene Ampeln, Wasseranlagen, Leitstellen, etc.). Auch konnten ausgewählte Ergebnisse der Sensitivitätsanalyse (also der Cross-Impact-Bewertung der aggregierten Einflussfaktoren) im Kartenformat plausibilisiert werden. So hatte sich der Verkehr als ein kritischer Einflussfaktor für KRITIS-Betreiber und Notfallhelfer herausgestellt, der zum Beispiel Entstörungsdienste, Hochwassermanagement und operativ-taktisches Krisenmanagement (insbesondere Feuerwehren, Rettungsdienste und Polizei) beeinträchtigt. In der GIS-Analyse wurde dann konkreter simuliert, in welchem Maße er als kritisch einzustufen ist und welche Verkehrsknotenpunkte dies besonders betrifft. Risikokarten als Grundlage einer Situationsanalyse Auf Grundlage der oben beschriebenen methodischen Schritte und Funktionen einer GIS-basierten Interdependenzanalyse erlaubt diese schließlich eine Klassifizierung verschiedener dargestellter Komponenten nach Risikoklassen, im Hinblick auf ein bestimmtes Szenario - beispielsweise für eine Störung der Wasserversorgung und deren in der Analyse identifizierte kaskadierende Effekte. Eine solche „Risikokarte“ informiert über das aus dem Szenario resultierende Ausfallrisiko der visualisierten Infrastrukturkomponenten. Dieses ergibt sich aus  den Einzelbewertungen in der Sensitivitätsanalyse (also der Reaktivität von 0 bis 3 eines Einflussfaktors und der darin enthaltenen Systemelemente im Hinblick auf das gewählte Szenario und dessen mögliche Kettenreaktionen/ Rückkopplungen),  räumlichen Analysen und Bewertungen (zum Beispiel Lage innerhalb des Versorgungsgebiets, Topografie, räumliche Nähe, etc.)  der Berücksichtigung vorhandener Notfallvorsorgemaßnahmen (zum Beispiel eigene Notversorgungskapazitäten). Spiegelverkehrt ist auch eine Klassifizierung nach „Vulnerabilitäts“- oder „Resilienzindikatoren“ möglich. Diese könnten beispielsweise Auskunft geben über Anfälligkeitsprofile der Bevölkerung, Anfälligkeitsprofile des Straßennetzes, Expositionsbewertungen der verschiedenen KRITIS und der Bevölkerung oder mehrere dieser Aspekte integrierende räumliche Multikriterienanalysen. Bild 4 zeigt beispielhaft eine mögliche Umsetzungsform des Konzepts der Risikokarte, mit Einfärbung von wabenartig aufgeteilten Stadtgebieten entsprechend der errechneten Risikoindizes von in ihnen verorteten Infrastruktureinrichtungen. Nutzen und Grenzen des Methodenmixes Die besonderen Vorteile einer GIS-unterstützten Interdependenzanalyse sind zusammengefasst: Bild 2: Unterschiedliche KRITIS in der Stadt Köln, die durch ein 500-jähriges und demnach extremes Flusshochwasser betroffen sind. © Dierich et al., [13], eigene Darstellung unter Nutzung von Open-Source- Datenquellen Bild 3: Veranschaulichung eines iterativen Eingabeprozesses anhand der quantitativen und der qualitativen Methodik. © Dierich et al. 68 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze  Die räumliche Bewertung kann neue oder versteckte und unterschätzte Risiken aufdecken, indem sie verschiedene Arten von Interdependenzen der KRITIS in Kombination aufzeigt und das Bewusstsein für die Integration zusätzlicher kritischer Elemente in den Notfall-/ Krisenmanagementzyklus schärft.  Durch die Kartendarstellung lassen sich die Relevanz der identifizierten Interdependenzen räumlich plausibilisieren und die Analyse iterativ verfeinern. Sie dient als Sammelbecken für verschiedenartige, wertvolle Informationen.  Insbesondere mittels der Risikokarten können leichter besonders verwundbare, da als risikobehaftet bewertete, Orte im Stadtgebiet identifiziert und als besonders prioritär zu behandelnde Hot Spots für den (Not-)Betrieb von KRITIS, für Notfallunterstützung oder auch für Evakuierungsprozesse identifiziert werden. Dabei gibt der qualitative Teil der Interdependenzanalyse einen guten Gesamtüberblick über die verschiedenen Abhängigkeiten und möglichen Kaskadeneffekte, während die konkrete Kartierung dieser Interdependenzen es ermöglicht, in verschiedene Zusammenhänge hinein zu zoomen. Generell regt die Analyse den weiteren Informationsaustausch zwischen verschiedenen Akteuren an. Die Ergebnisse der Interdependenzanalyse können über die Kartendarstellungen hinaus auch weitergehend interpretiert werden, so zum Beispiel um die Einsatzplanung von Rettungsdiensten oder Entstörungsfahrzeugen hinsichtlich Routing- und Response-Zeit-Analysen zu optimieren. Insgesamt verbessert die Methodik die Entscheidungsgrundlage für städtische und unternehmerische Entscheidungsträger*innen und steigert die Widerstandsfähigkeit von Städten und Gemeinden gegen Versorgungsausfälle oder Störungen [14]. Ihre Grenzen findet die Methodik selbstverständlich bei der Verfügbarkeit von Daten bzw. bei deren Verifizierung und in der Akzeptanz seitens der beteiligten bzw. erforderlichen Akteure. Wertvolle Ergebnisse können sich jedoch auch aus der Zusammenstellung von Open-Source-Daten niedriger Qualität ergeben, wie in [13] dargestellt. Zudem birgt die Vorgehensweise ein gewisses Risiko, die Grenzen der Möglichkeiten zu übersehen und die Probleme bei der Aggregation von Daten zu ignorieren. Ein bekanntes Aggregationsproblem von räumlichen Risiko- oder Vulnerabilitätsindikatoren ist, dass aggregierte Indizes die Darstellung der Realität verwischen können, da sie den Informationsreichtum in ihren Variablen oder einzelnen Indikatoren verringern. Ein weiteres Risiko ergibt sich aus der Zusammenstellung teilweise sensibler Daten bzw. durch die Datenaggregation allgemein im Hinblick auf Diebstahl, da die Karten auch Saboteuren die Identifikation vulnerabler Hotspots erheblich erleichtern [15]. Fazit Es besteht ein ständig steigender Bedarf an der Identifizierung der Interdependenzen der verschiedenen KRITIS und der Integration solcher Informationen in bestehende oder zu erarbeitende Resilienzkonzepte. Auf der CIPRE-Konferenz in Den Haag im Mai 2017 erwähnte Pepijn van den Broek von International Safety Research Europe BV: „Die EU hat den Katastrophenschutzmechanismus und kritische Infrastrukturen haben einen Schutzmechanismus, aber es gibt keinen Koordinierungsmechanismus für das Notfallmanagement. Es gibt keine Liste der Effekte, die nach einem KRITIS-Fehler auftreten.“ Durch die Kombination von partizipativer qualitativer und GIS-gestützter quantitativer Analyse bieten die Ergebnisse aus KIRMin diesbezüglich einen praxistauglichen, erprobten Ansatz. Die verschiedenen methodischen Komponenten ergänzen sich gegenseitig, indem sie für die Entscheidungsträger*innen verschiedene Perspektiven der Bewertung ihrer Interdependenzen bieten. Dies trägt zum Beispiel zu einer verbesserten Notfallreaktion bei und gibt Anregungen für die Diskussionen über Handlungsansätze. Für vertiefende Informationen zum methodischen Vorgehen und potenziellen Nutzen des vorgestellten Ansatzes siehe [16, 17]. Bild 4: Beispielhafte Risikokarte. © Tzavella, K., eigene Darstellung) 69 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Danksagung KIRMin wurde von 06/ 2016 bis 08/ 2019 mit Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) durchgeführt. Wir bedanken uns zudem ganz besonders bei den zahlreichen Praxisakteuren für ihre engagierte und stetige Mitwirkung im Projekt. LITERATUR [1] BMI - Bundesministerium des Innern: Nationale Strategie zum Schutz Kritischer Infrastrukturen (KRITIS- Strategie). Berlin, 2009. [2] BMI - Bundesministerium des Innern: Schutz Kritischer Infrastrukturen - Basisschutzkonzept. Berlin, 2006. [3] BMI - Bundesministerium des Innern: Schutz Kritischer Infrastrukturen - Risiko- und Krisenmanagement. Leitfaden für Unternehmen und Behörden. Berlin, 2011. [4] BBK: Abschätzung der Verwundbarkeit gegenüber Hochwasserereignissen. Bonn, 2010. [5] BBK: Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz. Ein Stresstest für die Allgemeine Gefahrenabwehr und den Katastrophenschutz. Bonn, 2015. [6] Petermann, T, Bradke, H, Lüllmann, A, Paetzsch, M, Riehm, U.: Was bei einem Blackout geschieht. Folgen eines langandauernden und großflächigen Stromausfalls: edition sigma, 2011. [7] Bagheri, E. Ghorbani, A.A.: UML-CI: A reference model for profiling critical infrastructure systems, 2008. (http: / / ebagheri.athabascau.ca/ papers/ umlci2.pdf). [8] Grafenauer, T., König, S., Rass, S., Schauer, S.: A simulation tool for cascading effects in interdependent critical infrastructures. In Proceedings of the 13th International Conference on Availability, Reliability and Security (ARES 2018). ACM, New York, NY, USA, 2018. [9] Baloye, D., Palamuleni, L.: Modelling a critical infrastructure-driven spatial database for proactive disaster management: a developing country context, Jàmbá - Journal of Disaster Risk Studies, 8(14), 8(1), (2016) a220. http: / / dx.doi.org/ 10.4102/ jamba. v8i1.220. [10] Faturechi, R, Miller-Hooks, E.: Measuring the performance of transportation infrastructure systems in disasters: a comprehensive review, J Infrastruct Syst, 21(1), (2015) 04014025. [11] inter 3 Institut für Ressourcenmanagement (Hrsg.): Analyse von Interdependenzen zwischen KRITIS. Empfehlungen für Praxisakteure und Versorgungsunternehmen und kommunalen Behörden, Eigenverlag inter 3 GmbH, Berlin, 2019. ISBN: 978-3-9819610- 4-1. [12] Vester, F.: Die Kunst vernetzt zu denken. Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Ein Bericht an den Club of Rome, 9. aktualisierte Ausgabe, DTB, München, 2012. [13] Tzavella K., et al.: Opportunities provided by geographic information systems and volunteered geographic information for a timely emergency response during flood events in Cologne, Germany. Natural Hazards 91(1) (2017) S.29-57. Dipl.-Pol. Axel Dierich inter 3 Institut für Ressourcenmanagement Kontakt: dierich@inter3.de Katerina Tzavella, M.Sc. TH Köln, Institut für Rettungsingenieurwesen und Gefahrenabwehr Kontakt: katerina.tzavella@th-koeln.de Dipl.-Pol. Sven Wurbs inter 3 Institut für Ressourcenmanagement Kontakt: wurbs@inter3.de Prof. Dr. Alexander Fekete TH Köln, Institut für Rettungsingenieurwesen und Gefahrenabwehr Kontakt: alexander.fekete@th-koeln.de AUTOR*INNEN [14] GAR - Global assessment report on disaster risk reduction. UNISDR, 2015. [15] Fekete A., et al.: „Critical Data Source; Tool or Even Infrastructure? Challenges of Geographic Information Systems and Remote Sensing for Disaster Risk Governance.“ ISPRS International Journal of Geo-Information 4 (4) (2015). [16] Fekete, A., Neisser, F., Tzavella, K., Hetkämper, C.: (Hrsg.): Wege zu einem Mindestversorgungskonzept. Kritische Infrastrukturen und Resilienz, Köln, 2019. [17] Dierich, A., Tzavella, K., Setiadi, N.J., Fekete, A., Neisser, F.: Enhanced Crisis-Preparation of Critical Infrastructures through a Participatory Qualitative-Quantitative Interdependency Analysis Approach. In: Franco, Z., González, J. J., Canós,J. H. (Eds.): Proceedings of the 16th International Conference on Information Systems for Crisis Response And Management (2019) pp. 1226-1244. Valencia, Spain: Isc. 70 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Die Infrastrukturen der Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung gehören entsprechend dem IT-Sicherheitsgesetz zu den „Kritischen Infrastrukturen“, die aufgrund ihres Beitrags zur Daseinsvorsorge besonders zu schützen sind. Dies wird in der Debatte um „Wasser 4.0.“ bzw. „Wasserwirtschaft 4.0“ wenig reflektiert. In Anlehnung an „Industrie 4.0“ diskutiert die Branche unter diesen Schlagworten Ansätze zur Transformation hin zu vernetzten, automatisierten und zukunftsfähigen Systemen mit stärkerer Kundenorientierung und besserer Vernetzung innerhalb der Wertschöpfungskette [1, 2]. Dafür wird ein ganzheitlicher Ansatz aus intelligenten Versorgungsnetzen, sogenannten „Smart Grids“, gemeinsam mit einem „Internet of Things and Services“ (IoT) zur Bereitstellung und Analyse von Daten, und „Cyber-Physical-Systems“ (CPS) für erforderlich gehalten [2]. CPS sind komplexe internetbasierte Datenkommunikationssysteme, die virtuelle und reale Wassersysteme vernetzen und damit Echtzeit- Monitoring sowie Vorhersagemodelle von Produktions-, Frühwarn- und Entscheidungsprozessen in Bau und Betrieb ermöglichen, was Risiken reduzieren und Kosten vermindern kann [2]. Erwartet werden qualitative Ressourcen- und Prozessoptimierung sowie ein verbessertes Daten- und Schnittstellenmanagement [3]. Trotz einer grundsätzlichen Bereitschaft digitalisiert die Siedlungswasserwirtschaft in Deutschland bisher in moderatem Tempo. Sie erzielte einen weit unterdurchschnittlichen Wert ihres Umsatzes mit digitalisierten Produkten; 16- % der Betriebe verfügten 2017 noch über keine digitalisierten Angebote [4]. Die Veränderung hin zu digitalisierten Systemen hat erhebliche Auswirkungen auf den Personalstamm: Die erforderlichen neuen Qualifikationen erzeugen einen Mangel an internem Fachpersonal, zumal dessen Weiterbildung während des Ge- Digitalisierung als Herausforderung Die Vulnerabilität Kritischer Infrastrukturen in der Siedlungswasserwirtschaft IT-Sicherheit, Vulnerabilität, Wasserinfrastruktur, Industrie 4.0, Smart Grids Martin Zimmermann, Engelbert Schramm Intelligente Mess- und Regelsysteme bieten die Chance, schneller und angemessener auf außergewöhnliche Ereignisse reagieren zu können. Auch sonst erlaubt Digitalisierung der Siedlungswasserwirtschaft, aktuelle und künftige Zielsetzungen besser anzugehen. Allerdings machen sich Unternehmen, die diese Strategie verfolgen, zugleich anfällig für Cyber- Angriffe. Eine Verletzlichkeit ist dabei für die Wasserversorgung und die Abwasserbeseitigung in unterschiedlicher Weise gegeben. Die Politik ignoriert noch Sicherheitslücken, die bei kleineren Unternehmen bestehen. © Gerd Altmann auf Pixabay THEMA Urbane Netze 71 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze schäftsbetriebs zeitaufwändig ist. Der Einfluss branchenfremder qualifizierter Akteure hat wiederum Auswirkungen auf Unternehmensabläufe und das Arbeitsklima [3, 5]. Insgesamt erfordern Smart Grids usw. einen hohen Investitionsbedarf und Zeitaufwand [4]. Getrennt davon verläuft die Debatte zur Cybersicherheit der Branche [6]. Dort liegt der Schwerpunkt derzeit auf den Operativen Technologien (OT) in den industriellen Netzen der Unternehmen, also der Prozessleit- und Automatisierungstechnik [7, 8]. Die für administrative und organisatorische Aufgaben vorgesehenen Büro-Netze der Unternehmen und allgemeinen IT-Verbindungen (zum Beispiel für den Kundenverkehr, aber auch für Heimarbeitsplätze über „Virtual Private Networks“ (VPN) oder für Telefon-/ Videokonferenzanlagen) werden nur insoweit berücksichtigt, wie von ihnen Gefährdungen ausgehen können [9, 10]. Analyse vulnerabler Systembestandteile und Gefährdungen Konzeptueller Rahmen und Vorgehen Vulnerabilität bedeutet, dass von der Infrastruktur bereitgestellte Funktionen gemindert werden oder ausfallen, wodurch die Ver- und Entsorgung der Bevölkerung nicht mehr gewährleistet ist [11]. Vulnerabilität setzt sich zumeist aus den drei Komponenten Exposition, Anfälligkeit und Bewältigungskapazität (bzw. Resilienz) zusammen [12], wobei sich die Exposition darauf bezieht, dass Schutzgüter (zum Beispiel Bestandteile der Wasserinfrastruktur) einer Gefährdung räumlich und zeitlich ausgesetzt sind [13]. Anfälligkeit bedeutet, dass ein derart gefährdetes Schutzgut in seiner Funktionsfähigkeit beeinträchtigt wird [14]. Die Bewältigungskapazität beschreibt schließlich die verfügbaren Optionen, die negativen Auswirkungen einer Gefährdung zu kompensieren [15, 16]. Zur Analyse der Vulnerabilität können Verfahren wie die von Krings [17] entwickelte Heuristik herangezogen werden (Bild 1). Dort wird die Anfälligkeit technischer Systemkomponenten fünf Vulnerabilitätsklassen zugeordnet. Dabei können in einer Vulnerabilitätsmatrix nicht nur die Vulnerabilitäten gegenüber Gefährdungen ermittelt, sondern auch die Auswirkungen des Ausfalls von Systemkomponenten auf die Vulnerabilität anderer Systemkomponenten. Um das Verfahren auf das Thema der IT-Sicherheit in der Siedlungswasserwirtschaft übertragen zu können, wird das analysierte System in sinnvolle funktionale technische Einheiten zerlegt [18]; zudem müssen relevante Cybergefährdungen definiert werden. Vulnerable Systembestandteile der Siedlungswasserwirtschaft Zu den oben erwähnten OT-Systemen gehört die Mess-, Steuerungs- und Regelungstechnik (MSR) zur Überwachung und Steuerung technischer Prozesse mittels Computer-Systemen (SCADA, Supervisory Festlegen eines Szenarios Teilprozess/ Komponente Exposition? Funktionsanfälligkeit? Ersetzbarkeit(I)? (technisch) I II III IV V p osit sanf sanf bark Ja Ja chnis Ja, teilweise V Nein IV Ersetzbarkeit(II)? (organisatorisch) I III Ja Ja Nein Nein Ja, vollständig Nein Nein Verwundbarkeit 1. Schritt 2. Schritt 3. Schritt 4. Schritt 5. Schritt 6. Schritt Ersetzbarkeit(II)? (organisatorisch) Bild 1: Heuristik zur Vulnerabilitätsanalyse. © Zimmermann (verändert nach [17]) THEMA Urbane Netze 72 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Control and Data Acquisition). In dieser Hinsicht unterscheiden sich Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung nicht grundsätzlich. OT-Systeme werden hier zum Beispiel zur Steuerung von Ventilen, Schiebern, Pumpen und Aufbereitungsprozessen sowie zur Regelung und Überwachung von Prozesswerten wie beispielsweise Druck und Durchfluss eingesetzt. Händische Regelung ersetzend werden sie so zu einer entscheidenden Komponente der Wasserinfrastruktur. Dabei müssen die Systeme zur Echtzeitverarbeitung in der Lage sein und mit hoher Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit arbeiten. OT- Systeme nutz(t)en im Unterschied zur IT daher oft andere, proprietäre Kommunikationsprotokolle und Standards. Außerdem trugen die Abgeschlossenheit von OT-Systemen (geschlossene bzw. gekapselte Systeme) und deren damit verbundene Unfähigkeit, PC-basierte Malware auszuführen, maßgeblich zu deren Sicherheit bei. Dadurch, dass die Erreichung funktionaler Ziele im Vordergrund stand, wurden OT-Komponenten oft ohne Berücksichtigung grundlegender IT-Sicherheitsanforderungen konzipiert und eingerichtet. In jüngster Zeit werden jedoch auch IT-Standard- Netzwerkprotokolle in OT-Systemen eingesetzt, um die Kompatibilität zwischen OT und IT zu erhöhen. Zudem soll die Verknüpfung von IT, OT und Kommunikationsinfrastruktur den Betreibern von Wasserversorgungs- und Abwasserbeseitigungsanlagen die Fernsteuerung und Fernüberwachung ihrer Prozesse ermöglichen. Dies kann zu einer Verringerung der Sicherheit von OT-Systemen und der damit gesteuerten und überwachten siedlungswasserwirtschaftlichen Infrastrukturen führen (vgl. Beispiel Stuxnet, [19]). OT-Systemen kommt damit eine entscheidende Bedeutung für die Verwundbarkeit der Kritischen Infrastruktur Siedlungswasserwirtschaft zu. IT-Angriffe oder Manipulationsversuche werden mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ebendiese Systeme ausgerichtet sein und können zu vorübergehenden Funktionsstörungen einzelner Komponenten bis hin zum Totalausfall der Wasserver- oder -entsorgung führen. Zu den vulnerablen Bestandteilen der Wasserversorgung gehören die Bereiche Wassergewinnung, Wasseraufbereitung und Wasserverteilung, zu denen der Abwasserbeseitigung die Bereiche Entwässerung, Abwasser- und Klärschlammbehandlung sowie Wasserausleitung [6]. In allen Bereichen sind IT-basierte Manipulationsversuche grundsätzlich möglich, wobei in Konsequenz unterschiedliche Schutzgüter (Gesellschaft, Natur) in verschiedenen räumlichen und zeitlichen Ausmaßen gefährdet sein können. Naheliegend wäre zunächst der Fall, dass die Rohwassergewinnung aus Grundwasser, Seen oder Talsperren, seltener direkt aus Fließgewässern kompromittiert wird, was entsprechende Folgen für die Aufbereitung (zum Beispiel: Trockenfallen von Filtern) und Verteilung hätte. In Bezug auf die Wasseraufbereitung im Wasserwerk sind prinzipiell sämtliche Aufbereitungsprozesse (zum Beispiel Belüftung, Filtration, Enteisenung, Entmanganung, Desinfektion) durch Cyberattacken angreifbar, wodurch abhängig von der Wasserspeicherung die Versorgungssicherheit mengenmäßig oder qualitativ betroffen sein kann. Im Bereich der Wasserverteilung können sich abgesehen vom Ausfall von Pumpen zur Erhaltung des Versorgungsdrucks auch Störungen von derzeit in der Siedlungswasserwirtschaft noch nicht weit verbreiteten Smart Grids ergeben, insbesondere mit Blick auf Aspekte der Netzsteuerung, des Demand Managements oder des Datenschutzes. Innerhalb der öffentlichen Wasserversorgung sind auch gezielte Cyberattacken auf spezifische Branchen oder begrenzte Gebiete vorstellbar, wie zum Beispiel Finanzdistrikte oder Internetknoten. Eine andere Bedrohungslage ergibt sich abgesehen davon, wenn beispielsweise mehrere oder sämtliche Wasserwerke eines Landes einer Cyber-Attacke unterliegen. In Bezug auf die Abwasserbeseitigung sind Gefährdungen der Natur unter Cybersicherheitsaspekten als größer zu erachten als solche für die Gesellschaft, zum Beispiel wenn Abwasser im Falle des Ausfalls der Reinigungsanlage unbehandelt in den Vorfluter abläuft [20]. Aufgrund der Schwerkraft fließt Schmutzwasser in der Schwemmkanalisation ohne äußeren Energieeintrag wenn nicht bis zur Kläranlage, doch zumindest bis zur nächsten Pumpstation, die damit einen neuralgischen Punkt darstellt. Im schlimmsten Fall kommt es hier zu einem Rückstau des Schmutzwassers bis in die Wohnungen. IT-Gefährdungsszenarien für die Siedlungswasserwirtschaft In Bezug auf IT-Sicherheit können für die Siedlungswasserwirtschaft bewusst herbeigeführte Gefahren (durch Kriminelle, Terroristen, aber auch Hacker oder Saboteure, vgl. [20]) von technischem und menschlichem Versagen unterschieden werden. Letztere können ein Einfallstor für beabsichtigte Attacken darstellen, indem zum Beispiel auf Nachlässigkeiten des Betriebspersonals spekuliert wird oder Fehler bewusst provoziert werden (unter anderem: ungenügende Zugriffskontrolle, Einschleppen von Schadsoftware). 73 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Bedingt durch die Abhängigkeit der vulnerablen siedlungswasserwirtschaftlichen Systembestandteile von der Stromversorgung und IT-Netzen stellt deren Ausfall ein weiteres Gefährdungsszenario dar [15]. Die Auswirkungen eines durch einen Cyber- Angriff bedingten Stromausfalls kann zum Teil, aber nicht vollständig und nur vorübergehend durch Notstromaggregate (zum Beispiel zum Betreiben von Pumpen) abgefangen werden. Regulierungsbedarf Das IT-Sicherheitsgesetz machte 2015 das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) zur nationalen Behörde für Cybersicherheit. Konkretisierende Rechtsverordnungen haben den Betreibern Kritischer Infrastrukturen Kriterien zur Bewertung ihrer Anlagen an die Hand gegeben, die allein auf die Anlagengröße bezogen sind: Anlagen der Trinkwasserversorgung gehören bei mehr als 22 Mio. m³ jährlich verarbeiteter Wassermenge zur Schutzbedarfskategorie „hoch“; ähnlich gilt das, wenn 500 000 Einwohner an eine Anlage der Abwasserbeseitigung angeschlossen sind. Dann müssen branchenspezifische Mindeststandards erfüllt werden, ein Information Security Management System eingeführt werden und der zuständige IT-Sicherheitsbeauftragte muss relevante Vorfälle an das Bundesamt melden. Aufgrund der gewählten Größenordnung hat nur ein kleiner Teil der Branche in Deutschland nachzuweisen, dass die Informationssicherheit zum Schutz der betriebenen Kritischen Infrastruktur sichergestellt wird. Bisher zählen zu den Kritischen Infrastrukturen die folgenden Branchen: Energie, Gesundheit, Ernährung, Wasser/ Abwasser, Transport und Verkehr, Finanz- und Versicherungswesen, Informationstechnik und Telekommunikation, Staat und Verwaltung sowie Medien und Kultur. Aus allen diesen Branchen mussten sich bisher nur 300 Unternehmen bei der BSI registrieren. Betroffen von Cyberangriffen sind bisher vor allem die Bereiche IT und Telekommunikation sowie Energie [9]. Die Politik konzentriert sich fatalerweise auf die großen Betreiber. Gerade in Deutschland ist die Siedlungswasserwirtschaft sehr stark kommunal orientiert, so dass kleine und mittlere Unternehmen dominieren, teilweise auch in Agglomerationsräumen. Daher sollte das Schutzniveau der Kritischen Infrastrukturen keinesfalls von der Größe des Unternehmens abhängig sein. Wie die Sektor-Studie [6] feststellt, ist gerade diese Größenordnung der Betreiber aufgrund der Sicherheitsarchitektur besonders anfällig. Die technisch-wissenschaftlichen Fachverbände DVGW und DWA empfehlen den Betreibern kleinerer Anlagen, „sich ebenfalls ihrer Verpflichtung gegenüber der Bevölkerung bewusst zu sein“ und beispielsweise den von den Verbänden für die Branche entwickelten Sicherheitsstandard B3S WA freiwillig anzuwenden [21]. Eine Befragung hat ergeben, dass IT-Sicherheit für viele der kleinen und mittleren Wasserversorger ein technisches Thema ist, aber kein organisatorisches oder gar personalwirtschaftliches [22]. Vorrangig wird auf Virenscanner, Firewalls und Sicherheit in der Steuerung gesetzt, nicht aber ein IT-Sicherheitsverantwortlicher eingesetzt, damit der die speziellen Risiken bewertet und Maßnahmen ganzheitlich plant. Nur 68 % der Unternehmen haben einen IT- Sicherheitsverantwortlichen, der auch die Automatisierungstechnik im Blick hat [23, 22]. Mit der anstehenden Novellierung des IT- Sicherheitsgesetzes bestünde die Möglichkeit, hier nachzubessern. Leider ist das bisher nicht in der Diskussion [24]. Nach dem Gesetzentwurf müssen Betreiber Kritischer Infrastrukturen künftig Systeme der Angriffserkennung betreiben. Ein „Intrusion Detection System“, wie es allerdings viele große Betreiber ohnehin bereits als selbstverständlichen Teil ihrer IT-Sicherheit haben, um illegale Eindringlinge aufzuspüren, wird Pflicht. Zudem dürfen die Betreiber „Kernkomponenten“ (also sicherheitsrelevante IT-Produkte, die zum Betrieb von Kritischen Infrastrukturen dienen und für diesen Zweck besonders entwickelt oder geändert wurden) nur noch von Herstellern beziehen, die vorher eine Erklärung über ihre Vertrauenswürdigkeit gegenüber dem Betreiber abgeben haben. Doch sind immer noch Anwendungen, die nicht nur für Kritische Infrastrukturen dienen, sondern breiter entwickelt worden sind, hier ausgenommen. Digitalisierungsbemühungen, bei denen Industrie 4.0-Anwendungen von der Stange gekauft werden, bleiben also ausgeklammert. In den Betreiberbefragungen haben Unternehmen den Wunsch geäußert, externe Unterstützung für Cyber-Sicherheit und den Schutz Kritischer Infrastrukturen einbeziehen zu können. Die Sektor-Studie des BSI stellt fest, dass es insbesondere kleinen und mittleren Wasserunternehmen schwer fällt, Kompetenzen zur IT-Sicherheit bei sich aufzubauen [6]. Nur rund 50 % der befragten Unternehmen achten auf die Qualifikation des IT-Personals und auf eine kontinuierliche Weiterbildung. Fast jedes fünfte Unternehmen sieht keinen Weiterbildungsbedarf [23; 22]. Weder das BSI noch DVGW und DWA haben bisher die Idee verfolgt, dass Kooperationen zwischen mehreren Unternehmen ebenso wie gemeinsame 74 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Benchmarkingprozesse geeignet sein können, um trotz knapper Personaldecke die Herausforderungen sowohl der Digitalisierung als auch der Cybersicherheit gut zu bewältigen [25]. Ein solcher Verbund könnte zum Beispiel aus einem vom BSI geförderten zentralen Kompetenzzentrum und mehreren regionalen Arbeitsgemeinschaften bestehen, in denen sich gebietsweise Wasserunternehmen zusammenschließen, um bedarfsgerechte Schutzkonzepte zu erarbeiten und umzusetzen. Neben der Ausfallsicherheit der Infrastrukturen ist hier ebenso auf die Versorgungssicherheit der Bevölkerung zu achten. LITERATUR [1] Pohl, C., Spinnreker-Czichon, D., Keilholz, P.: Wasserwirtschaft 4.0 - Voraussetzung für eine intelligente Vernetzung von Bestandssystemen, Bremen, München, 2017. [2] Schaffer, C., Vestner, R., Bufler, R., Werner, U., Ziemer, C.: Wasser 4.0, Berlin, 2019. [3] Ammermüller, B., Fälsch, M.: Digitale Wasserwirtschaft, Berlin, 2017. [4] Graumann, S.: Energie- und Wasserversorger noch verhalten bei Digitalisierung, energie | wasser-praxis, (4) (2017), S. 6-9. [5] Barjenbruch, M., Donner, C., Ernst, M., Gröschl, F., Grünebaum, T., Günthert, F. W., Hetzel, F., Horn, H., Klinger, J., Rosenwinkel, K.-H., Schwesig, D., Thaler, S., Walter, W. K.: Forschungsbedarf in der Wasserwirtschaft, Bonn, 2016. [6] Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik: KRITIS-Sektorstudie - Ernährung und Wasser, Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik, Bonn, 2014. [7] www.globalsign.com/ de-de/ blog/ it-vs-ot-im-industriellen-internet/ (GlobalSign, 25.09.2019). [8] Pointl, M., Winkelbauer, A., Krampe, J., Fuchs-Hanusch, D.: Aspekte der IKT-Sicherheit in der österreichischen Siedlungswasserwirtschaft, Österr. Wasser- und Abfallw., 71 (7-8) (2019), S. 374-384. [9] Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik: Die Lage der IT-Sicherheit in Deutschland 2018, Bonn, 2018. [10] Fluchs, S.: IT-Grundschutz-Pilotprofil bzw. IT-Grundschutz-Profil für die Wasserwirtschaft, RWTH Aachen, 2017. [11] Lenz, S.: Vulnerabilität Kritischer Infrastrukturen, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, Bonn, 2009. [12] Birkmann, J.: Measuring vulnerability to promote disaster-resilient societies: Conceptual frameworks and definitions. in: Birkmann, J. (Hrsg.): Measuring vulnerability to natural hazards: Towards disaster resilient societies, S. 9-54, United Nations University Press, New York, 2006. [13] Cordona, O.: A system of indicators for disaster risk management in the Americas. in: Birkmann, J. (Hrsg.): Measuring vulnerability to natural hazards: Towards disaster resilient societies, S. 189-209, United Nations University Press, New York, 2006. [14] Birkmann, J.: (Hrsg.): Addressing the challenge, DKKV, Bonn, 2009. [15] Birkmann, J., Bach, C., Guhl, S., Witting, M., Welle, T., Schmude, M.: State of the Art der Forschung zur Verwundbarkeit Kritischer Infrastrukturen am Beispiel Strom, Stromausfall, Freie Universität Berlin, 2010. [16] United Nations International Strategy for Disaster Reduction: Living with risk: A global review of disaster reduction initiatives, United Nations Publications, New York, Genf, 2004. [17] Krings, S.: Verwundbarkeitsassessment der Strom- und Trinkwasserversorgung gegenüber Hochwasserereignissen. In: Abschätzung der Verwundbarkeit gegenüber Hochwasserereignissen auf kommunaler Ebene, S. 24-51, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, 2013. [18] Zimmermann, M., Winker, M., Schramm, E.: Die Vulnerabilität von Wasserinfrastrukturen - Analyse eines semizentralen Ver- und Entsorgungssystems in Qingdao, China, Transforming Cities, (4) (2017), S. 48-53. [19] w w w.zeit.de / 2010/ 4 8/ Computer wurm- Stuxnet / komplettansicht (DIE ZEIT Nr. 48/ 2010, 25.09.2019). [20] Clark, R. M., Panguluri, S., Nelson, T. D., Wyman, P.: Protecting Drinking Water Utilities From Cyberthreats, Journal of American Water Works Association, 109 (2) (2017), S. 50-58. [21] Feldhaus, J.: Branchenspezifischer Sicherheitsstandard Wasser/ Abwasser als technische Grundlage für die Informationssicherheit, KA Korrespondenz Abwasser, Abfall, 65 (12) (2018), S. 1072-1073. [22] Thim, C., Pöhls, U.: Stand der IT-Sicherheit in der Wasserversorgung, wwt wasserwirtschaft wassertechnik, 2018 (1-2) (2018), S. 40-42. [23] www.lebensraumwasser.com/ digitale-sorglosigkeithandlungsbedarfbeiitsicherheitinderwasserversorgung/ (22.10.2019). [24] Zimmermann, M., Schramm, E., Ebert, B.: Siedlungswasserwirtschaft im Zeitalter der Digitalisierung: Cybersicherheit als Achillesferse, TATuP - Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis (Eingereicht). [25] Thim, C., Röchert-Voigt, T., Proske, N., Heine, M., Korte, E.: Organisation des Schutzes der Kritischen Infrastruktur Wasserversorgung, 2012. AUTOREN Dr.-Ing. Martin Zimmermann ISOE - Institut für sozial-ökologische Forschung GmbH Kontakt: zimmermann@isoe.de Dr. Engelbert Schramm ISOE - Institut für sozial-ökologische Forschung GmbH Kontakt: schramm@isoe.de 75 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Die zur Bewältigung der genannten Herausforderungen notwendigen Transformationsprozesse für die bestehenden technischen Infrastruktursysteme sind nur dann umsetzbar, wenn auch ihre institutionelle Einbettung und die relevanten politischen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Kontextfaktoren sowie die daraus resultierenden Pfadabhängigkeiten berücksichtigt werden (siehe [1]). Dabei hängen diese Systeme in ihrer Dynamik von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren ab - insbesondere von Ansätzen, die zu einer (neuartigen oder womöglich auch verstärkten) Kopplung verschiedener Infrastrukturbereiche und der zugehörigen Netze führen. Aus der Kopplung von Infrastrukturbereichen können Potenziale für eine erhöhte Energie- und Ressourceneffizienz und eine verbesserte Klimaanpassung resultieren. Gleichzeitig bedeutet die damit einhergehende Zunahme der Komplexität oftmals einen zusätzlichen Abstimmungs- und Koordinierungsbedarf bei Planung, Bau und Betrieb. Im Folgenden werden anhand von Leitbildern für verschiedene Infrastrukturbereiche künftige Entwicklungen und die damit verbundenen Kopplungsmöglichkeiten und -synergien skizziert. Kopplungspotenziale der Wasserinfrastruktur Während für andere Infrastrukturbereiche - insbesondere Energie und Mobilität - die Gestaltungsmöglichkeiten einschließlich der damit verbundenen Potenziale und Hemmnisse einer Sektorkopplung bereits seit längerem im Fokus stehen, wird der Wasserbereich bislang nur in geringem Umfang in entsprechende Analysen und Untersuchungen einbezogen. Dabei umfasst die Wasserinfrastruktur nicht nur die Versorgung mit Trink- und möglicherweise Brauchwasser sowie die sichere Ableitung und Behandlung von Abwasser, sondern auch den Umgang mit bzw. die integrierte Bewirtschaftung von Regenwasser 1 , eine sichere Löschwasserversorgung und einen umfassenden Gewässer-, Hochwasser- und Überflutungsschutz. Kopplungspotenziale der Wasserinfrastruktur mit anderen Sektoren ergeben sich im städtischen Kontext insbesondere mit dem Gebäudebereich (zum Beispiel: wassereffiziente Gebäude; Gebäudekühlung und -klimatisierung basierend auf aufbereitetem Regenwasser-/ Abwasserteilströmen), dem Energiesektor (zum Beispiel: Energiegewinnung aus 1 Vgl. Definition des Begriffs Abwasser nach § 54 Abs. 1 Wasserhaushaltsgesetz. Wasser, Infrastrukturen, Effizienz, integrierte Systeme, Sektorkopplung, Akteurskonstellationen, Geschäftsmodelle Thomas Hillenbrand, Claudia Hohmann, Susanne Bieker, Jutta Niederste-Hollenberg, Felix Tettenborn, Anna Grimm Wenn sich verändernde Rahmenbedingungen (insbesondere Klimawandel und demographischer Wandel), neue Anforderungen (Klimaschutz, Ressourceneffizienz etc.) und innovative technische Möglichkeiten auf komplexe sozio-technische Systeme, wie netzgebundene technische Infrastrukturen mit ihren hohen Pfadabhängigkeiten und daraus resultierenden geringen Flexibilitäten und hohen sogenannten sunk costs (irreversiblen, nicht mehr rückgängig zu machende Kosten), treffen, entstehen besondere Herausforderungen. Grundsätzliche strategische Lösungsansätze werden ausgehend von Leitbildern und konkreten Konzeptbeispielen im Folgenden beschrieben. © Olya Adamovich auf Pixabay Kopplung technischer Infrastruktursysteme am Beispiel Wasser Potenziale, Hemmnisse und deren Überwindung THEMA Urbane Netze 76 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Abwasser; Rückgewinnung der thermischen Energie aus Abwasser(-teil)strömen, Wärmetransport in Abwasserkanälen), dem ICT-Sektor (Fernüberwachung bzw. -betrieb dezentraler Anlagen, Kopplung mit Wettervorhersagen, etc.) oder mit der Flächenbewirtschaftung im Zusammenhang mit neuen Mobilitätskonzepten (vgl. entsprechende Analysen im Rahmen des Fraunhofer Innovationsnetzwerkes „Morgenstadt“, [2]). Leitbilder einzelner Infrastrukturbereiche und ihre Kopplungspotenziale Der Blick auf zukünftige Entwicklungsrichtungen und Leitbilder ermöglicht es, insbesondere (neue) sektorübergreifende Auswirkungen zu berücksichtigen und damit Investitions- und Sanierungsentscheidungen zukunftsfester zu machen. Die Weiterentwicklung der Wasserinfrastrukturen im Sinne einer wassersensiblen Stadtentwicklung und einer möglichst naturnahen Wasserbewirtschaftung basiert auf mehreren Säulen: Zum einen wird Abbzw. Niederschlagswasser als Ressource betrachtet, beispielsweise für Bewässerungszwecke urbanen Grüns als auch für die zunehmende Nachfrage nach Urban Gardening und Urban Agriculture. Die Auswirkungen des Klimawandels sind in Städten besonders zu spüren, wodurch Grün- und Wasserflächen zur Kühlung wie zur Freizeitnutzung an Bedeutung gewinnen. Der steigende Wasserbedarf, insbesondere in längeren Trockenperioden, fördert das Bewusstsein, dass Abwasser eine ganzjährig verfügbare Wasserressource ist; kleinräumige „fit for purpose“-Aufbereitungen und Nutzungen gewinnen an Bedeutung, beispielsweise in der (urbanen) Landwirtschaft oder für andere weniger sensible Nutzungen. Die reduzierten Abwassermengen schaffen im Kanalsystem Raum für den Transport von (stärker verschmutztem) Niederschlagswasser. In Kombination mit einem dezentralen Regenwassermanagement einschließlich multifunktionaler Flächennutzungen kann die Überflutungsgefahr bei Starkregenereignissen reduziert werden. [3] Eine integrative Planung berücksichtigt neben Wasserwirtschaft und Stadtgestaltung auch andere Sektoren wie den Energie- und Mobilitätssektor und ermöglicht unterschiedliche Synergieeffekte. Die Entwicklung urbanen Verkehrs in Richtung nachhaltiger Mobilitätslösungen ist von verschiedenen Trends getrieben. Maßgeblichen Einfluss hat der Wechsel von klassischen Verbrennungsmotoren hin zu alternativen Antrieben. Gekoppelt mit intelligenten Verkehrssystemen, die den Verkehrsfluss verbessern, und dem Aufbau der entsprechenden Ladeinfrastruktur kann innerhalb des bestehenden Systems des motorisierten Individualverkehrs (MIV) eine lokal CO 2 -emissionsfreie Mobilität erreicht werden. Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Substitution des MIV durch einen ausgebauten ÖPNV, ergänzt um On-demand-Lösungen wie beispielsweise autonome Shuttles oder die Nutzung von Sharing-Angeboten. Die bestehende Straßeninfrastruktur wird dabei den verschiedenen Verkehrsträgern zugeteilt. Durch die zunehmende geteilte Nutzung von Fahrzeugen (Sharing) nimmt der private PKW-Besitz und damit der Bedarf an Abstellflächen ab, was neue Nutzungen freiwerdender Flächen beispielsweise für ein integriertes Regenwassermanagement ermöglicht. Gleichzeitig können Ladepunkte für alternative Antriebe stärker gebündelt und damit ressourceneffizienter angeboten werden. Begleitet wird das Leitbild der geteilten, autonomen Mobilität von einem Ausbau der IT-Infrastruktur, um die Vernetzung von Fahrzeugen und Dienstleistungen zu gewährleisten. Um Emissionsreduktionen zu erreichen und wachsenden Stadtbevölkerungszahlen zu begegnen, können Verkehrsströme nicht nur optimiert, sondern auch vermieden werden. Durch ein Umdenken beim Stadtbild und durch Neuorganisation der für die Bevölkerung relevanten Einrichtungen innerhalb kurzer Distanzen („Stadt der kurzen Wege“), können der Fuß- und Radverkehr ausgebaut, PKW und zugehörige Infrastrukturen wie Straßen und Parkmöglichkeiten reduziert, Energie eingespart und Flächen neu genutzt werden. Bild 1: Schematische Darstellung zur Umsetzung einer Energieallee im Rahmen des i.WET-Konzepts. © Fraunhofer ISI 77 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze In einem treibhausgasneutralen Energiesystem für Deutschland gibt es nur eine begrenzte Anzahl an Energieformen, die noch eingesetzt werden: Strom aus erneuerbaren Energien, Wasserstoff oder synthetische Kohlenwasserstoffe aus erneuerbar hergestelltem Strom, biogene Energieträger sowie lokale erneuerbare Wärme aus Solar- und Geothermie. Allen Dekarbonisierungsstrategien gemein ist die stark zunehmende Bedeutung von Strom mit Konsequenzen für die Netzinfrastruktur. Elektrizität ersetzt fossile Energieträger in vielen Bereichen, zum Beispiel durch Elektromobilität im Transportsektor, durch Wärmepumpen für die Gebäudewärme oder durch dezentrale PV-Anlagen auf innerstädtischen Gebäuden. Hier bietet sich eine Schnittstelle zum Wassersektor an: Extensive Dachbegrünungen können durch Kühlungseffekte zu Effizienzsteigerungen der Anlagen führen und gleichzeitig zur Zwischenspeicherung von Niederschlägen und zur Gebäudekühlung genutzt werden. Die Bedeutung von Nah- und Fernwärme wird voraussichtlich zunehmen, unter anderem weil dadurch die Wärme effizienter und saisonal gespeichert werden kann. Ergänzend sind Kopplungsmöglichkeiten mit der Wärmerückgewinnung aus Abwasser gegeben. Offen diskutiert wird, welche Rolle strombasierte Energieträger (Wasserstoff, E-Methan, Power-to-liquid etc.) spielen können und sollen, vor dem Hintergrund einer geringen Umwandlungseffizienz und langfristig hohen Kosten bei aber bereits vorhandener Infrastruktur. So könnte zum Beispiel in Zukunft Gebäudewärme mit klassischen Gasheizungen, gespeist aus dem Erdgasnetz, bereitgestellt werden. Unklar ist derzeit auch noch, ob und in welchem Zeitraum die vorhandenen Gasinfrastrukturen auf reinen Wasserstoff umgestellt werden könnten. In jüngster Zeit beginnt eine Debatte um sogenannten „Blauen Wasserstoff“, also Wasserstoff aus fossilem Erdgas, dessen bei der Umwandlung entstehende CO 2 -Emissionen in Lagerstätten abgeschieden und verpresst werden sollen. Je nach verfolgter Strategie ergeben sich daraus sehr unterschiedliche Anforderungen an Energieinfrastrukturen. Beispiele innovativer Kopplungen Im Folgenden werden ausgewählte, innovative Beispiele der Kopplung der Wasserinfrastruktur mit anderen Infrastrukturen beschrieben, die die Potenziale sowie die dazu notwendigen Herangehensweisen verdeutlichen sollen. Vor dem Hintergrund der im Rahmen des Klimaschutzes notwendigen Wärmewende spielt die über das Abwasser aus den Haushalten ungenutzt abgeleitete Wärmemenge eine wichtige Rolle - insbesondere bei energetisch sanierten Wohnungen ist dies die größte Wärmesenke. Diese Wärmemenge ist im sogenannten Grauwasser, also dem Abwasser aus Dusche, Badewanne, Wasch- und Geschirrspülmaschine enthalten. Dieser Abwasserteilstrom ist insgesamt nur gering belastet und deshalb auch mit geringem Aufbereitungsaufwand für höherwertige Nutzungen einsetzbar. Hier setzt das durch das Fraunhofer ISI entwickelte Infrastrukturkonzept i.WET (integriertes Wasser-Energie-Transitions-Konzept) an, das eine kombinierte Wiederverwendung von Regen- und behandeltem Grauwasser mit Wärmerückgewinnung vorsieht. i.WET ermöglicht die Einführung eines neuen unter anfänglicher Beibehaltung des vorhandenen Systems (Bild 1). Die großtechnische Umsetzung von i.WET erfolgt derzeit in Lünen, unter wissenschaftlicher Begleitung eines von der Stiftung Zukunft NRW geförderten Forschungsprojekts. Ein weiterer Ansatz zur Hebung bislang ungenutzter Sektorkopplungspotenziale setzt bei dezentralen Abwärmequellen an, beispielsweise der Abwärme von Industrieunternehmen. Das BMWi- Vorhaben „InnoA2“ führt derzeit ein Pilotprojekt zur Erschließung dezentraler, bislang ungenutzter Abwärmequellen durch Wärmetransport über die bestehende Kanalinfrastruktur durch, so dass eine Doppelnutzung dieser Infrastruktur erreicht wird [4]. Auf diese Weise kann ein Beitrag zur Senkung des Primärenergiebedarfs und der Treibhausgasemissionen ohne die Errichtung neuer Verteilnetze erreicht werden. Aufgrund der zum Teil anstehenden Anpassungen der urbanen Stromnetze können sich dabei zusätzliche Anwendungsmöglichkeiten durch die Einbindung weiterer Abwärmequellen ergeben. Kopplungsmöglichkeiten hinsichtlich einer verbesserten IT-Infrastruktur und der Digitalisierung sind vielfältig [2]: Beispielsweise kann unter der Idee eines Smart-Water-Grids die Vernetzung von Informationen zu Trinkwasserreservoir-Füllständen mit Niederschlagsprognosemodellen, die Kopplung von Wasser- und Energienetzen (Wasserspeicher als Energiespeicher) oder die Einbindung verbrauchernaher, online eingebundener Wasserzähler gesehen werden. Hinsichtlich der Zunahme von Starkregen kann durch die Vernetzung von Wetterdaten und der Bewirtschaftung von ober- und unterirdischen Speicherräumen bei der Regenbzw. Abwasserableitung das Wasserinfrastrukturnetz besser (in real-time) gesteuert werden. Eine vorausschauende dynamische Modellierung von Niederschlagsaufkommen und -ableitung sowie resultierender Ausbzw. 78 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Überlastung der Infrastruktur sowie eventueller Gegenmaßnahmen erlauben ein strategisches, geplantes Vorgehen. Besonders interessant werden entsprechende Ansätze durch die Einbindung neuer Mobilitätskonzepte, die veränderte oder multifunktionale Nutzungen von Verkehrsflächen ermöglichen, so dass dadurch beispielsweise zusätzliche temporäre Speicher genutzt werden können. Auf der Wasserversorgungsseite kann durch einen Abgleich von in das Trinkwassernetz eingespeister Wassermenge und zeitnah erfassten Verbrauchsdaten eine optimierte Überwachung des Trinkwassernetzes erfolgen: Damit kann auf Leckagen schneller reagiert sowie Wasserverlusten und Schäden durch im Untergrund austretendes Wasser vorgebeugt werden. Digitale Verbrauchsmessungen ermöglichen zeitlich aufgelöste Wasserverbrauchsprofile und damit die Bestimmung der tatsächlichen Inanspruchnahme der Versorgungsinfrastruktur, deren Maximalkapazität vom Spitzenverbrauch abhängig ist, so dass eine verursachungsgerechtere Kostenzurechnung ermöglicht wird (Umsetzung des Äquivalenzprinzips bei der Tarifgestaltung). Sie können außerdem eine wesentlich bessere Grundlage für Prognosen zur künftigen Verbrauchsentwicklung darstellen. Zusätzlich können die Kopplungsmöglichkeiten zur IT-Infrastruktur auch dazu genutzt werden, die Nachfrageseite stärker einzubinden. Damit lassen sich Verbraucher zu bewussten und qualifizierten Entscheidungen befähigen, beispielsweise durch Angaben zum eigenen Verbrauch und in Relation zu Vergleichsgruppen oder Zielwerten (bidirektionaler Datenfluss zwischen Wasserversorger und Kunde um etwa im Falle längerer Trockenperioden gezielte Anreize setzen zu können). Ein Beispiel ist der im Projekt DAIAD entwickelte und umgesetzte Ansatz, Nutzer über ihren Wasserverbrauch beim Duschen online zu informieren und dadurch Anreize für einen sparsamen Umgang mit Wasser zu geben (Bild 2, [5]). Förderung und Management von Transitionen Der beschriebene Handlungsdruck kann über den daraus resultierenden Anpassungsdruck auf bestehende konventionelle Systeme (auch als Regime bezeichnet) zu sogenannten Gelegenheitsfenstern („windows of opportunities“) für innovative Konzepte in Nischen führen, welche die Umsetzung innovativer Infrastrukturlösungen begünstigt [6]. In urbanen technischen Infrastruktursystemen stehen diesen innovativen Ansätzen allerdings oftmals sehr starke Pfadabhängigkeiten etwa aufgrund der vorhandenen und eingespielten Entscheidungs- und Planungsprozesse, des Know-Hows der eingebundenen Akteure und der hohen Fixkosten gegenüber. Die notwendigen Veränderungen sind in verschiedene Ebenen zu unterscheiden [7]: Auf der übergeordneten Ebene (Bund, Bundesländer oder Fachverbände) werden über entsprechende Regelungen wie Gesetze oder Richtlinien der Rahmen sowie Anforderungen, etwa zur Energie- und Ressourceneffizienz (aktuell beispielsweise zur Energieeffizienz bei der Abwasserbehandlung oder zur Phosphorrückgewinnung), gesetzt. Bei diesen Prozessen wird teilweise auf das technische Regelwerk verwiesen, das heißt, die Berücksichtigung innovativer Technologien und Konzepte durch die normungssetzenden technischen Verbände kann deren Umsetzung sehr stark fördern 2 . Wichtig ist dabei, dass Kopplungspotenziale von allen betroffenen Sektoren berücksichtigt werden, im Regelwerk aber auch gleichzeitig ausreichend Freiräume für die Erprobung und Umsetzung innovativer Ansätze verbleiben. Besondere Relevanz haben auch Förderprogramme wie zum Beispiel die über die Abwasserabgabe finanzierten Programme der Bundesländer oder, als ein sehr konkretes Beispiel, die Förderung der dezentralen Wärmerückgewinnung aus Schmutzbzw. Grauwasser in Gebäuden über die Kleinserien-Richtlinie im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative. Für die Umsetzung konkreter Projekte haben lokale Akteure eine zentrale Bedeutung. Da technische urbane Infrastruktursysteme oftmals öffentliche Güter zur Erbringung öffentlicher Dienstleistungen bereitstellen, spielen hier insbesondere kommunale Akteure eine wichtige Rolle. Im Rahmen von Planungsprozessen, beispielsweise für eine integrierte Quartiersentwicklung, sind Sektor-Kopplungspotenziale ausreichend zu berücksichtigen: Entsprechende Aspekte sind dabei sehr frühzeitig einzubinden, etwa in einer vorgeschalteten, fachübergreifenden „Planungsphase 0“. Wesentlich ist eine umfassende, alle Aspekte der Nachhaltigkeit berücksichtigende Bewertung von Planungsalternativen, so dass die Stärken gekoppelter Lösungsansätze sich im Bewertungsergebnis auch wiederfinden können. Zusätzlich besteht weiterhin großer Bedarf für Demonstrations- und Pilotprojekte im Sinne von Leuchttürmen, die durch die Präsentation der Technologien und Ansätze deren Akzeptanz entscheidend verbessern können. Zur Unterstützung entsprechender Ansätze benötigt es unter an- 2 Hier ist aktuell beispielsweise die Aktivität der DWA für eine wassersensible Zukunftsstadt zu nennen. Bild 2: Rückkopplung des Duschwasserverbrauchs an den Nutzer im Rahmen des Forschungs- und Demonstrationsprojekts DAIAD. © Amphiro AG 79 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze Dr.-Ing. Thomas Hillenbrand Leitung Geschäftsfeld Wasserwirtschaft Competence Center Nachhaltigkeit und Infrastruktursysteme Fraunhofer-Inst. f. System- und Innovationsforschung ISI Kontakt: thomas.hillenbrand@isi.fraunhofer.de Claudia Hohmann Wissenschaftliche Mitarbeiterin Competence Center Nachhaltigkeit und Infrastruktursysteme Fraunhofer-Inst. f. System- und Innovationsforschung ISI Kontakt: claudia.hohmann@isi.fraunhofer.de Dr.-Ing. Susanne Bieker Wissenschaftliche Mitarbeiterin Competence Center Nachhaltigkeit und Infrastruktursysteme Fraunhofer-Inst. f. System- und Innovationsforschung ISI Kontakt: susanne.bieker@isi.fraunhofer.de Dr.-Ing. Jutta Niederste-Hollenberg Projektleiterin Competence Center Nachhaltigkeit und Infrastruktursysteme Fraunhofer-Inst. f. System- und Innovationsforschung ISI Kontakt: jutta.niederste-hollenberg@isi.fraunhofer.de Dr.-Ing. Felix Tettenborn Projektleiter Competence Center Nachhaltigkeit und Infrastruktursysteme Fraunhofer-Inst. f. System- und Innovationsforschung ISI Kontakt: felix.tettenborn@isi.fraunhofer.de Anna Grimm Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fraunhofer-Inst. f. System- und Innovationsforschung ISI Kontakt: anna.grimm@isi.fraunhofer.de derem geeignete organisatorische Instrumente. Ein Beispiel dafür bietet das Canvas für die Koordinierung von Transformationsprozessen, das sich aus dem unternehmensintern bereits zum Innovationsmanagement etablierten Business Model Canvas [8] ableitet. Dieses Instrument kann zum Beispiel bei der Strukturierung und grundlegenden Skizzierung von innovativen Konzepten im Rahmen einer Projekt- oder Quartiersentwicklung oder auch als Kommunikationsunterstützung innerhalb und außerhalb von Demonstrationsprojekten beitragen und auf unterschiedlichen Verwaltungsebenen eingesetzt werden. [9] Fazit Zur Bewältigung der neuen Herausforderungen erfordern die unterschiedlichen technischen Infrastruktursektoren zunehmend einen integrierten, Sektor übergreifenden Planungsansatz. Nur so können Synergien genutzt und die Anforderungen (effizient) erfüllt werden. Für das Management der dadurch bedingten komplexen Transformationsprozesse müssen die relevanten Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen inter- und transdisziplinär vernetzt und ihr Handeln koordiniert werden. Zur Umsetzung stehen Kommunen heute schon verschiedene Instrumente und Planungsunterstützungstools zur Verfügung bzw. werden aktuell entwickelt. Zudem bieten Demonstrations- und Leuchtturmprojekte wichtige Orientierungsmöglichkeiten. LITERATUR [1] Kiparsky, M., Sedlak, D. L., Thompson, B. H., Truffer, B.: The Innovation Deficit in Urban Water: The Need for an Integrated Perspective on Institutions, Organizations, and Technology. Environmental Engineering Science, 30 (8), (2013) S. 395-408. https: / / doi. org/ 10.1089/ ees.2012.0427 [2] Fraunhofer Innovation Network „Morgenstadt: City Insights“ Morgenstadt, City of the future, Phase 1, Final Report, 2013. Online unter: https: / / www.researchgate.net/ publication/ 312596689_Morgenstadt_City_Insights_-_Final_Report [3] Hoyer, J., Dickhaut, W., Kronawitter, L., Weber, B.: Water Sensitive Urban Design. Principles and Inspiration for Sustainable Stormwater Management in the City of the Future. Jovis, Berlin, 2011. [4] https: / / www.isi.fraunhofer.de/ de/ competence-center/ nachhaltigkeit-infrastruktursysteme/ projekte/ inno_a2.html [5] http: / / daiad.eu/ [6] Geels, F. W., Schot, J.: Typology of sociotechnical transition pathways. Research policy, 36(3), (2007) S. 399-417. [7] Hillenbrand, T., Eckartz, K., Hiessl, H., Hohmann, C., Niederste-Hollenberg, J.: Transition urbaner Wasserinfrastruktursysteme notwendig und machbar? KA Korrespondenz Abwasser, Abfall. 65. Nr. 2, (2018) S. 121-129. DOI: 10.3242/ kae2018.02.003 [8] Osterwalder, A., Pigneur, Y.: Business Model Generation: A handbook for visionaries, game changers and challengers. John Wiley and Sons, Inc., Hoboken, New Jersey, 2010. [9] Hohmann, C., Hillenbrand, T.: Geschäftsmodellperspektive für eine Nachhaltigkeitstransformation der Siedlungswasserwirtschaft in Deutschland (Konferenz für Kommunales Infrastruktur-Management, 26.09.2019, Berlin. https: / / w w w.kim.tu-ber-lin.de/ f ileadmin/ fg 280/ veranstaltungen/ kim/ konferenz_2019/ praesentationen/ 2038_14.00_hohmann-hillenbrand.pdf AUTOR*INNEN 80 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze In der ersten Phase der Energiewende lag der Fokus auf der Erzeugung von erneuerbarem Strom. Nun werden Sektoren wie Strom, Wärme und Kälte miteinander gekoppelt, um ein systemisches Optimum zu erlangen. Der Bilanzgrenze rückt dabei von einzelnen Gebäuden immer mehr zu Gebäudegruppen und ganzen Quartieren. Für Gebäude wird eine zunehmende Elektrifizierung der Wärmeversorgung durch Wärmepumpen angestrebt. In dicht besiedelten urbanen Regionen ist der Einsatz von elektrischen Wärmepumpen mit herkömmlichen Quellen nicht immer realisierbar. Der Einsatz von Luft-Wasser-Wärmepumpen benötigt Platz für die Außenluftwärmeübertrager, welche auch das Erschei- Wärmenetze der 5. Generation Thermische Netze als Plattform für den Energieausgleich zwischen Gebäuden Wärmenetze der 5. Generation, Planungs- und Betriebsoptimierung, Integrale Planung Peter Remmen, Tobias Blacha, Michael Mans, Marco Wirtz, Dirk Müller Mit Wärmenetzen der 5. Generation wird die netzgebundene Bereitstellung von Wärme und Kälte in Städten neu gedacht. Im Gegensatz zu üblichen Wärmenetzen bieten Wärmenetze der 5. Generation eine flexible Plattform für den Austausch von thermischer Energie zwischen Gebäuden. Für das Konzept Wärmenetze der 5. Generation sind statische Betriebsannahmen in der Netzplanung und im -betrieb nicht mehr ausreichend. Die RWTH Aachen entwickelt neue numerische Werkzeuge zur Planungs- und Betriebsoptimierung für Wärmenetze der 5. Generation. © analogicus auf Pixabay 81 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze nungsbild einer Stadt prägen. Außerdem entstehen durch den Betrieb der Außenluftwärmeübertrager ungewollte Geräuschemissionen. Der Einsatz von Wasser-Wasser-Wärmepumpen ist durch die fehlenden Möglichkeiten zur Erschließung geothermisch nutzbarer Flächen begrenzt. Ein weiterer Trend ist der steigende Kältebedarf, insbesondere im Gewerbe (Rechenzentren, Logistik, Bürogebäude), aber zunehmend auch im Wohngebäudebereich. Die Versorgung von Gebäuden mit Kälte ist energieintensiv und muss nachhaltig und effizient realisiert werden. Wärmenetze der 5. Generation können zur Bewältigung dieser Herausforderungen einen wertvollen Beitrag leisten. Sie werden auf sehr niedrigen Temperaturniveaus betrieben und gleichzeitig für die Wärme- und Kältebereitstellung eingesetzt, sodass sie insbesondere in urbanen Regionen die Energiewende unterstützen, indem sie eine effiziente Verschiebung von thermischer Energie zwischen Gebäuden ermöglichen. Das Netz fungiert als Wärmequelle für Wärmepumpen und als Wärmesenke für Kompressionskältemaschinen. Im Vergleich zu einem konventionellen Wärme- oder Kältenetz besitzen Wärmenetze der 5. Generation keinen klassischen Vor- und Rücklauf. Vielmehr wird das Netz mit einem warmen und einem kalten Leiter betrieben. Diese Systemkonfiguration ermöglicht die Nutzung aller zur Verfügung stehenden Energieströme im Quartier, was einen entscheidenden Vorteil dieser Energiesysteme darstellt. Auf diese Weise kann die Abwärme aus Kühlprozessen als Wärmquelle für an das Netz angeschlossene dezentrale Wärmepumpen dienen. Das Konzept ist schematisch in Bild 1 dargestellt. Die Betriebstemperatur von Wärmenetzen der 5. Generation liegt mit 5 - 30 °C nahe an den Umgebungstemperaturen und damit deutlich niedriger als bei konventionellen Wärmenetzen. Dies verringert die Wärmeverluste der Rohrleitungen und senkt Investitionen durch den Verzicht auf Dämmung sowie durch die Verwendung von Kunststoffrohren. Durch die geringen Betriebstemperaturen ermöglichen diese Wärmenetze die ganzjährige Nutzung erneuerbarer Wärmequellen wie Geothermie oder Abwärme. Zusätzlich benötigte Energie kann dem Netz auf unterschiedliche Weisen zugeführt werden (zum Beispiel: eigene Energiezentrale, Anbindung an Bestandsnetze) und ermöglicht so die Einbindung in bestehende Quartiere. Wärmenetze der 5. Generation unterstützen die flexible Elektrifizierung der thermischen Energieversorgung. Hierbei wird die Speicher- und Netztemperatur angehoben oder abgesenkt. Zu einem späteren Zeitpunkt kann der Einsatz von elektrischer Energie durch eine höhere Effizienz der Wärmepumpen oder Kältemaschinen verringert werden. Insbesondere die Energiezentrale leistet einen entscheidenden Beitrag, da hier Power-to- Heat-Technologien (zum Beispiel Wärmepumpen) in einem netzdienlichen Betrieb eingesetzt werden können, ohne dass hierdurch unmittelbar der thermische Komfort der einzelnen Gebäude betroffen ist. Dezentrale Speicher in Kombination mit den dezentralen Wärmepumpen in den Gebäuden können genutzt werden, um Bedarf und Angebot zeitlich voneinander zu trennen. Mit Wärmenetzen der 5. Generation wird die thermische Energieversorgung zu einem aktiven Teil des Energiesystems und kann systemdienlich betrieben werden. Wärmenetze der 5. Generation eignen sich insbesondere in urbanen, dicht besiedelten Regionen. In diesen Regionen ist der Einsatz von elektrischen Wärmepumpen mit herkömmlichen Wärmequellen nicht immer realisierbar. Gleichzeitig existiert gerade in urbanen Gebieten eine große Anzahl von Anwendungen, die ein Abwärmepotenzial auf nied- Bild 1: Schematischer Aufbau eines Wärmenetzes der 5. Generation mit zwei Gebäuden und der Energiezentrale. © Remmen et al. 82 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze rigen Temperaturniveaus aufweisen (siehe Bild 2). Beispiel hierfür ist die Kühlung von Supermärkten, Reche- oder Logistikzentren. Oft wird diese Abwärme nur im selben Gebäude oder aber gar nicht genutzt. Wärmenetze der 5. Generation sind flexibel und modular erweiterbar. Dies vermeidet nicht nur hohe Anfangsinvestitionen für große Energiezentralen, sondern unterstützt auch den langfristigen Umbau von urbanen Energiesystemen. Wie im vorherigen Abschnitt beschrieben, bieten Wärmenetze der 5. Generation ein großes Potenzial für die Energiewende und die Energieversorgung der Zukunft. Dem stehen neue Herausforderungen in der Planung und dem Betrieb gegenüber. Der Betrieb der einzelnen Komponenten (Wärmepumpen, dezentrale Umwälzpumpen, Energiezentrale) muss miteinander abgestimmt werden. Hierbei müssen die komplexen hydraulischen Zustände berücksichtigt werden. Daraus folgt, dass für Wärmenetze der 5. Generation statische Betriebsannahmen in der Netzplanung und im Betrieb der Systeme ungeeignet sind. Vielmehr sind neue, dynamische Verfahren notwendig, die die hohe Systemkomplexität abbilden können. Der Lehrstuhl für Gebäude- und Raumklimatechnik der RWTH Aachen University forscht an neuen Methoden zur Planungs- und Betriebsoptimierung für Wärmenetze der 5. Generation. Dazu werden einerseits Methoden zur Auslegung entwickelt, die in einer sehr frühen Projektphase Entscheidungshilfe für oder gegen ein Wärmenetz der 5. Generation bieten können [1]. Diese Auslegungsmethoden basieren auf mathematischen Optimierungen. Anders als bei klassischen Auslegungsmethoden, wird bei mathematischen Optimierungsmodellen in der frühen Planungsphase der Betrieb des Energiesystems, insbesondere die Fahrweise jeder Anlage, zeitlich diskretisiert abgebildet (zum Beispiel: 8760 Stunden im Jahr). Innerhalb der Optimierungsrechnung werden in einem Berechnungsschritt die optimale Auswahl an Technologien, eine optimale Dimensionierung der gewählten Anlagen sowie eine optimale Betriebsweise ermittelt. Dabei werden die Anlagen so ausgewählt und dimensioniert, dass für eine gesamtheitliche Betrachtung aller Betriebspunkte minimale Gesamtkosten erzielt werden. Die Gesamtkosten umfassen neben den annualisierten Investitionen für Anlagen und Netzinfrastruktur auch Wartungs- und Instandhaltungskosten sowie Kosten für Energiebezug (zum Beispiel Strom und Gas). Darüber hinaus können auch öffentliche Förderungen für KWK- oder PV-Anlagen sowie weitere Investitionsförderungen berücksichtigt werden. Ein entscheidender Vorteil der Methodik ist, dass im Vorhinein nur einzelne Modellparameter, wie beispielsweise Strom- und Gaspreise, für den jeweiligen Anwendungsfall festgelegt werden müssen. Eine Vorauswahl der Technologien erfolgt hingegen nicht: Ob eine bestimmte Technologie, wie beispielsweise ein thermischer Speicher, im Gesamtsystem installiert werden sollte, und falls ja, welche Nennkapazität dieser haben muss, wird innerhalb der Methodik bestimmt. Außerdem entwickelt der Lehrstuhl für Gebäude- und Raumklimatechnik in internationaler Kooperation dynamische, thermo-hydraulische Simulationsmodelle als unterstützendes Werkzeug für die technische Auslegung und Betriebsoptimierung Bild 2: Quellen-, Verteilungs- und Senkentemperatur in Wärmenetzen der 5. Generation. © Remmen et al. 83 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbane Netze [2, 3, 4]. Diese dynamischen Modelle bieten im Vergleich zu mathematischen Optimierungsmodellen den Vorteil, dass weniger Vereinfachungen hinsichtlich der Physik vorgenommen und die Dynamik des Systems detailliert abgebildet werden kann. Simulationsmodelle bieten die Möglichkeit, dynamische Effekte wie die Umkehr der Strömungsrichtung (durch einen Wechsel des vorherrschenden Bedarfs), die Speicherfähigkeit des Netzes sowie die Kopplung zwischen Netz und umliegendem Boden zu berücksichtigen. Diese detaillierte Abbildung hilft in der Planung zum Beispiel die Netzhydraulik unter Schwach- und Starklastfällen zu untersuchen. Außerdem helfen Simulationswerkzeuge neue Verfahren zur integralen Betriebsoptimierung zu entwickeln und zu validieren. Um das systemweite Optimum unter Berücksichtigung aller Einflussfaktoren und unterschiedlicher Zielfunktionen - wie minimale Kosten und minimale CO 2 -Emissionen - im realen Betrieb zu ermitteln, müssen zum einen neue Verfahren zur Betriebsoptimierung entwickelt und erprobt werden [3] und zum anderen alle Mess- und Stellgrößen dieser Betriebsoptimierung zur Verfügung stehen. Dazu müssen alle Komponenten des Systems in ein integrales Quartiersautomationssystem eingebunden und mit einer Betriebsoptimierung gekoppelt werden. Für das integrale Quartiersautomationssystem spielen cloudbasierte Systeme, die eine Kommunikation mit allen beteiligten Anlagen und eine Optimierung ermöglichen, eine besondere Rolle. Hierfür werden sektorenübergreifende IKT-Plattformen entwickelt, welche über geeignete Schnittstellen Daten sammeln, verarbeiten und Stellgrößen an die Systemkomponenten zurückgeben [5]. Die neuen Methoden zur Auslegung, Simulation und Betriebsoptimierung werden kontinuierlich in öffentlichen Projekten mit Stadtwerken und Energieversorgern weiterentwickelt. Hierbei reicht die Anwendung von Konzeptstudien für neue Stadtquartiere bis hin zur Unterstützung des realen Betriebes in bereits im Betrieb befindlichen Wärmenetzen der 5. Generation. LITERATUR [1] Wirtz, M., Kivilip, L., Remmen, P., Müller, D.: Bidirectional low temperature networks in urban districts: A novel design methodology based on mathematical optimization. CISBAT 2019 - International Scientific Conference. [2] Blacha, T., Mans, M., Remmen, P., Müller, D.: Dynamic Simulation Of Bidirectional Low-Temperature Networks - A Case Study To Facilitate The Integration Of Renewable Energies. Building Simulation Conference 2019. [3] Bünning, F., Wetter, M., Fuchs, M., Müller, D.: Bidirectional low temperature district energy systems with agent-based control: Performance comparison and operation optimization. Applied Energy, 209 (2017) S. 502-515. [4] Müller, D., Lauster, M., Constantin, A., Fuchs, M., Remmen, P.: AixLib - An Open-Source Modelica Library within the IEA-EBC Annex 60 Framework. BauSIM 2016. [5] https: / / n5geh.de/ Peter Remmen, M. Sc. Teamleiter Urbane Energiesysteme RWTH Aachen University, E.ON Energieforschungszentrum, Lehrstuhl f. Gebäude- und Raumklimatechnik Kontakt: premmen@eonerc.rwth-aachen.de Tobias Blacha, M. Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter RWTH Aachen University, E.ON Energieforschungszentrum, Lehrstuhl f. Gebäude- und Raumklimatechnik Kontakt: tblacha@eonerc.rwth-aachen.de Michael Mans, M. Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter RWTH Aachen University, E.ON Energieforschungszentrum, Lehrstuhl f. Gebäude- und Raumklimatechnik Kontakt: mmans@eonerc.rwth-aachen.de Marco Wirtz, M. Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter RWTH Aachen University, E.ON Energieforschungszentrum, Lehrstuhl f. Gebäude- und Raumklimatechnik Kontakt: marco.wirtz@eonerc.rwth-aachen.de Prof. Dr.-Ing. Dirk Müller Institutsleiter RWTH Aachen University, E.ON Energieforschungszentrum, Lehrstuhl f. Gebäude- und Raumklimatechnik Kontakt: dmueller@eonerc.rwth-aachen.de AUTOREN 84 4 · 2019 TR ANSFORMING CITIES PRODUKTE + LÖSUNGEN Infrastruktur Impressum Transforming Cities erscheint im 4. Jahrgang Herausgeber Eberhard Buhl, M.A. Verlag Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22, D-72270 Baiersbronn-Buhlbach Tel. +49 7449 91386.36 · Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de · www.trialog.de Redaktionsleitung Dipl.-Ing. arch. Christine Ziegler VDI (verantwortlich) Tel: +49 7449 91386.43 Fax: +49 7449 91386.37 christine.ziegler@transforming-cities.de Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 4 vom 01.01.2019 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 vertrieb@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist zum Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. 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Versandkosten (Inland EUR 3,-, Ausland EUR 6,50) Einzelausgabe ePaper: elektronische Web- Ausgabe zum Einzelbezugspreis von EUR 35,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), ohne Versandkosten Campus- und Firmenlizenzen auf Anfrage Organ | Medienpartnerschaft VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld Druck BWH GmbH, Hannover Herstellung Trialog, Baiersbronn-Buhlbach, www.trialog.de Titelbild Greyscale photo of sitting woman using smartphone. © Zoran Zonde Stojanovski (@zonde) | Unsplash Photo Community Copyright Vervielfältigungen durch Druck und Schrift sowie auf elektronischem Wege, auch auszugsweise, sind verboten und bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Abbildungen übernimmt der Verlag keine Haftung. Eine Publikation der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, Baiersbronn-Buhlbach ISSN 2366-7281 (print) www.trialog.de/ agb Die Funke Sedimentationsanlage ist für eine Anschlussfläche von bis zu 5000 m² geeignet (Anlagen für größere Anschlussflächen können auf Anfrage realisiert werden). Inklusive Lastverteilungsring und Abdeckung Klasse D weist das Bauwerk, das aus zwei Kammern besteht, eine Höhe von nur rund 2200 mm und eine Länge von etwa 4200 mm auf. Für den Einbau der Anlage sind daher nur relativ geringe Erdbewegungen notwendig. Im Schlammfang setzen sich die groben Sedimente ab. Dabei gibt die gegenüber dem Zulauf angeordnete, um 30° abgewinkelte Prallplatte die Strömungsrichtung vor. Danach, im Sedimentationsraum, werden die eher feinen Sedimente zurückgehalten. Für unterschiedliche Regenereignisse ausgelegt Die Funke Sedimentationsanlage ist so ausgelegt, dass bei einem Zufluss von 0 bis 8 l/ s beide Absetzräume durchflutet werden (Durchflussstufe 1 / DS1). Bei einem Zufluss größer als 8 l/ s wird der Sedimentationsraum durch eine speziell hierfür konzipierte Durchflusssteuerungsklappe mit Schwimmer selbsttätig verschlossen. Der Zufluss von 8 l/ s entspricht dabei - bei Ausnutzung der maximalen Anschlussfläche von 5000 m² - einer kritischen Regenspende (rkrit) von 16 l/ s/ ha. Die günstig wirkende Fließzeit wird hierbei nicht berücksichtigt. Je nach Länge der Fließzeit erhöht sich rkrit entsprechend. Die in diesem Fall verschlossene Durchflusssteuerungsklappe sorgt dafür, dass Starkregenereignisse an dem Sedimentationsraum vorbei geleitet werden (Durchflussstufe 2 / DS2). Somit werden die im Sedimentationsraum bereits zurückgehaltenen Sedimente nicht remobilisiert und verbleiben auch bei Starkregenereignissen in der Anlage. Beim Abschwächen der Regenintensität auf unter 8 l/ s öffnet sich die Klappe wieder automatisch. Zusätzlich zur durchflussabhängigen Durchströmungsmethodik werden durch das Tauchrohr im Ablauf Schwimmstoffe wie Öl zurückgehalten. Größere Schwimmstoffe wie Laub und Blätter werden beim Übergang vom Schlammfang in den Sedimentationsraum durch ein dazwischen angeordnetes Edelstahlsieb herausgefiltert. Platzsparend reinigen und sedimentieren Neue Sedimentationsanlage von Funke Das von befestigten Oberflächen wie Dachflächen, Parkplätze und Verkehrsflächen abfließende und gesammelte Niederschlagswasser (NW) gilt nach dem Wasserhaushaltsgesetz als Abwasser. Durch die Regenabflüsse gelangen Schmutzpartikel wie zum Beispiel Schadstoffe aus Reifenabrieb, Mikroplastik, Feinstaub, Öltropfverluste und Schwermetalle in gelöster und gebundener Form in den Regenwasserkanal. Je nach Verschmutzungsgrad und je nach Sensibilität des Zielgewässers ist dadurch häufig eine Behandlung der NW-Abflüsse vor der Einleitung in den Vorfluter erforderlich. Hierfür wurde die horizontale unterirdisch angeordnete Funke Sedimentationsanlage entwickelt. Neben einer sehr guten Reinigungsleistung zählt der nur geringe Wartungsaufwand zu den weiteren Vorteilen beim Einsatz der Anlage, die zur Entwässerung der Flächenkategorien I und II nach Gelbdruck des DWA-A 102 einsetzbar ist. © Funke Kunststoffe Städte zwischen Klimawandel und Klimaanpassung Am 6. März 2020 erscheint die nächste Ausgabe von Transforming Cities mit dem Themenschwerpunkt  Extremwetter in Städten  Urbane Hitzeinseln  Regenwasserbewirtschaftung  Resiliente Infrastrukturen  Begrünungsstrategien  Urbane Energiewende  Stadtluft