Transforming cities
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expert verlag Tübingen
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Ambivalenz zwischen urbanem Lifestyle und ländlicher Idylle Digitalisierung | Smart Cities | Mobilität | Ländliche Regionen | Urbane Peripherie | Stadtökologie | Stadtgrün 3 · 2020 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Urbanes Land - durchgrünte Stadt All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Baiersbronn | service@trialog.de 1 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, lange Zeit sah es so aus, als sei Urbanisierung ein unumkehrbarer Trend: Alles Wesentliche - Ausbildung und Jobs, Wirtschaft und Konsum, Kultur und Freizeitvergnügen - konzentrierte sich in Städten, das Land wurde abgehängt. Doch viele Gewissheiten, die bisher wie in Stein gemeißelt schienen, werden angesichts der Corona-Pandemie brüchig. Urbanes Leben mit großen mobilen Menschenmengen ist plötzlich nicht mehr Ausdruck von Freiheit und Kreativität, von Inspiration und Lebensfreude, sondern ein Nährboden für Viren und damit für Krankheit und Tod. Damit ändert sich vieles. Durch den Lockdown stehen Branchen unter Druck, die bisher immer als krisensicher galten. Prämissen wie „Gegessen und getrunken wird immer“ klingen angesichts halb leerer oder wieder geschlossener Restaurants und Kneipen hohl. Liebgewonnene Rituale, etwa im Fußballstadion lauthals seine Mannschaft anzufeuern oder im Kreise der Kirchengemeinde geistliche Lieder anzustimmen, ist jetzt nicht mehr allein Ausdruck von Begeisterung oder Inbrunst, sondern kann - verrückte Welt - lebensgefährlich sein. Die guten Nachrichten: Die Deutschen machen wieder mehr Urlaub im eigenen Land und die Internetbranche boomt! Ist das die Lösung? Das Virus verändert schließlich auch die Arbeitswelt - und zwar schneller als es mancher für möglich hielt. So werden Home Office und Online-Konferenzen nicht nur von Mitarbeitern als große Erleichterung empfunden, auch die Verantwortlichen in den Unternehmen sehen inzwischen große Vorteile darin - seien es eingesparte Reisekosten oder geringere Büromieten. Aber auch hier Ambivalenz: Weniger Pendlerfahrten vom Umland ins Büro in der Innenstadt entlasten einerseits die Einfallstraßen, doch sie sorgen andererseits für leere Busse und Bahnen, was wiederum schmerzlich für Verkehrsunternehmen ist. Muss es also zwangsläufig Gewinner und Verlierer in der Krise geben? Ganz klar: Die Veränderungen, die sich durch Corona ergeben, sind weitreichend und sicher nicht gerecht verteilt, wie etwa die lange Zeit geschlossenen Schulen und Kitas zeigen. Doch die Frage ist, wie wir mit Krisen und großen Einschnitten umgehen. Setzen wir gegen Pandemie und Klimawandel, die Auswirkungen von Globalisierung und Urbanisierung einfach den Alu-Hut auf? Oder arbeiten wir daran, tragfähige Lösungen für die anstehenden Probleme zu finden - und zwar in der Stadt ebenso wie auf dem Land? Im vorliegenden Heft gibt es viele treffliche Beispiele, wie Städte und Regionen im Sinne von Mensch und Umwelt mit guten Ideen und engagierten Projekten zukunftsfähig gemacht werden können. Lesen Sie selbst. Ihre Christine Ziegler Redaktionsleitung „Transforming Cities“ Urbanes Land - durchgrünte Stadt 2 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES INHALT 3 · 2020 4 Online nach Mannheim 9. Europäische Konferenz nachhaltiger Städte und Gemeinden Im Interview: Wolfgang Teubner, Regionaldirektor und Geschäftsführer des ICLEI Europasekretariats und Dr. Peter Kurz, Oberbürgermeister der Stadt Mannheim. 7 Zukunftsfähige Städte und Regionen Im Interview: Dr. Eva Ottendörfer, Leiterin des Morgenstadt-Netzwerks am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Veranstaltungen 12 BuGG-Städtedialog Gebäudegrün Dezentraler Erfahrungsaustausch zur Dach- und Fassadenbegrünung Gunter Mann 14 Wasserversorgung setzt auf Digitalisierung Corona-Krise als Treiber der digitalen Transformation Wolf Merkel PRAXIS + PROJEKTE Mobilität 16 Ökologisch und trotzdem wirtschaftlich Schweizerische Bundesbahnen setzen auf umweltschonende Unkrautvernichtung Urs Thönen Kommunikation 19 Krisenfeste Städte durch digitale Transformation Jarrett Campbell Ressourcen 22 Entwässerungskonzept in Herxheim mit Rigolensystem Regenwasser versickern mit rund 8 000 D-Raintanks im Neubaugebiet 24 Wasser - woher nehmen in Zeiten der Dürre? Wassermanagement für Parkanlagen und Sportrasenflächen: Sammlung und Bevorratung Klaus W. König Stadtraum 28 Ist dieser Dachgarten Luxus? Soho House Amsterdam mit Retentions-Gründach Heidrun Eckert 31 Regeneration ländlicher Regionen durch Natur- und Kulturerbe Intza Balenciaga Infrastruktur 34 Qualität braucht Wissensvorsprung Weiterbildungsformate der Gütegemeinschaft Leitungstiefbau (GLT) Seite 4 Seite 19 Seite 28 © Gundolf Frost - Best Blue Mode mbH © ZinCo Benelux B. V. © Ivan Bandura, unsplash FORUM Standpunkt Interview 3 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES INHALT 3 · 2020 36 Weniger Ortsverbundenheit? Weniger Gemeinschaft? Antje Flade 40 Climate Smart Cities Klimawandelanpassung durch Ko-Kreation in indischen Großstädten Marcus Jeutner 43 Stadtentwicklung digital gestalten Von Smart City und Smart Country zur Digitalen Stadt Andrea Jonas, Lars Porsche 50 Resonanzraum und Rohling „Stadt der kurzen Wege“ in der urbanen Peripherie zwischen Stadt und Land? Martin Spalek, Ute Meyer 55 Routing: personalisiert und nachhaltig Quantifizierung persönlichen Handelns und Denkens für nutzer- und umweltorientiertes Routing Rebecca Heckmann, Sören Kock, Lutz Gaspers 60 Neue Wege für ländliche Räume Erfahrungen aus dem europäischen Kooperationsprojekt „Peripheral Access“ Alexandra Beer, Paul Vieweg 64 Semi-intensive Dachbegrünung Ein innovatives Klimaanpassungs- und Umweltschutzinstrument Elke Hietel, Oleg Panferov, Ute Rößner, Klemens Seelos, Cornelia Lorenz-Haas, Ben Warnecke, Jan Wustmann 72 Wie „heimisch“ können Arten sein? Überlegungen zu einem fachlich wie politisch nicht leicht zu bewertenden Thema Sandra Sieber 77 Gebäudeintegrierte Farmwirtschaft Lösungen und Vorteile Nicole Pfoser 80 Vogelschutz in Großstädten Wie effektiv sind Vogelschutzgehölze? Indra Starke-Ottich, Fabian Schrauth, Andreas Malten, Thomas Gregor 84 Naturnah gärtnern - für Mensch, Tier und Klima Einblicke in die Kampagne zur Förderung naturnaher Gärten in Rheinstetten Annika Fricke, Helena Trenks, Somidh Saha PRODUKTE + LÖSUNGEN Stadtraum 87 Der eigene Dachgarten Multifunktionale Oase in der Stadt 88 Impressum Seite Seite 36 36 Seite 50 Seite 80 © F. Schrauth © Flade © Hannes Kutza Urbanes Land, durchgrünte Stadt THEMA 4 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Online nach Mannheim 9. Europäische Konferenz nachhaltiger Städte und Gemeinden Die Mehrheit der Weltbevölkerung lebt in Städten, wo 75 % der globalen CO 2 -Emissionen entstehen. Aus diesem Grund müssen lokale und regionale Entscheidungsträger ihre Schlüsselrolle für die Erreichung globaler Ziele wahrnehmen, während sie gleichzeitig ihren Bürgern ein Zuhause bieten. Doch die Verantwortung für kollektive Gesundheit und das Wohlbefinden liegt nicht nur auf lokaler Ebene, sondern bei Entscheidungsträgern auf allen Regierungsebenen, der Wirtschaft, der Forschung und nicht zuletzt bei den Bürgern. Systeme, Wertschöpfungsketten, Gewohnheiten, Prozesse und die Menschen selbst müssen sich verändern. Seit 25 Jahren fordert und fördert die Konferenzreihe der „Europäischen Konferenz nachhaltiger Städte und Gemeinden“ eine Beschleunigung des Handelns und des Wandels von unten nach oben, um letztlich die Ambition globaler Abkommen für Nachhaltigkeit und Klimawandel über den Status quo hinaus voranzutreiben und zu beschleunigen. Die diesjährige Konferenz in Mannheim betrachtet den EU Green Deal aus einer lokalen Perspektive, auch im Zusammenhang mit anderen Prozessen für integrierte Stadtplanung und -entwicklung wie der Leipzig Charta. Wolfgang Teubner ist der Regionaldirektor und Geschäftsführer des ICLEI Europasekretariats. Mit mehr als 25 Jahren beruflicher Erfahrung arbeitet er mit Kommunalverwaltungen in den Bereichen nachhaltige Stadtentwicklung, Anpassung an den Klimawandel und dessen Abmilderung, sowie Abfallwirtschaft und nachhaltige städtische Verkehrspolitik zusammen. Seit 1994 ist er an der Europäischen Plattform für nachhaltige Städte und Gemeinden (European Sustainable Cities and Towns Platform) beteiligt, in deren Rahmen er an der Ausarbeitung der Aalborg Charter und der Basque Declaration von 2016 mitgewirkt hat. Er war an mehr als 150 europäischen und internationalen Projekten beteiligt, darunter auch an mehreren Forschungsaktivitäten. WOLFGANG TEUBNER Herr Teubner, was steht im Fokus der 9. Europäischen Konferenz nachhaltiger Städte und Gemeinden? Im Programm der Konferenz geht es vor allem um Fragen des gesellschaftlichen Wandels hin zur Klimaneutralität und Ressourcenschonung, so dass die Entwicklung mittelfristig wieder im Einklang mit den Grenzen unseres Planeten stattfinden kann. Dies betrifft sowohl den Umbau der Infrastruktur, als auch eine Veränderung der sozialen und ökonomischen Systeme inklusive des täglichen Handelns. Dabei soll insbesondere das Spannungsfeld zwischen begrenzten globalen Ressourcen und dem vorherrschenden Paradigma eines unbegrenzten wirtschaftlichen Wachstums diskutiert werden, sowie die Frage, wie diese Ressourcen verteilt werden. In diesem Sinne möchte die Konferenz auch lokale und regionale Antworten auf den sich in der Diskussion befindenden europäischen „Green Deal“ formulieren. Städte haben großes Potenzial für den Wandel Europas. Welches sind die größten Herausforderungen? Zum einen ist das sicherlich der Umbau wesentlicher Infrastrukturen, wie zum Beispiel in der Energieversorgung, im Verkehr und der Mobilität, der Gebäude, aber auch der sogenannten grünen und blauen Infrastruktur. Die Tatsache, dass wir es in den meisten europäischen Städten mit einem hohen Anteil älterer, teilweise historischer Infrastruktur zu tun haben, erschwert diesen Umbau, im Vergleich zum Neubau eines klimaneutralen und verkehrsarmen grünen Stadtteils. Infrastrukturen sind auch Ausdruck von Lebens- und Verhaltenskulturen, die sich parallel verändern müssen. Hierbei die wesentlichen Interessenvertreter und die breite Bevölkerung mitzunehmen und gestalterisch einzubinden, Wolfgang Teubner, Regionaldirektor und Geschäftsführer des ICLEI Europasekretariats. © ICLEI 5 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Blick auf das Stadtfest am Mannheimer Wasserturm. © Gundolf Frost - Best Blue Mode GmbH Dr. Peter Kurz ist seit dem Jahr 2007 Oberbürgermeister der Stadt Mannheim. Er hat zahlreiche Funktionen in städtischen Niederlassungen und verschiedene Ehrenämter in europäischen und internationalen Gremien inne. Er war Oberbürgermeister für Bildung, Kultur, Sport und Stadtmarketing der Stadt Mannheim. Er studierte Rechtswissenschaften und absolvierte sein Referendariat in Mannheim, Speyer, Heidelberg und in San Diego, USA. Seine politische Karriere in der SPD begann bereits während des Studiums. Des Weiteren vertrat er den Deutschen Städtetag im Europäischen Ausschuss der Regionen (AdR). Auf europäischer Ebene ist Peter Kurz seit 2010 auch stellvertretendes Mitglied des Hauptausschusses der deutschen Sektion des Rates der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE). Die internationale Arbeit des RGRE setzt sich in den Vereinigten Städten und Gemeinden (UCLG) fort. Darüber hinaus hat Peter Kurz aktiv an der Gründung des Globalen Parlaments der Bürgermeister (GPM) im Jahr 2016 mitgewirkt und wurde 2019 zum Vorsitzenden ernannt. ist eine eigene große Herausforderung, die zum Erhalt der sozialen und gesellschaftlichen Stabilität gemeistert werden muss. Wie können Städte diesen „grünen Wandel“ finanzieren? Aufgrund der bereits bestehenden Verschuldung und der begrenzten Einnahmemöglichkeiten von Städten und Kommunen kann davon ausgegangen werden, dass Städte die Aufgabe nicht alleine schultern können. Sicherlich werden entsprechende Mittel von Bund und Ländern und, soweit möglich, auch der europäischen Ebene hier eine wichtige Rolle spielen. Für einen beschleunigten Wandel werden aber auch private Investitionen erforderlich sein. Hier kommt es darauf an, welche Geschäftsmodelle zum Tragen kommen, welche Kosten und Lasten entstehen und wie diese verteilt werden, so dass negative soziale Auswirkungen vermieden werden. Es wäre wichtig, innovative, gemeinwohlwirtschaftliche Ansätze zu stärken und in den Vordergrund zu rücken. Damit könnte bürgerschaftliches Engagement für Gemeinschaftsaufgaben auch auf der wirtschaftlichen Ebene gestärkt werden. Denken Sie, dass die Digitalisierung eine zentrale Rolle spielen wird bei der Entwicklung Europas zum ersten klimaneutralen Kontinent bis 2050? Es ist ja schon heute so, dass digitale Lösungen eine wichtige Rolle in vielen Bereichen spielen, wie etwa beim Umbau der Energieversorgung oder bei der Mobilität. Wichtig ist hier vor allem, dass sich Innovationen und Lösungen an den gesellschaftlichen Herausforderungen orientieren, also nachfrageorientiert sind und nicht versucht wird, möglicherweise kontraproduktive Produkte in den Markt zu drücken, wie das teilweise bei Smart City-Ansätzen der Fall war. Denn auch bei der Digitalisierung gilt es, die sozialen und gesellschaftlichen Auswirkungen im Blick zu behalten. Ein enger Austausch zwischen der öffentlichen Nachfrage und innovativen Unternehmen, auch bei der Beschaffung, kann helfen, digitale Lösungen zielgerecht zu entwickeln und einzusetzen. DR. PETER KURZ Dr. Peter Kurz, Oberbürgermeister der Stadt Mannheim. © Stadt Mannheim 6 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Herr Dr. Kurz, wie hat sich Mannheim in den letzten zehn Jahren verändert, um nachhaltiger und lebenswerter zu werden? Wir haben vor fast 12 Jahren einen Veränderungsprozess begonnen, um ein branchenübergreifendes Denken und eine wirkungs- und ergebnisorientierte Planung in der Mannheimer Verwaltung zu fördern und die Bürgerbeteiligung zu stärken. Durch den Ausbau unserer internationalen Arbeit haben wir globale Programme verabschiedet und an deren Eingrenzung gearbeitet. So entwickelten wir in einem 18-monatigen Beteiligungsprozess ein Leitbild „Mannheim 2030“, um die globale Agenda 2030 umfassend zu reflektieren und umzusetzen. Sieben Ziele und sieben Handlungsfelder bilden eine kohärente und nachhaltige Strategie für die Stadt. Wir haben verschiedene Interessengruppen eingeladen, Aktionspläne auf der Grundlage des Leitbildes zu beschreiben und umzusetzen, denn die Verwirklichung der SDGs erfordert eine grundlegende Veränderung unserer Wirtschaft und unseres Lebensstils, wir müssen alle Interessengruppen und Bürger einbeziehen. Wie lauten die Pläne für die nächsten zehn Jahre, um dem akuten Klimanotstand zu begegnen? 2019 haben wir einen Dringlichkeitsplan zur Bekämpfung des Klimawandels aufgestellt. Wir versuchen, den Fortschritt in den langfristigen Strategien für Mobilität, Energie, Immobilien, Stadtbegrünung, Klimaschutz und Verwaltung zu beschleunigen. Innerhalb der nächsten 12 Jahre werden wir unser hauptsächlich auf Kohle basierendes Fernwärmesystem auf erneuerbare Energien umstellen und wir werden weitere Stadtteile einbinden. Gegenwärtig sind 70 % der Gebäude an das Netz angeschlossen. Bis 2027 werden wir unser Straßenbahnsystem ausbauen und den Fuhrpark erneuern. Viele Projekte verbessern unsere Radverkehrsinfrastruktur. Durch Anreize und verschiedene Aktionen wird das Fahrrad als bevorzugtes Verkehrsmittel gefördert; dies ist besonders wichtig in einer Stadt, in der das Auto von Carl Benz 1886 erfunden wurde. Die öffentlichen Grünflächen werden innerhalb der nächsten drei Jahre um einen Quadratkilometer erweitert. Wie bindet die Stadt ihre Bürger in diese Prozesse ein, insbesondere die jüngere Generation? Die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger ist sehr vielseitig. Die Erstellung des Leitbildes selbst war ein Prozess unter Beteiligung hunderter Menschen und tausender Vorschläge unserer Bürgerinnen und Bürger. Viele Projekte sind per Definition Gemeinschaftsprojekte. Unsere Klimaschutzagentur richtet sich hauptsächlich an private Haushalte und entwickelt Kampagnen und Aktionen, die auf der Beteiligung von Schulen, Angestellten, Mitgliedern von Verbänden usw. beruhen. Aufklärungsprojekte über globalen, verantwortungsvollen Konsum sind der Schlüssel, um weitere Unterstützung für den Wandel zu erhalten. Warum haben Sie sich dafür entschieden, Gastgeber der 9. Europäischen Konferenz nachhaltiger Städte und Gemeinden zu werden? Die Stadt Mannheim ist überzeugt, dass Nachhaltigkeit einen umfassenden Wandlungsprozess erfordert, der nur erfolgreich sein wird, wenn die zwei folgenden grundlegenden Erkenntnisse berücksichtigt werden: 1. Globale Programme werden ohne die kommunale Ebene nicht funktionieren. Alle globalen Herausforderungen konzentrieren sich in den Städten und müssen auch dort bewältigt werden. Aber in vielen Ländern fehlen die Mittel und Kompetenzen, um angemessen auf diese notwendigen Maßnahmen zu reagieren. Sie werden auf Gemeindeverwaltungen in einem nationalen System reduziert. Es fehlen die Mittel, um die urbane Komplexität zu verwalten. Sie sind gefangen in den unkontrollierten Prozessen globaler Märkte und des Wettbewerbs sowie nationaler Vorschriften. Und vor allem haben nationale und internationale Regierungen kein Verständnis für die städtische Welt. Globale Verhandlungen und Verträge bleiben in den Händen nationaler Führung. Ein Wandel im Sinne der Nachhaltigkeit erfordert auch einen Wandel der Führungsstrukturen und eine Übertragung von Befugnissen auf die regionale und lokale Ebene. 2. Die SDGs sind voneinander abhängig, und das SDG 11 ist als übergreifendes Ziel von zentraler Bedeutung für deren Verwirklichung. Die 9. Europäischen Konferenz nachhaltiger Städte und Gemeinden ist eine günstige Gelegenheit, diese Ziele zu fördern und einen Schritt darin voranzukommen, Städte und Gemeinden zu unterstützen und direkt einzubeziehen, indem sie sich an die europäische Ebene und die europäischen Nationen wendet. Die Konferenz wird die Kompetenzen und das Know-how der ICLEI-Mitglieder besonders zur Geltung bringen. Sie wird eine inspirierende Veranstaltung sein und die Bewegung hin zu einer nachhaltigen Welt stärken. 7 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Das Netzwerk „Morgenstadt“ besteht seit 2011, also seit nunmehr neun Jahren. Wer gehört dazu, wer bringt welche Kompetenzen und Erfahrungen ein? Die Morgenstadt-Initiative wurde im Jahr 2011 vom Fraunhofer IAO initiiert und hatte ihren Kick-Off auf der Hannover Messe im April 2012. In den vergangenen acht Jahren haben insgesamt 13 Fraunhofer-Institute, 35 Städte und 42 Unternehmen dem Netzwerk der Morgenstadt-Initiative angehört. Dieser Zusammenschluss aus Forschungsinstituten, Städten und privatwirtschaftlichen Unternehmen ist absolut zentral für uns, denn so sind wir in der Lage, mit technischen und organisationalen Innovationen auf die Bedarfe von Städten zu reagieren und die Lösungen gleichzeitig marktfähig zu machen. Das heißt, die Städte bringen ihre Erfahrungen und Bedarfe ein bezüglich der Frage: Was wollen wir im Bereich Nachhaltigkeit erreichen und wo liegen die tatsächlichen Hürden für eine Umsetzung nachhaltiger Lösungen. Sowohl Unternehmen als auch die Forschungsinstitute können dann mit ihren Innovationen und Angeboten gezielt darauf reagieren. Welche Handlungsfelder werden im neuen Positionspapier der Morgenstadt-Initiative definiert? Unser Positionspapier zieht eine Bilanz des aktuellen Nachhaltigkeitsmarkts und der Förderlandschaft rund um Nachhaltigkeit in Deutschland. Unser Fazit ist, dass trotz einer starken Förderung des Themas, die breite Markteinführung bis heute nicht stattgefunden hat. Uns fehlen nicht die Lösungen, sondern die Mittel und die Strukturen, diese in die Breite zu tragen. Für Nachhaltigkeit im urbanen Kontext gilt, die beste Innovation wird nicht die gewünschte Wirkung erzielen, wenn es uns nicht gelingt, sie auf einen signifikanten Anteil von Städten in Deutschland zu skalieren. Um das zu ändern, haben wir fünf Handlungsfelder identifiziert, die zentral sind, um dies zu ändern. Zum einen geht es darum, neue Arten der Finanzierung für nachhaltige urbane Lösungen zu entwickeln, zum anderen braucht es eine bessere Informationsaufbereitung für alle Akteure, die an nachhaltiger Stadtentwicklung beteiligt sind, dazu gehören Informationen über bereits erprobte Lösungen, sowie über existierende Förderlinien und über Weiterbildungsangebote. Hinzu kommen der Aspekt der Qualitätssicherung bei nachhaltigen Lösungen, die Entwicklung von Weiterbildungsangeboten zu neuen Themen im Bereich Nachhaltigkeit sowie das Thema flächendeckende Digitalisierung. Diese Handlungsfelder setzen ein Engagement auf Bundesebene sowie in der Forschung, in Unternehmen und in jeder einzelnen Stadt voraus. Es geht also nicht um einen Aktionsplan, den sich die Morgenstadt hier selbst auferlegt, sondern um einen Aufruf zu einem konzertierten Ansatz, der von Akteuren auf allen Ebenen unterstützt und vorangetrieben wird, um nachhaltige Stadtentwicklung flächendeckend umzusetzen. In der Vergangenheit hat man vieles dem Markt überlassen - sollte sich das nicht für eine nachhaltige Stadtentwicklung nun ändern? Das muss sich tatsächlich ändern! Beziehungsweise unser Verständnis des Marktes muss sich ändern, denn klassische Modelle der Markteinführung helfen uns bei nachhaltigen Lösungen im urbanen Raum nicht weiter. Nachhaltige Lösungen sind meist komplexer, weil sie aus mehreren verschiedenen Komponenten bestehen, die potenziell Zukunftsfähige Städte und Regionen Städte zählen zu den größten CO 2 -Emittenten und spielen deshalb eine zentrale Rolle beim Kampf gegen die Erderwärmung. Um Kommunen in Deutschland zu befähigen, nachhaltige Stadtentwicklung und Digitalisierung schnellstmöglich umzusetzen, hat die Morgenstadt-Initiative der Fraunhofer-Gesellschaft ein Positionspapier verfasst. Ziel ist es, bestehende Lösungen aufzuarbeiten, für sämtliche Kommunen und Städte zugänglich sowie finanzierbar zu machen und neue Kapazitäten aufzubauen. Über die Eckpunkte des Papiers sprachen wir mit Dr. Eva Ottendörfer, Leiterin des Morgenstadt-Netzwerks am Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Dr. Eva Ottendörfer, Leiterin des Morgenstadt- Netzwerks, Team Urban Governance Innovation, Fraunhofer- Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, IAT Universität Stuttgart. © IAO 8 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview unterschiedliche Investoren auf den Plan rufen und an unterschiedliche Voraussetzungen in der Stadt angepasst werden müssen. Nehmen wir das Beispiel Mobilität in der Stadt: Hier agieren Anbieter von Car- und Bikesharing-Angeboten sowie von E-Rollern auf dem Markt, zusammen mit dem öffentlichen Nahverkehr und beispielsweise Anbietern von Sensoren für Parkleitsysteme. Nur wenn diese verschiedenen Lösungen miteinander agieren, können sie einen positiven Effekt auf das Verkehrsaufkommen und damit im Endeffekt auch auf die Luftqualität in der Stadt haben. Diese Gemengelage macht es sehr anspruchsvoll, Geschäftsmodelle zu entwickeln und die positiven Returns klar für eine Kundengruppe zu quantifizieren. Außerdem betreffen die positiven ökologischen Effekte nachhaltiger Lösungen die Allgemeinheit und können deshalb schlecht in ökonomische Vorteile für eine Kundengruppe übersetzt werden. Das Setzen von Anreizen durch finanzielle Förderung oder erweiterte Regulierung muss deshalb von Städten und auf Bundesebene weiter vorangetrieben werden. Wie kann Engagement von Städten hier aussehen? Gerade im Bereich der Finanzierung gibt es verschiedenste Möglichkeiten. Städten und Kommunen ist es beispielsweise möglich, Nachhaltigkeitskriterien in Ausschreibungen mit aufzunehmen und so Anreize für nachhaltigere Angebote zu setzen. Rentabilität wird folglich von der Stadt nicht mehr rein marktwirtschaftlich, sondern aus einer Klimaschutz-Perspektive gedacht. So können Ausschreibungen beispielsweise die gesamten Lebenszykluskosten einer Lösung und deren positive Umwelteffekte als Kriterien mit berücksichtigen. Möglich sind auch einfache Vorgaben, die die Auswahl nachhaltiger Lösungen begünstigen. Die Stadt Stuttgart hat zum Beispiel gerade erst die Vorgabe der Klimaneutralität sämtlicher städtischer Neubauten und Sanierungen erlassen. Bei Neubauten gilt das Ziel des Plusenergiestandards. Solche Entscheidungen sind wegweisend. Je mehr Städte sich anschließen, desto eher haben sie langfristigen Einfluss auf den Nachhaltigkeitsmarkt, weil die Entwicklung kostengünstigerer nachhaltiger Lösungen angeregt wird. Zudem gibt es die Möglichkeit, die Ausschreibungen mehrerer Städte zu bündeln. Gerade bei kleinen Städten und Kommunen bietet sich dies an, um damit eine Ausschreibung mit einem Umfang zu platzieren, der auch für Investoren in nachhaltige Lösungen interessant ist. Zudem lässt sich so ein Skaleneffekt erzielen, der die Kosten für die einzelne Kommune senkt. Diese Möglichkeiten müssen Städten aber erst vermittelt werden und genau dafür brauchen wir ein Weiterbildungsangebot, das auf die neuesten Entwicklungen und Themen im Bereich Nachhaltigkeit zugeschnitten ist. Für entsprechende Ansätze in der Finanzierung braucht es aber auch bessere finanzielle Unterstützung vom Bund, bei der alle Städte und Kommunen eine Chance auf Finanzierung haben. Sinnvoll wäre hier ein Fond, der Kreditlinien an Nachhaltigkeitskriterien knüpft. Hier gibt es zwar bereits einige Pilotprojekte wie der Smart City Fond der Belfius Bank und der European Investment Bank. Aber auch auf Bundesebene wäre solch ein Fond absolut zentral für die Finanzierung der nachhaltigen flächendeckenden Transformation in Deutschland. In Deutschland, aber auch auf EU-Ebene gibt es reichlich Förderprogramme. Sind die zahlreichen unterschiedlichen Fördertöpfe hilfreich? Rein monetär gesehen, sind tatsächlich viele Ressourcen für eine Förderung in diesem Bereich freigegeben. Was allerdings auffällt ist, dass diese Förderprogramme gewissen Trends folgen und es dadurch einerseits zu Dopplungen in bestimmten Bereichen kommt, während für andere Themen nur schwer Förderung gefunden werden kann. Nun, es lässt sich kaum etwas daran ändern, denn Förderprogramme spiegeln immer auch die Interessen ihrer Geldgeber wider. Hinzu kommt, dass die Förderung auf deutscher wie auf EU-Ebene noch immer stark dem Leuchtturmprinzip folgt. Dabei geht man davon aus, dass sich Lösungen, die in ausgewählten Städten pilotiert wurden, automatisch verbreiten. Ansätze, die auf das „In-die-Breite-tragen“ erprobter Lösungen abzielen, gibt es nach wie vor nur wenige. Allerdings besteht Hoffnung, dass die neue Förderlinie der Europäischen Union, Horizon Europe, die ab nächstem Jahr in Kraft treten soll, dies ändern wird. Welche Rolle spielt flächendeckende Digitalisierung? Eine flächendeckende Digitalisierung ist ein zentraler Baustein, um nachhaltige Lösungen in Städten und Kommunen umsetzen zu können. Vor allem urbane Datenplattformen, auf denen verschiedene Akteure Dienstleistungen anbieten und Lösungen umsetzen können, sind eine wichtige Grundlage für die nachhaltige Transformation von Städten. Durch die Sammlung und Auswertung von Daten können Dienste in einer Stadt verbessert werden, wie beispielsweise die Müllentsorgungsbetriebe, die durch Sensoren in den Containern wissen, welcher geleert werden muss, smarte Straßenlaternen, die Strom sparen, indem sie nur bei Bewegung ganz hell werden, oder die Verkehrsflusssteuerung in einer Stadt, die hilft, den Abgasausstoß zu verringern. 9 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Damit können digitale Services helfen, den CO 2 - Ausstoß zu verringern und Energie zu sparen. Hinzu kommt, dass durch die Digitalisierung der Stadtverwaltung Bürgerservices für zuhause angeboten werden können, was Ämter sowie Bürger*innen entlastet. Durch die in einer Stadt generierten Daten kann ihr Zustand, etwa im Bereich Luftqualität und Verkehrsaufkommen, überhaupt erst erhoben und bewertet werden. Digitalisierung ist deshalb auch eine wichtige Voraussetzung für die Identifizierung von Schwachstellen und die Definition von Prioritäten in der Stadtentwicklung sowie für die Entwicklung neuer Dienstleistungen und Angebote. Allerdings ist Digitalisierung um jeden Preis keine Option. Städte müssen hier sehr genau abwägen, welche Angebote für sie Sinn machen und welche Dienste tatsächlich Energie sparen und den CO 2 -Ausstoß verringern können. Denn bei all diesen Entwicklungen darf man nicht vergessen, dass auch der Betrieb solcher Datenplattformen, der entsprechenden Server und Sensoren in der Stadt, Energie verbraucht. Wie lässt sich die Vernetzung zur „Smart City“ für Kommunen sicher und finanzierbar zu gestalten? Momentan fehlt es vor allem an einem offenen, anbieterneutralen Angebot für Datenplattformen, das für sämtliche Städte finanzierbar ist. Datenplattformen werden bisher vor allem in den Großstädten Deutschlands eingerichtet. Hinzu kommt der Aspekt des Datenschutzes und der Datensouveränität. Städte müssen sichergehen können, dass sie über die Nutzung „ihrer“ Daten vollumfänglich bestimmen können, also wer die Daten nutzt, wie lange und zu welchen Bedingungen. Damit die Smart City nicht Gefahr läuft, zu einer Datenkrake zu werden, die beispielsweise sämtliche Bewegungsdaten ihrer Bürger speichert, müssen Datenplattformen die entsprechenden Konnektoren verwenden, die Datensouveränität garantieren und damit die Daten der Bürger*innen schützen. Wichtig ist zudem, dass all diese Entwicklungen auch von Personen in der Stadtverwaltung getragen und umgesetzt werden müssen. Es braucht deshalb die entsprechenden Aus- und Weiterbildungsangebote für die Städte. Lässt sich das Potenzial vieler guter Ideen und Projekte bündeln und allgemein nutzbar machen? Absolut, aber genau daran hapert es im Moment noch. Es existieren zahlreiche, bereits pilotierte Lösungen, aber es ist für Städte extrem schwierig, sich einen Überblick zu verschaffen und die Informationen zu erhalten, ob eine spezifische Lösung für sie in Frage kommt oder nicht. Dies wird uns von Städten immer wieder zurückgespielt, dass diese Art der Informationsaufbereitung bisher fehlt und genau hier setzen die adaptiven Lösungsstrukturen an, die wir in unserem Positionspapier vorstellen. Diesen Ansatz verfolgt die EU bereits seit einigen Jahren mit ihren sogenannten Packaged Solutions. Diese adaptiven Lösungsstrukturen bringen sämtliche Elemente eine Lösung zusammen, die eine Stadt kennen muss, um über darüber zu entscheiden, ob diese die erwarteten Effekte in ihrem spezifischen Setting haben kann. Sie umfassen deshalb die technischen Spezifikationen und Varianten einer Lösung sowie deren Kombinationsmöglichkeiten mit anderen Lösungen, Informationen über etwaige Datenschnittstellen und Datenmodelle, Modelle zur Berechnung des zu erwartenden Nutzens bezüglich Nachhaltigkeit, Kosten-, Betriebs- und Finanzierungsmodellen, die rechtlichen Rahmenbedingungen, Möglichkeiten der Anpassung an den spezifischen Kontext einer Stadt sowie Erfahrungen aus anderen Kontexten, in denen die Lösung bereits umgesetzt wurde. Daraus entsteht eine Art Handbuch, welches permanent aktualisiert werden muss und sämtlichen Akteuren der nachhaltigen Stadtentwicklung zugänglich ist. Dazu gehören Planer*innen, Ingenieurbüros, Investor*innen, jene Unternehmen, die konkrete Lösungen anbieten, sowie die Zuständigen in den verschiedenen Ressorts der Städte, aber auch zivilgesellschaftliche Initiativen. Diese adaptiven Lösungsstrukturen können beispielsweise auch helfen, Ausschreibungen zu bündeln, indem sich Städte über die Handbücher auf die Ausgestaltung einer bestimmten Lösung einigen können. Wie wichtig ist ein interdisziplinärer und sektorenübergreifender Ansatz für das Gelingen urbaner Transformation? Beides ist unabdingbar. Wenn man die einzelnen Sektoren isoliert betrachtet, geraten die Dynamiken, die zwischen diesen existieren, aus der Perspektive. Diese können aber ausschlaggebend für den Erfolg einer Initiative sein, beziehungsweise diesen eben durchaus auch verhindern. Nachhaltigkeit muss ganzheitlich, und damit auch sektorenübergreifend, gedacht werden, da in einer Stadt die ökonomischen, sozialen und ökologischen Faktoren extrem eng miteinander verschränkt sind. Deshalb wenden wir in der Morgenstadt Initiative eine systemische Perspektive an, die es uns ermöglicht, die Wechselwirkungen zwischen Technologien, Akteuren, Strukturen und Prozessen auf unterschiedlichsten Ebenen zu analysieren. Eine solche Perspektive ist per se interdisziplinär. Dies spiegelt auch die Bandbreite an Expertise wider, die das Morgenstadt-Netzwerk in seiner Forschungsleistung vereint. 10 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Was können Reallabore dazu beitragen, innovative Ansätze alltagstauglich zu machen. Reallabore ermöglichen die konkrete Erprobung von Technologien beziehungsweise Innovationen in einer realen Situation und lassen deshalb zentrale Schlüsse über deren Replizierbarkeit zu. In Reallaboren kann Neues entwickelt und dessen Akzeptanz durch Nutzer*innen direkt überprüft werden. Darüber hinaus bieten sie gerade für Nutzer*innen die Möglichkeit ihre Erfahrungen direkt zu teilen und sich damit aktiv an der Weiterentwicklung einer Lösung zu beteiligen. Zudem lässt sich das Zusammenspiel verschiedener Lösungen in Reallaboren besonders gut erproben und feinjustieren. Sie sind deshalb ein wichtiger Baustein im Prozess hin zur breiten Umsetzung nachhaltiger Lösungen und die beste Grundlage, ihren Nutzen aus einer systemischen Perspektive zu bewerten. Lassen sich erfolgreiche Lösungen einfach von einer Stadt auf eine andere übertragen? Nein, das ist leider nicht der Fall, denn es würde vieles einfacher machen. Aber nur selten sind sich Städte in ihren Strukturen und Rahmenbedingungen so ähnlich, dass solch eine Übertragung eins zu eins stattfinden kann. Städten stellen extrem komplexe Systeme dar, in denen verschiedenste Strukturen, Akteure und Rahmenbedingungen aufeinander treffen. Allein schon die Akzeptanz einer bestimmten Lösung durch Nutzer*innen kann in Städten mit sehr ähnlichen Rahmenbedingungen, was etwa die Lage, Größe und Wirtschaftsleistung angeht, aufgrund historischer Erfahrungen und einer bestimmten politischen Kultur sehr unterschiedlich ausfallen. Aus diesem Grund verfügen die Projekte der Europäischen Union auch über die Struktur, die Pilotierung von Lösungen in Leuchtturmstädten zu ermöglichen, während die so genannten Fellow Cities diese Lösungen dann replizieren sollen. Aber auch an diesem System gibt es Zweifel, denn diese Replizierung stellt eine Verallgemeinerbarkeit der Erkenntnisse auch nur zu einem gewissen Grad sicher. Deshalb ist es umso wichtiger, Berechnungsmodelle über die Effekte von Lösungen unter bestimmten Bedingungen und Erfahrungen aus anderen Replizierungskontexten für Städte bereitzustellen. Für den Informationsaustausch und Wissenstransfer in Kommunen ist eine Agentur angedacht. Welche Aufgaben soll diese übernehmen? Unser Vorschlag einer Agentur für nachhaltige Stadtentwicklung zielt vor allem auf die umfassende Sammlung und Zugänglichmachung von Informationen - über Lösungen, über Förderlinien, über Weiterbildungangebote - und einen konsistenten internationalen Wissenstransfer ab. Eine Hauptaufgabe ist dabei die Erstellung und permanente Aktualisierung von adaptiven Lösungsstrukturen sowie das Zugänglichmachen für alle Akteure der Stadtentwicklung. Damit würde die Agentur genau jene Schwachstellen der aktuellen Förderlandschaft und des aktuellen Nachhaltigkeitsmarktes in Deutschland abfedern: deren Unübersichtlichkeit. Neben Informationen über Förderlinien könnten zudem Informationen über Finanzierungsmodelle bereitgestellt werden und die Bündelung von Bedarfen für eine gemeinsame Ausschreibung unterstützt werden. Es soll dabei in keiner Weise darum gehen, weitere Doppelstrukturen zu schaffen, sondern alle Kommunen Deutschlands und alle Akteure, die im Bereich nachhaltige Stadtentwicklung aktiv sind, mit dem notwendigen Überblick zu versorgen. Neben dieser Aufgabe, könnte die Agentur weitere Lücken des Nachhaltigkeitsmarktes schließen und zwar einmal bezüglich der Identifizierung neuer Themen für Weiterbildungsangebote und andererseits was die Qualitätssicherung nachhaltiger Lösungen angeht. Hier herrscht momentan bei Städten große Unsicherheit. Im Bereich Smart City bezieht sich dies auf die Interoperabilität von Komponenten und Applikationen. In anderen Sektoren hingegen geht es um Materialprüfung, aber auch beispielsweise um CO 2 -neutrale Produktion. Für Städte und Regionen soll ein Datenkompetenzzentrum entstehen - mit welchen Angeboten? Über das Fraunhofer AHEAD Programm befindet sich ein Team von Fraunhofer Experten gemeinsam mit Partnerunternehmen der Morgenstadt Initiative im Prozess der Entwicklung eines Datenkompetenzzentrums für Städte und Regionen (DKSR). Es ist geplant, bereits diesen Herbst damit am Markt zu sein. Das DKSR wird eine Open Source Urbane Datenplattform zur Steuerung digitaler Prozesse und Dienste in Städten und Regionen anbieten. Diese Plattform wird neuesten Standards entsprechen, mit allen gängigen digitalen Schnittstellen kompatibel sein und maximale Sicherheit für kommunale Daten gewähren. Sie baut auf einer bestehenden und in 40 Städten erprobten Lösung auf. Das DKSR unterstützt Städte und Kommunen bei der Einrichtung und betreibt - auf Wunsch - die Plattform für Städte und Regionen. Dazu gehören zahlreiche vor- und nachgelagerte Unterstützungsangebote - wie zum Beispiel ein Datenmapping über alle Fachbereiche, die standardisierte Bereitstellung existierender Daten über die Plattform in einem einheitlichen Metadatenvokabular, die Anbindung von 11 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Applikationen und externen Datenquellen, die Beratung und Begleitung von Kommunen beim Thema Data Governance, die Zusammenarbeit mit einem großen Ökosystem an Anbietern digitaler Applikationen und Services (zum Beispiel: Ampelsteuerung, Luftqualitätsmonitoring, etc.) sowie die Steuerung und das Management des Datenaustauschs mit Dritten nach Maximen der hoheitlichen Aufgaben der Kommune. Dabei ist ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal das Thema Datensouveränität. Über den Standard des Fraunhofer International Data Space wird die DKSR Plattform Städte und Regionen in die Lage versetzen, echte Datensouveränität herzustellen. Die Dateneigentümer sind in der Lage, Datensätze so mit Nutzungskonditionen zu versehen, dass Datennutzer und Applikationen sich zwingend an diese Vorgaben halten müssen. Die DKSR Plattform ist damit das einzige Angebot an Kommunen, welches bereits die zukünftige Europäische Cloud Infrastruktur GAIA-X vorwegnimmt und sie anwendbar macht. Welchen Stellenwert hat schlussendlich die Kommunikation mit der Öffentlichkeit über kommunale Klimaschutzziele für den gesellschaftlichen Konsens? Nun, dies ist ein Thema, das über unser Positionspapier hinausgeht. Aber auch hier herrscht eindeutig Handlungsbedarf. Die Kommunikation mit der Öffentlichkeit findet glücklicherweise immer mehr Aufmerksamkeit; und nicht nur das: auch die Beteiligung der Bevölkerung an Entscheidungen über Projekte sowie die Sammlung und Diskussion von Vorschlägen aus der Bevölkerung greifen mittlerweile glücklicherweise immer mehr um sich. Es hat sich in den vergangenen Jahren gezeigt: Kommunizieren, also die Bereitstellung von Informationen allein, reicht nicht, um Akzeptanz für Projekte und die damit einhergehenden Veränderungen zu erreichen. Eine aktive Auseinandersetzung mit Ansprüchen aus der Bevölkerung ist bereits im Vorfeld wichtig und kann dazu beitragen, eventuelle Klagen und damit die Verschleppung und Verteuerung von Projekten zu verhindern. Aber solche Prozesse sind aufwändig, sie brauchen Zeit, Aufmerksamkeit und Personal, damit sie von der Bevölkerung als legitim anerkannt werden. Beteiligung macht die Dinge also keineswegs einfacher, aber wenn sie gut gemacht ist, macht sie Entscheidungen gerechter und kann auch bislang nicht sensibilisierte Menschen für das Thema Nachhaltigkeit interessieren. 2. Dezember 2020, Hotel Adlon Berlin Bundeskongress Öffentliche Infrastruktur 2020 Heimat - vernetzt, sozial, modern 12 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen Städtedialog Gebäudegrün. Best Practice zur Dach- und Fassadenbegrünung Der Kern des modellhaften und lösungsorientierten Projektes besteht darin, einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch und Dialog von Städten einzuführen und zu einer stetigen Einrichtung werden zu lassen. Informationen im Internet, in Newslettern und Veranstaltungsreihen ergänzen dies. Zielsetzung des Projekts ist, die Gebäudebegrünung in den Städten als eine der am besten geeigneten Maßnahmen gegen den Klimawandel und dessen Folgen zu fördern. Zielgruppe sind ausschließlich Städtevertreter*innen aus verschiedenen Abteilungen, die mit Dach- und Fassadenbegrünungen zu tun haben. Die methodische Vorgehensweise ist, eine modulartig aufgebaute Veranstaltungsreihe (Städtedialoge) in sechs ausgewählten Regionen durchzuführen. Die Veranstaltungsorte sind so gewählt, dass sie durch ihre gute Erreichbarkeit große Einzugsgebiete haben und somit Gesamt-Deutschland nahezu komplett abgedeckt werden kann. In den folgenden Städten bzw. Regionen sollen die Workshops stattfinden: Düsseldorf | Frankfurt am Main | Hannover | Leipzig | München | Stuttgart Während der Projektlaufzeit sind in den ausgewählten sechs Städten jeweils vier Workshop-Module mit verschiedenen Themenschwerpunkten vorgesehen. Die Projektlaufzeit und damit der Förderzeitraum war ursprünglich auf 30 Monate ausgelegt. Doch wegen der Corona-Pandemie wurde das Projektende um ein paar Monate verschoben, so dass nun im April 2023 Schluss sein soll. Damit hat der BuGG die Möglichkeit, die Workshop-Reihe Anfang nächsten Jahres und nicht schon im „unsicheren“ Herbst dieses Jahres zu starten. Folgender Ablauf- und Zeitplan ist vorgesehen: März 2021: Modul 1 „Planungsgrundlagen der Dach- und Fassadenbegrünung und direkte Förderung“ - KW 10 Frankfurt, Düsseldorf - KW 11 Hannover, Leipzig - KW 12 München, Stuttgart 1. Weltkongress Gebäudegrün in Berlin: 28. - 30.09.2021. Erfahrungsaustausch mit Städtevertretern aus der ganzen Welt. März 2022: Modul 2 „Indirekte Förderung (Gesplittete Abwassersatzung, Bebauungspläne)“ - KW 10 Frankfurt, Düsseldorf - KW 11 Hannover, Leipzig - KW 12 München, Stuttgart 2. September/ Oktober 2022: Modul 3 „Bestandserfassung, Potenzialanalyse, Erfolgskontrollen“ - KW 39 Frankfurt, Düsseldorf - KW 40 Hannover, Leipzig - KW 41 München, Stuttgart 3. März 2023 (KW 10): Modul 4 „Abschlussveranstaltung“ in Berlin. Zusammenfassende Präsentation der Projektergebnisse und Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern. Themen des Städtedialogs Die Veranstaltungen sind charakterisiert durch eine Mischung aus Theorie und Praxis, Frontalvorträgen und Workshops zur direkten und indirekten Förderung von Dach- und Fassadenbegrünungen. Sie sollen gleichermaßen breites Fachwissen vermitteln, aber auch Raum für die Diskussion von Bedenken und Problemen lassen und um offene Fragen zu beantworten. Unter anderem werden auch Themen wie „Pflege und Wartung“, „Photovoltaik versus BuGG-Städtedialog Gebäudegrün Dezentraler Erfahrungsaustausch zur Dach- und Fassadenbegrünung Der Bundesverband GebäudeGrün e.V. (BuGG) hat schon länger darauf hingewirkt, nun ist es soweit - das von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) geförderte Projekt „Städtedialog Gebäudegrün“ läuft, wenn auch situationsbedingt etwas verzögert, an. Zur Bedarfsermittlung wurde im Herbst 2019 in Berlin ein erster 2-tägiger BuGG-Städtedialog Gebäudegrün durchgeführt, der mit fast 30 Teilnehmenden sehr guten Anklang gefunden hat. Die Erkenntnisse daraus fließen in das nun gestartete Förderprojekt ein. Förderung durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU) Bild 1: Der Städtedialog Gebäudegrün findet dezentral in sechs Städten statt. Der Erfahrungsaustausch steht dabei an erster Stelle. © BuGG, S. Herfort 13 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen Dachbegrünung“, „Abnahme und Kontrolle“ behandelt. Teil des Veranstaltungsprogramms sollen auch Objektbesichtigungen von Dach- und Fassadenbegrünungen sein. Der Städtedialog soll zudem in der zweiten Phase des Projekts erstmalig über Ländergrenzen hinweg erfolgen und ausgewählte Städte europäischer Länder integrieren, um auch von deren Erfahrungen und Best-Practice-Beispielen zu profitieren. Auch der für den September 2021 geplante Weltkongress Gebäudegrün in Berlin wird im Seminarkonzept berücksichtigt. Bei dem Projekt werden bewusst „erfahrene“ und „unerfahrene“ bzw. kleinere und größere Städte zusammengebracht. Es sollen „Patenschaftenbzw. Partnerschaften“ initiiert und unterstützt werden. Der Bundesverband GebäudeGrün- e. V. (BuGG) steht nicht nur während, sondern auch nach Projektende als Ansprechpartner, Koordinator und Dienstleister zur Verfügung. Zusammengefasst stehen beim BuGG-Städtedialog Gebäudegrün folgende Punkte im Vordergrund: Mischung aus Theorie und Praxis, Frontalvorträge und Workshops. Vermittlung von Grundlagen zur Dach- und Fassadenbegrünung. Erarbeiten von Argumentationshilfen „Pro Dach- und Fassadenbegrünung“. Themenschwerpunkte: Regenwasserbewirtschaftung, Solar-Gründächer, Biodiversitätsgründächer sowie Pflege und Wartung. Zusammenstellung der gesetzliche Rahmenbedingungen, aktueller Richtlinien und Normen. Vorstellung von Gründach-Inventarisierung und Potenzialanalysen (BuGG-Gründach-Bundesliga“). Vorstellung und Diskussion unterschiedlicher Förderbausteine. Zusammenstellung von Best-Practice-Beispielen. Diskussion offener Fragen, Bedenken und Probleme zur Dach- und Fassadenbegrünung. Förderung der Kommunikation zwischen kleinen und großen bzw. erfahrenen und unerfahrenen Städten. Entwicklung von Städte-Partnerschaften. Eventuell und je nach Zeit und Interesse sind Exkursionen zu ausgewählten Dach- und Fassadenbegrünungen angedacht. Internetplattform „Städtedialog Gebäudegrün“ Da die eintägigen Workshops nicht ausreichen, um alle Themen erschöpfend zu behandeln und um den Teilnehmenden und allen anderen Städten Zugang zu den Ergebnissen zu ermöglichen, sind extra Unterseiten zum Thema Städtedialog auf der Internetseite www.gebaeudegruen.info vorgesehen mit folgenden Inhalten: Präsentation der Ergebnisse der Veranstaltungsreihe. Übersicht über kommunale Förderprogramme. Übersicht über Städte mit Gründachpotenzialkataster. Faktensammlung Pro Dach- und Fassadenbegrünung. Referenzen zu Best-Practice-Beispielen der Dach- und Fassadenbegrünung. Mustertexte, Arbeitshilfen, Bildmaterial. Blog mit Kommentarfunktion für Städte. E-Mail-Newsletter für Städtevertreter*innen. Flankierende Maßnahmen Darüber hinaus wird es zusätzlich Maßnahmen geben, um die Ergebnisse zu publizieren und weitere Akteure zum Erfahrungsaustausch zu gewinnen: Aktualisierung des bestehenden Leitfadens „Dachbegrünung für Kommunen“ mit den gewonnenen Erkenntnissen aus der Veranstaltungsreihe Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des BuGG in Print- und Online-Medien (unter anderem im Verbandsorgan „GebäudeGrün“) Einarbeitung der Ergebnisse des Städtedialogs in die Veranstaltungsreihen „BuGG-Gründach- Forum“, „BuGG-Fassadengrün-Forum“ Ermittlung der Problemfelder in der Akzeptanz und Durchführbarkeit der Dach- und Fassadenbegrünung über eine bundesweite Abfrage aller Städte über 50 000 Einwohner Fazit Der BuGG-Städtedialog Gebäudegrün soll als Plattform für Städte eingeführt und etabliert werden, es sollen Erfahrungen zur direkten und indirekten Förderung von Dach- und Fassadenbegrünungen ausgetauscht und Best-Practice-Beispiele erarbeitet werden. Die Veranstaltungen richten sich an Vertretende aller deutscher Städte. Weitere Informationen und Anmeldungen sind möglich unter: www.gebaeudegruen.info Dr. Gunter Mann Präsident Bundesverband GebäudeGrün e. V. (BuGG) Kontakt: gunter.mann@bugg.de AUTOR 14 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Standpunkt Wasserversorgung setzt auf Digitalisierung Chancen nutzen: Corona-Krise wirkt als Treiber der digitalen Transformation Wolf Merkel Die Digitalisierung ist längst im Alltag der allermeisten Menschen angekommen - und hat mitunter Ausprägungen angenommen, die bis vor Kurzem kaum vorstellbar schienen. Einige Beispiele: Pendler planen ihren Arbeitsweg auf der Basis minutenaktueller Stauprognosen, die Ticketkontrolle im Zug wird durch „Selbst-Check-in“ ersetzt, und die Auslesung von Funkwasserzählern kann im Vorbeifahren ohne Hausbesuche erledigt werden. Smart Home-Anwendungen steuern Sonnenrollos, Heizungen und Klimageräte; Roboter erledigen lästige Arbeiten wie Staubsaugen und Rasenmähen. Und - bezogen auf die aktuelle Corona- Krise - eine App unterstützt mit der digitalen Kontaktverfolgung die Eindämmung der Pandemie. Digitale Transformation macht das moderne, mobile Leben gerade in Städten in vieler Hinsicht komfortabler und sicherer. Für Unternehmen der Energie- und Wasserversorgung bietet sie zudem enorme Chancen zur effizienteren Gestaltung von Prozessen, beispielsweise im Bereich der Netzsteuerung, des Netzbetriebs oder des technischen Anlagenmanagements. Auch für die Versorgung mit Trinkwasser ist die Digitalisierung von zunehmender Bedeutung. Ferngesteuerte Wasserwerke, digitale Wasserzähler oder dreidimensionale Leitungsscans: In vielen Bereichen der Trinkwasserversorgung helfen digitale Anwendungen und Techniken, Arbeitsprozesse zu optimieren und die betriebliche Effizienz zu steigern. Gerade auch in diesen Zeiten mit den besonderen Herausforderungen durch Corona haben es digitale Prozesse überhaupt erst ermöglicht, die sichere Versorgung mit Energie und Wasser aufrecht zu erhalten. Dadurch hat die Digitalisierung einen mächtigen Schub erfahren. Manche, darunter auch kleinere Versorger, konnten im Eiltempo den Grad ihrer Digitalisierung steigern. Es galt zum Beispiel, Teams räumlich voneinander zu trennen, um die Versorgung der Menschen auch unter besonderen Umständen sicher zu stellen. Oder auch, Mobile-Offices in Fahrzeugen einzurichten, um beispielsweise die Dr. Wolf Merkel, seit Februar 2020 Vorstand Ressort Wasser des DVGW. © DVGW Digitalisierung bei der Wasserversorgung. © DVGW 15 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES FORUM Standpunkt Baustellen zu koordinieren und zu überwachen. Geografische Informations-Systeme, Instandhaltungsdatenbanken für Netzteile und Komponenten sind bewährte Beispiele der digitalen betrieblichen Realität. Klar ist: Ohne die Möglichkeit des kontaktlosen, dezentralen und mobilen Arbeitens gäbe es in diesen Zeiten nicht die hohe Prozess-Sicherheit, die in kritischen Infrastrukturen wie die der Versorgungswirtschaft unabdingbar ist. Auch wenn die Einschränkungen in Zusammenhang mit Corona eines Tages überwunden sein werden, werden Versorgungsunternehmen weiter daran arbeiten, die Vielzahl ihrer Prozesse - von der Gewinnung und Aufbereitung des Trinkwassers über Transport, Verteilung und Speicherung des Wassers ebenso wie Kundenservices, Qualitätsüberwachung und Administration - digital auszurichten. Dazu stehen ihnen Schlüsseltechniken wie Qualitätssensoren, Modellierungen, Cloud-Computing oder Künstliche Intelligenz zur Verfügung. Durch deren Zusammenwirken wird die Grundlage für die Konstruktion und die Anwendung digitaler Technologien und damit der digitalen Transformation geschaffen. Wir werden sie benötigen - zur Bewältigung des Klimawandels, des demografischen Wandels, der Nitratverschmutzung - also der wichtigen Zukunftsaufgaben, deren Lösung auch dann drängt, wenn Corona längst Geschichte ist. Im Zusammenhang mit der Anwendung digitaler Technologien treten oftmals Fragen auf: Gibt es für die Digitalisierung in der Trinkwasserversorgung spezifische Rahmenbedingungen? Was ist zu berücksichtigen, wenn ich mein Unternehmen stärker digitalisieren möchte? Oder auch: Welche Erwartungen bzgl. Digitalisierung stellen die Kunden an ihren Wasserversorger? Antworten darauf gibt ein neues Online- Informationsangebot auf www.dvgw.de/ digitalisierung-wasserversorgung. Dort wird zudem eine Auswahl heute bereits vorhandener und zum Teil etablierter Nutzungsmöglichkeiten der Digitalisierung in der Wasserwirtschaft vorgestellt, zum Beispiel Building Information Modeling, Trinkwasserprognosen oder Augmented Reality. Die Webapplikation „Reifegradcheck Wasser 4.0“ unterstützt Wasserversorger dabei, Erkenntnisse über den digitalen Entwicklungsstand ihres Unternehmens zu gewinnen und zu bewerten. Dabei werden nicht nur technologische Merkmale der Digitalisierung betrachtet, sondern auch Anforderungen an Organisation und Unternehmenskultur. Auf Basis der Auswertungen kann eine zielführende individuelle Digitalisierungsstrategie entwickelt werden. Das Tool steht unter www.reifegradcheck-wasser.de allen Trinkwasserversorgern zur Verfügung. Lizenzen können über diese Website beim IWW angefordert werden. Der stetigen Entwicklung der Digitalisierung in der Energie- und Wasserwirtschaft widmet sich auch die Kongress-Tochtergesellschaft des DVGW mit einer Online-Veranstaltungsreihe. Die Zweite Praxiswerkstatt Digitalisierung behandelt vom 16. bis 18.- September 2020 in vier Online-Modulen die Themen intelligente Netzsteuerung, Betriebsoptimierung von Wassersystemen, Technisches Anlagenmanagement, Predictive Maintenance und Smart City. Fachvorträge und innovative Projektpitches geben den Rahmen für die virtuellen Themen-Tische, an denen die Diskussion zu Anwendbarkeit, Erfahrungen und Herausforderungen von Digitalisierung in der Praxis der Energie- und Wasserwirtschaft vertieft wird - ganz nach dem Motto „von Vorreitern der Branche lernen“. Zielgruppen der Online-Veranstaltung sind Geschäftsführer und Leiter der Bereiche IT, Innovation, Unternehmensentwicklung, Netze, Betrieb und Asset Management von Versorgungsunternehmen, Stadtwerken und Netzbetreibern sowie aus den Branchen Armaturen, Messtechnik, Leitungs- und Tiefbau, IT-Dienstleistung und Beratung. Die digitale Umsetzung der Praxiswerkstatt in einer eigens für Online-Formate programmierten virtuellen Plattform der DVGW Kongress GmbH bietet Raum, Erfahrungen zu teilen, Strategien zu schärfen und mit neuen Playern der Branche in Kontakt zu treten. Weitere Informationen: https: / / dvgw-kongress.digital/ digitalisierung DVGW unterstützt Branchenunternehmen mit Informationsangeboten und IT-Tool CaviLine - der Sickertunnel aus Beton + Ideal zur Kombination mit einer Regenwasserbehandlung + Preiswerte Lösung für Versickerungsanlagen + Hohe Stabilität - befahrbar bis SLW 60 + Schnelle Montage bei flacher Bauweise + Gesamte Anlage zugänglich nach DGUV Regel 103-003 + Beton ist ökologisch, robust und langlebig Mall-Neuheit 2020 Literatur-Tipp pp 1 I Ratgeber Regenwasser 2018 Ökologie aktuell Rückhalten, Nutzen, Versickern und Behandeln von Regenwasser Mall GmbH Ratgeber für Kommunen und Planungsbüros Ratgeber Regenwasser 8. Auflage · 2020 www.mall.info 36 Seiten, DIN A4 8. Auflage 2020 Preis € 15,00 inkl. MwSt zzgl. Versandkosten ISBN 978-3-9803502-2-8 16 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Als staatliche Eisenbahngesellschaft der Schweiz ist die Schweizerische Bundesbahnen AG - kurz SBB - bereits fast 120 Jahre alt. Am 1. Januar 1902 gegründet, hat die Aktiengesellschaft des öffentlichen Rechts, deren Aktien sich komplett im Eigentum der Schweizerischen Eidgenossenschaft befinden, ihren Hauptsitz in Bern. Auf ihrem Netz und in den 798- Bahnhöfen beförderte die SBB 2019 täglich 1,32 Mio. Reisende sowie 200 000 t Güter. Dabei erzielten die über 32 500 Mitarbeiter bei einem Umsatz von etwa 9,9 Mrd. Franken einen Gewinn von 463 Mio. Franken. Seit 2009 richtet sich die Eisenbahngesellschaft an neun Konzernzielen aus. Diese fokussieren auf Sicherheit, Pünktlichkeit und Kundenzufriedenheit, umfassen aber auch Nachhaltigkeit. Deshalb fährt die SBB mit Strom, der zu 90- % aus Wasserkraft erzeugt wird. Der Großteil dieser Energie stammt aus Wasserkraftwerken, die dem Konzern gehören oder an welchen er beteiligt ist. Im Vergleich zum Jahr 2010 hat die SBB so 2019 rund 66 000- t- CO 2 und etwa 400- GWh Energie eingespart. Das entspricht dem Stromverbrauch von circa 100 000 Schweizer Haushalten. Um einen wesentlichen Beitrag zur Erreichung der Klimaschutzziele zu leisten, will der Konzern bis 2030 sogar klimaneutral sein. Gesucht werden ökologische Alternativen zu Herbiziden Nachhaltigkeit umfasst ebenfalls die Bewahrung der Pflanzen- und Tierwelt. Vor diesem Hintergrund bewirtschaftet die SBB rechts und links des Schienennetzes einen rund 3 000 km langen „grünen Korridor“ mit Bahnborden, Waldrändern und Schutzwäldern. Aufgrund einer speziellen Pflege werden so wertvolle Lebensräume für viele zum Teil bedrohte Tier- und Pflanzenarten geschaffen, was zum Erhalt der Biodiversität der Schweiz beiträgt. Doch nicht sämtliche Pflanzen sind überall wünschenswert. Daher muss das Gleisbett regelmäßig von Unkraut befreit werden, das hier ein Sicherheitsrisiko darstellt. Wurzeln oder abgestorbene Pflanzenteile könnten die Hohlräume im Schotterbett verstopfen. Die angesammelte Feuchtigkeit lässt dann Holzschwellen faulen, kann elektrische Signalanlagen beeinflussen und führt im Winter zu Frostaufbrüchen und Gleisaufhebungen. Zudem besteht die Gefahr, dass höhere Pflanzen Signale verdecken und Blätter oder Stängel auf den Schienen einen Schmierfilm erzeugen, der den Bremsweg der Züge verlängert. Deshalb kontrolliert die SBB die Vegetation auf ihren 7 600- Gleiskilometern ständig und greift regulierend ein. Zur Vernichtung des Unkrauts wird unter anderem das Herbizid Ökologisch und trotzdem wirtschaftlich Schweizerische Bundesbahnen setzen auf umweltschonende Unkrautvernichtung Urs Thönen Was verbindet PLCnext Technology und Natur? Bei beiden handelt es sich um ein Ökosystem, wobei die automatisierungstechnische Lösung von Phoenix Contact die Schweizerische Bundesbahnen AG unterstützt, das im Gleisbett wachsende Unkraut umweltschonend zu vernichten und gleichzeitig Kosten und Zeit zu sparen. © Oleg Totskyi@ Shutterstock.com 17 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Glyphosat eingesetzt, das die Mitarbeiter zu Fuß per Hand auf das Unkraut spritzen, wobei die Düsen nahe am Boden gehalten werden, damit keine Abdrift auftritt. Da Glyphosat laut Weltgesundheitsorganisation als „wahrscheinlich krebserregend“ gilt, hat die SBB bereits 2018 ein Programm zur Erarbeitung ökologischer Alternativen lanciert. Seitdem sind verschiedene Lösungen zur Vegetationskontrolle getestet worden, zum Beispiel Heißwasserspritzfahrzeuge. Zu den einzelnen Verfahren wird eine Ökobilanz erstellt und für die Umweltverträglichkeit gesorgt. Bis 2025 will die SBB ganz auf die Nutzung von Glyphosat verzichten (Bild 1). Millisekundengenaue Öffnung der Heißwasserventile Mit dem Heißwasserspritzfahrzeug werden seit Mitte 2019 Testfahrten durchgeführt. Dazu sind vorne an einem direkt hinter der Lok befindlichen Waggon Sensorsysteme installiert. Erkennen diese Unkraut, geben sie dessen Position und Größe an eine PLCnext-Steuerung AXC F 2152 von Phoenix Contact weiter, der auch die Fahrgeschwindigkeit des Zugs bekannt ist. Die SPS muss nun die Ventile der Heißwasserwaggons punktgenau öffnen. Das mit Durchlauferhitzern auf 95 °C aufgeheizte Wasser wird anschließend mittels Düsen auf das Unkraut gesprüht, dessen Zellen explodieren, sodass die Pflanzen absterben. Allerdings fährt der Zug mit einer Geschwindigkeit von bis zu 40 km/ h, was etwa 11 m/ s entspricht. Die Steuerung muss den auf die Millisekunde genauen Öffnungszeitpunkt somit in Echtzeit berechnen. Ansonsten wird die Pflanze nicht getroffen. Das dauerhafte Versprühen der 120 000-l Wasser ist keine Option, denn die beiden Tankwaggons wären nach 1,5 km geleert (Bild 2). Die Echtzeitfähigkeit war einer der Gründe, weshalb sich die Verantwortlichen der SBB für die PLCnext-Steuerung entschieden haben. Der AXC F 2152 verfügt nämlich über zwei Prozessoren ARM Cortex-A9 mit jeweils 800- MHz Taktfrequenz, sodass sich die einzelnen Programme bewusst aufteilen lassen. Während der eine Prozessor die echtzeitkritischen Berechnungen vornimmt, steuert der andere Prozessor die weniger kritischen Prozesse - beispielsweise das Aufheizen des Wassers in den Tankwaggons und dessen Temperaturüberwachung. Auf diese Weise öffnen sich die Ventile innerhalb von zwei Millisekunden, nachdem die Sensoren das Unkraut detektiert haben. Einfache Cloud-Anbindung per App Neben der Echtzeitfähigkeit hat die PLCnext Technology durch ihre Offenheit überzeugt. Es ist zum Beispiel unerheblich, in welcher Programmiersprache der Code generiert wird. Jeder Entwickler kann in seiner favorisierten Sprache - sei es IEC 61131, Hochsprache oder Matlab Simulink - arbeiten. Die Programmteile werden dann einfach zusammengefügt. Der Execution and Synchronisation Manager (ESM) der PLCnext Runtime sorgt durch ein patentiertes Task Handling dafür, dass sie danach in einer definierten und zeitlich deterministischen Reihenfolge ablaufen. Kein Problem also, wenn die SBB- Mitarbeiter die Server-Anbindung über Hochsprachen-Code realisieren (Bild 3). In Zukunft soll die Unkrautbekämpfung per Heißwasserspritzfahrzeug weiter professionalisiert werden - und zwar über Cloudlösungen. Momentan läuft der Testzug datentechnisch autark. Es ist jedoch angedacht, dass seine Daten mit dem Geoinformationssystem der SBB vernetzt werden, damit die Unkrautpositionen allen relevanten Stellen bekannt sind. Welche Cloud dafür verwendet wird, ist noch zu klären. Phoenix Contact bietet mit der Proficloud zum Beispiel eine eigene Lösung, an die sich der AXC F 2152 einfach direkt anschließen lässt. Nachdem sich die Steuerung mit der Proficloud verbunden hat, erscheinen die Bild 1: Mit dem Heißwasserspritzfahrzeug wird das Unkraut umweltschonend vernichtet. © Phoenix Contact Bild 2: Die PLCnext Conrol A XC F 2152 erhält die Position und Größe des Unkrauts von Sensorsystemen und öffnet das Ventil des Heißwasserwaggons dann punktgenau. © Phoenix Contact 18 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität von ihr gesendeten Daten dort sofort und können weiterverabeitet werden. Selbstverständlich sind auch andere Cloudlösungen wie AWS, Google oder Azure möglich. Zur Ankopplung der PLCnext- Steuerung müssen sich die SBB- Mitarbeiter lediglich die entsprechende App - beispielsweise AWS IOT Client, IXON Cloud Connector oder MQTT Client - vom digitalen Problemlose Integration in die vorhandene Infrastruktur Erste Pilotversuche mit dem Prototyp des Heißwasserspritzfahrzeugs haben vielversprechende Resultate ergeben. Anfängliche Bedenken hinsichtlich der Gefahr des heißen Wassers für Tiere - wie Eidechsen - konnten größtenteils entkräftet werden. Durch die vorauseilenden Vibrationen des Zugs werden sie verscheucht, bevor es dem Unkraut an den Kragen geht. Aufgrund der Offenheit der PLCnext Technology lässt sich die Lösung einfach in die vorhandene Infrastruktur einbinden und später problemlos an neue Technologien anpassen. Die Echtzeitfähigkeit des AXC F 2152 sorgt für die punktgenaue Platzierung des heißen Wassers. Auf diese Weise wird das Gleisbett bei gleichzeitigem Schutz der Natur unkrautfrei gehalten und zugleich der finanzielle und zeitliche Aufwand für die Vernichtungsaktion reduziert. Mehr Informationen: www.phoenixcontact.de/ plcnext Bild 5: Das Ecosystem PLCnext Technology setzt sich aus vier Bestandteilen zusammen. © Phoenix Contact Bei der PLCnext Technology handelt es sich um ein offenes Ecosystem, das sich aus einer Steuerungsplattform, modularen Engineering-Software, einem digitalen Software-Marktplatz sowie einer Nutzer-Community zusammensetzt. Aufgrund der einfachen Cloud-Integration, der Möglichkeit zur Verwendung von Open-Source-Software und dem Austausch mit anderen Anwendern wird PLCnext Technology allen Herausforderungen der IoT-Welt gerecht (Bild 5). Die PLCnext-Steuerungen - beispielsweise der A XC F 2152 - erlauben die Umsetzung von Automatisierungsprojekten ohne die Einschränkungen proprietärer Systeme. Entwickler können parallel in der präferierten Programmiersprache an einem Projekt arbeiten und der Code wird dann zu einem Gesamtsystem zusammengefügt. Die Software-Plattform PLCnext Engineer vereint sämtliche Engineering-Aufgaben für die PLCnext-Steuerungen in einem Tool: Konfiguration, IEC61131- und Safety-Programmierung, Visualisierung sowie Diagnose. Die Engineering-Umgebung kann zudem mit Add-ins um zusätzliche Funktionen und Schnittstellen ergänzt werden. Im PLCnext Store sind viele Software-Applikationen erhältlich, mit denen sich eine PLCnext-Steuerung einfach funktional erweitern lässt. Das Angebot reicht von Software-Bibliotheken für die schnellere Code-Erstellung bis zu fertigen Apps, die auch externe Entwickler auf dem Marktplatz anbieten können. In der PLCnext- Community werden schließlich Informationen, Support und hilfreiche Ressourcen zur Verfügung gestellt. OFFENES ECOSYSTEM FÜR AKTUELLE UND ZUKÜNFTIGE HERAUSFORDERUNGEN Marktplatz PLCnext Store auf den AXC F 2152 herunterladen. Die Cloudlösung erlaubt unter anderem die Einsatzplanung des Heißwasserspritzzugs sowie seine Erfolgskontrolle, wenn der normale Schienenverkehr zukünftig mit der Sensorik ausgerüstet ist und sich der Zustand des Unkrauts so permanent überprüfen lässt (Bild-4). Urs Thönen Product Manager Automation Phoenix Contact AG Tagelswangen, Schweiz Kontakt: info@phoenixcontact.de AUTOR Bild 3 (links): Die Entwickler können ihren Programmteil in der von ihnen favorisierten Programmiersprache erstellen. Bild 4 (rechts): Zur Cloud- Ankopplung steht neben dem A XC F 2152 ein Gateway zur Verfügung. © Phoenix Contact 19 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Es zeigt sich ein Trend zu smarteren Städten mit zentralen Steuerungs- und Kontrollmöglichkeiten. Das Smart City-Konzept beruht auf Informations- und Kommunikations technologien (IKT) sowie auf verschiedenen physischen Endgeräten, die in einem Netzwerk, dem Internet of Things (IoT), verbunden sind. Ziel ist es, städtische Aufgaben effizienter zu erledigen, den Service zu optimieren und gleichzeitig eine digitale Verbindung zu den Bürgern aufzubauen. Die IKT soll dabei helfen, Qualität, Leistung und Interaktivität städtischer Dienstleistungen zu verbessern, die Kosten und den Ressourcenverbrauch zu senken und den Kontakt zwischen Bürgern und Regierung zu verbessern. Die schiere Komplexität durch riesige Datenmengen aus unterschiedlichen Quellen, in Verbindung mit Multi-Vendor- Systemarchitekturen und den Ansprüchen zahlreicher Bürgern, die sich auf die städtischen Infrastrukturen verlassen wollen, um am wirtschaftlichen und gesellschaflichen Leben teilzuhaben, bleibt jedoch eine echte Herausforderung. Je weiter die weltweite Urbanisierung fortschreitet, desto mehr scheinen Smart Cities-Konzepte von Vorteil zu sein. Denn viele Städte haben eine alternde oder bereits veraltete Infrastruktur mit hohen laufenden Instandhaltungskosten. Mit smarten Lösungen könnten manche Probleme gelöst werden - ohne Installationen und Versorgungseinrichtungen komplett erneuern zu müssen. Digitalisierung könnte so zu nachhaltigen und kostengünstigen Lösungen führen. Erkenntnisse aus Daten gewinnen und Schlussfolgerungen umsetzen Die Resilienz einer Stadt - also ihrer Bewohner, Gemeinschaften, Institutionen, Unternehmen und Systeme - zeigt, wie gut ihre Fähigkeiten sind, fortzubestehen, sich anzupassen und sich zu entwickeln. Um städtische Resilienz messen zu können, haben das Ingenieurbüro Arup und die Rockefeller Foundation den City Resilience Index (CRI) entwickelt. Der Index stellt städtische Resilienz ausführlich dar. Er umfasst vier Dimensionen, zwölf Ziele und 52- Indikatoren, die für die Messung der Belastbarkeit von Städten entscheidend sind. Mit Widerstandsfähigkeit von Städten Krisenfeste Städte durch digitale Transformation Digitalisierung, Smart Cities, Resilienz, städtische Infrastrukturen, Daten Jarrett Campbell Etliche Akteure sehen in der Smart City das urbane Konzept der Zukunft. Vernetzte Systeme sparen Ressourcen und erhöhen die Nachhaltigkeit der Stadt. Aber wie wird die städtische Infrastruktur smart? Bremen, Toronto und San Francisco machen es vor. © Mwangi Gatheca, unsplash 20 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation sind meist Themen wie nachhaltiges Design, Stadtplanung, redundante Infrastruktur und ein gutes Krisenmanagement gemeint. In London kündigte Bürgermeister Sadiq Khan kürzlich die erste Resilienzstrategie der britischen Hauptstadt an. Diese wurde im Rahmen des globalen Projekts „100 Resilient Cities“ entwickelt. Die Strategie adressiert aktuelle Bedrohungen für die Sicherheit und Stabilität der Stadt, wie etwa extreme Wetterereignisse, die zu Überschwemmungen und Dürren führen können. Zu den Schwerpunkten der Londoner Strategie gehören eine effektivere und nachhaltigere Wassernutzung zur Bewältigung von Dürreperioden, eine besser koordinierte Reaktion auf Notfallsituationen und Terroranschläge, die innovative Datennutzung zur Aufrechterhaltung der vernetzten Infrastruktur Londons sowie eine verbesserte Cybersicherheit. Bremen - Städtische Resilienz in Aktion AVEVA arbeitet sowohl mit Megastädten wie London oder Toronto als auch mit kleineren Gemeinden mit 50 000 oder weniger Einwohnern zusammen, die Technologie nutzen wollen, um nachhaltiger zu werden und ihre Widerstandsfähigkeit zu stärken. In Deutschland nutzt die Stadt Bremen die Software von AVEVA, um die Systemverwaltung ihrer Gebäude zu verbessern. Das Gebäudemanagement hat eine große Bedeutung für den Energieverbrauch einer Stadt. Etwa 40 % des Gesamtenergieverbrauchs entfallen auf das Heizen, Kühlen und den Betrieb von Gebäuden. Das Ziel der Stadt Bremen war es deshalb, ein gemeinsames Gebäudeverwaltungssystem für alle öffentlichen Gebäude und Liegenschaften einzuführen. Die Verwaltung der Gebäude sollte damit nicht nur standardisiert werden - durch die zentrale Verwaltung sollte außerdem der Energieverbrauch gesenkt werden. Durch die Einführung einer zentralen Gebäudeverwaltung sowie der Implementierung von Best Practices für alle Hausverwalter sanken sowohl der jährliche Stromverbrauch zwischen 15 und 18 % als auch der CO 2 -Abdruck der Großstadt. Weltweit bringen Städte die Digitalisierung voran Die Stadt Naya Raipur nennt sich selbst die erste geplante Smart City Indiens. Für die Planstadt wurden von Grund auf neueste technologische Entwicklungen genutzt. Naya Raipur besitzt ein zentralisiertes Kommando- und Kontrollzentrum - dieses vereinfacht die Kommunikation, verbessert die Zusammenarbeit sowie die gemeinsame Entscheidungsfindung verschiedener Interessengruppen. Das Kontrollzentrum der Stadt verfügt über ein zentrales Dashboard, das die verschiedenen Systeme der Smart City darstellt und verwaltet: das Smart Governance System, das Verkehrswesen, das Versorgungsmanagement, die Überwachung der Stadt, das Gebäudemanagement s y s tem, das Smart Network sowie das Rechenzentrum - alles in sich selbst smarte Systeme. In Toronto stand nicht die Vernetzung aller städtischen Systeme im Vordergrund - hier lag der Fokus der Verantwortlichen auf der Wasserinfrastruktur der Stadt. Ziel war es, die kritische Wasserinfrastruktur so effizient wie möglich instandzuhalten. Das bedeutet auch, Ersatzteile und das Wartungsmaterial so zu verwalten, dass immer die richtigen Teile zur Hand sind, ohne Geld durch zuviel Lagerhaltung zu verschwenden. Seit der Etablierung einer Asset Management Software können die Mitarbeiter der Wasser- und Abwasserwirtschaft leicht relevante und genaue Informationen einsehen und so ihre Arbeit effektiver ausführen - egal ob im alltäglichen Geschäft oder während eines Notfalls. Das ostenglische Unternehmen Anglian Water stand ebenfalls vor der Herausforderung seine Wasserinfrastruktur verbessern zu müssen. Die © Ivan Bandura, unsplash 21 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Leitungen sollten so überwacht werden, dass Lecks frühzeitig erkannt und repariert werden können. Wasserverschwendung und eine mögliche Wasserknappheit sollen damit reduziert werden. Zu diesem Zweck installierte das Unternehmen eine integrierte Management Software. Diese ist in der Lage, Lecks zu erkennen und diese sogar zu lokalisieren. Mit dieser Datenanalyse kann das Versorgungsunternehmen proaktiv agieren, bevor es zu einer Betriebsunterbrechung kommt. So geht weniger Wasser auf der Strecke zu den Verbrauchern verloren. Anglian Water muss so weniger Wasser aufbereiten und kann die natürlichen Ressourcen der Gemeinden besser erhalten. Auch beim Versorgungsunternehmen der Stadt San Francisco war die Überwachung der kritischen Infrastruktur ein Thema. Die San Francisco Public Utilities Commission implementierte eine risikobasierte Maintenance-Strategie, um beurteilen zu können, welche ihrer Infrastrukturen besonders anfällig ist und folglich für eine Optimierung an erster Stelle steht. Die Analyse zeigte großes Potenzial bei der Verbesserung der Prozesse bei der Instandhaltung. So wurden durch datenbasierte Überwachung, bei gleichem Service-Level, 25 % weniger Zeit mit der Wartung aufgewendet. Daten sammeln, verbinden und analysieren Grundstoff für Smart Cities sind Daten - aus unterschiedlichen Datenquellen zusammengetragen und miteinander in Bezieung gesetzt - werden diese Daten analysiert, um daraus Handlungen abzuleiten. Sie stammen aus zahlreichen Sensoren an Geräten und Systemen städtischer Infrastrukturen. Die Datenübertragung geschieht über kabelgebundene oder drahtlose Netzwerke. In Echtzeit können Vorgänge überwacht und bewertet werden und bei Bedarf ist auf Grundlage der vorhandenen Informationen direktes Eingreifen möglich. Anwendungsbereiche sind Facility Management, Versorgungsunternehmen, Telekommunikation, Transport, Gesundheit und E-Governance. Da Infrastrukturen immer komplexer werden, sind digitale Technologien hilfreich dabei, das Wesentliche im Auge zu behalten. Das Beispiel Bremen zeigt, dass ein einheitliches Kontrollzentrum, das verschiedene Funktionsbereiche integriert, äußerst effektiv sein kann: Informationen können wirksam genutzt werden, um Probleme zu lösen, noch bevor sie wirklich groß werden; verschiedene Ressourcen und Prozesse können koordiniert werden, damit sie reibungslos funktionieren; ganz allgemein wird dazu beigetragen, bessere strategische Entscheidungen zu treffen. Transformation ist schwierig - um erfolgreich zu sein, braucht es echtes Engagement und Einsatz von allen. Doch die notwendigen Veränderungen betreffen schließlich nicht nur jeden einzelnen, sondern letztendlich den gesamten Planeten. 1. Städte nutzen viele Systeme der Informations- und Operationstechnologie verschiedener Anbieter. Die Fähigkeit, Informationen zu verbinden und auszutauschen, ist entscheidend, um fundiertere Entscheidungen treffen zu können 2. Verstärkte Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs 3. Die Notwendigkeit einer besseren Sichtbarkeit von Gebäudeplänen,zum Beispiel um Feuerwehrleute bei der Schadensbegrenzung zu unterstützen 4. Intelligente Gebäude reduzieren den Energieverbrauch 5. Die Notwendigkeit eines besseren Verkehrsmanagements, um Staus zu verringern und die Notfallreaktion zu verbessern 6. Entscheidungen über die Landnutzung müssen getroffen werden, um zum Beispiel den Bau von Schulen und Gemeinschaftseinrichtungen zu erleichtern 7. Das Wasser- und Abwassermanagement muss für die öffentliche Gesundheit ständig erneuert und aufrechterhalten werden 8. Gute Lebensbedingungen für die Bürger, um den Index der lebenswertesten Städte einzuhalten SCHLÜSSELFAKTOREN FÜR SMART CITIES Dr. Jarrett Campbell Global Industry Marketing Director AVEVA Kontakt: aveva@adellink.de AUTOR London Video Wall with Smart City Demo. © AVEVA 22 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Ressourcen Die mit dem Klimawandel einhergehenden Wetterveränderungen stellen Bauplaner heute ohnehin vor besondere Herausforderungen: Dürreperioden, die sich mit plötzlichen Starkregenereignissen abwechseln, machen ein vorausschauendes Entwässerungskonzept notwendiger denn je. Zusätzlich erschwert wird ein natürliches Versickern von Niederschlagswasser durch wachsende Flächenversiegelungen. Dass das Regenwassermanagement bei den Planungen für das Neubaugebiet „An der Augustastraße“ am nord-östlichen Rand der rheinland-pfälzischen Gemeinde Herxheim ein besonders sensibles Thema war, liegt jedoch an den speziellen Gegebenheiten vor Ort: „Die Topografie, das Fehlen eines natürlichen Vorfluters und der kaum versickerungsfähige Boden stellen hier erhöhte Anforderungen an den Umgang mit anfallendem Oberflächenwasser“, erklärt Dipl.-Ing. Christiane Mairon vom Karlsruher Ingenieurbüro für Bauwesen fmz. Das Ingenieurbüro übernahm für die Verbandsgemeindewerke Herxheim die Planungen zur entwässerungstechnischen Erschließung des 3,7 ha großen Neubaugebietes. Dabei kamen die Planer auch auf Grundlage von geotechnischen Gutachten zu dem Schluss, dass für eine gezielte Versickerung des Niederschlagswassers ein Mulden- Rigolen-System erforderlich sei. Aufgrund ihrer hohen Speicherfähigkeit entschied man sich in Herxheim daher für einen Einsatz der D-Raintank 3000 ® -Elemente der Funke Kunststoffe GmbH, in die ein großer Teil des Planungsgebietes entwässern soll. Entwässerungskonzept in Herxheim mit Rigolensystem Regenwasser versickern mit rund 8 000 D-Raintanks im Neubaugebiet Mit einem schlüssigen planerischen Konzept und mit einer Großbestellung bei der Funke Kunststoffe GmbH stellt die Gemeinde Herxheim gemeinsam mit dem Ingenieurbüro für Bauwesen fmz die ortsnahe Versickerung von Regenwasser im Neubaugebiet „An der Augustastraße“ sicher. Für die entwässerungstechnische Erschließung des 3,7 ha großen Neubaugebietes hat die Heinrich Scherer GmbH & Co.KG fast 8 000 D-Raintank 3 000 ® -Elemente verbaut. Bild 1: Die Versickerungsanlage mit D-Raintank 3000 ® -Elementen sorgt mit ihrer hohen Speicherfähigkeit für ein zuverlässiges Regenwassermanagement im Neubaugebiet Herxheim. © Funke Kunststoffe GmbH 23 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Ressourcen Differenziertes Entwässerungskonzept Laut Flächennutzungsplan ist das neue Areal im Norden als Mischbaufläche, im Süden als Wohnbaufläche ausgewiesen. Die Ingenieure von fmz haben für diese beiden Flächen unterschiedliche Entwässerungskonzepte erstellt: Die bestehenden Gebäude im Mischgebiet (Augustastraße 22 und 24) entwässern das anfallende Regenwasser auch weiterhin über die bestehende Mischwasserkanalisation, in die auch das Schmutzwasser der neuen Gebäude eingeleitet wird. Um diese bereits existierende Kanalisation nicht zu überlasten, sollen die neuen Grundstückseigentümer im Mischgebiet ihr Niederschlagswasser selbst auf dem eigenen Grundstück versickern. Das anfallende Regenwasser im geplanten Wohnareal hingegen wird über Kunststoffrohre der Nennweite DN 600 der zentralen Versickerungsanlage zugeleitet. Hierhin gelangt über eine rinnenförmige Mulde auch der Oberflächenabfluss aus den landwirtschaftlichen Nutzflächen, die nördlich des Planungsgebietes liegen (Außengebietsentwässerung). Speicherfähigkeit von 97 % Angesichts des geringen Wass e r d u r c h l ä s s i g k e i t s b e i w e rtes des schluffhaltigen Bodens fiel die Dimensionierung des Rigolensystems entsprechend groß aus: Die Gemeinde Herxheim orderte insgesamt 7 750- D- Raintank- 3 000 ® -Elemente von Funke. Diese werden mit einem speziellen Filtervlies sanddicht ummantelt und können so das Niederschlagswasser zuverlässig speichern und sukzessive dreidimensional an das umliegende Erdreich abgeben. „Über diese nicht alltägliche Großbestellung habe ich mich natürlich gefreut“, erklärt Jürgen Gäßler, Fachberater von Funke Kunststoffe. Allerdings ist er sicher, dass nicht zuletzt die Produktvorteile die Planer und die Gemeinde Herxheim überzeugt haben. „Das System punktet nicht nur mit einer gegenüber Kies- oder Schotterrigolen deutlich erhöhten Speicherfähigkeit von 97 %, sondern ist noch dazu wartungsarm sowie leicht und raumsparend einzubauen“, nennt Gäßler wichtige Vorteile. Einbau: schnell und einfach Die widerstandsfähigen Kunststoffelemente des Systems D-Raintank 3 000 ® haben die Maße L x B x H-=-600 x 600 x 600-mm und sorgen dank ihrer stabilen Konstruktion für eine optimale Kraftübertragung ins umliegende Erdreich. In Herxheim wurden je 155 Tanks in 25 Reihen zweilagig angeordnet. Blaue Vierfachverbinder stellen dabei sicher, dass die Lagen nicht verrutschen können. Während die Außenseiten der Rigole mit speziell gerasterten Seitenplatten versehen werden, sind im Inneren keine Seitenplatten erforderlich. Damit können Kamera-Befahrungen und Inspektionen in alle Richtungen vorgenommen werden. „Ein weiterer Pluspunkt des Produktes ist, dass ein geringerer Bodenaushub erforderlich ist als es zum Beispiel bei Drainagekies notwendig wäre“, sagt Gäßler. „Das spart Zeit und Geld.“ Um die 1 395 m² große Mulde für den Einbau der D-Raintank 3 000 ® -Elemente vorzubereiten, legten die Tiefbauer zunächst eine Bodenaustausch-Schicht von 30 cm mit darüber liegender Sauberkeitsschicht von 15 cm an. Bevor das Niederschlagswasser das Rigolensystem erreicht, passiert es einen Schacht mit Rückstausicherung. Der Auslauf in die Versickerungsmulde ist mittels Wasserbausteinen an Sohle und Böschung gesichert. „Mit einem Volumen von 2 850 m³ ist die Rigole ausreichend dimensioniert. Dadurch lassen sich die schwierigen Gegebenheiten vor Ort zufriedenstellend lösend“, fasst Planerin Christiane Mairon abschließend zusammen. Auch auf der Baustelle in Herxheim ist man mit der Wahl des Rigolensystems zufrieden. Mit dem Neubaugebiet „An der Augustastraße“ kann die rheinlandpfälzische Gemeinde der starken Nachfrage nach Bauplätzen schon bald nachkommen. Funke Kunststoffe GmbH Siegenbeckstr. 15 Industriegebiet Uentrop Ost 59071 Hamm-Uentrop info@funkegruppe.de www.funkegruppe.de Bild 2: Die blauen Vierfachverbinder sorgen für Schubfestigkeit zwischen den einzelnen Lagen. Sie werden immer dann eingesetzt, wenn auf eine Lage D-Raintank 3000 ® eine weitere Lage aufgebracht wird. © Funke Kunststoffe GmbH 24 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Ressourcen Wenn in der Wurzelschicht der Vegetation überdurchschnittlich lange Wassermangel herrscht, sprechen wir von Dürre. Diese für uns in Deutschland außergewöhnliche Situation hatten wir im Frühjahr und Sommer 2018. Folgen waren Niedrigwasser in den Flüssen, Ernteausfälle und Waldbrände. Ähnlich das Jahr 2019: Einige Wasserversorger schlugen Alarm. Sie hatten weniger Trinkwasser verfügbar als für eine weiter anhaltende Dürre erforderlich. So gab es in deren Versorgungsgebieten das Verbot, Wasser aus Flüssen und Seen zu entnehmen oder mit Trinkwasser Außenanlagen und Sportflächen zu bewässern. Bereits 2009 hatte die Europäische Umweltagentur gewarnt: „Die Wasserknappheit ist ein immer häufiger auftretendes und beunruhigendes Phänomen, das mindestens 11 % der europäischen Bevölkerung und 17 % des EU-Gebiets betrifft“. Ballungsräume, auch in Deutschland, könnten ohne Fernwasserleitungen aus dem Umland selbst in normalen Jahren nicht mehr existieren. Doch wie geht es weiter, wenn die Ressourcen in deren Umland nach einigen trockenen Jahren erschöpft sind? Wasser - woher nehmen in Zeiten der Dürre? Wassermanagement für Parkanlagen und Sportrasenflächen: Sammlung und Bevorratung Klimawandel, Wassermangel, Regenwassermanagement, Grau- und Abwassernutzung Klaus W. König Die Bewässerung von Park- und Sportrasen muss Anforderungen der Nutzer und des Umweltschutzes genügen. Technische Regelwerke, kommunale Satzungen, Nachhaltigkeitsaspekte und das Mikroklima vor Ort sind zu berücksichtigen. Zum Wassermanagement gehört ein Konzept, bei dem der Ressourceneinsatz von Trinkwasser und Betriebswasser nach den ökologischen und ökonomischen Möglichkeiten der Region erfolgt. Das gilt vor allem in Trockenperioden. Bild 01: Zur Fußball- WM 2006 in Deutschland mussten sämtliche Spielstätten nach FIFA-Reglement die Sitzflächen überdachen und gemäß kommunaler Richtlinien das anfallende Regenwasser bewirtschaften. © König 25 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Ressourcen Sportstätten mit Betriebswasser, international Australien ist bekannt für chronischen Wassermangel und entsprechende Restriktionen. Dort kommt es regelmäßig zum Verbot, Rasenflächen aus dem öffentlichen Netz zu bewässern. Sydney präsentierte nach massivem Druck von Greenpeace im Jahr 2000 die erste Sommerolympiade mit konsequentem Einsatz von Betriebswasser. Das ist gefiltertes Regenwasser sowie aufbereitetes Grau- und Abwasser, dessen Qualität zur Bewässerung und Toilettenspülung ausreicht. 50 % des erforderlichen Trinkwassers konnten so auf den Sport- und Erholungsflächen des Olympiaparks Jahr für Jahr, auch nach der Veranstaltung, eingespart werden. Diese Entwicklung setzte sich bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2002 fort: Südkorea hatte ein Gesetz erlassen, das die Betreiber von Stadien mit mehr als 2 400- m² Dachfläche zur Sammlung des anfallenden Regenwassers verpflichtet. Daher wird es an den ehemaligen Austragungsstätten in bis zu 900- m³ großen unterirdischen Speichern gesammelt, was etwa sechs Wochen lang zur Bewässerung des Stadionrasens reicht. In Seoul, wo auch umliegende Rasenspielfelder und Außenanlagen sowie Toilettenspülungen in der Arena versorgt werden, wird Grundwasser eingesetzt. Allerdings handelt es sich dabei um ökologisch unbedenkliches Drainagewasser, das das ganze Jahr über von U-Bahn-Schächten abgepumpt werden muss. Und dazu kommt Grauwasser, welches als Beckenüberlauf in einer benachbarten Schwimmhalle ebenfalls ganzjährig anfällt. Regenwassernutzung in deutschen WM-Stadien Zur Fußball-WM 2006 in Deutschland mussten sämtliche Spielstätten nach FIFA-Reglement die Sitzflächen überdachen und das anfallende Regenwasser gemäß neuer kommunaler Richtlinien komplett auf den Stadion-Grundstücken bewirtschaften. Das Ableiten in den öffentlichen Kanal war laut Baugenehmigung bzw. Abwassersatzung der jeweiligen Kommune nicht mehr gestattet. In Berlin, Nürnberg und Stuttgart wird der Niederschlag seither vorwiegend genutzt, in Frankfurt komplett versickert. In Hamburg, Hannover, Köln und München wurden ähnliche Konzepte realisiert. Berlin hat 1 400-m³ nutzbares Speichervolumen, Nürnberg 900-m³ und Stuttgart 350-m³. War anfänglich noch großer Wasserbedarf für die Toilettenspülung vorhanden, haben die meisten dieser Stadien heute wasserlose Urinale - und damit mehr Vorrat als zuvor für die Bewässerung. Falls in trockenen Zeiten die Regenmengen aufgebraucht sind, wird in der Regel aus eigenen Brunnen nachgespeist. Interessant ist noch folgender Vergleich: Während Berlin mit 21 000 m² nur die Hälfte des Daches in den Speicher entwässert und die andere Hälfte direkt in Rigolen versickert, lässt Nürnberg den Niederschlag der kompletten Dachfläche von 37 000 m² über den Speicher laufen, und kommt so mit einem kleineren Volumen aus - weil sich dieses durch die wesentlich größere Sammelfläche bei einem vergleichbaren Niederschlagsereignis deutlich schneller füllt. Allerdings sind dafür längere Sammel- und Überlauf-Leitungen notwendig. Der regenarme und heiße Sommer 2018 hat, mehr noch als die Trockenphasen in den Jahren zuvor, die Grenzen der Sorglosigkeit gezeigt. In einigen ländlichen Gebieten Niedersachsens bekamen die Bewohner Einschränkungen bei der Trinkwasserversorgung zu spüren. Bei anhaltender Dürre sind nach einiger Zeit natürlich auch die Regenspeicher leer. Doch Tatsache ist auch, dass konsequente Regen- und Grauwassernutzung, möglichst das ganze Jahr über, den jährlichen Trinkwasserbedarf und somit auch die Wassergebühren halbieren kann. Und bei anhaltendem Regen und vollen Speichern wird der Überlauf vor Ort nach Möglichkeit versickert, das Grundwasser damit angereichert. KLIMAFOLGENANPASSUNG Bild 2: Regenwasserspeicher mit vorgelagertem Filterschacht im Zulauf (links) und unterirdischer Versickerung des Überlaufs. Entnahme mit Unterwassermotorpumpen, die das Regenwassercenter versorgen. © Grafik Mall 26 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Ressourcen Kleiner Sportverein, wenig Dachfläche Im Breitensport, bei kleinen Vereinen ohne Tribünendach oder bei Freizeiteinrichtungen ohne Gebäude fehlen die typischen Regensammelflächen. Doch die Sportrasenflächen sind genauso groß wie beispielsweise im Olympiastadion von Berlin. Die Standardgröße eines Fußballfeldes beträgt hier wie dort 7 140- m². Und ein kleiner Verein muss wie ein Bundesligaclub je Bewässerung mit 100 - 150-m³ Wasser kalkulieren, um im Interesse der Rasenfestigkeit ein möglichst weit nach unten reichendes Wurzelwachstum zu erzielen. Wenn aber die Dachfläche nicht 42 000- m², sondern nur 420-m² beträgt, was tun? Regenwasser von anderen Flächen sammeln und/ oder andere Wasserquellen erschließen, so könnte das Motto lauten, falls Trinkwasser gespart werden soll und man in Trockenzeiten von Bewässerungsverboten der öffentlichen Wasserversorgung unabhängig sein möchte. Eine alternative Wasserquelle für Sportvereine ist möglicherweise die Oberflächenentwässerung des eigenen Geländes sowie das Zurückführen des Wassers aus den Spielfelddrainagen. Das „Zuviel“ bei kräftigen Niederschlägen landet so im Regenspeicher. Beides geschieht seit dem Jahr 2000 in den „Sportanlagen im Hubland“ der Universität Würzburg, reicht aber nicht aus. Erst mit zusätzlichem Brunnenwasser wird eine optimale Bewässerung gewährleistet. Ungenutzte Ressourcen für städtische Parkanlagen Regenwasser von Dachflächen der Nachbarn ist eine Option, wenn es zum Beispiel große Gebäude in unmittelbarer Nachbarschaft gibt und deren Regenwasser nicht genutzt wird. Mussten sie bisher für die Regenableitung Niederschlagsgebühr bezahlen, weil eine Bewirtschaftung nicht möglich war, dürfte das Interesse der Nachbarn groß sein, dieses Wasser abzugeben. Das Institut für Siedlungswasserbau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft (ISWA) der Universität Stuttgart führt in enger Kooperation mit den Grünflächen- und Tiefbauämtern der Städte Stuttgart und Frankfurt/ Main eine Gesamtschau der urbanen Wasserbilanz durch. Konkret werden im Projekt INTER- ESS-I Aufkommen, Verfügbarkeit und Qualität urbaner alternativer Wasserressourcen systematisch und flächendeckend erfasst. Dies sind beispielsweise Abläufe der (meist im Überlauf mit Trinkwasser betriebenen) mehr als 250-Wasserspiele und Springbrunnen in Stuttgart, eine Vielzahl von an die Kanalisation angeschlossenen kleinen Dränagen und Quellaustritten und ständige Grundwasserhaltungen für einige Büro- und Bankhochhäuser in Frankfurt, die bisher ungenutzt in die Regenwasserkanalisation eingeleitet werden. Die Erhebungen zeigen, dass in beiden Städten ein großes Potenzial alternativer Wasserressourcen nicht nur ungenutzt vorhanden ist, sondern eher noch als Problem für die Stadtentwässerung auftritt, in dem diese „Abwässer“ die freien Kapazitäten der Kanalisation bei Starkregenereignissen verkleinern. Konkret wird im Rahmen des „Pilotgebietes Wallanlagen“ in Frankfurt die Nutzung von Wasser aus der Grundwasserhaltung eines Bankhochhauses im Umfang von 50 000- m³ pro Monat für die Bewässerung der Wallanlagen näher untersucht. Damit könnte eine nachhaltige Win-Win-Situation für den Hausbesitzer, die Stadtentwässerung Frankfurt, das Grünflächenamt Regenwassernutzung: Verwenden des atmosphärischen Niederschlags. Mindestanforderung ist eine Wasserqualität gemäß der europäischen Badegewässerrichtlinie. Bei Stichproben werden regelmäßig deutlich bessere Werte, als dort gefordert, gefunden. Eine Nachweispflicht besteht nicht. Grauwassernutzung: Verwenden des häuslichen Schmutzwassers ohne Abwasser aus Toiletten und Urinalen. Mindestanforderung ist eine Wasserqualität gemäß Anhang D der DIN EN 16941-2, sobald diese veröffentlicht ist. Die Nachweispflicht (die es in Deutschland zuvor nicht gab) ist dort erstmals formuliert, abhängig von der Risikobewertung und Nutzungsart. Regen- und Grauwassernutzungsanlagen: Sie bestehen aus den vier wesentlichen Elementen Sammlung, Behandlung, Speicherung und Verteilung. Eine Genehmigung ist in Deutschland nicht erforderlich. Allerdings besteht Anzeigepflicht vor dem Bau einer Anlage beim Wasserversorger und beim Gesundheitsamt. Betriebswasser: Nicht-Trinkwasser, zum Beispiel Brunnenwasser, gefiltertes Regenwasser und aufbereitetes Grau- oder Abwasser. Damit dürfen Sportflächen bewässert und Toiletten gespült werden. BEGRIFFS-DEFINITIONEN Bild 3: Kennzeichnung der nicht erdverlegten Leitungen, farblich unterschiedlich gemäß Trinkwasserverordnung und DIN 1989. © König Bild 4: Wasserzähler in der Leitung zur Nachspeisung bei leerem Regenspeicher. © König 27 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Ressourcen und nicht zuletzt für den urbanen Wasserhaushalt und das Stadtklima erreicht werden. Besonderheiten alternativer Wasserquellen Wird Regenwasser genutzt und dafür ein Speicher geplant, kann die wirtschaftlich sinnvolle Größe durch Computersimulation ermittelt werden. Die Berechnung bieten einige Speicherhersteller und unabhängige Fachverbände kostenfrei an (unter anderem auf regenwasserexperten.f br.de). Wird mit Trinkwasser nachgespeist, ist zur Absicherung des Trinkwassernetzes der so genannte „Freie Auslauf “ erforderlich. In anderen Fällen, etwa wenn bei leerem Regentank Brunnenwasser eingesetzt wird, genügt unter Umständen ein Rohrtrenner. Maßgeblich ist DIN- EN- 1717, Bewässerungsspezialisten geben dazu Auskunft. Weitere Besonderheiten: Regenwasserabfluss aus Dachbegrünung: Die Verdunstung (bei intensiv begrünten Dächern besonders hoch) steht im Interessenkonflikt zur Nutzung, da sich der Regenertrag um den verdunsteten Anteil reduziert. Die Technische Regel DIN 1989-1 ist zu beachten; als Ersatz ist die europaweit gültige DIN EN 16941-1 in Vorbereitung. Oberflächenwasser aus Bach, Fluss oder See: Normalerweise ist eine wasserrechtliche Erlaubnis erforderlich. In Trockenzeiten drohen wie bei Trinkwasser Entnahmeverbote. Brunnenwasser: Das Fördern von Grundwasser, selbst auf dem eigenen Grundstück, bedarf in den meisten Fällen ebenfalls einer wasserrechtlichen Erlaubnis. Die gelösten Bestandteile des Grundwassers sollten im Labor festgestellt und mit den Grenzwerten für Rasenbewässerung gemäß DIN 18035-2 verglichen werden. Grauwasser: Es stammt in Sportstätten und Freizeiteinrichtungen überwiegend von Duschen oder Schwimmbecken-Überläufen. Im Gegensatz zur Verwendung von Regenwasser ist eine Aufbereitungstechnik erforderlich, die jedoch in vorgefertigten Modulen verfügbar ist. Die technische Regel fbr-H 202 gibt Hinweise; als Ersatz ist die europaweit gültige DIN EN 16941 - 2 in Vorbereitung. Abwasser: Die Aufbereitung zu Betriebswasser ist grundsätzlich möglich. Die nötigen Verfahren, etwa Umkehrosmose, sind aufwändig und teuer. Ökonomische Betrachtung Investition: Ein Speicher mit 120- m³ nutzbarem Wasservolumen inklusive Filter und Pumpen, Lieferung und Montage, jedoch ohne Erdarbeiten, muss mit mindestens 60 000-€ zusätzlich MwSt. kalkuliert werden. In den Bundesländern Hamburg und Bremen gibt es eventuell Zuschüsse, ebenso in einigen Kommunen der anderen Länder. Und bundesweit bieten die Landessportbünde ihre Unterstützung an mit dem Förderprogramm „Sportstättenbau“ (Bau, Kauf und Sanierung von Vereinssportanlagen inklusive Wasserspeicher- und Bewässerungstechnik). Betriebskosten: Für Inspektion sollten 1 %, für Wartung 3 % der Investition pro Jahr veranschlagt werden. Weitere Betriebskosten fallen für Pumpenstrom an. Die Einsparungen sind abhängig von der Situation vor Ort: Wassergebühren, Niederschlagsgebühren, Vorschriften gemäß Abwassersatzung, Baugenehmigung etc. Im Jahr 2004 kalkulierten die Planer beim Nürnberger Stadion Mehrkosten für die Regenwassernutzung gegenüber der reinen Versickerung von 220 000 €, Einsparungen für Wassergebühren von 11 900 €/ a, abzüglich Wartungs- und Stromkosten von 1 500 €/ a. Damit ergab sich rechnerisch eine Amortisation von etwa 20 Jahren. Ein Jahr später war in Publikationen von zehn Jahren zu lesen. Kleine Vereine sollten sich vor einer Umstellung der Sportflächenbewässerung von Trinkwasser auf Betriebswasser vom Wasserversorgungsunternehmen bestätigen lassen, dass bei deutlicher Reduzierung der bezogenen Trinkwassermenge keine unzulässige Stagnation in der Zuleitung droht und keine Bereitstellungsgebühr oder andere Zuschläge erhoben werden. Dipl.-Ing. Klaus W. König Öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Bewirtschaftung und Nutzung von Regenwasser, Fachjournalist kwkoenig@koenig-regenwasser.de AUTOR Bild 5: Bewässerung der Taunusanlage in Frankfurt/ M. Demnächst auch in Trockenperioden Ressourcen schonend aus den ständigen Grundwasserhaltungen einiger Büro- und Bankhochhäuser, die bisher ungenutzt in die Regenwasserkanalisation eingeleitet werden? © König 28 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Soho House ist ein Private Members‘ Club für das „Get Together“ der internationalen Kreativszene, für Künstler, Schriftsteller, Galeristen, Musiker, Modeliebende und Medienschaffende, so die Intention des Gründers Nick Jones. 1995 entstand das erste Soho House in London und heute sind es 27 Häuser an einzigartigen Standorten auf der ganzen Welt, die ihren Fokus auf alles kosmopolitisch Künstlerische zum Ausdruck bringen. Auch für das Soho House Amsterdam wurde ein außergewöhnlicher Standort gefunden und zwar das denkmalgeschützte Bungehuis-Gebäude an der Spuistraat in bester Lage inmitten der Grachtenringe nahe des beliebten Einkaufsviertels Negen Straatjes - nur einen Steinwurf vom Damm entfernt. Das imposante sechsstöckige Gebäude aus Kalkstein und Granit wurde in den 1930er Jahren als Handelskontor gebaut und seit den Ist dieser Dachgarten Luxus? Soho House Amsterdam mit Retentions-Gründach Dachbegrünung, Retensions-Gründach, Regenwasserbewirtschaftung, Klimawandel, Stadtklima Heidrun Eckert Relaxen im Liegestuhl, Schwimmen im Pool mit 360°-Rundumblick auf Amsterdam oder einfach Lust auf einen coolen Drink an der Bar? Der exklusiv gestaltete Dachgarten des Soho House Amsterdam bietet 900 m² Luxus in luftiger Höhe und zudem einen höchst wertvollen Beitrag für Ökologie und Nachhaltigkeit. Der besondere ZinCo-Systemaufbau „Retentions-Gründach“ des Soho House speichert nämlich bis zu 60 Liter Regenwasser pro Quadratmeter Dachfläche und lässt dieses zeitverzögert abfließen. Das entlastet bei Starkregen die städtische Kanalisation und dient damit dem Schutz vor Hochwasser. In Zeiten des Klimawandels und zunehmender Starkregenereignisse darf Retention auf dem Dach kein Luxus sein, sondern ist pure Notwendigkeit! Bild 1: Zahlreiche Liegestühle laden zum Sonnenbaden ein. © ZinCo Benelux B. V. 29 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum 1970er Jahren von der Universität Amsterdam genutzt, wodurch die historischen Details erhalten blieben. In unverkennbarer Originalität von Soho House plante Kentie en Partners Architekten diesen Umbau im Auftrag von Aedes Real Estate. Originell in jeder Hinsicht Insgesamt 79 Hotelzimmer - von winzig bis extragroß -, Club Lounges, Meeting- und Veranstaltungsräume, Fitnessstudio, Wellnessbereich nach dem hauseigenen Konzept „Cowshed Spa“, Bibliothek, Cinema, kleinere Bars und Cecconi´s Restaurant - allesamt gestaltet inmitten von restaurierten Marmorverkleidungen und Holzvertäfelungen, glasierten Fliesen und Buntglasfenstern. Der Vintage-Stil zeigt sich durch ein leises Durcheinander von stilvollen Möbeln, Stoffen und Teppichen. Auch Art Déco-Details und zeitgenössische Kunst mischen sich darunter. Kein Raum sieht aus wie der andere - das ist Soho House. Die gleiche Handschrift ist auf dem Dach zu finden mit optisch auffälligen Fliesen neben Holzbelägen. Rings um den tiefblauen Pool reihen sich Liegestühle, Mosaiktische und unterschiedlichste Pflanzgefäße mit blühendem Grün. Ein Blick unter die Oberfläche All die wunderbaren Dachgestaltungsideen - entworfen vom Landschaftsarchitekten Marnix Tavenier - ließen sich dank Zin- Co-Systemaufbau „Retentions- Gründach“ realisieren. Dieses besondere System zum Regenwasserrückhalt wurde im Mai und Juni 2018 durch De Enk Groen & Golf B. V. ausgeführt. Auf der Grundlage einer wurzelfesten Dachabdichtung wurde auf einer Teilfläche von circa 500- m² zunächst die Speicherschutzmatte SSM 45 verlegt. Darauf folgten die 0,60 m x 0,60 m großen und 65 mm hohen Retentions-Spacer-Elemente RSX 65. Diese erlauben ein Anstauvolumen von bis zu 60 l/ m² und sind besonders für erhöhte Belastungen wie beispielsweise bei Belägen geeignet. Bezogen auf die Gesamtfläche ergibt sich in den Retentions-Spacern ein errechnetes Anstauvolumen von rund 30 000 Litern Regenwasser, welches hier über den Zeitraum von längstens 48 Stunden in die Kanalisation abfließt. Eingestellt wird dieser Abflussvolumenstrom über gegeneinander verschiebbare Ringe der Drosselelemente, welche per se auch als Überlauf fungieren. Die Drosselelemente liegen geschützt unterhalb von Kontrollschächten, deren Feinschlitzung das Einschwemmen von Fremdstoffen verhindert. Auf die Retentions-Spacer RSX 65 folgte das Systemfilter PV sowie der weitere Aufbau abhängig von der gewünschten Nutzung. Viele Möglichkeiten Die begrünten Dachbereiche umfassen rund 150 m² Intensivbegrünung mit Zierpflanzen und 130 m² klassisch extensive Sedumbegrünung. Dazu passend wurde ZinCo-Systemerde für Intensivbeziehungsweise für Extensivbegrünung als Sackware aufs Dach befördert und in einer Substrathöhe variierend von 15 bis 40 cm aufgebracht. Dank einiger Randeinfassungen von Pflanzbeeten war das problemlos möglich. Der Pflanzplan sah vor allem verschiedenste Stauden und Gräserarten vor, die per Tropfschlauchbewässerung auch in Trockenzeiten bestens versorgt sind und daher üppig wachsen. De Enk Groen & Golf B. V. ist auch mit der Pflege und Wartung des Dachgartens beauftragt. Die befestigten Dachflächen Bild 2: Von außen ist dem denkmalgeschützten Bungehuis-Gebäude in der Spuistraat nicht anzusehen, was das neue Soho House Amsterdam innen und auf dem Dach zu bieten hat. © Mark Veldhuizen, De Enk Groen & Golf B. V. Bild 3: Soho House gilt seit langem als Inbegriff von Luxus: Der Pool auf dem Dach gehört immer dazu. © ZinCo Benelux B. V. 30 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum umfassen 320 m² Fliesenbelag sowie 190 m² Holzbelag, der auf einer entsprechenden Holzunterkonstruktion liegt. Darüberhinaus sind 100 m² Tonziegelsplitt Zincolit in den Randbereichen aufgebracht. Grundsätzlich sind unterschiedliche Dachniveaus vorhanden, da die Bar auf einer Stahlrahmenkonstruktion montiert ist und auch der Pool erhöht angelegt wurde, weil hier verständlicherweise ausreichend Tiefe gebraucht wurde. Aufgrund der Lasten ist diese Konstruktion mit Stahlsäulen verstärkt. Perfekt in der Ausführung Dieser spezielle Dachgarten mit seinen verschiedenen Gestaltungselementen wurde in dem engen Zeitfenster von nur sechs Wochen realisiert. Das erforderte eine erfolgreiche und effiziente Zusammenarbeit zwischen Bauunternehmer, Dachdecker, Dachbegrüner, Installateur und Schwimmbadbauer, die alle gleichzeitig auf dem Dach sein mussten. Erschwert wurde dies durch den besonderen Standort des Gebäudes an der Spuistraat: beengte Platzverhältnisse ohne die Möglichkeit einer Lagerfläche, Genehmigungen für notwendige Straßensperrungen und die Aufbringung sämtlicher Materialien auf das Dach mit einem Turmkran. Dort wurde dann alles in Handarbeit geleistet. Dank ausgeklügelter Logistik und Baustellenplanung konnten diese Herausforderungen wunderbar gemeistert werden. Und das neue Soho House Amsterdam öffnete im Sommer 2018 pünktlich seine Türen. Aus Alt macht Neu Das Soho House ist ein wunderbares Beispiel dafür, was in dicht bebauten Städten möglich ist, um alte Gebäude wieder mit Leben zu füllen und dabei einen riesigen Mehrwert zu erzielen. Deshalb war das Soho House eines von neun nominierten Projekten für den Geurt Brinkgreve Preis 2018. Dieser Preis gilt Amsterdamer Renovierungs- und Sanierungsprojekten, welche zudem kulturhistorischen Werten gerecht werden. Das Soho House ist nicht nur ein Gewinn für seine eigenen Mitglieder, sondern auch für die Öffentlichkeit, die zum Erdgeschoss freien Zutritt hat - dort befinden sich Cecconi’s Restaurant sowie Cowshed Spa. Und Soho House leistet dank seines Retentions- Gründaches einen wertvollen Beitrag in Sachen Hochwasserschutz in Amsterdam. Wasser prägt seit jeher den Charakter der Stadt mit ihren berühmten Grachten und Wasser ist zugleich die große Gefahr. So findet Amsterdam mit Retentions-Gründächern neue Lösungen. Heidrun Eckert ZinCo GmbH Kontakt: info@zinco-greenroof.com www.zinco.de www.zinco-greenroof.com ZinCo Benelux B.V. Kontakt: daktuin@zinco.nl www.zinco.nl AUTORIN Bild 4: Die Retentions- Spacer-Elemente RSX 65 wurden im flächigen Verbund verlegt und die Bereiche um die Dachabflüsse ausgespart. © Mark Veldhuizen, De Enk Groen & Golf B. V. Bild 5: Das Systemfilter PV deckt die Retentions-Spacer flächig ab. Dann folgte der weitere Aufbau für die Grün- und Belagsflächen. © Mark Veldhuizen, De Enk Groen & Golf B. V. 31 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Weltweit zeugen Gemeinden in ländlichen Regionen von einem jahrtausende alten Wechselspiel zwischen Natur und Mensch. Ländliche Regionen vereinen Humankapital, Kultur und Gastronomie, Herkunft und Tradition mit den Naturräumen. Dennoch steht das Land immer wieder vor demografischen und sozio-ökonomischen Problemen, wie Landflucht, Überalterung, Arbeitslosigkeit, einem reduzierten Dienstleistungsangebot sowie schlechter Erreichbarkeit. Deshalb wird im Rahmen des RURITAGE-Projekts - das sich mit der Regeneration ländlicher Regionen mittels ihres natürlichen und kulturellen Erbes beschäftigt - ein zukunfstweisendes Paradigma für ländliche Entwicklung aufgestellt. Das vierjährige Projekt startete im Juni 2018 und wird von der Universität Bologna koordiniert. Mit dem Projekt wird angestrebt, ländliche Regeneration durch den Einsatz des örtlichen Kultur- und Naturerbes zu ermöglichen. Gemeinsam mit einer Vielzahl internationaler Partner soll damit das Ziel verwirklicht werden, kommunale Entwicklung zu fördern. Ländliche Regionen sollen dabei unterstützt werden, ihre Potenziale zu erkennen und dann die Möglichkeiten zu ergreifen, die sich aus ihrem vielfältigen Natur- und Kultur-Erbe ergeben. Sechs Schlüsselthemen Im Zuge des RURITAGE-Projekts werden sechs Schlüsselthemen betrachtet, sogenannte systemische Innovationsbereiche: Wallfahrt nachhaltige Nahrungsmittelproduktion Migration Kunst und Feste Resilienz integriertes Landschaftsmanagement Diese Bereiche spiegeln wider, wie Kultur- und Naturerbe als Treiber wirtschaftlichen und sozialen Wachstums sowie als natürliches Regeneration ländlicher Regionen durch Natur- und Kulturerbe Lebensräume, ländliche Regionen, Resilienz, Stadt-Land- Gefälle, Kultur- und Naturerbe Intza Balenciaga Die aktuelle globale Pandemie beeinträchtigt Lebensgemeinschaften weltweit. Bisher waren es im Wesentlichen Städte, die aufgrund der COVID-19-Pandemie in der Öffentlichkeit standen. Doch auch die Folgen der Krise für ländliche Regionen und Gemeinden sollten nicht unterschätzt werden. Auf der einen Seite zeichnen sich diese Regionen aus durch Solidaridät, gute Netzwerke, bessere Zusammenarbeit und Gemeinschaftssinn. Mit der Fähigkeit zur Resilienz steigern sie den Wert ihrer lokalen Resourcen, ihres Kultur- und Naturerbes sowie des menschlichen Zusammenlebens. Trotzdem kämpfen sie damit, passende Lösungen für ihre verletzlichen Lebensräume zu finden. Tendenziell verschärft wird die Situation durch eine geringere Ressourcenverfügbarkeit und größere Isolation. Bild 1: Intergration von Migranten auf der Insel Lesbos im UNESCO Geopark. © UNESCO Geopark „Erhebliche Entfernungen zu den Zentren verhindern den Zugang zu vielen Angeboten und Dienstleistungen. Ländlichen Regionen mangelt es an guten Verkehrsverbindungen, diese werden entweder selten bedient, sind unregelmäßig oder fehlen ganz. Ein Ausbau des Transportwesens ist aber oft zu teuer. Auf der Suche nach besseren Jobs, zieht es die jüngere Bevölkerung in wirtschaftlich besser aufgestellte Gebiete. Denn in ländlichen Regionen sind die beruflichen Chancen meist begrenzt und auf bestimmte Berufsfelder beschränkt. Folge ist eine stagnierende Wirtschaft und eine stetig älter werdende Bevölkerung, denn die Geburtenrate sinkt, weil die jungen Leute fehlen. Gerade in Post- Covid-19-Zeiten könnten ländliche Regionen jedoch als idyllische ‚naturnahe‘ Orte für alternative Lebensstile stehen. Kultur- und Naturerbe kann inspirieren und neue ökonomische Aktivitäten anziehen und dabei eine nachhaltige Entwicklung fördern.” DR. CRISTINA GARZILLO LEEMHUIS, ICLEI: 32 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Gleichgewicht auf ländliche Regionen und ihre Bewohner wirken. Das RURITAGE-Paradigma hat zum Ziel, das einzigartige Potenzial des vorhandenen Erbes weiterzuentwickeln und so die Transformation der ländlichen Regionen zu Vorzeige-Laboratorien nachhaltiger Entwicklung anzuregen. Dabei versteht man bei RURITAGE den Begriff Natur- und Kultur-Erbe im weiteren Sinne: natürlich und kulturell sowie materiell und immateriell. Anhand bereits gesammelter Erfahrungen bei beispielhaften Projekten sollen für andere ländliche Regionen, die um ihren Handlungsbedarf wissen und die ihre Situation verbessern wollen, auf dieser Grundlage entsprechende Langzeitstrategien entwickelt und Hilfestellung bei der Gestaltung und Umsetzung gewährt werden. Mit gutem Beispiel voran Als Vorbild gelten erfolgreiche Fallbeispiele, die sich durch Einbezug des örtlichen Kultur- und Naturerbes regeneriert haben. Das Erbe war dabei möglichst ausgewogen - sowohl Treiber sozialer Inklusion als auch von Wirtschaftswachstum. Inzwischen liegt eine ganze Reihe guter Beispiele vor, die im Rahmen des Projekts dokumentiert wurden und nun anderen Regionen als Vorlage dienen können, um dort eigene Regenerations-Pläne zu strukturieren. Ein Ziel ist, ländliche Regionen darin zu unterstützen, innovative Steuerungsmodelle anzuwenden, beispielsweise Methoden der Bürgerbeteiligung, die bei der Ausbildung neuer Fertigkeiten und Kenntnisse bei der lokalen Bevölkerung hilft. Dafür ist die umfangreiche Untersuchung bestehender Geschäfts- und Steuerungsmodelle sowie der regulatorischen Rahmenbedingungen notwendig. Das Natur- und Kultur-Erbe kann nur ein starker wirtschaftlicher, sozialer und ökologischer Treiber sein, wenn der Wissenstransfer zwischen den Regionen als gegenseitiger Lernprozess verstanden wird. So sollten Vorbildregionen und Nachahmer ihre Erfahrungen austauschen und dabei ihre Expertise und ihre Fähigkeiten jeweils anpassen und erweitern. Erfolgsmodell Living Labs Eines der Schlüsselelemente für den Wissenstransfer ist der Aufbau sogenannter Living Labs - also Zentren für ländliches Erbe. Dort können Ideen in konkrete Aktionspläne für ländliche Entwicklung umgesetzt werden. Wesentlicher Faktor ist dabei, die gemeinsame Entwicklung als auch die gemeinsame Umsetzung von Maßnahmen zu verbinden. Dabei werden die Auswirkungen vor Ort direkt erfasst und kontrolliert. Wissenplattform im Internet Die gesammelten Informationen werden auf einer gemeinsamen Online-Plattform, dem RURITAGE Resource Ecosystem, unter www. ruritage.eu zur Verfügung gestellt. Dort zu finden sind unter anderem eine interaktive Karte der teilnehmenden Regionen, „Um den Anforderungen für lokale Nachhaltigkeit gerecht zu werden, hat sich auf europäischer Ebene in den letzten Jahren die Notwendigkeit der Zusammenarbeit von Praktikern verschiedenster Richtungen herauskristallisiert. Durch den gegenseitigen Austausch werden Strategien, Ansätze und Lösungen für eine Reaktivierung und Regenerierung ländlicher Regionen und/ oder Kulturlandschaften entwickelt, vorgestellt und dokumentiert.” DR. CRISTINA GARZILLO LEEMHUIS, ICLEI: Bild 2: Lokale Nahrungsmittelproduktion in den Fischgründen im Magma UNESCO Global Geopark. © UNESCO Global Geopark 33 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum ein digitaler Entscheidungsfinder oder eine Werkzeugkiste zur Bürgeraktivierung, das „My Cult- Rural Toolkit“. Die Informationen und Tools, Strategien und Planspiele, die auf der Webseite zur Verfügung stehen, sowie eine Reihe von Berichten über Praxisbeispiele sind eine profunde Quelle und bieten reichlich Anregungen für eigene Ideen und Projekte im ländlichen Raum. Mit dieser Wissensplattform sollen regionale, nationale, europäische und globale Richtlinien etabliert werden, um das Natur- und Kultur-Erbe in ländlichen Regionen zu erhalten und weiterzuentwickeln. Als einer der zahlreichen Experten ist ICLEI Europe für die Auswertung und den Einbezug der Europäischen Richtlinien sowie internationaler Erkenntnisse verantwortlich. Darüber hinaus organisiert ICLEI den Austausch der an dem Projekt beteiligten Akteure. Resilientes Land Das Bewusstsein für die Möglichkeiten zu Veränderung im ländlichen Raum wurde gestärkt. Strategien zur nachhaltigen Regeneration von Natur- und Kultur-Erbe wurden entwickelt. Um diese vielversprechenden Ansätze zu erhalten und fortzuführen und um die weitreichenden Auswirkungen von COVID-19 so gering wie möglich zu halten, haben die Projektpartner Programme und Methoden geschaffen, die eine Umsetzung und Weiterentwicklung des Projektes einfach und für alle möglich gestalten. So initiierte RURITAGE einen öffentlichen Aufruf für einen Aktionsplan für mehr Resilienz, um ländlichen Gemeinden Rückhalt zu geben und Erfahrungen zu teilen, wie mit den Herausforderungen von Covid-19 umgegangen werden kann. Die aktuelle Krise stellt die Resilienz der Menschen und ihrer Lebenswelt auf den Prüfstand. Gleichzeitig haben sich dadurch auch Möglichkeiten für ländliche Regionen offenbart. Das RURITA- GE-Projekt hat viele Maßnahmen zur Resilienz-Förderung für länd- „Ländliche Regionen haben das Potenzial, Innovationen anzuregen. Sowohl mit relevanten Startups, kleineren Manufakturen und lokalen ‚Machern‘, als auch mithilfe der Kultur- und Kreativ-Branchen, inklusive IT-Branche, Handwerksbetrieben etc. Ein integrierter, auf Natur- und Kulturerbe basierter Ansatz verschafft ländlichen Regionen Möglichkeiten für Wachstum und nachhaltige Entwicklung und somit Akzeptanz und Verständnis für die Diversität des kulturellen Erbes. Mittels Innovationen können auch solche Gebiete Resilienz entwickeln, die mit Gefahren durch Naturereignisse oder andere plötzliche Notlagen konfrontiert sind.” DR. CRISTINA GARZILLO LEEMHUIS, ICLEI: liche Regionen aus ganz Europa gesammelt, die als Inspiration für alle ländlichen Gemeinden dienen können und die einen wertvollen internationalen Dialog ermöglichen. Weitere Schritte sind nun, aus dem Wissen und den Erfahrungen eine anerkannte Marke für die Regeneration von Kultur- und Naturerbe zu schaffen und - neben dem RURITAGE Fotowettbewerb - bald eine Sommerakademie sowie ein Masterprogramm zu starten. Intza Balenciaga Officer Governance & Social Innovation ICLEI - Local Governments for Sustainability Kontakt: intza.balenciaga@iclei.org Übersetzung: Annika Burger, ICLEI AUTORIN Bild 3: „Urzel“ inCincu, Transylvanien. © Vlad Dumitru 34 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Die GLT ist ein Zusammenschluss von Fachbetrieben des Leitungstiefbaus aus der gesamten Bundesrepublik, die vor allem im Kabelleitungstiefbau tätig sind. Diese der Gütegemeinschaft angeschlossenen Unternehmen haben sich auf Basis ihrer Prüfung nach RAL-Gütezeichen 962 in besonderem Maße einer qualitätsorientierten Bauausführung im Tiefbau verschrieben. Vor diesem Hintergrund hat sich die Gütegemeinschaft auch in ihrer Satzung dazu verpflichtet, Weiterbildungsangebote zur Verfügung zu stellen, die auf eine kontinuierliche Weiterqualifizierung der Unternehmen abzielen, damit Bautätigkeiten stets nach dem neuesten Stand der Technik und des Regelwerks durchgeführt werden können. Um an dieser Stelle dem hohen Weiterbildungsbedarf ihrer Mitgliedsunternehmen gezielt Rechnung zu tragen, bietet die GLT als Mitgesellschafterin beim Bildungsinstitut der Bauindustrie und über ihre im Jahr 2011 gegründete GLT Service und Zertifizierung GmbH Fachseminare und Inhouse-Schulungen zu verschiedenen Schwerpunktthemen an. Diese in der Wintersaison angebotenen Weiterbildungsformate richten sich sowohl an GLT- Mitgliedsunternehmen als auch an weitere bauausführende Unternehmen der Branche, an Netzbetreiber und Versorgungsunternehmen sowie an Behörden oder Ingenieur-Büros. Die gesamte Bandbreite des Leitungstiefbaus Das Themenspektrum der Seminarveranstaltungen hat sich mit den veränderten Anforderungen der Branchen weiterentwickelt. Während mit Einführung der ersten Seminarangebote konkrete bauausführungsrelevante Aspekte des allgemeinen Tiefbaus im Vordergrund standen, wurden mit wachsendem Interesse an den hochkarätigen Veranstaltungen auch zunehmend Normen und Regelwerke im Leitungstiefbau, die qualifikatorischen Anforderungen im Zuge eines flächendeckenden Breitbandausbaus sowie juristische Fragestellungen und relevante Aspekte der Baustellensicherheit fokussiert. Ob Pflasterarbeiten, Flüssigboden, die Herstellung von Gräben, die Wiederherstellung von Oberflächen, Kabellege- und -ziehtechnik, Entwicklung bei Spülbohrverfahren, aktuelle Normen und Regelwerke, die Eigenüberwachung nach RAL-GZ 962, wesentliche Aspekte des Boden- und Abfallrechts oder technische Details der Lichtwellenleiter- und der Glasfasertechnik: Kein relevanter Teilbereich der Branche bleibt im Seminargeschehen unberücksichtigt. Und um besonders im Dschungel juristischer Komplexität Orientierung und Sicherheit zu bieten, werden kontinuierlich Qualität braucht Wissensvorsprung Weiterbildungsformate der Gütegemeinschaft Leitungstiefbau (GLT) Wenn es um eine nachhaltige Errichtung leistungsfähiger technischer Infrastrukturen geht, ist lebenslanges berufsbegleitendes Lernen im Rahmen spezialisierter Fort- und Weiterbildungsformate ein entscheidender Baustein der Qualitätsorientierung. Um alle im Kabelleitungstiefbau tätigen Branchenteilnehmer stets aktuell über Neuerungen im Tiefbau sowie über Veränderungen von Gesetzen, Verordnungen, Vorschriften oder Richtlinien zu informieren, bietet die Gütegemeinschaft Leitungstiefbau e. V. (GLT) seit 2011 ein auf die aktuellen Anforderungen der Branche zugeschnittenes Seminarprogramm an. Und die Zahlen sprechen für sich. In knapp zehn Jahren zeigten sich rund 4 566 Teilnehmer in 170 Veranstaltungen von dem hohen informativen Mehrwert des am Puls des Kabelleitungstiefbaus orientierten Informationsangebots begeistert. Bild 1: Im Rahmen der GLT-Weiterbildungsformate werden auch kontinuierlich Fragen des Versicherungsrechts und der Haftung thematisiert. Hier referiert RA Annett Heublein, FG Leiterin Haftungs- und Wettbewerbsrecht im BDEW, ganz aktuell zur Q- (Qualitäts-) Elementschaden- Haftung der Tiefbauunternehmen. © GLT 35 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Fragen des Versicherungsrechts, der Haftung oder ganz aktuell zum BGH-Urteil zur Anreizregulierungsverordnung (AReGV) Q- (Qualitäts) Elementschaden-Haftung der Tiefbauunternehmen thematisiert. Von Experten für Experten Die Teilnahme an den GLT-Seminarangeboten stellt sicher, dass das Auditorium stets über den aktuellen Status quo und alle relevanten Theorie- und Praxisdetails des Leitungstiefbaus auf dem Laufenden ist. Dabei bilden sowohl GLT-eigene Referenten, die die Unternehmen als Gutachter prüfen, als auch hochkarätige externe Fachreferenten in ihren Vorträgen das aktuelle Branchengeschehen ab. Anschaulich und fachlich stets aktuell und auf höchstem Niveau berichten sie in einzelnen Vortragsblöcken über Baupraxis, Normen und Regelwerke sowie über Rechtsthemen. Individuelle Fragestellungen der Teilnehmer und konstruktive Diskussionen gehören dabei genauso zum Seminargeschehen wie ausgiebiges Netzwerken in den Pausen und am Rande der Vortragseinheiten. Auf Grundlage einer regelmäßigen Befragung der Teilnehmer wird die Qualität der Weiterbildungsangebote kontinuierlich überprüft und verbessert. Zwei Formate, ein Qualitätsstandard: Seminar oder Inhouse Grundsätzlich stehen den Interessenten zwei Seminarformate zur Verfügung: Seminar oder Inhouse-Schulung. Seit 2011 werden bundesweit in der Wintersaison sechs bis sieben Seminare angeboten. Diese sind speziell auf die Weiterbildungsanforderungen von Geschäftsführern, Bauleitern, Kalkulatoren, Projektmanagern, Polieren oder Facharbeitern zugeschnitten. Von der hohen inhaltlichen Qualität dieses Veranstaltungsformats und der professionellen Planung und Durchführung vor Ort konnten sich bereits 1 695 Teilnehmer in insgesamt bislang 57 Seminaren überzeugen. Dabei enthält die Seminargebühr neben den Vorträgen die Seminarunterlagen in gedruckter oder digitaler Form, ein Mittagessen, Kaffee und Getränke in den Pausen sowie eine Urkunde nach erfolgreich absolvierter Teilnahme. Im Gegensatz dazu finden die seit 2015 zum GLT-Portfolio gehörenden Inhouse-Schulungen (IHS) direkt vor Ort in einem Unternehmen statt. Der Kunde hat die Möglichkeit, aus den Themenblöcken „Allgemeiner Tiefbau“, „Aktuelle Regelwerke im Leitungstiefbau“, „Oberflächen im Leitungstiefbau“, „Qualitätssicherung und Arbeitsschutz“ oder „Kabellege-, zieh- und Einblastechnik für Energie- und Telekommunikationskabel“ individuelle Bausteine auszuwählen. Auf Grundlage dieses Baukastenprinzips können bereits bei der Planung der IHS frühzeitig inhaltliche und zeitliche Wünsche umgesetzt werden. Je nach Anliegen des Kunden können zudem Teilnahmebescheinigungen im DIN A4-Format oder/ und Aufkleber für die Sicherheitspässe ausgestellt oder besondere Tischvorlagen und Teilnehmerbefragungsbögen angefertigt werden. Und dieser besondere individuelle Gestaltungsspielraum kommt an. Seit 2015 wurden bereits 113 Inhouse-Schulungen mit 2 871 Teilnehmern durchgeführt. Dabei halten Unternehmen die IHS nicht nur ab, um eigenes Personal fortzubilden. Vielmehr nutzen Mitgliedsunternehmen das Format auch verstärkt als Weiterbildungsangebot für die eigenen Auftraggeber. Und das gemeinsame Lernen von Mitarbeitern von Unternehmen mit deren Kunden wird von allen als eine große Bereicherung empfunden und kommt sehr gut an. Mehrwert durch Qualität Erklärter Anspruch der Gütegemeinschaft Leitungstiefbau ist, alle wichtigen Branchentrends zu begleiten, zu dokumentieren und für ihre Mitgliedsunternehmen aufzubereiten und zu kanalisieren. Neben der Mitwirkung an der Entwicklung und Aktualisierung technischer Vorschriften und der zielsicheren Umsetzung neuer Technologien sowie der kontinuierlichen Weiterentwicklung von Güte- und Prüfbestimmungen bildet das breite Weiterbildungsangebot der Gütegemeinschaft einen zusätzlichen Baustein auf dem Weg eines gleichermaßen qualitätsgesicherten wie nachhaltigen Leitungstiefbaus. Dies schafft einen qualifikatorischen Mehrwert für alle Mitgliedsunternehmen und Seminarteilnehmer und wird auf diesem Weg zum Garanten einer zuverlässigen Versorgungssicherheit hierzulande. Gütegemeinschaft Leitungstiefbau e. V. Dipl.-Ing. (FH) Jutta Litwin Litwin@kabelleitungstiefbau.de www.kabelleitungstiefbau.de KONTAKT Bild 2: Von der hohen inhaltlichen Qualität der Seminare und Inhouse-Schulungen sowie von der professionellen Planung und Durchführung vor Ort konnten sich in knapp zehn Jahren bereits 4 566 Teilnehmer in insgesamt 170 Veranstaltungen überzeugen. © GLT 36 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Wenn heute vom Wohnen gesprochen wird, sind die ersten Assoziationen Wohnungsnot, steigende Mieten und hohe Immobilienpreise. Ökonomische Fragen wie bezahlbares Wohnen sind existenziell, sodass darüber die psychologischen Aspekte des Wohnens allzu schnell in den Hintergrund geraten. Doch gerade hier vollzieht sich im Zuge der Individualisierung ein tiefgreifender Wandel, der die Gesellschaft insgesamt und damit auch den Menschen verändert. Typisch für Individualisierung ist die Normalisierung von Diversität, was Ulrich Beck an einem Beispiel veranschaulicht hat: „Bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts gab es in den westlichen Gesellschaften ein allgemein anerkanntes Modell von Familie. … Dieses Leitbild einer Normalfamilie bestand aus einem erwachsenen Paar mit leiblichen Kindern. ... Zwar ist die Normalfamilie der beschriebenen Art durchaus nicht verschwunden, aber es gibt vielfältige andere For- Wohnen in der individualisierten Gesellschaft Weniger Ortsverbundenheit? Weniger Gemeinschaft? Wohnen, Individualisierung, Mobilität, Ortsverbundenheit, soziale Orte Antje Flade Wohnen implizierte bislang verortet sein, soziale Einbindung, raumzeitliche Ordnung und Selbstbestimmung. Mit der Individualisierung verändert sich das Wohnen grundlegend. Einflussfaktoren sind die demografische Entwicklung, die Digitalisierung, eine vermehrte räumliche Mobilität und eine anhaltende Verstädterung. Örtliche und soziale Bindungen an den Wohnort verlieren an Bedeutung. Wohnen wird zu einem Extended Stay. Die sozialen Bedürfnisse nach Kontakt und Kommunikation werden nicht mehr in der Wohnung befriedigt. Im komfortablen Smart Home geht die informatorische Privatheit verloren. Bild 1: Kollektive Vereinzelung. © Flade men daneben, und vor allem: die Norm selbst hat an Geltungscharakter verloren“ [1]. Ähnlich hat sich Levin geäußert: „The traditional concept of family and definitions of family norms are increasingly challenged by a range of personal living arrangements“ [2]. Ein aktuelles Beispiel für eine Normalisierung von Diversität ist das in Hamburg geplante Denkmal für sexuelle Vielfalt, das die Akzeptanz gegenüber der Vielfalt unterschiedlicher sexueller Orientierungen einfordern soll [3]. Die demographische und die technologische Entwicklung, die zunehmende Mobilität und eine unübersehbare Verstädterung fördern diesen strukturellen Wandel, dem, von gesellschaftlichen Institutionen unterstützt, der einzelne Mensch ausgesetzt ist [1]. Eine Folge ist eine verstärkte soziale Differenzierung: die Hervorhebung von Individualität und Verschiedenheit. Es entsteht auf diese 37 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Weise ein Kollektiv der vielen Einzelnen, jedoch keine Gruppe [4]. Wie sich diese kollektive Vereinzelung in den Wohnformen widerspiegelt, veranschaulicht das große Gebäude in Bild 1, in dem sich viele kleine Apartments, zugeschnitten auf jeweils nur eine Person, aneinanderreihen und übereinander stapeln. Die Individualisierung wird durch die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie, die neuartige, ortsunabhängige Kommunikationsformen geschaffen hat, und die Verstädterung vorangetrieben. Verstädterung meint nicht allein den Anstieg der Zahl der Einwohner, für die Wohnungen gebaut werden müssen, sondern auch die Folgen dieses Anstiegs, wie bauliche Verdichtung und vermehrte Anonymität und Abschottung von den allzu vielen anderen und Gleichgültigkeit ihnen gegenüber. Die lange Zeit gültige Definition von Wohnen als enges Verbundensein des Menschen mit der physisch-räumlichen Umwelt, mit anderen Menschen und der Gesellschaft [5] trifft offensichtlich nur noch bedingt zu. Gründe für diesen Wandel sind: die starke Gewichtung von Individualität und einer Betonung des Ich gegenüber dem Wir, vermehrte räumliche Mobilität und ein „Weniger Bleiben“ an einem Ort, eine Auslagerung des Soziallebens in den öffentlichen sowie in den virtuellen Raum, eine verringerte raumzeitliche Geordnetheit durch Vermischung der Lebensbereiche Wohnen, Arbeiten und Lernen, reduzierte informatorische Privatheit und ein eingeschränktes Aktivsein. Diese Entwicklungen hängen mehr oder weniger eng zusammen. Sie werden allein aus analytischen Gründen getrennt betrachtet. Weniger Wir Eine verstärkte soziale Differenzierung mit einer Betonung des Ich zuungunsten eines Wir mündet in eine Ich-Bezogenheit, die das Interesse an Belangen, die nichts mit einem selbst zu tun haben, schmälert. Es geht zum Beispiel um die eigene Zukunft, aber weniger um unsere Zukunft oder die Zukunft nachfolgender Generationen [6, 7]. Es bildet sich kein Sozialkapital, das in Gruppen und Gemeinschaften entsteht. „This emotional and practical support, built upon trust and engagement with neighbors, promotes a sense of empowerment and acts as a catalyst for the building of social capital“ [8]. Es entfällt damit die kollektive Effizienz der Gruppe, die mehr erreichen kann, als es ein einzelner Mensch vermag. In einer sich individualisierenden Gesellschaft stehen Gemeinsinn (sense of community) und Gemeinschaftlichkeit infrage. Das Zusammenleben mehrerer Menschen in einer gemeinsamen Wohnung ist nicht mehr vorherrschende Norm. Andere Lebensformen haben an Bedeutung gewonnen. „Die Zahl der Menschen, die als Alleinstehende ohne Partner und Kinder wohnen, steigt“ [9]. Bei denen, die nicht in einer Familie und doch zusammen wohnen, sind es oftmals ökonomische Gründe und Nützlichkeitserwägungen, die es ratsam erscheinen lassen, sich eine Wohnung zu teilen. Studentische Wohngemeinschaften sind nicht selten eine Zweckgemeinschaft, weil das Single-Apartment, das man bevorzugen würde, zu teuer oder auch nicht zu haben ist. Besonders deutlich tritt die Ich-Bezogenheit beim „living-aparttogether“ hervor. Auch wenn man sich als Paar versteht, ist man darauf bedacht, allein zu wohnen [2]. Weniger Bleiben Ein Ort, an dem man längere Zeit bleibt, wird einem vertraut. Man kennt sich aus und fühlt sich dort zuhause. Die Wohnzeit wird verkürzt, wenn das Mobilitätszeitbudget zunimmt. Anzumerken ist hier, dass sowohl ein Zuwenigals auch ein Zuviel- Bleiben problematisch sein können: „Mobility may signify freedom, opportunity, and new experiences but also uprootedness and loss. Similarly, place attachment may imply roots, security, and sense of place but also imprisonment and narrowmindedness“ [10]. Eine mobile Lebensweise mit nur kurzen Phasen des Bleibens bewirkt, dass sich keine stabile räumliche Ortsverbundenheit (rootedness) und keine tiefer gehende soziale Verbundenheit (bondedness) entwickeln können [11]. Die in Bild 2 dargestellte Szene zeigt, welche Bedeutung das Auto, das eine mobile Lebensweise ermöglicht, anstelle der Wohnung bekommen kann. Dass die räumliche Mobilität zugenommen hat, geht aus der Verkehrsstatistik hervor. So haben die zurückgelegten Wegestrecken, der Anteil der Fernpendler, das heißt derjenigen, die für den Weg zwischen Wohnung und Arbeitsort hin und zurück zwei Stunden und länger benötigen [12], und der Anteil der Wochenendpendler, die ein multilokales Wohnen praktizieren, zugenommen. Die möblierten Apartments, in denen sich die Wochenendpendler während der Woche aufhalten, sind kaum Orte, mit denen sie sich emotional verbunden fühlen und im Sinne von: dies ist mein Zuhause, identifizieren. Oftmals handelt es sich um einen „extended stay“ und weniger um Wohnen. Ein Ort wird zu einer Wohnung durch eine selbstbestimmte Gestaltung, durch vielerlei Aktivitäten und durch soziale Kontakte. „Meaning can be constructed through arranging a material setting, through engaging in activities and 38 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt through organizing a social life“ [13]. Ein Ort, an dem man sich nur aufhält, hat diese weiterreichenden Bedeutungen nicht. Weniger soziales Leben Die Wohnung ist vor allem ein Ort des Rückzugs und weniger des Zusammenseins, wenn Menschen allein leben. Die sozialen Bedürfnisse, ohne deren Erfüllung die Menschheit nicht hätte überleben können, und die den Menschen nach wie vor nach sozialen Kontakten streben lassen, werden außerhalb der Wohnung befriedigt, indem man „community gathering places“ aufsucht, wo man auf Bekannte, Nochnicht-Bekannte und auch Unbekannte trifft [14]. Es sind Cafés, Lokale, Bistros und sonstige Orte, die als geeignete Treffpunkte wahrgenommen werden. Diese Orte werden auch als „Third Places“ bezeichnet [14, 15, 16]. Untersuchungsergebnisse belegen, dass diese Treffpunkte im öffentlichen Raum große Bedeutung erlangt haben: „Public places ... may enhance people’s quality of life, sense of attachment, collective and social culture, mental and physical health, and sociability“ [17]. Ein weiterer Grund für das Verschwinden des sozialen Lebens aus der Wohnung sind die neuen Formen von Gemeinschaftlichkeit in Gestalt digital vernetzter Kommunikations- und Infrastrukturen. „More and more of personal experience and social relations become mediated by information and communication technologies, and thus disembedded from their local context. ... modernity and internationalization produce ‚placelessness’ , lacking sense of place and inauthentic physical environments“ [18]. Die physischräumlichen Merkmale und das Ambiente eines Ortes spielen in digitalen Netzwerken und in der Online-Kommunikation keine Rolle. Es kann jeder beliebige Ort sein. Die Wohnung mitsamt der unmittelbaren Wohnumgebung verliert auch aus diesem Grund als sozialer Ort an Bedeutung. Weniger raumzeitliche Geordnetheit Es kann nicht nur zu jedem beliebigen Zeitpunkt und an jedem beliebigen Ort online kommuniziert werden, sondern es kann im Prinzip auch überall gearbeitet werden, wenn dafür nur ein Laptop erforderlich ist. In der Bezeichnung „Homeoffice“ drückt sich der Mix aus Wohnen und Arbeiten aus. Es können zwar zeitaufwändige Wege zur Arbeit entfallen, also Mobilität reduziert werden, es verändert sich jedoch die raumzeitliche Geordnetheit mitsamt den entlastenden Verhaltensroutinen, die den Alltag erleichtern und stressfreier machen [5]. Wenn dann auch noch ein Homeschooling dazu kommt, weil ein normaler Schulunterricht nicht stattfinden kann, muss eine neue Ordnung geschaffen werden. Die Wohnung verliert ihren Charakter als erholsamer Ort, an dem die Kinder nach dem Schulunterricht anderen Aktivitäten nachgehen können und man sich nach der Arbeit im Büro entspannt und sich anderen Aktivitäten widmet. Wenn die Wohnung zum Arbeits- und Lernort wird, erholt man sich draußen - am besten in der freien Natur (Bild 3). Eine raumzeitliche Strukturierung des Alltagslebens ist komplizierter, wenn die Lebensbereiche Wohnen, Arbeiten und Lernen räumlich und zeitlich nicht voneinander getrennt sind. Weniger Umweltkontrolle Umweltkontrolle wird definiert als das Bestreben sowie die Möglichkeit, die Umwelt gestalten und beeinflussen zu können [19]. In der herkömmlichen eigenen Wohnung ist ein selbstbestimmtes Einflussnehmen das Normale. Im Smart Home ist die Umweltkontrolle jedoch begrenzt. Zentraler Bestandteil ist die Sensortechnik, die Daten wie Geräusche, Gerüche, Bewegungen, Temperaturen und Lichtverhältnisse in der Umgebung erfasst, sammelt und analysiert. Persönliche Daten werden so fortlaufend von zahlreichen Sensoren und kleinen versteckten Kameras und mobilen digitalen Geräten registriert. Gängige Verhaltensmuster und Abweichungen von den üblichen Abläufen können identifiziert und bestimmte Tätigkeiten von vernetzten und fernsteuerbaren Geräten und Robotern übernommen werden. Nur in der realen Welt sind Wohnungen nach außen hin abschließbare Räume, jedoch nicht im virtuellen Raum. Smarte Wohnungen reduzieren auf diese Weise die informatorische Privatheit: Der Bewohner wird zum Lieferanten von Daten [20]. Bild 2: „Am schönsten ist´s immer noch im Auto“. (mit freundlicher Genehmigung von © Max Spring) 39 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Tätigkeiten, die man einstmals selbst ausgeführt hat, werden an sprachgesteuerte, internetbasierte, persönliche Assistenten und Robots delegiert. Der Bewohner braucht beispielsweise nicht mehr selbst die Jalousie herabzusenken, um zu viel blendenden Sonnenschein auszuschalten, denn das geschieht mithilfe der installierten Sensoren automatisch. Computersoftware und Roboter machen so aus einem aktiv tätigen einen passiven, rundum „versorgten“ Bewohner, der weniger tun muss. Die emotionale Verbundenheit mit dem Wohnort wird dadurch vermindert, weil Bindungen an Orte auch auf den Aktivitäten beruhen, denen man dort nachgeht. Dieses Tun verleiht dem Ort einen Sinn, den „sense of place“. Ohne diesen hat der Mensch zwar ein Haus, das ihm einen komfortablen „extended stay“ zu bieten vermag, aber nicht unbedingt ein von ihm selbst geprägtes persönliches Zuhause, das weitaus mehr ist als ein Ort für einen verlängerten Aufenthalt. LITERATUR [1] Beck, U.: Jenseits von Klasse und Nation. Individualisierung und Transnationalisierung sozialer Ungleichheiten. Soziale Welt 59, 302 - 325, (2008) S. 305. [2] Levin, L.: Living apart together: A new family form. Current Sociology, 52, 223 - 240, (2004) S. 224. [3] DIE ZEIT: Hamburg Elbvertiefung vom 5. Juni 2020. [4] Beck, U.: Jenseits von Stand und Klasse? Soziale Ungleichheiten, gesellschaftliche Individualisierungsprozesse und die Entstehung neuer sozialer Formationen und Identitäten. In: Kreckel, R. (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt, Sonderband 2, (1983) S.-35 - 74. [5] Dovey, K.: Home and homelessness. In: Altman, I., Werner, C. M. (Hrsg.): Home environments (1985) S. 33 - 64). New York: Plenum Press. [6] Schultz, P. W.: Empathizing with nature. The effects of perspective taking on concern for environmental issues. Journal of Social Issues, 56, (2000) S. 391 - 406. [7] Schultz, P. W., Shriver, C., Tabanico, J. J., Khazian, A. M.: Implicit connections with nature. Journal of Environmental Psychology, 24, (2004) S. 31 - 42. [8] Ross, A., Searle, M.: A conceptual model of leisure time physical activity, neighborhood environment, and sense of community. Environment and Behavior, 51, 749 - 781, (2018) S. 750. [9] Statistisches Bundesamt & Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in Zusammenarbeit mit dem Sozio-oekonomischen Panel am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (Hrsg.): Datenreport. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, (2018) S. 51. [10] Billig, M.: Is my home my castle? Place attachment, risk perception, and religious faith. Environment and Behavior, 38, 248 - 265, (2006) S. 250. [11] Gustafson, P.: Mobility and territorial belonging. Environment and Behavior, 41, (2009) S. 490 - 508. [12] Ruppenthal, S., Lück, D.: Jeder fünfte Erwerbstätige ist aus beruflichen Gründen mobil. Informationsdienst Soziale Indikatoren (ISI), Sonderausgabe (2013), S.-56 - 60. Bild 3: Erholung jenseits des Homeoffice. © Grafik von Niels Flade Dr. Antje Flade Diplom-Psychologin Angewandte Wohn- und Mobilitätsforschung (AWMF), Hamburg Kontakt: awmf-hh@web.de AUTORIN [13] van der Klis, M., Karsten, L.: Commuting partners, dual residences and the meaning of home. Journal of Environmental Psychology, 29, 235 - 245, (2009) S. 236. [14] Metha, V., Bosson, J. K.: Third places and the social life of streets. Environment and Behavior, 42, (2010) S.-779 - 805. [15] Oldenburg, R.: Celebrating the Third Place: Inspiring Stories About the Great Good Places at the Heart of Our Communities. New York, Marlowe, 2001. [16] Flade, A.: Third Places - Reale Inseln in der virtuellen Welt. Ausflüge in die Cyberpsychologie. Springer Wiesbaden, 2017. [17] Abdulkarim, D., Nasar, J. L.: Do seats, food vendors, and sculptures improve plaza visitability? Environment and Behavior, 46, 805 - 825, (2014) S. 805f.. [18] Gustafson, P.: Meanings of place: Everyday experience and theoretical conceptualizations. Journal of Environmental Psychology, 21, 5 - 16, (2001) S. 59. [19] Fischer, M., Stephan, E.: Kontrolle und Kontrollverlust. In: Kruse, L., Graumann, C. F., Lantermann, E.- D. (Hrsg.): Ökologische Psychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. Psychologie Verlags Union, Weinheim (1996) S. 166 - 175. [20] Lück, A.-K.: Der gläserne Mensch im Internet. Kohlhammer, Stuttgart, 2013. • Eine ausführliche Darstellung der Thematik findet sich in dem Buch: Flade, A.: Wohnen in der individualisierten Gesellschaft. Psychologisch kommentiert. Springer, Wiesbaden, 2020. 40 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Indische Städte haben innerhalb kürzester Zeit einen teils dramatischen Wandel vollzogen. 2018 lebten 461 Mio. Menschen in Städten, das sind rund 34-Prozent der Gesamtbevölkerung Indiens. Es wird erwartet, dass sich diese Zahl bis zum Jahr 2050 um weitere 416 Mio. Städter erhöhen wird. 1 Während das Augenmerk der (Fach-)Öffentlichkeit zumeist auf den großen Metropolen und Mega-Polis Neu- Delhi, Mumbai, Bangalore oder Hyderabad liegt, 1 United Nations, Department of Economic and Social Affairs, Population Division: World Urbanization Prospects - The 2018 Revision. New York, (2019) S. 43. konzentriert sich das Hauptwachstum insbesondere in den außerhalb Indiens eher unbekannten Mittel- und Großstädten. Hier übt die hohe Dynamik des Bevölkerungswachstums einen besonders großen Druck auf alle Systeme der Stadt aus, da die Ausgangssituation dort meist schlechter ist, als in Städten mit einer deutlich längeren Planungshistorie. Wo Mumbai und Delhi zumindest in Teilen auf dem kolonialen Erbe aufbauen und dieses erweitern konnten, sind die Ansätze hingegen in anderen Städten weitaus weniger ausgeprägt. Und so steigen die Herausforderungen in allen Bereichen - der Wohnraumversorgung, der sozialen Infrastruktur, dem Verkehrswesen, den grünen Infrastrukturen. Den strukturellen Entwicklungsstau der Jahrzehnte seit der Unabhängigkeit aufzuholen, ist ein Kraftakt, der kaum bewältigbar scheint. Und doch wird in vielen Teilen des Landes versucht, mit Hilfe neuer Denkansätze und Technologien Entwicklungsstufen zu überspringen und im Sinne des „Leapfroggings“ Antworten auf Herausforderungen der Stadtentwicklung zu finden. Diese Entwicklungssprünge zu erreichen, war erklärtes Ziel der „Smart Cities Mission“, einem nationalen Stadtentwicklungsprogramm, das die Entwicklung und Umsetzung von Projekten fördern sollte. In einem Wettbewerbsverfahren konnten sich Städte um Fördermittel bewerben. Hierzu mussten sie binnen kürzester Zeit einen gesamtstädtischen sowie einen lokalen, kleinräumigen Ansatz ausarbeiten. Letzterer konnte entweder die Neuentwicklung (Greenfield), die Umnutzung (Brownfield) oder aber die Aufwertung (Rejuvination) von Stadtgebieten betreffen. Eine Förderzusage erzeugte für die erfolgreichen Städte zumeist ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Attraktivität für internationale Geber und Anbieter von Systemlösungen. Für die Gesamtstadt ergaben sich Konzepte für Sicherheits- und Verkehrslenkungssysteme sowie für Datenzentren zur Verschneidung einer effizienteren Steuerung von Stadtsystemen. Auf der lokalen Ebene war die Bandbreite der vorgeschlagenen Lösungen größer. Jedoch ist auch hier auffällig, dass es zumeist Einzellösungen waren, deren Vernetzungsgedanke allzu schnell an nutzungsrechtlichen oder betriebswirtschaftlichen Fragen scheiterte. Durch die starke Fokussierung auf die Umsetzung von Einzelprojekten gelang es schließlich nur selten, die angestrebte integrierte Betrachtung von Stadtentwicklungsfragen umzusetzen. Zahlreiche Smart City-Initiativen lagen so brach oder wurden nach Ende der Pilotphasen nicht weiterverfolgt. Zudem wurde eine intensive Bürgerbeteiligung - eigentlich Teil der Zugangsbedingungen für Teilnehmerstädte - in der Realität Climate Smart Cities Klimawandelanpassung durch Ko-Kreation in indischen Großstädten Klimaanpassung, Urban Design Thinking, Ko-Kreation, Nachhaltigkeitsforschung, Integrierte Stadtentwicklung, Smart Cities Marcus Jeutner Das im Jahr 2015 veröffentlichte Stadtentwicklungsprogramm „Smart City Mission“ stellte in Indien den Versuch dar, drängende Herausforderungen der Stadtentwicklung mit Hilfe von smarten Technologien zu lösen. Die 100 beteiligten Städte setzten hierbei überwiegend auf Systemlösungen, deren Kern Informations- und Kommunikationstechnologien bildeten. Das Projekt „Climate Smart Cities“ unterstützt die drei indischen Großstädte Bhubaneswar, Coimbatore und Kochi bei der Umsetzung eines Entwicklungsansatzes, der nicht technologische Möglichkeiten an den Anfang von Entwicklungsprozessen stellt, sondern vielmehr dringende Notwendigkeiten zur Klimaanpassung. Bild 1: Power cut - Präsentation der Arbeitsergebnisse. © Marcus Jeutner, 2020 41 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt kaum gelebt. Hierdurch wurden zahlreiche Aktivitäten als reine Top-Down-Ansätze wahrgenommen und von den vorgesehenen Nutzer*innen nicht angenommen. Nicht selten verfehlten sie durch die fehlende Einbindung von Bürger*innen und lokalen Akteuren ihre angedachte Wirkung oder der Betrieb konnte nicht lange aufrechterhalten werden. Mit Fortschreiten der Smart City-Aktivitäten war zu beobachten, dass neben strukturellen Fragen der Nachhaltigkeit immer öfter auch Fragen von Lebensqualität und Teilhabe im Zentrum von Projekten stehen. Indien wird jährlich von Wetterextremen getroffen, welche durch ihr häufigeres und unberechenbareres Auftreten als klare Folge des voranschreitenden Klimawandels angesehen werden. Ob durch Hitzewellen, das Ausbleiben des Monsuns, Trockenperioden oder - nicht selten im direkten Wechsel - Starkregen und Überschwemmungen: Die Menschen spüren die Auswirkungen des Klimawandels auf das alltägliche Leben fast überall im Land. Städte werden global sowohl als Treiber als auch als Opfer von Klimaveränderungen angesehen. Wie an vielen Orten der Welt müssen sich auch indische Städte den heute und in Zukunft spürbaren Folgen des Klimawandels anpassen. Die klimatische Herausforderung in indischen Städten lässt sich in folgende fünf Aspekte zusammenfassen: 1. Steigende Durchschnittstemperaturen 2. Steigende Spitzentemperaturen 3. Steigende jährliche Niederschlagsmengen 4. Sinkende Zahl von Regentagen pro Jahr 5. Steigende Zahl von Trockenereignissen Betrachtet man diese Faktoren ganzheitlich bedeutet dies, dass Wasserknappheit und Hitzestress den Alltag der Menschen in Indien spürbar prägen werden. Städte wie Bhubaneswar wurden in den vergangenen Jahren wiederholt von schweren Tropenstürmen und damit einhergehenden Starkregenfällen getroffen. Die städtischen Infrastrukturen waren diesen immensen Anforderungen nicht gewachsen, sodass es zu starken Überflutungen kam. Jedoch genügt auch schon ein zweistündiger, regulärer Regen, um ganze Straßenzüge zumindest zeitweise unter Wasser zu setzen. Zu klein dimensionierte und durch Müll verstopfte Regenwasserkanäle vermögen es nicht, diese Wassermengen abzuleiten. Hinzu kommt, dass in die Kanäle nicht selten auch Schmutzwasser eingeleitet wird, und zusätzlich undichte Frischwasserrohre das Regenwassersystem an seine Grenzen bringen. Der Umgang mit temporären Überflutungen gehört also stellenweise zur wiederkehrenden Routine der Menschen vor Ort. Die hohe Dynamik der Bauaktivitäten für Wohn- und Geschäftsgebäude sowie für Infrastrukturen und das Verschwinden von Grünreserven und Wasserflächen verstärkt diese Effekte zusätzlich. Der Stadtentwicklung und insbesondere der Flächennutzungsplanung wird hierbei oft eine Schlüsselrolle zugeschrieben, da sie die Grundlagen für nachhaltigere Stadtstrukturen legen könnten. Ko-Kreation und Kollaboration Klimaanpassung, Steigerung der Resilienz, Digitalisierung - Transformationsaufgaben stellen Städte weltweit vor vielschichtige Herausforderungen. Das betrifft vor allem bereits existierende Stadtstrukturen, die nicht einfach entfernt und von Grund auf neu entwickelt werden können. Hinzu kommt, dass Transformationsprozesse nicht allein technokratische, politische oder technologische Aufgaben sind, da Städte nicht allein aus Stahl, Beton, Glas und Datenströmen geformt werden. Sie werden tagtäglich durch individuelle lokale Bedingungen und ihre Menschen mit ihren täglichen Routinen im Privat- und Arbeitsleben neu geprägt. Die „Sustainable Development Goals“ oder internationale Abkommen, wie die auf der „United Nations Conference on Housing and Sustainable Urban Development (Habitat III)“ beschlossene „New Urban Agenda“ oder das „Pariser Klimaabkommen“ zeigen verschiedene globale Handlungsrahmen auf, aus denen lokale Maßnahmen zur Bewältigung von Transformationsaufgaben abgeleitet werden sollen. Diese berühren früher oder später Bereiche des alltäglichen Handelns und Verhaltens von Individuen und deren Bereitschaft, sich diesen neuen Gegebenheiten anzupassen und sich neuen Lösungen gegenüber zu öffnen. Durch die schier unüberblickbare Zahl von zu berücksichtigenden Perspektiven steigt die scheinbare Komplexität der urbanen Herausforderungen. Somit zeigen heutige Entwicklungs- und Transformationsaufgaben einen eindeutigen Bedarf nach ko-kreativen Innovationsformaten auf, die Bild 2: Ist der Klimawandel wahrnehmbar? Umfrageergebnisse aus Coimbatore. © Marcus Jeutner, Alina Reuschling, Melanie Steinkemper 42 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Städte in die Lage versetzen, durch Kollaboration auf ihre individuellen Bedarfe zugeschnittene Lösungen zu entwickeln. Insbesondere die Aufstellung und Umsetzung von Klimaaktionsplänen oder Energieeffizienzstrategien berühren im hohen Maße das individuelle Verhalten von Bürger*innen und lokalen Akteuren. Ein kollaborativer Innovations- und Entwicklungsansatz kann hierbei Hebelwirkungen freisetzen, die Städten bei der Umsetzung von internationalen Entwicklungsaufgaben helfen könnten. Internationale Erfahrungen der letzten Dekade im Bereich Smart Cities zeigen klar, dass auch hier die Fokussierung auf allein technologische Fragen nicht unbedingt zum Erfolg führt. Durch die reine Umsetzung von standardisierten Kataloglösungen und Best Practice-Beispielen konnte selten eine wirkliche Vernetzung von verschiedenen Handlungsebenen einer Stadt erreicht werden. Insbesondere in diesem Bereich wuchs die Erkenntnis, dass es offene Innovationsprozesse braucht, in welchen konkrete lokale Herausforderungen identifiziert, definiert und gemeinschaftlich gelöst werden. Genau hier setzen die Überlegungen eines Teams an der TU Berlin an, welches kollaborative Ansätze und offene Innovationsformate erforscht und weiterentwickelt, um Städte in der Bewältigung ihrer Herausforderungen zu unterstützen. Kern dieser Formate stellen Urban Labs dar, in denen gemeinsam mit Vertreter*innen aus unterschiedlichen Hintergründen (sozial, institutionell, professionell, privat) zusammengearbeitet wird. Dabei wird die Methode des „Urban Design Thinking“ eingesetzt, die Ansätze privatwirtschaftlicher Innovationsprozesse in urbane Kontexte weltweit überträgt. Kern sind dabei zum einen die engen Bezüge zum jeweiligen Raum und den Menschen und Akteuren in ihm sowie der experimentelle Ansatz, der das frühe Scheitern als positiven Schritt zur Lösung eines Problems ansieht. Als Teil der „Indo-German Smart Initiative (IGSI)“ transferiert das Team der TU Berlin diesen Innovationsansatz seit 2017 in verschiedene Kontexte der indischen Stadt- und Smart City-Entwicklung. Im Rahmen des Projekts „Climate Smart Cities“ fördert es die Entwicklung von smarten, lokalen Lösungen zur Bewältigung des Klimawandels in indischen Städten. Initiiert und begleitet werden Innovationsprozesse in drei Städten und Bundesstaaten. Dabei stehen in jeder der drei Städte verschiedene Kernthemen im Mittelpunkt. Während in Kochi (Kerala) Konzepte für Green Buildings entwickelt werden, sind dies in Bhubaneswar (Odisha) Stormwater Management und in Coimbatore (Tamil Nadu) Green City Networks. Ziel ist dabei jedoch nicht die isolierte Betrachtung von Einzelthemen, sondern auch die Förderung des vernetzten, integrierten Denkens und Planens, das insbesondere auf die Übertragbarkeit von Lösungen abzielt. Zur Eingrenzung der lokalen klimatischen Herausforderung führte das Projektteam im Sommer 2019 in den drei Projektstädten eine Onlinestudie durch. Via Social Media wurden Bewohner*innen und Akteure von drei Nachbarschaften zu ihrer Wahrnehmung von Veränderungen der lokalen klimatischen Bedingungen und deren Auswirkungen auf ihre persönliche Lebenssituation befragt. In jeder der drei Städte beteiligten sich jeweils mehr als 1 000 Individuen. Frei in ihrer Antwort nach Veränderungen, bestätigten je nach Stadt bis zu 90-% der Teilnehmenden einen deutlich spürbaren Wandel bei Hitze, ausbleibendem Monsunregen, Dürreperioden sowie auch bei immer wieder lokalen Überflutungen bei Regen. Als Folgen dieser Entwicklung wurden körperliche (Müdigkeit, Kopfschmerzen) und finanzielle Beeinträchtigungen (steigende Energiekosten durch Einsatz von Kühlgeräten, steigende Trinkwasserkosten) genannt. Lokale Gewerbetreibende benannten zudem das Ausbleiben von Kundschaft sowie wiederkehrende Reparaturkosten als direkte Folgen. Der Klimawandel wird also nicht nur von Expert*innen wahrgenommen, sondern auch von den Menschen vor Ort auf lokaler Ebene. In der Folge bildeten die Erkenntnisse den Ausgangspunkt für drei Innovationsworkshops mit Vertreter*innen der jeweiligen Stadtverwaltungen, von NGOs, Unternehmen und Verbänden. In allen Städten steht der Prozess im Mittelpunkt der Arbeit. Zusammen mit lokalen Akteuren werden spezifische Herausforderungen identifiziert und beschrieben, potenzielle Lösungsräume aufgespannt und Machbarkeitsstudien für eine prototypische Umsetzung und Skalierung von gefundenen Ansätzen geprüft. Begleitet wird dies durch die Erarbeitung eines Monitoring-Systems, welches nicht nur der Erfolgskontrolle, sondern städtischen Akteuren auch bei der Priorisierung von späteren Folgemaßnahmen dienen soll. Weitere Informationen: www.igsi.info Marcus Jeutner, M. Sc. Stadtplaner Technische Universität Berlin Institut für Stadt- und Regionalplanung Kontakt: m.jeutner@isr.tu-berlin.de AUTOR Climate Smart Cities wird koordiniert durch die Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (giz) GmbH und wird gefördert durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) im Rahmen der Internationalen Klimaschutzinitiative (IKI). 43 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Stadtentwicklung in der Digitalen Transformation Mit den sciencefictionhaften und sehr technischen Bildern von Städten, die schon fast an das NASA Space Settlement Project oder dessen Neuinterpretation im Film Elysium erinnern, trugen große Unternehmen und Forschungseinrichtungen zu einem Hype um Smart City bei [1, 2, 3]. Chancen wurden dabei überhöht, Risiken traten in den Hintergrund. Die Visionen waren so groß, dass eine Umsetzung für Städte in Deutschland unrealistisch erschien. Die Bilder änderten sich in den letzten Jahren. Zum Be- Stadtentwicklung digital gestalten Von Smart City und Smart Country zur Digitalen Stadt Digitale Transformation, Stadtentwicklung, Smart City, Digitale Stadt Andrea Jonas, Lars Porsche Smart City ist seit mindestens einem Jahrzehnt ein Thema in der Stadtentwicklung. Aktuell hat es sich zu einem Leitmotiv entwickelt, das längst nicht mehr nur auf Großstädte beschränkt ist. Der Artikel gibt einen Überblick über Stadtentwicklung in der digitalen Transformation. Die Autoren beschreiben räumliche Unterschiede zwischen verschiedenen Stadt- und Gemeindetypen und stellen beispielhaft Aktivitäten des Bundes vor. © Koukichi Takahashi on Unsplash griff selbst und zu dem, was Smart City für deutsche Städte bedeuten kann, ist eine breite und konstruktive Diskussion entstanden. Sie fokussiert nicht mehr nur auf Großstädte. Smart City ist seit mindestens einem Jahrzehnt Thema in der Stadtentwicklung. Mittlerweile ist sie ein Leitmotiv in entsprechenden Konzepten. Für den Begriff Smart City gibt es viele Definitionen. Sie reichen von einer umfassenden und integrierten Stadtentwicklung, die Ökonomie, Ökologie und Soziales in den Blick nimmt und die bestehenden Konzepte der Stadtentwicklung um einen technischen Aspekt 44 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt ergänzt, bis hin zu einer extremen Fokussierung auf den Einsatz neuer Informations- und Kommunikationstechnologien [4 - 9]. Die „Smart City Charta“ des Bundes legt in der Präambel fest, dass Smart Cities nachhaltiger und integrierter Stadtentwicklung verpflichtet sind [7]. Neben dem Begriff der Smart City entstand in den vergangenen Jahren der Begriff Smart Country, der sich auf Entwicklungen zur Digitalen Transformation in ländlichen Räumen bezieht [10 - 14]. So verweisen Wiechmann und Terfürchte darauf, dass zwar „die Diskussion im Zusammenhang mit Digitalisierung breit geführt [wird], doch die Handlungsfelder von ‚Smart Cities‘ … auf den spezifischen Herausforderungen urbaner Räume [fußen]“ [15]. Damit sind vornehmlich Großstädte gemeint. Somit „greift die Einordnung in City als ‚urbane Räume‘ und damit (groß-)städtische Räume sowie andererseits Country als ‚nicht-städtisch‘ bzw. ‚ländlich‘ [z. B.]) für Kleinstädte jedoch viel zu kurz: Kleinstädte sind urbane Räume oder Teilräume der Kleinstädte weisen urbane Prägungen auf“ [16]. Die Kritik an Begriff und Umsetzung von Smart City ist mannigfaltig und bezieht sich vor allem auf folgende Aspekte: Großstadtfixierung Technikgetriebenheit keine soziale Integration, kein Empowerment und wenig soziale Komponenten Digitale Kluft Diese kritische Betrachtungsweise wird derzeit in konstruktiven Diskursen zu digitaler Transformation und Stadtentwicklung aufgenommen. Nicht erst aufgrund der Covid-19-Pandemie zeigen sich Chancen, Notwendigkeiten und Risiken der Digitalisierung für Städte und Gemeinden und die gesamtgesellschaftliche Entwicklung auf [17 - 20]. Es geht letztlich um die Frage, wie die Digitalisierung positiver Bestandteil der Stadtentwicklung und Transformation unserer Städte und Gemeinden werden kann. Räumliche Prozesse / Ausprägungen der digitalen Transformation Prozesse der Transformation wirken auf Kommunen räumlich wie strukturell unterschiedlich stark. Die großen Techfirmen und Plattformanbieter, wie unter anderem Cisco, IBM, Alphabet, etc. interessieren sich nur in eingeschränktem Maße dafür, ihre Technologien und Dienstleistungen an Orten mit geringeren Besiedlungsdichten und dispersen Bevölkerungsverteilungen anzubieten. Vor allem die Daten als Kernressource für die im Bereich der Digitalisierung tätigen Unternehmen „fallen nirgendwo so zahlreich an wie in der dicht besiedelten Stadt“ [22]. Großstädte liegen damit bei der Etablierung technischer Infrastrukturen klar im Vorteil und sind meist Vorreiter der digitalen Transformation. Das hat weitere Gründe, unter anderem: technische Voraussetzungen (bestehen oder sind leicht zu implementieren) hohe Anzahl und Dichte an Unternehmen, Behörden etc. (als potenzielle Kunden und Datenquellen) Voraussetzungen in der Verwaltung (ausdifferenziert, oft besteht ein Referat oder eine Abteilung zum Thema, damit sind fachliche Ansprechpartner vorhanden) einfacherer Zugang zu Fördergeldern und Umsetzung von Smart City-Vorhaben Kleinstädte müssen sich dagegen je nach Lage örtlich angepasste Lösungen und Entwicklungspartner abseits großer Techfirmen und -lösungen suchen [23]. Themen der Digitalisierung in Stadt und Region Über alle Stadt- und Gemeindetypen hinweg lassen sich eine „Generation Gap“ und sehr unterschiedliche „Mindsets“ feststellen, sowohl für Akteure der Zivilgesellschaft als auch für politische Entscheidungsträger. „Generation Gap“ meint die unterschiedlichen Zugänge zur digitalen Transformation der verschiedenen Generationen. „Die Spannweite reicht von der Generation der Großeltern, die nicht in eine ‚digitale Welt ‘ hineingeboren wurde, bis zur Generation der sogenannten ‚digital natives‘ “ [23]. „‚Mindset ‘ bezieht sich auf den ‚Faktor der Mentalität bzw. Aufgeschlossenheit gegenüber der digitalen Transformation. Damit stehen sich oft Forderungen schneller Einführungen digitaler Lösungen und eines behutsamen bis ablehnenden Vorgehens gegenüber. Des Weiteren führt dies dazu, dass ein Grundverständnis für die Folgen der Digitalisierung - positiv wie negativ - nicht immer vorhanden ist. Dies betrifft sowohl Akteure der Zivilgesellschaft …, [sic] als auch politische Entscheidungsträger‘ “- [23]. Der Begriff Digitalisierung hat im Deutschen verschiedene Bedeutungen. Er ist nicht klar trennbar von dem der „Digitalen Transformation“. Digitalisierung umfasst sowohl den Prozess der Verarbeitung bzw. Umwandlung von analogen zu digitalen Informationen in digitale Formate (englisch: digitization), als auch die Etablierung und Nutzung von digitalen Informationen und Technologien (englisch: digitalization). Der Begriff der „Digitalen Transformation“ (auch digitaler Wandel) beschreibt hingegen den Veränderungsprozess der gesamten Gesellschaft und Umwelt aufgrund von digitalen Informationen und Technologien bzw. deren Nutzung. Das heißt, auch Digitalisierung wird hierunter verstanden. [21] DIGITALISIERUNG 45 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt mind. 50 Mbit/ s mind. 100Mbit/ s Bund 80,5 66,0 Großstädte 92,8 86,3 Mittelstädte zentral 88,4 72,8 Mittelstädte peripher 83,7 73,6 Kleinstädte zentral 73,7 52,6 Kleinstädte peripher 61,7 43,0 Landgemeinden zentral 62,5 34,5 Landgemeinden peripher 44,6 18,3 Potenziell versorgbare Haushalte mit Breitbandanschluss 2017 in Prozent aller Haushalte- nach Lage* Unabhängig von diesen Unterschieden müssen sich derzeit Kommunen aller Größenklassen aufgrund des Onlinezugangsgesetzes mit der Digitalisierung der Verwaltung befassen [24]. Eine Befragung im „Zukunftsradar Digitale Kommune“ [25] zeigt, welche Themen Kommunen derzeit diskutieren. Im Bereich Digitalisierung gibt es deutliche Unterschiede: Große Städte nennen insbesondere die Verwaltung (86- %) und die Bildung (57-%). Erst danach folgen Mobilität und Infrastruktur (mit jeweils 14-%). Vor allem Wirtschaft, Bildung und Zivilgesellschaft zeichnen sich (dagegen) als Themen von Städten bis 10 000 Einwohner ab. Zusammen mit den Städten bis 100 000 Einwohner werden Infrastruktur und vor allem die bereichsübergreifende Vernetzung herausgestellt, die für die Großstädte, über 100 000 Einwohner, scheinbar keine Rolle spielen [25]. Unabhängig von der Gemeindegröße messen die befragten Kommunen weiterhin dem Breitbandausbau die höchste Relevanz zu. Jedoch betonen sie darüber hinaus weitere Faktoren wie die notwendige Personalausstattung, ausreichende Finanzmittel oder die technische Ausstattung [25, 26]. Ähnlich sind auch die Ergebnisse eines Workshops zur digitalen Transformation und Kleinstadtentwicklung des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). Wirtschaft und vor allem die Vernetzung hoben die Teilnehmer*innen hervor. Wesentlich deutlicher benannten sie aber den Handlungsbedarf im Bereich Verwaltung [23]. Darüber hinaus waren die folgenden Punkte zentral: Vernetzung (intern wie extern) Kooperation (intern) wie mit anderen Kommunen, auch Großstädten (voneinander lernen) Verwaltung, Technik Einbindung der eigenen Bevölkerung (Teilhabe und Empowerment) Einbindung ehemaliger Bewohner, mit digitalen Kompetenzen Begriff „Digitale Stadt“ statt „Smart City“ Schon dabei? Größe und Lage entscheiden Eine digitale Kluft zeigt sich besonders deutlich in der notwendigen Infrastrukturausstattung, allen voran der Breitbandversorgung. Bei der Versorgung mit leistungsfähigem Breitband gab es 2017 starke Unterschiede je nach Stadt- und Lagetyp. 100 Mbit/ s gelten heute als Voraussetzung zur Gestaltung des digitalen Wandels. Nur knapp die Hälfte aller Kleinstädte kann damit dienen. In Großstädten ist der Anteil mit 86- % deutlich höher. Wesentlich für den Versorgungsgrad ist neben der Gemeindegröße auch die Lage. Dieser ist in Kleinstädten in peripherer Lage bezogen auf 100- Mbit/ s um fast 10- % niedriger als in Kleinstädten in zentralen Lagen. Insgesamt stellte sich die potenzielle Versorgung von Kleinstädten in peripherer Lage als weit unterdurchschnittlich dar (vgl. Tabelle 1). Zusammenfassend gilt daher: Je kleiner eine Stadt und je peripherer ihre Lage, desto geringer die Breitbandausstattung“ [16, 28]. Im internationalen und europäischen Vergleich hat Deutschland hinsichtlich der Breitbandversorgung noch deutlichen Aufholbedarf. Bei der Versorgung mit schnellem Internet (100 Mbit/ s) liegt die Bundesrepublik im europäischen Vergleich sogar im hinteren Drittel [29]. Räumliche Unterschiede zeigen sich auch bei modernen Arbeitsformen wie dem mobilen Arbeiten. Der technologische Fortschritt ermöglicht in vielen Berufen ein zumindest temporäres oder vorübergehend ortsunabhängiges Arbeiten (vgl. Beispiel CoWorkLand [30]). Homeoffice, Telearbeit oder mobiles Arbeiten nutzen in Deutschland derzeit circa 13-% der Berufstätigen [31, 32]. 0 20 40 60 80 100 mit mindestens 50 Mbit/ s mit mindestens 100 Mbit/ s Quelle: eigene Darstellung, Daten BBSR 2018 *Stadt- und Gemeindetypen entsprechend der Definition des BBSR (BBSR o.J.a) Potenziell versorgbare Haushalte mit Breitbandanschluss 2017 nach Stadt- und Gemeindetypen* Bund Großstädte Mittelstädte Kleinstädte Landgemeinden Bild 1: Potenziell versorgbare Haushalte mit Breitbandanschluss, 2017 - Stadt- und Gemeindetypen (entsprechend der Definition des BBSR [27]) © Jonas, Porsche, Daten BBSR LRB 2018 Tabelle 1: Haushalte mit einem potenziellen Breitbandanschluss von mind. 50 bzw. 100 Mbit/ s, 2017, in Prozent aller Haushalte - nach Lage (entsprechend der Definition des BBSR [27]) © Jonas, Porsche, Daten BBSR LRB 2018 46 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Die grundsätzliche Nutzung von Homeoffice unterscheidet sich regionsspezifisch 1 zwar kaum (Bild- 2), dafür aber die Häufigkeit. In Metropolen arbeiten Berufstätige, die Homeoffice nutzen, durchschnittlich 2,1 Tage pro Woche im Homeoffice. Im kleinstädtischen, dörflichen Raum in Stadtregionen sind es hingegen 2,8 Tage und im kleinstädtischen, dörflichen Raum in ländlichen Regionen 3,4-Tage. Somit zeigt sich, dass in peripheren Räumen wohnende Menschen länger im Homeoffice arbeiten [31]. Die aktuelle Corona-Pandemie könnte hier Veränderungen bewirken. Mit 86 % nutzt die große Mehrheit der Bevölkerung heute regelmäßig das Internet. In Großstädten (90 %) liegt der Anteil der Internetnutzer dabei leicht über dem in kleinen Städten (85 %) oder auf dem Land (84 %) [32]. Auch die Kompetenzen im Umgang mit digitaler Technik steigen. Heute zählen 44 % der Menschen zu den „Digitalen Vorreitern“, 38- % zu den „Digital Mithaltenden“ und 18-% zu den „Digital Abseitsstehenden“ [32]. Das frühere „digitale Stadt- Land-Gefälle“ [32] besteht laut aktuellen Untersuchungen zumindest bezogen auf die Kompetenz nicht mehr. Forschungen und Förderungen des Bundes In einem gemeinsamen Dialog erarbeiten Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft Leitlinien für Smart Cities in Deutschland. Ein Ergebnis ist die 2017 verabschiedete „Smart City Charta“ [7]. Sie unterstützt Kommunen dabei, Chancen und Risiken einer zukunftsorientierten Stadtentwicklung frühzeitig zu erkennen und Fehlentwicklungen zu vermeiden. 1 Der regionalspezifischen Untersuchung liegt die Regionalstatistische Raumtypologie des BMVI zugrunde (https: / / www.bmvi.de/ SharedDocs/ DE/ Artikel/ G/ regionalstatistische-raumtypologie.html) Zentraler Bestandteil der Charta sind vier Leitlinien, die bei der Gestaltung der Digitalisierung in Städten und Gemeinden im Sinne des Gemeinwohls unterstützen sollen. Digitale Transformation braucht demnach: 1. Ziele, Strategien und Strukturen 2. Transparenz, Teilhabe und Mitgestaltung 3. Infrastruktur, Daten und Dienstleistungen 4. Ressourcen, Kompetenzen und Kooperationen Aufbauend auf dem Dialog und der Charta startete 2019 mit den Modellprojekten „Smart Cities made in Germany“ das umfassendste deutsche Vorhaben zu kommunalen Smart City-Strategien und -Projekten. Das BBSR und die KfW-Bankengruppe unterstützten das BMI bei der Förderung der Modellprojekte. Für die erste Staffel 2019 wählte eine Jury 13 Kommunen unterschiedlicher Größenklassen beziehungsweise interkommunale Kooperationen aus. Geplante Umsetzungsvorhaben der integrierten Stadtentwicklung umfassen unter anderem eine smarte Quartiersentwicklung in Bestandsgebieten, die Nutzung neuer Datenquellen für die Stadtentwicklung und -planung, neue digitale Formate der Bürgerbeteiligung, den Aufbau urbaner Datenplattformen oder digitale Anwendungen zur Stärkung des Einzelhandels [34] (mehr Informationen unter: www.smart-cities-made-in.de). Während zu Beginn des Themas „Smart City“ vor allem Großstädte im Fokus standen, richten sich die Aktivitäten der letzten Jahre an Städte und Gemeinden aller Größenklassen. Unterstützung zur Gestaltung des digitalen Wandels in den Kommunen erfolgt zudem über unterschiedliche Projekte des Forschungsclusters „Smart Cities“ des BBSR [35]. Beispielhaft lässt sich hier das Projekt „Die digitale Stadt gestalten“ aufführen. Die Beteiligten entwickeln darin konkrete Handreichungen zur Erstellung von Smart City-Strategien und -Projekten und erproben diese mit Kommunen [36]. Die Kleinstadtakademie des BBSR befasst sich konkret mit der Gestaltung des digitalen Wandels vor Ort [23, 37]. Das Vorhaben Heimat 2.0 fokussiert auf dem Einsatz digitaler Technologien in strukturschwachen ländlichen Räumen [38]. Von Smart City und Smart Country zur Digitalen Stadt? ! Im Mittelpunkt der anfänglichen Diskussionen zur Smart City standen vor allem Technik und ihre Umsetzung in der Stadt. Mit dem „Erwachsenwerden der Smart City“ [39] rückt immer mehr der Mensch in den Fokus. Um den digitalen Wandel zu gestalten, muss es der Stadtgesellschaft möglich sein, digitale Lösungen für die Entwicklung ihrer Anliegen und 2,6 2,1 2,5 2,4 2,8 2,7 2,8 3,4 0 1 2 3 4 insgesamt Stadtregion - Metropole Stadtregion - Regiopole und Großstadt Stadtregion - Mittelstadt, städtischer Raum Stadtregion kleinstädtischer, dörflicher Raum ländliche Region zentrale Stadt ländliche Region - Mittelstadt, städtischer Raum ländliche Region - kleinstädtischer, dörflicher Raum Bild 2: Nutzung von Homeoffice nach Regionstypen (Anzahl der Tage, die im Durchschnitt pro Woche von zu Hause gearbeitet wird) © BMVI 2018, Daten „Mobilität in Deutschland 2017 (33)“ 47 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt ihrer Stadt eigenständig zu nutzen und weiterzuentwickeln. Eine Lücke zwischen digital affinen und weniger affinen Bevölkerungsgruppen sollte möglichst erst gar nicht entstehen. Teilhabechancen und Empowerment hängen aber immer noch stark von der Verfügbarkeit schnellen Internets ab. Eine digitale Kluft besteht hier deutlich zwischen den Stadttypen, vor allem in peripheren Lagen. Die Differenzierung um die Begriffe Smart City und Smart Country mag einem speziellen Diskurs und einer speziellen Betrachtung für ländliche Räume helfen. Für die Weiterentwicklung der digitalen Transformation in Städten eignet sich diese aber so wenig wie der Begriff „Smart City“ selbst. Derzeit zeichnet sich ab, dass sich die Bezeichnung „Digitale Stadt“ etabliert. Dieser funktioniert unabhängig von Größe und Lage von Städten und lässt sich auf technische wie gesellschaftliche Aspekte beziehen. Bei der „Digitalen Stadt“ steht vor allem die Frage im Vordergrund, „wie“ sich der digitale Wandel vor Ort gestalten lässt. Dabei sind strategische Herangehensweise genauso bedeutsam wie einzelne Projekte. Zur Diskussion um die Vernetzung der Technik in der Smart City kommt in der „Digitalen Stadt“ die Vernetzung der Akteure, einschließlich der Bewohnerschaft sowie der Kommunen untereinander. Es geht darum, voneinander zu lernen und Generation Gaps zu verkleinern und unterschiedliche Mindsets zu beachten, um die Potenziale der digitalen Transformation für Kommunen voll auszuschöpfen. Priorität in der Ausrichtung von Strategien und Handlungen erhalten die tatsächlichen Bedarfe und die ortspezifischen Begebenheiten. Dazu gehören etwa die Lage im Raum, die Wirtschaftskraft einer Region oder die Ideenvielfalt und das Engagement einzelner Kommunen we der Bürger*innen. Für die Städte wie die Politik muss es darum gehen, die digitale Kluft sowie Disparitäten zu minimieren und so die Städte fit und attraktiv zu machen. Die Digitalisierung bietet ein großes Potenzial, das resiliente polyzentrische Städtesystem zu stärken, das von der Vielfalt der Städte, der Menschen wie auch der lokalen Wirtschaft geprägt ist. Bisher - unter anderem von verkehrlicher Mobilität - abgehängte Räume und Kommunen könnten wieder attraktiver für Menschen und Unternehmen werden und so zu Robustheit der Regionen wie zum Erreichen des Ziels „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ führen. Eine ähnliche Hoffnung hatte allerdings schon der Arbeitskreis „Räumliche Auswirkungen der Neuen Informations- und Kommunikationstechniken“ der Akademie für Raumforschung und Landesplanung (ARL) vor mehr als 30 Jahren [40]. Die aktuelle Covid-19-Pandemie könnte einen Schub für die Digitalisierung bringen [41]. Derzeit zeigt sich, wie wichtig eine ausreichende Infrastruktur, das Wissen über digitale Technologien und deren Anwendungsfähigkeit sind. Deutlich wird jedoch auch, dass Kommunen die Aufgabe „Digitalisierung“ beziehungsweise „digitale Stadt“ nicht alleine stemmen können. Das betrifft die infrastrukturelle Ausstattung, die finanziellen Mittel, aber auch die Personalausstattung und die fachliche Expertise [25, 26, 42]. Die Förderpolitik von Bund, Land und auch EU kann hier eine wichtige Unterstützung darstellen. Komplexe Fördermodalitäten, die sich je nach Fördergeber und Programm unterscheiden, stehen dem jedoch oftmals entgegen. Städte, Stadtplanung und -entwicklung haben bereits in der Vergangenheit unterschiedliche Phasen durchlebt. Kulturelle Kontexte, historische und gesamtgesellschaftlichen Umbrüche, Herausforderungen wie Entwicklungen und Visionen waren dabei prägend. Letztlich besteht auch durch die digitale Transformation die Notwendigkeit, die Städte und Gemeinden weiter zu entwickeln. Dazu sollten die neuen digitalen Möglichkeiten und Werkzeuge für eine kooperative, zukunftsfähige, resiliente Stadtentwicklung mit den Menschen vor Ort genutzt werden. LITERATUR: [1] Siemens AG - Corporate Communications und Corporate Technology: Die Jahrhundertfrage. Energie. Szenario 2050. In: Pictures of the Future ( Jugend- Sonderausgabe), (2012) S. 8 - 9. https: / / www.yumpu. com/ de/ document/ read/ 4653136/ your-pictures-ofthe-future-siemens (05.06.2020). [2] Siemens AG - Corporate Communications und Corporate Technology: Das Energiebündel. In: Pictures of the Future (2), (2007) S. 8 - 9. https: / / www.yumpu. com/ de/ document/ read/ 5202784/ pictures-of-thefuture-siemens/ 09 (05.06.2020). [3] Siemens AG - Corporate Communications und Corporate Technology: Mögen die Spiele Beginnen. Bausteine für mehr Energieeffizienz. Szenario 2035. In: Pictures of the Future (1), (2012) S. 78 - 79. https: / / w w w.y umpu.com/ de / document / read/ 393165 4 / p i c t ur e s oft h e f u t ur e f r u h j a hr-2 012s i e m e n s (25.05.2020). [4] Magistrat der Stadt Wien: Smart City Wien (Vision 2050, Roadmap for 2020 and beyond, Action Plan for 2012-15). Wien, 2012. https: / / www.wien.gv.at/ stadtentwicklung/ studien/ pdf/ b008218.pdf (12.07.2018). [5] Magistrat der Stadt Wien: Smart City Wien. Rahmenstrategie. Wien, 2014. https: / / smartcity.wien.gv.at/ site/ wp-content/ blogs.dir/ 3/ files/ 2014/ 08/ Langversion_ SmartCityWienRahmenstrategie_deutsch_einseitig.pdf (12.07.2018). 48 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt [6] Burmeister, K., Rodenhäuser, B.: Urbane Kleinstädte. Bonn, 2018. = BBSR Sonderveröffentlichungen. [7] BMUB/ BBSR - Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB), Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (Hrsg.): Smart City Charta - Digitale Transformation in den Kommunen nachhaltig gestalten. Sonderveröffentlichung, Bonn, 2017. [8] Bauriedl, S., Strüver, A.: Raumproduktion in der digitalisierten Stadt. In: Bauriedl, S., Strüver, A. (Hrsg.): Smart City: Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten. Urban studies, Transcript, Bielefeld, 2018. [9] Soike, R., Libbe, J.: Smart Cities in Deutschland - eine Bestandsaufnahme. DIFU Papers, Berlin, 2018. [10] Internet & Gesellschaft Collaboratory e. V.: Smart Country - Digitale Strategien für Regionen. Executive Summary, 2014. https: / / digital.zlb.de/ viewer/ rest/ image/ 16295063/ SmartCountry_ExecutiveSummary.pdf/ full/ max/ 0/ SmartCountry_ExecutiveSummary.pdf (12.07.2019). 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AUTOR*INNEN Dr. Andrea Jonas Projektleiterin Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung Referat I 5 - Digitale Stadt, Risikovorsorge und Verkehr Kontakt: Andrea.Jonas@bbr.bund.de Lars Porsche Projektleiter Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung Referat I 7 - Baukultur, Städtebaulicher Denkmalschutz Kontakt: Lars.Porsche@bbr.bund.de All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren d im Ihr imm AAbboo www.tra 50 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Nicht mehr Land, noch nicht Stadt: Urbanes Land Viele Menschen in Europa haben ihre Heimat außerhalb der dichten Metropolräume [2]. Sie leben in Regionen aus kleinen und mittleren, untereinander vernetzen Städten und Ortschaften wie in Baden- Württemberg oder dem Schweizer Mittelland, urbanisierten Landschaften in der Rhein- und Po-Ebene oder den ausufernden Siedlungsclustern der Benelux Länder. All diese Räume „mittlerer Dichte“ [3] sind hochdiverse Gemengelagen - die zweigeteilte Vorstellung von Stadt einerseits - ländlichem Raum andererseits entspricht hier kaum noch den Tatsachen. Das urbane Land ist dezentral organisiert, weit weniger kompakt als die Kernstädte und bisher geprägt von individueller Mobilität - gleichzeitig aber auch ein Rückgrat von Wirtschaft und Gesellschaft, gut ausgestatteter Resonanzraum für eine neue Mobilitätskultur und Rohling für nachhaltige urbane Entwicklung. Resonanzraum und Rohling Gibt es die „Stadt der kurzen Wege“ in der urbanen Peripherie zwischen Stadt und Land? Urbanisierung, Transit Oriented Development (TOD), Transforming Peripheries, Stadt-Land- Beziehungen, Urbanes Land Martin Spalek, Ute Meyer Das Modell der „Stadt der kurzen Wege“ liefert Großstädten ein kommunizierbares Leitbild nachhaltiger Planung. Während Sharing-Dienste, kollektive Fahrangebote und ein neuer Appetit auf Fuß- und Radverkehr die städtische Mobilität verändern, bleiben Ideen für Regionen außerhalb der Metropolen noch stark beschränkt auf die Verbesserung und Anpassung bestehender Technologien. Doch auch für die Klein- und Mittelstädte mit ihren verzweigten Verflechtungsräumen im Hinterland sind Ansätze zur klimagerechten Transformation dringend notwendig. Kann eine „Region der schnellen Wege“ mit emissionsarmen Erschließungssträngen, innovativen Mobilitätsangeboten für die weniger dichten Räume und multidimensionalen Konzepten für strategische Knotenpunkte schrittweise erreicht werden? [1] Bild 1: Beispiel Oberschwaben: Im Urbanen Land sind unterschiedliche Funktionen unmittelbar verflochten und wechselseitig verknüpft: Wohnen und Industrie, Landwirtschaft, Energieerzeugung und Naturräume. © Hannes Kutza 51 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Handlungen hier gewinnen an Dringlichkeit: Der Trend zur „Reurbanisierung“ zieht junge Menschen in die Verdichtungsräume, Energie- und Mobilitätswende erfordern multiple Konzepte für unterschiedlichste Raumstrukturen und die Digitalisierung verändert weiter Verkehre, Produktionsbedingungen und den Alltag der Menschen. Das Modell der „15-Minuten Stadt“ liefert Großstädten ein kommunizierbares Leitbild nachhaltiger Planung, in der alle wichtigen Anlaufstellen innerhalb von etwa 15 Minuten emissionsarm erreichbar sein sollen [4]. Außerhalb der Metropolen scheint ressourcenintensiver Individualverkehr noch schwer vermeidbar, auch wenn er zur wachsenden Konkurrenz um Flächen beiträgt, ökologisch unverantwortlich ist und die Lebensqualität des Lebens „im Grünen“ reduziert. Eine Bloomberg-Studie aus dem Jahr 2016 beschreibt ein Negativ-Szenario für urbanisierte Randlagen, wenn der Ausbau elektrifizierten und autonomen Fahrens ohne eine übergeordnete räumliche und verkehrliche Vision erfolgt: Technologische Angebote allein verstärken in wachsenden Regionen die Abhängigkeit von individueller Mobilität, führen zu einer gleichbleibenden Zahl an Fahrzeugen, die noch mehr Kilometer zurücklegen, sowie dem Ausbau der Straßeninfrastruktur und zu fortschreitender Zersiedlung [5]. Doch muss das so sein? Lässt sich nicht ganz neu ansetzen in einer Zeit, in der sich das Gegensatzpaar Stadt - Land aufgelöst hat und auch der Holzschnitt vom „guten“ öffentlichen und „belastenden“ Individualverkehr dank vieler neuer Optionen an Kontur verliert? Potenziale fokussieren und Möglichkeitsrahmen versetzen In ganz Deutschland steht die Mobilitätsinfrastruktur auf dem Prüfstand und europaweit werden die großen Metropolen durch hochfrequentierte Trassen noch enger verknüpft [6]. Regionen abseits dieser „Hauptströme“ hingegen werden weit weniger systematisch betrachtet. Dass hier ein nicht-genutztes Potenzial liegt, darauf deuten Zahlen immer wieder hin: In Baden-Württemberg teilten sich 2017 mehr als eine Million Arbeitnehmer*innen ihren täglichen Arbeitsweg mit je 500 anderen - praktisch ohne von gemeinschaftlichen Modellen Gebrauch zu machen [7]. Oder: Die Angehörigen der Hochschule Biberach reisten 2019 täglich aus bis zu 172-Gemeinden an, lebten bei näherer Analyse jedoch zu über 80 % im 10-km-Umkreis vom Campus oder entlang von vier bestehenden Nahverkehrskorridoren [8]. Um hier neue Wege zu gehen und mobile, lebenswerte Regionen zu schaffen, können vier übergreifende Aufgabencluster benannt werden: Strukturmerkmale im regionalen Bezugsrahmen analysieren Eine neue Geschichte über Mobilität erzählen Allianzen über institutionelle und sektorale Grenzen Systematisch experimentieren und Methoden übertragen In dem Stadt-Land-Gemisch aus Infrastruktur, Landwirtschaft und Produktion, Unternehmen und Wohnraum ist die funktionale Vielfalt und Nähe unterschiedlichster Nutzungen zueinander oft größer als in Verdichtungsräumen. Hier muss die Bild 2: Weniger zentral, zugleich beständig wachsen im Urbanen Land städtische und ländliche Gemeinden (hier Ulm). Transportinfrastrukturen sind zukunftsfähig anzupassen. © Hannes Kutza 52 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt strategische Doppelfunktion von Knotenpunkten und Infrastrukturkorridoren zur Geltung gebracht werden. Individuelle, bislang isolierte, dabei oft ähnliche Mobilitätsbedarfe vieler lassen sich bündeln und steuern, wenn kleine und große Umsteigepunkte und gemeinsames Fahren zwischen Quelle und Senke mehr bieten als effizienten, multimodalen Transport: eine Aneinanderreihung von Gelegenheiten aus Gesundheits- und Nahversorgung, öffentlichen Funktionen, Raum für soziale Kontakte und Informationsaustausch. Diese (Re-)Interpretation von Mobilitäts- und Flächenpotenzialen kann den Anfangsimpuls für sich dann selbst verstärkende Prozesse liefern - eine schrittweise Ausdehnung von verknüpften „No-Car-Inseln“ zu emissionsfrei erschlossenen größeren Territorien [9]. So sollten ein alternativer Angebotskanon entlang der tatsächlichen Pendelmuster koordiniert und dazu in einem regionalen Mobilitätssystem aus räumlicher und digitaler Infrastruktur über Gemeindegrenzen Angebote integriert werden, wie zum Beispiel bei der Mobilitätsplattform für den mittleren Oberrhein „regiomove“ begonnen [10]. Am Anfang des Wandels steht, eine neue Geschichte über Mobilität zu erzählen, verschiedene Narrative zu integrieren und viele Menschen auf ihren Lebenswegen mitzunehmen. Die Wahl eines Verkehrsmittels ist selten eine rationale Entscheidung. Sie ist geprägt von individuellen Vorlieben und einer subjektiven Bilanz aus real erlebter oder vermuteter Effizienz, Bequemlichkeit und Bewegungserlebnis. Tägliche Routine wird selten in Frage gestellt, weil man (scheinbar) auf ihre störungsfreie Abwicklung angewiesen ist. Dabei fällt die Wahl im urbanen Land häufig auf den PKW als universelles Transportmittel. Neue Mobilitätsangebote finden kaum Platz in diesem sich selbst wiederholenden Ablauf, selbst wenn immer wieder im Stau stehen eigentlich dafür spräche. Nur selten ist zu erleben, dass sich Gewohnheiten einfach verändern und praktisch nie ist dies bei vielen Menschen gleichzeitig zu beobachten. Das heißt, es gilt, mit neuen Angeboten lebensstilspezifisch zu reagieren. Die Anreizsysteme für alternative Mobilitätsformen können über die strukturelle Perspektive - was ist eine effiziente Alternative - hinausgehen und um eine motivatorische - was „lohnt“ sich subjektiv - ergänzt werden. Gleichzeitig bietet die kollektive Erfahrung der Pandemie 2020 einen unerwarteten Hebel, um neue Geschichten über Mobilität zu teilen: Dass sich etwa Alltagsroutinen lokal, regional und global niederschlagen, dass von weniger Orten aus gleich viel erledigt werden kann - aber auch, dass Menschen schneller Menschen vermissen als Routinen. Die Tür ist für einen Moment weit offen, um Effizienz, Bequemlichkeiten und Bewegungserlebnisse objektiver als sonst zu analysieren und mit dem veränderten Erfahrungsschatz neue Entscheidungen zu treffen. Dazu können unterschiedliche Akteure im urbanen Land nur gemeinsam systemische und finanzielle Potenziale freisetzen. Das ist ungewohnt und mühsam. Es erfordert Vertrauen und die versuchsweise Akzeptanz unterschiedlicher Perspektiven. Doch sind gemeinsame Visionen über institutionelle Silos und fachliche Grenzen hinweg die Grundvoraussetzung für koordiniertes Handeln. Wenn verstanden wird, dass Klimaschutz, Fachkräftemangel, Sog der Metropolen Bild 3: In unmittelbarer Nähe vieler Haltestellen finden sich unternutzte Flächen, hier: Biberach an der Riss. Neue Nutzungskonzepte und emissionsarme Erschließung könnten hier neue Potenziale erschließen. © Hannes Kutza 53 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt oder der demografische Wandel für alle Akteure irgendwelche (anderen) negativen Auswirkungen haben, verlieren Gegensätze zwischen öffentlichen und privaten, Bottom-up- oder Top-down-Initiativen an Bedeutung. Auf dem Weg zu einer kooperativen Planungskultur bieten die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDG) der Vereinten Nationen eine geeignete unterstützende Agenda, um festgefahrene Strukturen zu überwinden. Und man sollte sich eines klarmachen: Bereits 10 - 25 % der Menschen bilden die kritische Masse, um einen Transformationsprozess nachhaltig zu verankern. Hier ist die Vielzahl unterschiedlicher Interessen im urbanen Land von Nutzen: Akteure, die mit einem negativen Gleichgewicht konfrontiert sind, profitieren von Kooperation ebenso wie potente Treiber von Innovation. Es gilt zu verstehen, dass in jeder Verhandlung eineinhalb Kuchen zu verteilen sind, obwohl nur einer sichtbar auf dem Tisch liegt. Hochschulen kann hierbei eine besondere Verantwortung zukommen, wie zum Beispiel das Projekt zum betrieblichen Mobilitätsmanagement auf Quartiersebene des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie im Jahr 2019 offenlegt [11]. Experimentieren lernen: Aus systematischem Experimentieren sollen vor allem Methoden nicht Lösungen gewonnen und übertragen werden. Im urbanen Land muss eine Konzentration an Akteuren, Problemstellungen und Ideen erst hergestellt, solche Akteure, die Ausdauer und Engagement für eine Veränderung finden und lernen die „richtigen“ Fragen zu stellen, zusammengeführt und gebunden werden. Für einen kräftigen Schritt vorwärts gilt es, ins Tun zu kommen, für spezifische Situationen experimentell zu handeln und Erfahrungen zu systematisieren. Nachhaltige Veränderungsprozesse werden angestoßen, wenn lokal und (über)regional Methoden ausprobiert, geteilt und weiterentwickelt werden. Die Aufarbeitung lokalen Wissens und neue Realexperimente bieten eine kollektive Lernmöglichkeit. Sie liefern messbare Ergebnisse und ihre Auswertung legt Indikatoren und Gestaltungsräume offen. Die Vernetzung von Erkenntnissen aus Experimenten ermöglicht es, kurzfristig und zielgerichtet komplexen Fragestellungen Antwortoptionen gegenüberzustellen [12]. Halbzeuge der Raumplanung koordiniert bearbeiten Die Region zwischen Ulm und Bodensee könnte zum Testfall für nachhaltige Mobilität in einer mitteldicht besiedelten Region werden. Derzeit verändern die Elektrifizierung der Württembergischen Südbahn von Ulm nach Friedrichshafen und der Aus- und Neubau der Bahnstrecken München - Zürich und Stuttgart - Ulm die Erreichbarkeit maßgeblich. Allerdings wird dieser Umbau des Systems die „Mobilitätswende in der Peripherie“ nur vorbereiten. Wirksam kann diese erst werden, wenn weitere Anstrengungen anschließen: Koordinierte Angebote der Regio- S-Bahn Donau-Iller und der Bodensee-Bahnen als weiterer Baustein infrastruktureller Raumplanung sind ebenso wichtig wie Kooperationen zu Technologien, Angeboten und neuen Narrativen mit privatwirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Initiativen. Systemische Wirkung haben begonnene Überlegungen einzelner Gemeinden, wenn sie entlang der tatsächlichen Verflechtungen des Bild 4: Emissionsfrei, multimodal, inklusiv. Durch neue Mobilitätsformen und -angebote lösen sich vereinfachte Denkmuster auf und lassen neue Möglichkeiten erhoffen © Hannes Kutza 54 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt 80-km-Bandes an den kleinen und großen Haltepunkten abgestimmt werden. Gleichzeitig müssen hier zusätzliche Flächen für eine konzentrierte Entwicklung von Wohn-, Gewerbe- und Mobilitätsangeboten genutzt werden. Auch digitale Angebote gehören integriert, um intermodale Konzepte über Gemeindegrenzen hinweg komfortabel und effizient zu ermöglichen. Und: Spezifische Anreize für unterschiedliche Interessengruppen (betriebliches Mobilitätsmanagement, Gesundheitsmanagement, Wirtschaftsförderung) helfen, den Umstieg plausibel und finanziell sinnvoll zu gestalten und viele individuelle Interessen anzusprechen. Die Wüstenrot-Stiftung und die Forschungs- und Transferinitiative urbanes.land bringen im kommenden Jahr Expert*innen in Fragen Mobilität und Governance mit Entscheider*innen aus der Raumschaft zusammen. Vertreten sein werden Verwaltungsspitzen aus Mittelzentren wie auch Umlandgemeinden, in einem zweiten Schritt ansässige Unternehmen, Institutionen und zivilgesellschaftliche Akteure. All diese Kräfte sind notwendig, um das infrastrukturelle Rohmaterial, das durch Elektrifizierung des Hauptstrangs öffentlich bereit gestellt wurde, durch einen koordinierten Mobilitäts- und Flächenentwicklungsprozess in ein wirksames Gesamtprodukt zu verarbeiten. Aus den anstehenden strukturellen Mobilitätsveränderungen in Baden-Württemberg, Deutschland und Europa erwachsen Gelegenheiten, neben der „Stadt der kurzen Wege“ eine „Region der schnellen Wege“ zu etablieren. Im Urbanen Land stehen Möglichkeiten offen, mit systemischen und erfahrbaren Alternativen der (gefühlten) Alternativlosigkeit zum eigenen PKW neue Visionen gegenüberzustellen. Die Bereitschaft zum facettenreichen Experimentieren, kooperativen Gestaltungsprozessen und zur Reflexion individueller Mobilitätsbedürfnisse werden ausschlaggebend sein, inwiefern sich Verkehre auch über Metropolregionen hinaus nachhaltig transformieren lassen - und damit von aufgezeigten bedenklichen Entwicklungspfaden abgewichen werden kann. AUTOR*INNEN Ing. Martin Spalek Programmkoordinator urbanes.land Hochschule Biberach Kontakt: martin.spalek@urbanes.land Prof. Exec. MA LSE Ute Meyer Dekanin Architektur und Energieingenieurwesen Gründerin der Initiative urbanes.land Hochschule Biberach Kontakt: meyer@hochschule-bc.de LITERATUR + QUELLEN [1] Kretz, S., Kueng, L.,: Neue Urbane Qualitäten. Ein Handbuch am Beispiel der Metropolregion Zürich. Zürich, Schweiz, 2016, Hochparterre Verlag. [2] LSE Cities: Where people live. 2019. URL: https: / / lsecities.net/ archives/ where-people-live/ (10.03.2020). [3] Dijkstra, L., Poelman, H.: A harmonized definition of cities and rural areas: the new degree of urbanization. Brussels, Belgium, 2014. Directorate-General for Regional and Urban Policy. [4] Whittle, N.: Welcome to the 15-minute city.2020. URL: https: / / www.ft.com/ content/ c1a53744-90d5- 4560-9e3f-17ce06aba69a (17.07.2020). 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[10] Regiomove, 2020. URL: https: / / www.regiomove.de/ projektinfos (13.07.2020). [11] Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie gGmbH: Betriebliches Mobilitätsmanagement im Bergischen Städtedreieck, 2020. URL: https: / / www. bmm3.de/ (13.07.2020). [12] Potjer, S.: Experimental Governance. Urban Futures Studio, 2019. https: / / www.uu.nl/ en/ research/ urbanfutures-studio/ initiatives/ experimental-governance (30.07.2020) Bild 5: Mobilitätswende im urbanen Land? Die Elektrifizierung der Südbahn rückt die Peripherie ab 2021 ins Zentrum und stellt der Region einen emissionsfreien Transportkorridor zur Verfügung. © Hannes Kutza 55 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Hintergrund Routing-Apps dienen der Planung von Reisen, der Navigation und der Information über aktuelle Verkehrslagen. Routinganwendungen im Browser dienen meist der Recherche und Planung von Reisen, mobile Anwendungen werden unterwegs, während der Reise häufiger verwendet. [1] Routinganwendungen informieren den Reisenden über verfügbare Verkehrsmittel, Reisezeiten in Abhängigkeit des Reisezeitpunkts, der Entfernungen und Routenmöglichkeiten, Verbindungen im öffentlichen Verkehr und teilweise über Kosten öffentlicher Verkehrsmittel. Die enthaltenden Informationen decken sich in großen Teilen mit den Faktoren, die in einer Verkehrsmittelwahl entscheidend sind: Kosten, Reisezeiten und Zuverlässigkeit. [2] Diese rational-ökonomischen messbaren Eigenschaften der Verkehrsmittel wirken gemeinsam mit subjektiven Einstellungen, sozial-gesellschaftlichen und personal-normativen Einflüssen auf die Entscheidung Routing: personalisiert und nachhaltig Quantifizierung persönlichen Handelns und Denkens ermöglicht nutzer- und umweltorientiertes Routing Eco-Routing, Verkehrsmittelwahl, personalisiertes Routing, umweltorientiertes Routing Rebecca Heckmann, Sören Kock, Lutz Gaspers Das Ziel von quantifiziert-personalisiertem Routing ist die Optimierung der Reiseempfehlungen nach persönlichen Vorlieben und Voraussetzungen und die Objektivierung subjektiv überlagerter Parameter. Kosten, Zeit und Komfort sind Faktoren, die eine Entscheidung stark beeinflussen. Personalisiertes Routing kann mithilfe weniger persönlicher Daten und Persönlichkeitsprofilen die Rationalität der Entscheidung steigern. Der Wert Nachhaltigkeit wird als neue Variable im Entscheidungsprozess verankert. Verbindungen, Routen und die Verkehrsmittelwahl werden nachhaltiger und personengenau generiert. Bild 1: Screenshot der Routinganwendung. © Heckmann et al. 56 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt ein. Zudem haben sozidemografische Merkmale wie Alter, Geschlecht und Bildungsstand einen Einfluss auf die Entscheidung. All diese Merkmale werden in einer Routinganwendung nicht berücksichtigt. Die Vorschläge, die eine Anwendung unterbreitet, sind nicht personalisiert, sondern standardisiert. Dadurch kann nicht die bestmögliche Reiseempfehlung gegeben werden. Eine Möglichkeit, soziodemografische Merkmale, subjektive Einstellungen, sozial-gesellschaftliche und personal-normative Einflüsse in der Kalkulation einer Reisemöglichkeit zu berücksichtigen, ist die Quantifizierung personalisierten Routings. Das Verfahren Durch die Integration persönlicher Informationen, die Analyse von Verhaltensmustern und die Typisierung von individuellen Merkmalen, kann eine Anwendung personenbezogene Reisemöglichkeiten berechnen. Sie berücksichtigt die individuellen Voraussetzungen, wie das Vorhandensein eines bestimmten Verkehrsmittels, eine körperliche Einschränkung, eine Vorliebe oder Abneigung gegen eine Fortbewegungsmethode, weitere Einstellungen und externe Faktoren, wie die Verkehrslage oder das Wetter. Eine Software wurde entwickelt, die typische Routing- und Reiseplanungsfunktionen bietet, erweitert um die persönlichen Aspekte. Ziel der Forschenden war es, Routing passgenau auf die Zielperson zuschneiden zu können und somit bessere Lösungen anbieten zu können. Wichtig war die Objektivierung subjektiv überlagerter messbarer Eigenschaften. Reisezeit und Reisekosten sind objektiv-messbare Werte, die jedoch durch subjektive Einschätzungen der Reisenden verfälscht werden. So werden beispielsweise die Reisekosten des PKW als zu gering eingeschätzt, da nur direkte Kosten für den Brennstoff beachtet werden. Die Reisezeit von öffentlichen Verkehrsmitteln wird häufig als zu lang eingeschätzt, was unter anderem an der Abhängigkeit und den fehlenden persönlichen Eingriffsmöglichkeiten liegt. Beim PKW werden Staus als weniger auswirksame Verzögerung eingeschätzt, da ein persönliches Verändern der Situation, beispielsweise durch Umfahrungen, angenommen wird [3]. Neben der Objektivierung der messbaren Eigenschaften war ein weiteres Anliegen, den Wert der Nachhaltigkeit im Entscheidungsprozess zu stärken. Ökologische Aspekte spielen in der Verkehrsmittelwahl eine untergeordnete Rolle [4]. Maßgebend für nicht-umweltfreundliches Mobilitätsverhalten ist das Auftreten der Allmende-Klemme. Diese beschreibt den Umstand, dass eine Person stärker individuelle, kurzfristig auftretende Nachteile durch eine Verhaltensänderung wahrnimmt, als kollektive, langfristig eintretende Vorteile. Bei einem Umstieg vom PKW auf das Fahrrad werden Nachteile wie ein Zeit- und Komfortverlust, die sofort mit einer Veränderung eintreten, stärker wahrgenommen, als Vorteile für die Umwelt oder Gesellschaft, die erst zeitversetzt eintreten werden. [5] Die Integration persönlicher Informationen, Verhaltensweisen, Einstellungen und Voraussetzungen in Reiseplanungssoftware Die entwickelte Software fragt vor dem ersten Nutzen den Anwender nach persönlichen Informationen. Über einen Fragebogen wird erhoben Vorhandene und zur Verfügung stehende Verkehrsmittel und Mobilitätsabonnements sowie die Auswahl besonders beliebter Verkehrsmittel: bei PKW und Motorrädern werden Marke und Modell erhoben, um detaillierte Berechnungen zu Betriebskosten und Emissionen erstellen zu können Wetterabhängige Präferenzen: Bevorzugung oder Vermeidung bestimmter Verkehrsmittel bei einer festgelegten Wetterlage Präferenzen zur Nutzung der Reisezeit: Möglichkeit, die Unterwegszeit für aktive Bewegung zu nutzen, Möglichkeit zur Erledigung geschäftlicher Dinge, Möglichkeit zum Konsum von Entertainmentangeboten, Möglichkeit für ungestörte Telefonate Definition von Entfernungsgrenzen für aktive Fortbewegungsmittel (zu Fuß gehen, Scooter, Fahrrad und E-Bike/ Pedelec) Festlegung von Gewichtungsfaktoren für die Ökologie, Kosten und Reisezeit: Es besteht die Möglichkeit, bis zu zwei Faktoren mit doppelter oder dreifacher Gewichtung in der Berechnung einer Empfehlung zu bevorzugen. Die Festlegung erfolgt über eine Matrix. Auf Basis dieser Daten wird ein persönliches Profil erstellt. Dieses wird in Folge bei jeder Anfrage für eine Reise berücksichtigt. Um diese Informationen verarbeiten zu können, wurde ein eigener Algorithmus entwickelt. Dieser arbeitet mit einer Faktorisierung der entscheidungsprägenden Parameter. Die Faktorisierung erfolgt für die Reisezeit, für Reisekosten und Emissionen. Nach der Faktorisierung wird die Gewichtung der einzelnen Parameter zueinander in einer Faktordivision berücksichtigt. Das Ziel der Faktorisierung und anschließenden Faktordivision ist eine Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Einheiten und das Zusammenfügen in einem Vergleichswert, mithilfe dessen verschie- 57 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Faktor Reisezeit 5,0 4,0 3,0 2,0 1,0 100% +100% +200% geringste Reisezeit doppelte Reisezeit dreifache Reisezeit Faktor Reisezeit 5,0 4,0 3,0 2,0 1,0 100% +100% +200% geringste Kosten > kostenlos doppelte Kosten dreifache Kosten kostenlos 0 30 60 90 120 150 Faktor CO 2e 5,0 4,0 3,0 2,0 1,0 dene Reiseoptionen hinsichtlich Kosten, Zeit und Emissionen bewertet werden können. Zudem kann durch die Integration der persönlichen Mobilitätspräferenzen eine zwei- oder dreifache Gewichtung eines oder zweier Parameter ermöglicht werden. Für die Faktorisierung wird ein Schnulnotenprinzip vorgeschlagen. Der bestmögliche Faktor ist 1,0, der schlechtmöglichste ist 5,0. Zwischen diesen beiden Werten kann allen Optionen mittels Interpolation ein Faktor zugewiesen werden. Filterfunktionen berücksichtigen an dieser Stelle die persönlichen Profile. So werden anhand von Verkehrssituationen, Kilometerüberschreitungen und Wetterlagen Optionen ausgeschieden. Für die Faktorisierung der Reisezeit werden die Gesamtreisezeiten relativ zu allen verfügbaren Optionen verglichen. Dabei erfolgt die Ermittlung des Faktors wie folgt: Aus der Faktordivision geht der EmiQ hervor. Dieser ist der Endwert einer Reisemöglichkeit, bewertet nach Kosten, Zeit und Emissionen. Der EmiQ der verschiedenen Verkehrsmittel und Routen wird verglichen, die Möglichkeit mit dem besten EmiQ dem Nutzer vorgeschlagen. Daraus ergibt sich die in Bild-2 gezeigte Funktion. Die Reiseoption mit der geringsten Reisezeit erhält den Faktor 1,0. Bei einer doppelten Reisezeit erhält diese Option den Faktor 3,0 und bei einer Reisezeit von wenigstens dem Dreifachen im Vergleich zur schnellsten Option erhält diese Reiseoption den Faktor 5,0. Für alle Werte zwischen der schnellsten und dem Dreifachen der schnellsten Reisezeit ergibt sich der Faktor entsprechend der in Bild 2 dargestellten Funktion f(x) = x (1) Die Reisezeiten werden durch die Abfrage der APIs ermittelt. Für PKW, Fahrrad und zu Fuß gehen liefern HereWeGo, OpenStreetMap und Google Maps die Daten, für die restlichen Verkehrsmittel die jeweiligen Anbieter, zum Beispiel für die Bahn die Deutsche Bahn und für den ÖPNV in Stuttgart der Verkehrsverbund Stuttgart. Eine Besonderheit ist bei der Faktorisierung der Reisekosten gegeben. Die beiden Fortbewegungsmittel zu Fuß gehen und Fahrradfahren haben Kosten, die gegen Null gehen (von dem Verschleiß an Schuhen und mechanischen Bauteilen des Fahrrads abgesehen). Daher soll diesen beiden Fortbewegungsmöglichkeiten der fixe Faktor 1,0 zugewiesen werden. Um die Relation zu nicht-kostenlosen Optionen zu wahren, verändert sich der Faktorbereich auf 3,0 bis 5,0. Die günstigste, nicht kostenlose Reiseoption erhält den Faktor 3,0. Bei einer Verdreifachung dieser Kosten erhält die entsprechende Option den Faktor 5,0. Bild 2: Faktorisierung der Reisezeit. © Heckmann et al. Bild 3: Faktorisierung der Reisekosten. © Heckmann et al. Bild 4: Faktorisierung der Ökologie. © Heckmann et al. 58 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Daraus ergibt sich folgende Funktion: f(x)=(2/ 5)x+3 (2) für nicht-kostenlose Optionen sowie f(x)=x (3) für kostenlose Optionen, welche in Bild 3 dargestellt sind. Für die Faktorisierung der Ökologie ist ein zu den Reisekosten und Reisezeiten unterschiedliches Verfahren vorgesehen. Der Emissionsausstoß ist abhängig von der Entfernung in Kilometern. Für jedes Verkehrsmittel liegen Werte zum Ausstoß von CO 2e je Kilometer vor. Entsprechend diesen Werten wurde die Faktorverteilung gewählt. Diese Werte sind Mittelwerte, die auf dem durchschnittlichen Besetzungsgrad beziehungsweise dem Auslastungsgrad eines Verkehrsmittels beruhen. Beim PKW und Motorrad ist es möglich, durch die Bildung von Fahrgemeinschaften die Emissionen zu verringern. Der Besetzungsgrad wird bei der Berechnung berücksichtigt. Für die öffentlichen Verkehrsmittel reduziert sich der Emissionsausstoß pro Personenkilometer ebenfalls mit steigendem Auslastungsgrad. Da es keine Schnittstelle gibt, die Echtzeitinformationen über die aktuelle Auslastung eines Verkehrsmittels liefert, ist es nicht möglich, die tatsächliche Auslastungssituation in die Emissionsberechnung zu integrieren. Aus diesem Grund muss mit Durchschnittswerten gerechnet werden. Wenn eine Schnittstelle verfügbar wird, die die entsprechenden Daten liefert, ist eine Integration sinnvoll, um genauere Daten zum Emissionswert errechnen zu können. Das emissionsärmste Verkehrsmittel (abgesehen von Zufußgehen und Fahrradfahren, die jeweils keine relevanten Treibhausgasemissionen ausstoßen) ist der Fernlinienbus mit einem Ausstoß von 29 g CO 2e je Kilometer und Person. Das emissionsreichste Verkehrsmittel ist das Flugzeug mit einem Ausstoß von 230 g CO 2e je Kilometer und Person, gefolgt von einem PKW mit Verbrennungsmotor und einem Besetzungsgrad von einer Person. Die Faktorverteilung erfolgt so, dass sich die Spanne zwischen einem Fernlinienbus mit Faktor 1,0 und einem durchschnittlichen PKW mit Besetzungsgrad 1,0 mit Faktor 5,0 bewegt. Für den Faktorbereich von 1,0 bis 2,0 beziehungsweise den Emissionsbereich von 0 bis 30 g CO 2e pro Personenkilometer ergibt sich die Funktion f(x) = x und für den Faktorbereich 2,0 bis 5,0 beziehungsweise den Emissionsbereich von größer 30 g CO 2e pro Personenkilometer die Funktion f(x) = (3/ 4)x + 1 (4) Der Bereich kleiner 30 g CO 2e je Personenkilometer verfügt über eine andere Steigung, um die Unterschiede vollständig emissionsärmerer Verkehrsmittel gegenüber emissionsarmer Verkehrsmittel zu stärken. Hintergrund ist hierbei die Förderung vollständig emissionsfreier Verkehrsmittel in der Faktorisierung. Die Funktion ist in Bild 4 gezeigt. Ergebnisse Das vorgeschlagene Verfahren zur Quantifizierung wurde anhand vierer Szenarien überprüft, welche in Tabelle 1 präsentiert werden: Szenario 1 für eine Kurzstrecke im ländlichen Raum von 5 km, Szenario- 2 im ländlich-städtischen Raum von 25 km, Szenario- 3 für eine interstädtische Langstrecke von 55 km und Szenario-4 für eine weite interstädtische Langstrecke von 580 km. Bei einer Gleichgewichtung von Emissionen, Fahrtzeit und Reisekosten ergeben sich folgende Einzelfaktoren, EmiQ und Empfehlungen (grau hinterlegt): PKW Bus Bahn Fahrrad E-Bike PKW in 2er-Fahrgemeinschaft Parameter Zeit 1 Kosten Emissionen EmiQ Zeit Kosten Emissionen EmiQ Zeit Kosten Emissionen EmiQ Zeit Kosten Emissionen EmiQ Zeit 2 Kosten Emissionen EmiQ Zeit 3 Kosten Emissionen EmiQ Szenario 1 „Kurz“ 1,00 5,00 4,48 3,49 5,00 4 5,00 4 3,13 4 3,71 4 5,00 1,00 1,00 2,33 4,00 3,00 1,16 2,72 1,50 5,00 3,00 3,17 Szenario 1 „Mittel“ 1,00 4,42 4,48 3,30 3,00 5 1,00 5 2,83 5 2,28 5 1,40 1,72 3,00 2,04 Szenario 1 „Lang“ 1,00 2,94 4,48 2,81 5,00 5 1,27 5 2,83 5 3,03 5 1,25 1,00 3,00 1,75 Szenario 1 „sehr lang“ 1,00 5,00 4,48 3,29 2,48 6 1,00 6 2,05 6 1,84 6 1,71 7 2,61 7 2,20 7 2,17 7 1,01 5,00 3,00 3,00 1 beruhend auf Google Maps Route „PKW“, abgerufen am 28.03.2020 2 beruhend auf Google Maps Route „Fahrrad“, abgerufen am 28.03.2020 3 beruhend auf Google Maps Route „PKW“, abgerufen am 28.03.2020 zgl. eines willkürlich angenommenen Umweges zum Einsammeln eines Mitfahrers 4 als Linienbus 5 als Bahn im Nahverkehr 6 als Fernlinienbus 7 als Bahn im Fernverkehr Ausschluss von Fahrrad ür Szenario 2, 3 und 4 aufgrund der angenommenen festgelegten Entfernungsgrenze ür Fahrradnutzung von zehn Kilometern Ausschluss von E-Bike ür Szenario 2, 3 und 4 aufgrund der angenommenen festgelegten Entfernungsgrenze ür E-Bike-Nutzung von 15 Kilometern Ausschluss von zu Fuß gehen ür Szenario 1, 2, 3 und 4 aufgrund der angenommenen festgelegten Entfernungsgrenze ür zu Fuß gehen von drei Kilometern Keine Verbindung mit dem Bus ür Szenario 2 und 3 laut Google Maps, Verkehrsverbund Stuttgart und Deutsche Bahn Keine Verbindung mit der Bahn ür Szenario 1 laut Google Maps, Verkehrsverbund Stuttgart und Deutsche Bahn Zahlen in bold sind die multiplizierten Faktoren und somit das Ergebnis EmiQ Grau hinterlegte Kästchen entsprechend der jeweiligen Empfehlung ür jedes Szenario aufgrund des besten EmiQ-Wertes Tabelle 1: Szenarioprüfung. © Heckmann et al. 59 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Die Überprüfung des entwickelten Rechenverfahrens wurde mehrfach durchgeführt und entsprechende Anpassungen an Grenz- und Faktorwerten vorgenommen. Die in diesem Beitrag präsentierten Werte ergaben in der Szenarioprüfung sinnvolle Ergebnisse und eine logische Rangfolge der Empfehlungen. Es kann somit davon ausgegangen werden, dass ein automatisierter Optimierungsprozess die gewünschten Ziele erreicht und eine ökologische, aber zugleich nicht zu teure oder langsame Reiseoption ermittelt. Diskussion Die Erprobung hat ergeben, dass die Einbeziehung von Gewichtungen verschiedener Faktoren der Verkehrsmittelwahl möglich ist und sinnvolle Ergebnisse liefert. Persönliche Daten verfeinern den Optimierungsalgorithmus zur Berechnung von Reisemöglichkeiten und der Ausgabe einer Empfehlung. Das System erlaubt somit einerseits, persönliche Muster, Voraussetzungen, Einschränkungen und Vorlieben in den Optimierungsprozess zu integrieren und andererseits erstmals die Ermittlung von ökologischen Reiseoptionen. Das System wurde bislang nur theoretisch unter Zuhilfenahme mehrerer Szenarien und der analogen Ermittlung von Reisezeiten, Emissionen und Kosten durch das Forscherteam getestet. Der validierte Algorithmus wird bis Sommer 2020 in eine Software implementiert. Das vorgeschlagene System wird in der Zeit vom Sommer 2020 bis Sommer 2021 empirisch getestet, indem Probanden im realen Betrieb die Software zur Planung ihrer Reisen und Wege nutzen. WISSEN WAS MORGEN BEWEGT Schiene, Straße, Luft und Wasser, globale Verbindungen und urbane Mobilität: Viermal im Jahr bringt Internationales Verkehrswesen fundierte Experten-Beiträge zu Hintergründen, Entwicklungen und Perspektiven der gesamten Verkehrsbranche - verkehrsträgerübergreifend und zukunftsorientiert. Ergänzt werden die deutschen Ausgaben durch englischsprachige Specials mit dem Titel International Transportation. Mehr dazu im Web unter www.internationales-verkehrswesen.de Internationales Verkehrswesen gehört seit 1949 zu den führenden europäischen Verkehrsfachzeitschriften. Der wissenschaftliche Herausgeberkreis und ein Beirat aus Professoren, Vorständen, Geschäftsführern und Managern der ganzen Verkehrsbranche verankern das Magazin gleichermaßen in Wissenschaft und Praxis. Das technisch-wissenschaftliche Fachmagazin ist zudem Wissens-Partner des VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld. INTERNATIONALES VERKEHRSWESEN - DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN »Internationales Verkehrswesen« erscheint bei der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, Baiersbronn-Buhlbach, www.trialog-publishers.de AUTOR*INNEN Dipl.-Ing. Rebecca Heckmann Akademische Mitarbeiterin Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: rebecca.heckmann@hft-stuttgart.de Sören Kock, B.Eng. Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: soeren.kock@hft-stuttgart.de Prof. Dr.-Ing. Lutz Gaspers Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: lutz.gaspers@hft-stuttgart.de 60 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Wie kann der Anschluss ländlicher und abgelegener Regionen in Mitteleuropa an den öffentlichen Personennahverkehr verbessert werden? Unter der Federführung des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e. V. beschäftigte sich Peripheral Access 1 in den vergangenen drei Jahren damit. Gefördert wurde das Vorhaben aus dem Interreg B-Programm „Mitteleuropa“ (Central Europe). Schwerpunkte der Projektarbeit waren die Unterstützung von Intermodalität und Infrastruktur in den beteiligten Regionen, der Einsatz intelligenter Kommunikationstechnologien sowie innovative Kooperations- und Marketingansätze. 1 Weitere Information stehen auf der Projekt-Homepage zur Verfügung: https: / / www.interreg-central.eu/ Content.Node/ Peripheral-Access.html Zum Abschluss des Projektes im Mai 2020 stellten die neun Partner aus Slowenien, Italien, Österreich, Polen, Tschechien, Ungarn und Deutschland die Ergebnisse ihrer lokalen Pilotmaßnahmen 2 vor. Die Aktivitäten reichen von der Verbesserung bestehender Transportsysteme bis hin zu einer völligen Neuerschließung bisher nicht versorgter Gebiete. Unter den teilnehmenden Regionen sind dabei alle „peripheren“ Gebietskategorien vertreten: Grenzregionen, Stadt-Umland-Regionen und ländliche Gebiete. In einem ausführlichen Evaluierungsbericht 3 bewerteten die Partner das Projekt als Ganzes mit Blick auf die Themenschwerpunkte und analysierten gleichzeitig die Abläufe und Ergebnisse der einzelnen Pilotvorhaben. Darauf aufbauend entwickelten sie weiterführende politische Handlungsempfehlungen. Mit diesen beiden Ebenen soll der Bericht dazu beitragen, die Projekteergebnisse zu verbreiten und es damit anderen Regionen und Kommunen erleichtern, vergleichbare Maßnahmen umzusetzen. Umsteigepunkt im Grazer Umland Zu den Neuerungen, die die Regionen während der Projektlaufzeit etablierten, gehört unter anderem die Errichtung eines Umsteigepunkts zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln („multimodaler Knoten“) im Umland der österreichischen Stadt 2 Die Partnerorganisationen sowie die Projektergebnisse werden in einer Reihe von „Factsheets“ vorgestellt und sind unter folgendem Link verfügbar: https: / / www.interreg-central.eu/ Content.Node/ Press-and-Communication-Kit-Fact-Sheets.zip 3 Der Evaluierungsbericht in englischer Sprache ist unter folgendem Link abrufbar: https: / / www.interreg-central.eu/ Content.Node/ Peripheral-Access-Evaluation-report-w-cover.pdf Neue Wege für ländliche Räume Erfahrungen aus dem europäischen Kooperationsprojekt „Peripheral Access“ Interreg, Ländlicher Raum, Daseinsvorsorge, Mobilität, ÖPNV, Europa Alexandra Beer, Paul Vieweg Europäische Grenzregionen, peri-urbane und ländliche Räume leiden an einer Unterversorgung mit adäquatem Personennahverkehr. Die Folgen sind vielfältig: hoher Individualverkehr, Umweltbelastung und reduzierte Mobilität für benachteiligte Gruppen. Zahlreiche Initiativen, darunter auch transnationale europäische Kooperationsprojekte, entwickeln und testen hierfür Lösungen auf lokaler Ebene. Konsequent angewandt und ausgeweitet können damit im Kleinen große Erfolge erzielt werden - politische Unterstützung vorausgesetzt. Wie das im EU-Projekt Peripheral Access gelungen ist, wird hier vorgestellt. Bild 1: Regiotim in Hart bei Graz. © Regionalmanagement Steirischer Zentralraum 61 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Graz. Dabei übertrug der Projektpartner Regionalmanagement Steirischer Zentralraum das in Innenstadtlagen schon erfolgreich etablierte System „tim“, welches Carsharing von E-Fahrzeugen mit Parkmöglichkeiten, Taxiständen und Bikesharing kombiniert, auf die Umlandgemeinde Hart bei Graz. Dort wurde es als „Regiotim“ weiterentwickelt und den lokalen Gegebenheiten angepasst. Zusätzlich zu einer Ladestation und der Anschaffung eines E- Autos installierte das Regionalmanagement überdachte Fahrradabstellplätze und Aufbewahrungsmöglichkeiten für Gepäck. Das Areal rund um eine öffentliche Bushaltestelle im Zentrum der Gemeinde Hart bei Graz wurde in einen attraktiven multimodalen Knoten umgewandelt. Die Maßnahmen sollen dazu beitragen, langfristig die Abhängigkeit der Bürger vom eigenen Auto zu verringern. Der erste „Regiotim“-Knoten bildet außerdem den Auftakt für eine Ausdehnung des Systems auf die ganze Region. Das Pilotprojekt lieferte wertvolles Know-how im Bereich der Ausstattung und der technischen Umsetzung. Davon werden die geplanten weiteren Standorte direkt profitieren können. Vogtland will mehr Passagiere für die Elstertal-Bahnstrecke gewinnen Der Verkehrsverbund Vogtland hatte sich zum Ziel gesetzt, die touristisch besonders attraktive Elstertal-Bahnstrecke, die von Thüringen über Sachsen bis in die tschechische Stadt Cheb verläuft, besser zu vermarkten und die Grundauslastung durch Freizeitverkehr zu erhöhen. Dafür hat der Projektpartner ein dreisprachiges touristisches Leitsystem mit verschiedenen Informationsmöglichkeiten entwickeln lassen. Den Rahmen des Leitsystems bildet die Geschichte um den Riesen „Voglar“. Seine Fußabdrücke finden Reisende in Form von Fußbodenaufklebern an ausgewählten Bahnsteigen und anderen Punkten entlang der Strecke. Scannen Interessierte die auf den Fußabdrücken abgebildeten QR-Codes mit einem mobilen Endgerät ein, erfahren sie mehr über touristische Attraktionen vor Ort, können auf Fahrpläne zugreifen oder andere Informationen abrufen. Das Angebot wird um eine „Augmented Reality“-App ergänzt, über die die Besucher in die imaginäre „Welt des Riesen Voglar“ eingeführt werden. Der Projektpartner führte zunächst Befragungen zu Benutzeranforderungen durch und machte Testfahrten mit Fokusgruppen. Die Ergebnisse zeigen sich in einer Mischung aus statischen und digitalen Lösungen und halfen dabei, das Marketing zu optimieren. Davon erhofft sich der Verkehrsverbund mittelfristig steigende Beförderungszahlen. Da das Leitsystem über eine zentrale Website organisiert ist und weitere Fußabdruck-Aufkleber mit QR-Codes kostengünstig und einfach platziert werden können, kann es bei Bedarf auf das gesamte Verkehrsnetz ausgedehnt werden. Allerdings ist dies mit hohen finanziellen Investitionen verbunden, welche von den umliegenden Gemeinden nicht übernommen werden können - dies müsste durch Folgeprojekte oder andere Fördermaßnahmen ermöglicht werden. Die Europäische Territoriale Zusammenarbeit (ETZ) - besser bekannt unter Interreg - ist eines der zentralen Instrumente der europäischen Kohäsions- und Strukturpolitik, mit der die Entwicklungsdifferenzen zwischen den europäischen Regionen gemindert und der ökonomische Zusammenhalt gestärkt werden sollen. Um diese Bestrebungen vor Ort umzusetzen, sind 1990 gemeinsam mit den Mitgliedstaaten die sogenannten Interreg-Programme eingerichtet worden. Die ETZ wird in drei Ausrichtungen umgesetzt: A: grenzüberschreitende Zusammenarbeit von benachbarten Grenzregionen B: transnationale Zusammenarbeit von Mitgliedstaaten in großen Räumen C: interregionale (EU-weite) Zusammenarbeit Finanziert wird die ETZ durch den Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung (EFRE). Die derzeit fünfte Periode von Interreg basiert auf elf Investitionsprioritäten, die in der Verordnung des EFRE festgelegt sind und zur Umsetzung der Strategie Europa 2020 für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum beitragen. Die „Transnationale Zusammenarbeit“ (kurz: Interreg B) basiert auf einer Aufteilung der EU in 14 staatenübergreifende Kooperationsräume. Diese umfassen jeweils mehrere EU-Länder, die ein gemeinsames Interesse an der Umsetzung spezifischer regionaler Zukunftsaufgaben haben. Das Interreg B-Projekt „Peripheral Access“ befasst sich mit der Investitionspriorität „Nachhaltiger Verkehr“ im Kooperationsraum „Mitteleuropa“. INTERREG-PROGRAMM Bild 2: „Floorgraphic“ als Teil der Marketingmaßnahmen im Vogtland. © Verkehrsverbund Vogtland 62 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Mit dem Smart-Bus durch das Umland von Triest Ziel des Pilotprojekts in der italienischen Region Friaul-Julisch Venetien war es, die Erreichbarkeit des dünn besiedelten Karstplateaus nördlich der Stadt Triest an der Grenze zu Slowenien zu verbessern. Dafür entwickelte das örtliche Verkehrsunternehmen Trieste Trasporti ein innovatives On-Demand- Angebot: Mit Unterstützung durch die Internationale Universität Venedig testete es über mehrere Monate hinweg den „SMARTBUS“ als Ergänzung zum regulären Linienbusverkehr. Zwei Fahrzeuge auf zwei Routen fuhren täglich zwischen 9: 00 und 21: 00-Uhr - auf Abruf der Passagiere. Die Verwaltung lief über eine eigens für den Dienst installierte IT-Plattform. Dabei bediente der eine Bus eine Route mit 68 Haltestellen, der andere deckte sogar 199 Stopps ab. Über Zeitungsartikel, witzige YouTube-Videos und andere Aktionen wurde das Angebot der Bevölkerung vorgestellt. Die Erfahrungen in Venetien zeigen, wie wichtig die proaktive, koordinierende Rolle des öffentlichen Sektors ist. Außerdem wurde klar, dass trotz bestehender Synergien der derzeitige Rechtsrahmen für den grenzüberschreitenden Verkehr zwischen Italien und Slowenien im Bereich des öffentlichen Nahverkehrs noch vielen Beschränkungen unterliegt. Die Einzugsgebiete von zentralen Orten in grenznahen Regionen erstrecken sich meist über mehrere Länder. Hier besteht noch viel Potenzial, geeignete Mobilitätsangebote für Besucher und Pendler zu schaffen und damit auch die Emissionen des Individualverkehrs zu reduzieren. Vielfältiges Maßnahmenpaket in der Grenzregion Südmähren Das Hauptziel der tschechischen Pilotaktivitäten bestand darin, den öffentlichen Verkehr in Randgebieten nachhaltig zu verbessern - sowohl für die täglichen Pendler, als auch für die Touristen. Der Projektpartner Kordis JKM, Koordinator des integrierten Verkehrssystems der südmährischen Region, legte deshalb den Schwerpunkt auf die Einführung neuer Busverbindungen mit Fahrradtransport („Cyclobus“) sowie auf grenzüberschreitende Verkehrsangebote für Touristen. Eine umfangreiche Öffentlichkeitsarbeit mit Infoständen, Flyern, Sonderfahrten und vielen weiteren Aktionen unterstützte die Pilotvorhaben. Die Maßnahmen zeigen bereits Wirkung: Neue saisonale Busverbindungen aus dem Zentrum der Region Brünn zum Nationalpark Podyjí/ Thayatal, sowie weitere ganzjährige grenzüberschreitende Busdienste wurden eingerichtet und sehr gut angenommen. Außerdem hatten die langjährigen Bestrebungen, südmährische Fahrkarten in den Zügen zwischen Znojmo in Tschechien und Retz in Österreich anzuerkennen, endlich Erfolg. Eine regelmäßige und umfangreiche Einbindung der Bevölkerung war ausschlaggebend für diese Ergebnisse, da die Einheimischen die Verkehrsbedürfnisse am besten kennen. Große Pläne für die polnische Region Lubin In der polnischen Gemeinde Lubin soll in Zukunft der größte Umsteigeknotenpunkt im Landkreis entstehen und lokale, nationale und internationale Verkehrsmittel verknüpfen. Die Realisierung wird rund 95 Mio. Euro kosten und sich über mehrere Jahre erstrecken. Im Rahmen von Peripheral Access erarbeitete die Landkreisverwaltung Lubin das erste Konzept für diesen Verkehrsknotenpunkt und führte parallel dazu Marketingmaßnahmen und Beteiligungsprozesse durch. Dabei wurden Gestaltungsrichtlinien für den Bau eines notwendigen Tunnels entwickelt, die die Grundlage für die weitere Finanzierung der Eisenbahninfrastruktur bilden. Nach dem Abschluss dieser Phase sind für das weitere Voranschreiten des Projekts eine sehr stabile wirtschaftliche und politische Situation und Bild 3: Launch-Event „Smartbus“. © Trieste Trasporti Bild 4: Der „Cyclobus“ bringt Fahrradfahrer ans Ziel. © Kordis JMK 63 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt eine gute Zusammenarbeit auf vielen Ebenen erforderlich. Mit ihrer breit angelegte Bürgerbeteiligung erreichte die Verwaltung großes Interesse und Akzeptanz für das Vorhaben in der Region. Daher erhofft sie sich, dass die verabschiedeten Pläne auch von zukünftigen politischen Nachfolgern sowie den beteiligten Institutionen und Unternehmen fortgeführt werden. Umsetzung regionaler Aktionspläne in Slowenien und Ungarn Einige Partner aus Slowenien und Ungarn, die keine eigenen Pilotprojekte durchführten, haben stattdessen kleinere Maßnahmen umgesetzt. Diese wurden, neben anderen Ideen, zu Beginn der Projektlaufzeit in einer Status-Quo-Analyse und einem Aktionsplan identifiziert. So wählte die Regionale Entwicklungsagentur der Region Ljubljana nach einer Evaluation möglicher On-Demand-Angebote die für sie am besten geeignete Option aus: In Gebieten ohne öffentliche Verkehrsmittel werden ein kostenpflichtiges Ruftaxi oder ein Rufbus angeboten und bringen die Fahrgäste zum nächstgelegenen Bahnhof. In Kooperation mit dem Ljubljana Personenverkehr LPP und der Stadtverwaltung der Vorortgemeinde Škofljica wurde dieses Angebot mit E-Autos erprobt. Die Stadt Balassagyarmat, Ungarn, hat sich die Langfrist-Ziele gesetzt, einen besseren Service im Personenverkehr anzubieten und ein Fahrradwegenetz zu schaffen. Als flankierende Maßnahme organisierte der Projektpartner KTI Institut für Verkehrswissenschaften im Rahmen von Peripheral Access einen „Tag der Verkehrssicherheit“. Bei dieser Aktion wurden die Anwohner, insbesondere Schulkinder, über laufende Fahrradprojekte informiert und konnten ihr Wissen über Straßenverkehrsregeln mit Blick auf die künftige Radverkehrsinfrastruktur vertiefen. Nach wie vor große Herausforderungen für Räume in Randlage Peripheral Access hat gezeigt, dass Pilotprojekte innovative Lösungen hervorbringen und städtische Lösungen auf das Umland übertragen werden können - wenn sie sorgfältig an die dortigen Gegebenheiten angepasst werden. Alle Partnerregionen haben Verbesserungen im ländlichen öffentlichen Verkehr erreicht. Die Pilot-Beispiele zeigen aber auch schonungslos die immer noch bestehenden Defizite auf: Zahlreiche periphere Räume in Europa sind bis heute nicht entsprechend an den öffentlichen Nahverkehr angebunden. Dies ist nicht nur eine technische Herausforderung: Vielmehr ist starke politische und finanzielle Unterstützung, beispielweise für neue grenzüberschreitende öffentliche Verkehrsmittel erforderlich, insbesondere auf EU-Ebene. Andernfalls werden Regionen und Länder weiterhin ihre Priorität auf die landesinternen Verkehrsverbindungen legen und damit den Wegzug von jungen qualifizierten Menschen aus Grenzregionen weiter befördern. Peripheral Access zeigt: Innovative Mobilitätslösungen haben auch im suburbanen und ländlichen Raum nur teilweise Einzug gehalten. Lokale Stakeholder müssen aber mehr Eigeninitiative und Mut an den Tag legen, um solche ergänzenden Systeme zu testen und anzubieten. Politisches Bekenntnis und zusätzliche finanzielle Mittel notwendig Gute Lösungen für attraktive Mobilitätsangebote in ländlichen Räumen gibt es nicht zum Nulltarif. Dafür sind mehr als nur Pilotprojekte notwendig: Es braucht ein deutliches Bekenntnis zum öffentlichen Personennahverkehr. Dafür müssen ausreichende finanzielle Ressourcen bereitgestellt werden, sowohl auf nationaler als auch EU-Ebene. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion zur Luftqualität wird der ÖPNV zwar zunehmend wieder als das Verkehrsmittel verstanden, das im Vergleich zum Individualverkehr am effektivsten und umweltfreundlichsten viele Menschen transportieren kann. Aber der Schwerpunkt von Strategien und Investitionen liegt oftmals zu stark auf urbanen Ballungsräumen. Es muss auf allen Regierungsebenen noch mehr getan werden, um sicherzustellen, dass solche erfolgreichen Pilotprojekte in die Breite getragen werden können und dass geeignete Strategien für ländliche Räume eingeführt werden, die langfristig Orientierung bieten und die Zusammenarbeit erleichtern. AUTOR*INNEN Dipl.-Ing (FH) Alexandra Beer Stadtplanung, Projektkoordinatorin Deutscher Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e. V., Berlin Kontakt: a.beer@deutscher-verband.org Paul Vieweg, M.Sc. Stadt- und Regionalplanung, Projektkoordinator Deutscher Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung e. V., Berlin Kontakt: p.vieweg@deutscher-verband.org 64 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Einleitung Dachbegrünung kann eine bedeutende Rolle spielen als Teil der urbanen grünen Infrastruktur, die den Folgen des Klimawandels entgegenwirkt, Ökosystemleistungen für den Menschen erbringt und die Biodiversität fördert [1]. Derzeit wird jedoch nur ein geringer Anteil Dachflächen begrünt. Es ist von lediglich 5 - 10 % der bundesweit jährlich neu errichteten Dachflächen auszugehen [2]. Außerdem wird der weitaus überwiegende Anteil davon (rund -3 %) extensiv begrünt. Die extensive Dachbegrünung ist jedoch im Hinblick auf Klimaabkühlung nicht sehr effizient, unter anderem weil ihre Evapotranspirationsleistung bei trocken-heißer Witterung im Sommer, wenn die Verdunstungskälte besonders wichtig wäre, als gering einzustufen ist [3, 4]. Auch die Klimaschutzeffizienz, das heißt die CO 2 - Sequestrierung der mit Sedum begrünten extensiven Dächer und die Biodiversität sind relativ gering [5, 6, 7]. Intensive Dachbegrünungen mit größerer Substratstärke (über 25 cm) sind dagegen deutlich effizienter, erfordern jedoch einen hohen Ressourcen- und Energieeinsatz (zum Beispiel Bewässerung mit Trinkwasser) und sind durch einen hohen Pflege- und Kostenaufwand gekennzeichnet [4]. Ein wesentlicher Nachteil ist zudem, dass hohe Dachlasten entstehen, für die das Dach statisch ausgelegt sein muss. Festzuhalten ist daher, dass Dachgrün mit seiner hohen potenziellen Wirksamkeit für Klima und Umwelt derzeit nicht nur flächig zu wenig, sondern auch zu ineffizient umgesetzt wird. Daher beschäftigt sich das Projekt „Effizientes Innovatives Gebäudegrün“ (EffinGrün) an der TH Bingen seit 2019 mit der Frage, wie sich die Vorteile des extensiven Dachgrüns und die Vorteile der intensiven Dachbegrünung kombinieren lassen. Im Projekt wird auf der Grundlage quantitativer Messungen ein semi-intensives Dachgrünsystem entwickelt, das bei geringer Substratmächtigkeit von unter 15-cm auf allen Dächern nachrüstbar ist und durch ein autarkes, solarbetriebenes Regenwasser-Bewässerungssystem effizient das Mikroklima abkühlt, THG-neutral oder absorbierend ist, Wasser zurückhält, Biodiversität fördert und die Feinstaubdeposition erhöht. Die Untersuchungen finden seit 2019 im Labor bzw. auf einer Versuchsdachfläche (Bild 1) an der TH Bingen statt, die in Zusammenarbeit mit der Firma Zin- Co GmbH aufgebaut wurde. Die Bewässerung der Untersuchungsparzellen erfolgt mit Tropfschläuchen oberirdisch und unterirdisch aus Regenwassertanks (Bild 2). Im Folgenden werden die ersten Projektergebnisse in den Bereichen Klima, Wasser, Feinstaub und Biodiversität vorgestellt. Semi-intensive Dachbegrünung Ein innovatives Klimaanpassungs- und Umweltschutzinstrument Semi-intensives Dachgrün, Evaporation, CO 2 -Sequestrierung, THG-Bilanz, Ökosystemleistungen, Feinstaub, Bewässerung, Biodiversität, Nachrüstung Elke Hietel, Oleg Panferov, Ute Rößner, Klemens Seelos, Cornelia Lorenz-Haas, Ben Warnecke, Jan Wustmann Semi-intensives Grün muss im Gegensatz zum standardmäßig eingesetzten extensiven Grün bewässert werden. Im Vergleich mit intensiver Begrünung sind damit zwar geringere Effekte etwa hinsichtlich Evaporation und damit Abkühlung zu erwarten. Dennoch lohnt sich eine genauere Untersuchung dieses Kompromisses, denn bereits bestehende extensiv begrünte Flächen lassen sich mit wenig Aufwand auf semi-intensive Dachbegrünung nachrüsten. Das Projekt adressiert einerseits die Machbarkeit der Umrüstung und andererseits die zu erwartenden Vorteile gegenüber extensiver Begrünung. Unterbau: Fläche 100 m², Holzkonstruktion, leichte Neigung Isolierschutzmatte (Polyester/ Polypropylen), ca. 6 mm Stärke Floradrain (Polyethylen mit Wasserspeichermulden), ca. 40 mm Tiefe Systemfilter, Polypropylen, ca. 0,6 mm Stärke Aquafleece (Vlies aus Polyacrylfasern), ca. 2,4 mm Systemerde Steinrosenflur (Recycling-Tonziegel, Kompost, Ton), ca. 10 cm Höhe Vegetation Bild 1: Versuchsdachfläche mit Regenwassertanks und Dachaufbau. © Hietel et al. 65 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Klima Die Effizienz der Dachbegrünung als Klimaanpassungsmaßnahme wird normalerweise durch die mildernde Wirkung der Anlagen auf das Mikroklima und die Wasserrückhaltekapazität bei Starkregen charakterisiert. Die Klimaschutzwirkung der Dachbegrünung hängt von der Treibhausgasbilanz der verwendeten Pflanzen und des Substrats unter verschiedenen meteorologischen Bedingungen ab. Methoden Um die Effizienz der Dachbegrünung für Klimaanpassung quantitativ zu beschreiben, werden auf der oben erwähnten Versuchsdachfläche und auf einer Referenzfläche seit August 2019 mikroklimatische Messungen durchgeführt. Die Station auf dem Dach ist zentral, aber auf der oberirdisch bewässerten Hälfte des Dachs platziert, die Referenzstation auf einem voll versiegelten Parkplatz mit 3- m Abstand östlich von der Versuchsdachfläche. Die Mikroklimamessungen werden kontinuierlich mit automatischen Wetterstationen und als Messkampagnen mit Handmessgeräten gemacht. Folgende Klimavariablen werden auf 2 m und 0,5 m Höhe gemessen: Bodentemperatur, Bodenwassergehalt, Lufttemperatur und relative Feuchte, kurzwellige Solarstrahlung, Windgeschwindigkeit und -richtung, Niederschlag. Die Oberflächentemperaturen auf Versuchsdachfläche und Referenzfläche werden mit einer FLIR Wärmebildkamera erfasst. Zur Erfassung der Treibhausgasbilanz werden die Gas-Austausch-Messungen (CO 2 , H 2 O, N 2 O, CH 4 ) zwischen Atmosphäre und Begrünung mit Hilfe modernster, hochgenauer Laser-Gas-Analysatoren der TH Bingen (Li-Cor 8100 mit Survey und Long-term Chamber, Ultraportable Greenhouse Gas Analysator von Los Gatos Research und G2508 von Picarro) und mit Hilfe der Bodenhauben-Methode durchgeführt. Zuerst wurden Messungen an einzelnen Pflanzen in Kombination mit Substrat unter Laborbedingungen durchgeführt. Die Messungen direkt auf der Versuchsdachfläche sind geplant. Ergebnisse Die Messungen im Sommer 2019 ( Juni - August) mit noch nicht etablierter Vegetation zeigten, dass unter warmen und heißen Bedingungen (t Luft > 24 °C) die unterirdisch bewässerte Begrünung rund 0,3 °C kühler als die oberirdisch bewässerte Fläche sowie der Parkplatz ist (Signifikanzniveau = 0,05). Im Winter 2019/ 2020 mit etablierter Vegetation war die Lufttemperatur während sonniger Tage (Globalstrahlung > 300 W/ m 2 ) über dem Dachmodell etwa 0,5 °C signifikant höher als über der Referenzfläche (s. Beispieltag 15. 1. 2020, Bild 3). Während bedeckter Tage (Globalstrahlung ≤ 300 W/ m 2 ) wurden keine signifikanten Temperaturunterschiede zwischen der Versuchsdachfläche und dem Parkplatz registriert. Der Vergleich der Messungen auf 2 m und 0.5 m über der Begrünung zeigt, dass die Wirkung der Begrünung mit der Höhe abnimmt - ca. 0,4 °C Temperaturabnahme mit der Höhe im Winter. Erste Messungen der CO 2 und CH 4 -Flüsse zeigen, wie erwartet, dass sowohl bei extensiven (Sedum) als Extensiv begrünte Parzelle (Sedumsprossen 80g/ m², Flachballen 5 St./ Parzelle) Semi-intensiv begrünte Parzelle (70 Pflanzen/ Parzelle, Topfgröße P 0,5) Sukzession (Größe 10x2 m) 10 m 10 m Unterirdische Bewässerung Oberirdische Bewässerung Parzellengröße je 2x2 m Bild 2: Aufteilung der Untersuchungsparzellen und der Bewässerung. © Hietel et al. Bild 3: Beispiel von Tagesgang (9-- 16 Uhr) der Globalstrahlung (gelbe Blaken) und der Lufttemperatur auf 0,5 m Höhe über der Versuchsdachfläche (rot) und der Referenzfläche Parkplatz (blau). © Hietel et al. 66 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt auch semi-intensiven Begrünungssystemen (Salbei) die Pflanzen eine CO 2 -Senke und das Substrat eine CO 2 -Quelle ist. Interessantes Ergebnis der Messungen ist, dass die Substrate eine sehr schwache Senke und Pflanzen schwache Quellen für Methan sind. Die absoluten Werte und Gesamtbilanzen müssen noch genauer analysiert werden. Diskussion Die bis jetzt beobachtete kühlende Wirkung der Begrünung im Sommer und wärmende Wirkung im Winter ist vermutlich weniger das Ergebnis biophysikalischer Prozesse wie Transpiration als mehr der direkte Effekt der Albedounterschiede. Im Winter war die Oberfläche der Begrünung etwas dunkler als der Parkplatz: 8 % versus 12 %. Die im März/ April gemessenen Albedowerte mit mehr entwickelter Vegetation zeigen etwa 14 % Albedo auf dem Parkplatz versus 14 % bis 16% variierende Albedo auf der Versuchsdachfläche. Weitere Messungen über der etablierten Begrünung unter extrem heißen und kühleren Bedingung im kommenden Sommer werden den Bereich der möglichen kühlenden bzw. wärmenden Wirkungen der semi-intensiven Begrünung demonstrieren. Die Abnahme der Temperaturwirkungen der Dachbegrünung mit der Entfernung vom Dach ist bekannt und wurde auch in wissenschaftlicher Literatur erwähnt [8]. Die Messungen der Treibhausgasflüsse zwischen Pflanzen und Atmosphäre wurden bislang nur unter Laborbedingungen durchgeführt, was die Aussagekraft der Messungen limitiert. Die Flüsse sollen auch unter realen Bedingungen direkt auf dem Modelldach untersucht werden. Wasserversorgung Für die Entwicklung eines effizienten semi-intensiven Gründaches ist die Wasserversorgung von entscheidender Bedeutung. Ziel ist ein minimaler Wasserverbrauch (bevorzugt Einsatz von Regenwasser), der ein gutes Wachstum der Pflanzen und damit eine effektive Transpiration über die Blattoberflächen ermöglicht, die schließlich zu dem gewünschten Abkühlungseffekt über der Dachgrünfläche führen. Neben dem mikroklimatischen Effekt sind gut entwickelte Blühpflanzen die Voraussetzung für die Erhöhung der Insektenartenvielfalt. Als zentrale Steuergröße für den Wasserhaushalt soll die Substratfeuchte gemessen werden. Für das Wachstum der verschiedenen Pflanzen sind die optimalen Wassersättigungen im Substrat in der Regel bekannt. Damit kann mit Hilfe einer kontinuierlichen Substratfeuchtemessung das Wachstum der Pflanzen überwacht und sie damit möglicherweise durch Bewässerung vor Trockenstress geschützt werden. Methoden Zur Überwachung der Substratfeuchte wurden zwei verschiedene Sensoren getestet: TDR-Sensor SMT 100 (Firma UGT) und Kapazitiver Sensor Hygrometer Modul V1.2 für Arduino. Dabei ist der erste Sensor allein durch das TDR (Time-Domain-Reflektion) Messprinzip als relativ genau einzuschätzen. Mit diesem Sensor lässt sich in körnigen Substraten (Boden, Substrat Dachbegrünung) die Substratfeuchte relativ genau bestimmen [9]. Der Nachteil ist, dass diese TDR-Sensoren kostenintensiv sind und sich deshalb nicht zur flächigen Überwachung des Feuchtezustandes von Dachgrünsubstraten eignen. Deshalb werden alternativ kapazitive Sensoren untersucht, die direkt an einen programmierbaren Mikrocontroller (zum Beispiel Arduino Uno) angeschlossen werden können. Dieses Setup ist wesentlich kostengünstiger und es soll geprüft werden, ob damit die Substratfeuchte mit hinreichender Genauigkeit zur Steuerung der Wasserversorgung von Gründächern gemessen werden kann. Die Kalibrierkurve für den kapazitiven Sensor im Substrat wurde aufgenommen. Der Versuchsaufbau ist in Bild 4 dargestellt. Dabei erfolgte eine definierte Einstellung der Substratfeuchte zum Zeitpunkt t 0 durch die Zugabe einer bestimmten Menge Wasser. Während der Austrocknung des Substrates (Messung des Wasserverlustes über Wägung) wurde mit Hilfe des kapazitiven Sensors kontinuierlich die Substratfeuchte bestimmt. Ergebnisse In Bild 5 ist die Kalibrierkurve für den kapazitiven Sensor dargestellt. Die Sensorspannung (Messgröße Sensor) und die Substratfeuchte (in Gew%) lassen sich durch eine quadratische Regressionsfunktion mit dem Bestimmtheitsmaß R 2 von 0,95 abbilden. Dadurch wird deutlich, dass ein starker Zusammenhang zwischen der Messgröße (Sensorspannung) und der tatsächlichen Substratfeuchte besteht. Die Bild 4: Versuchsaufbau zur Ermittlung der Kalibrierkurve für den kapazitiven Sensor. © Hietel et al. 67 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Kalibrierkurve zeigt ebenfalls, dass der Messbereich des kapazitiven Sensors nach unten, das heißt in Richtung geringer Substratfeuchte beschränkt ist. In diesem Fall konnten Substratfeuchtegehalte bis minimal 4 Gew% sicher detektiert werden. Diskussion Bei Aufnahme der Kalibrierkurve für einen kapazitiven Sensor in einem Gründachsubstrat konnte eine ausreichende Genauigkeit erzielt werden, um mit Hilfe dieses Sensors die Substratfeuchte zur Steuerung der Wasserversorgung der Pflanzen einzustellen. Der Einfluss des AD-Wandlers auf die Messwerte des Sensors war im Versuchsverlauf vernachlässigbar. Die Kosten für eine kapazitive Substratfeuchtemessung mit bis zu 10 Sensoren betragen rund 25 €, die Kosten für den TDR-Sensor (UGT) liegen allein für einen Sensor bei etwa 150 €. Somit stellt der kapazitive Sensor eine echte Alternative für die Vermessung von flächigen Substraten auf dem semi-intensiven Gründach dar [10, 11]. Künftig wird dieser Sensor zur Steuerung der Wasserversorgung von verschiedenen semi-intensiven Gründächern eingesetzt, um ihn im laufenden Betrieb noch weiter hinsichtlich seiner Messgenauigkeit und Langzeitstabilität zu testen und zu optimieren. Feinstaub Die Untersuchungen zur Feinstaubdeposition basieren auf zwei Ansätzen. Zum einen auf kontinuierlichen Feinstaubmessungen an ausgewählten Dachstandorten in den Städten Bingen und Mainz und zum anderen auf Laborversuchen am geowissenschaftlichen Institut der Universität Mainz. Auf diese wird in diesem Kapitel explizit eingegangen. Methoden In einem speziell ausgestatteten Windkanal (siehe Bild- 6) werden Einflussgrößen wie Windstärke, Staubmenge und -zusammensetzung unabhängig von äußeren Bedingungen (Klima, Art der Pflanzenvergesellschaftung, anthropogene Einflüsse) bezüglich ihrer Relevanz für das Staubbindevermögen einer Pflanze überprüft und interpretiert. Im Einzelnen werden die Feinstaubkonzentrationen mittels kalibrierter Staubmengenmessgeräte im Größenbereich PM2.5 und PM10, die Partikelgrößenverteilung auf Staubfängern (aufgeraute Glasträger) sowie die Haftprozesse auf den Pflanzenblättern mittels Analyse mikroskopischer Bildaufnahmen untersucht [12]. Dabei eingesetzte Modellstäube können Feuerlöschpulver, Gesteinsmehl oder organische Substanzen im Partikelgrößenspektrum 2 - 100 μm sein. Ähnliche Versuche wurden bereits im Zuge einer Auftragsstudie zur Staubfilterwirkung von Pflanzen an der Humboldt-Universität Berlin durchgeführt [13]. Der hier vorgestellte Versuch mit einer Schafgarbe (Achillea millefolium) als Testpflanze wurde folgendermaßen durchgeführt: die Versuchsdauer betrug 200 min bei einer kontinuierlichen Windstärke von 2,5 m/ s. Definierte Staubmengen von je 50 mg wurden im 10 min-Intervall zugeführt. Die Staubfänger wurden direkt oberhalb des Substrats vor, hinter und unterhalb der Pflanzenblätter angebracht. Zusätzlich waren Feinstaubmessgeräte auf Laborstativen vor und hinter der Pflanze im Windstrom positioniert. Ergebnisse Die Ergebnisse der Feinstaubmessung zeigen eine Reduktion der Staubkonzentration auf der windabgewandten Seite der Pflanze (Tabelle 1). Die bildanalytische Auswertung der Staubfänger (siehe Bild- 7) bestätigt diese Ergebnisse, sichtbar in einer Reduktion der Partikelzahl und einer abnehmenden Partikelgrößenverteilungen in der Reihenfolge vor (a), hinter (b), unterhalb (c) der Pflanzenblätter. Eine Bild 5: Kalibrierkurve für den kapazitiven Sensor Hygrometer Modul V1.2 für Arduino. © Hietel et al Bild 6: Versuchskanal (200 x 80 x 80 cm) mit zwei variabel steuerbaren Ventilatoren zur Erzeugung eines kontinuierlichen Windstroms (Luftstrommessgerät: Trotec TA300). Zwei kalibrierte Feinstaubmessgeräte (ELV PM2.5) werden vor und hinter der Versuchspflanze zur kontinuierlichen Feinstauberfassung im 30 sec-Intervall positioniert. Die drei Staubfänger befinden sich unterhalb des Blattwerks auf dem Substrat (im Bild nicht zu erkennen). Die Staubproben (20 x 50 μg Weizenmehl Typ 405) werden über eine Öffnung im Deckel direkt hinter dem linken Ventilator eingebracht. © Hietel et al. 68 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt deutliche Anreicherung an Staub auf den Blättern nach Durchführung des Versuchs ist in Bild 8a zu erkennen. Bild 8b zeigt den Zustand der Blattoberfläche nach einer simulierten Beregnung der Pflanze - alle Staubpartikel wurden abgespült und ins Substrat überführt. Diskussion Die Versuchsergebnisse zeigen, dass Pflanzenblätter Partikel binden und darüber hinaus die Zusammensetzung der in der Atmosphäre verbliebenen Staubmenge verändern können. Eine nachweisbare Reduktion der Partikelanzahl sowie der mittleren Partikelgröße auf der windabgewandten Seite der Pflanze verdeutlichen die potenzielle Filterwirkung von intensiv begrünten Dächern. Der Staub wird von den Blättern der Pflanze „gefangen“ und anschließend beim nächsten Niederschlagsereignis ins Substrat gespült. Inwieweit diese Beobachtung auch auf andere Pflanzenarten zutrifft, wird in weiteren Versuchsreihen untersucht. Hochauflösende Digitalmikroskope ermöglichen darüber hinaus eine Untersuchung der Anhaftprozesse von Staubkörnen an die Pflanzenoberfläche. Bild 8c zeigt die Nahaufnahme (700fache Vergrößerung) eines Blatthärchens der untersuchten Schafgarbe mit einem anhaftenden, 8 μm großen Staubkorn. Dieser pflanzenspezifische Mechanismus konnte an zahlreichen Stellen des Blattes nachgewiesen werden, wogegen Staubpartikel direkt auf der Blattoberfläche selten vorzufinden sind. Der Effekt könnte dafür verantwortlich sein, dass die Staubpartikel auch bei gleichbleibend hoher oder weiter gesteigerter Windgeschwindigkeit nicht wieder abgelöst und weitertransportiert werden. Andere Pflanzen mit glatter Blattoberfläche zeigen ein deutlich geringeres Bindevermögen. Insgesamt werden bis zum Abschluss des Projektes rund 15 Pflanzenarten auf ihre Staubfilterwirkung im Laborversuch untersucht werden. Biodiversität Auf den Dachgrünflächen soll die Biodiversität optimiert werden. Dafür werden die Auswirkungen von unterschiedlichen Etablierungsmethoden der Pflanzen und von Bewässerung auf die Biodiversität untersucht. Methoden Ein Teil der Parzellen des Versuchsdachs (Bild 2) wurde extensiv mit Sedum-Arten begrünt. Für die semi-intensiv begrünten Parzellen wurden Pflanzen verwendet, die trocken- und hitzetolerant und zur Erhöhung der Attraktivität teilweise essbar sind. Auf einer weiteren Fläche entwickelte sich spontane Sukzessionsflora. Ansaatversuche wurden in vier Holzkästen (Aufbau entsprechend Versuchsdach, Größe je 1 m²) mit gebietsheimischen Wildsamenmischungen durchgeführt (Pflanzenliste in Tabelle 2). Im Rahmen einer regelmäßigen Bonitur wurden Vitalität der Pflanzen, Wuchshöhe, Deckungsgrad und Blütenanzahl erfasst. Ergebnisse Die Bewässerung (im Mittel 2 mm/ Tag) wirkt sich deutlich positiv auf Vitalität und Wuchshöhe der Position des Messgerätes oder des Staubfängers vor der Pflanze hinter der Pflanze unterhalb der Pflanzenblätter Ergebnisse der Feinstaubmessung über den gesamten Versuchszeitraum (200 min) mittlere Partikel-konzentration PM2.5 [μg/ m³] 18,2 15,7 - mittlere Partikel-konzentration PM10 [μg/ m³] 34,2 29,6 - Ergebnisse der Staubfänger-Proben über den gesamten Versuchszeitraum (200 min)mittels Bildauswertung mittlere Partikelgröße [μm] 108,1 89,9 73,2 max. Partikelgröße [μm] 280,3 256,6 143,0 Partikelanzahl [abs] 1358 1288 1148 Tabelle 1: Ergebnisse der Feinstaubmessung und der Bildanalyse Bild 7: Auswertung der Staubfänger: Teilabbildung a zeigt links das polarisiert aufgenommene Bild der Probe vor der Pflanze, rechts das Histogramm der Partikelverteilung (Bildaufnahme: DinoLite Digitalmikroskop AM-73915 MZTL, 70 fache Vergrößerung). In Analogie zeigt Teilabbildung b die Ergebnisse des Staubfängers hinter der Pflanze und Teilabbildung c die Ergebnisse des Staubfängers unterhalb des Blattwerks. © Hietel et al 69 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Pflanzen sowie auf den Deckungsgrad der Parzellen aus (siehe Bild 9). Dabei spielt es offenbar keine Rolle, ob die Bewässerung unterirdisch oder oberirdisch erfolgt. Während die Parzellen mit Sedum- Bepflanzung sehr lückig blieben (weniger als 30 %), erreichten die semi-intensiv begrünten Parzellen bereits im Pflanzjahr Deckungsgrade von 70 - 80 %. Die Sukzessionsflora blieb ebenfalls relativ lückig (Deckungsgrad bis etwa 40 %). Bei den Ansaatversuchen konnte rasch ein hoher Deckungsgrad erreicht werden. Während die Wuchshöhe der Sedum-Pflanzen wie erwartet sehr niedrig blieb, erreichten die Pflanzen auf den semi-intensiven Parzellen je nach Art gestaffelte Wuchshöhen von bis über 60-m (zum Beispiel: Achillea millefolium, Hyssopus officinalis, Briza media). Der Strukturreichtum war damit hier deutlich größer ausgeprägt. Auf den semi-intensiv begrünten Parzellen sind fast über das ganze Jahr blühende Pflanzen und damit Insektennahrung vorhanden. Bergenia cordifolia blüht beispielsweise bereits ab Februar, während Dianthus carthusianorum bis in den Dezember hinein blüht. Die Blütezeit der Sedum-Arten konzentriert sich dagegen auf den Zeitraum Mai bis September. Die Artenanzahl ist bei der semi-intensiven Pflanzung am höchsten, bei den Ansaaten konnten sich bislang die Wildgräser am ehesten durchsetzen. Der Pflegebedarf der Begrünungen war trotz Bewässerung gering, es wurden lediglich einzelne Gehölzkeimlinge beseitigt. Diskussion Ein hoher Deckungsgrad sowie Blühaspekt fast über das ganze Jahr wirken sich positiv auf die Lebensraumqualität des Dachgrüns zum Beispiel für Insekten und damit über die Nahrungskette auch für die faunistische Biodiversität insgesamt aus [6,-14]). Auch Strukturreichtum, also der Wechsel zwischen Gräsern und Stauden sowie unterschiedliche Wuchshöhen, hat positive Auswirkungen [15]. Beides konn- Bild 8: a) Mikroskopaufnahme eines Blattes der Testpflanze (Schafgarbe) unmittelbar nach der Durchführung des Versuchs. b) Aufnahme eines Blattes nach der Abspülung des Staubes durch einen simulierten Niederschlag. c) Aufnahme eines Blatthärchens mit anhaftendem Staubkorn. Bildaufnahme a und b: DinoLite Digitalmikroskop AM-7515 MT8A, 125fache Vergrößerung. Bildaufnahme c: DinoLite Digitalmikroskop AM-7515 MT8A, 700fache Vergrößerung. © Hietel et al Bild 9: Rechte Bildseite: Semi-intensiv begrünte Parzelle mit Blühaspekt, linke Bildseite: Unterschiede Bedeckungsgrad und Wuchshöhe zu extensiv begrünten Parzellen sowie zur Sukzessionsfläche (Hintergrund) © Hietel et al 70 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt 1. 3. 2020 die Verwendung gebietsheimischer Pflanzungen vor. Die Übertragung dieser Vorgabe auf die Dachgrünflächen scheint für die Biodiversität sinnvoll zu sein, auch für eine mögliche Anerkennung der Dachgrünflächen als Kompensationsmaßnahmen im Rahmen der Eingriffsregelung. Das Ausbringen von Wildsamenmischungen aus der jeweiligen Herkunftsregion zeigt sich nach den bisherigen Ergebnissen daher als erfolgversprechende Alternative bzw. Ergänzung zu Pflanzungen. Die Beimischung von essbaren Pflanzen (Erdbeere, Kohl) und Kräutern (Lavendel, Ysop) hat sich zur Steigerung der Attraktivität der Pflanzungen bewährt. Insgesamt ist im Vergleich zu den extensiv begrünten Referenzflächen von einer deutlichen Optimierung der Biodiversität auszugehen, die trotz der geringen Substrathöhe (10 cm) aufgrund der Bewässerung ermöglicht wurde. Fazit Im Rahmen des Projekts konnte das Versuchsdach als Modellfläche für semi-intensives Dachgrün aufgebaut und erfolgreich in Betrieb genommen werden. Damit wurde bereits die aufwandsarme Nachrüstbarkeit extensiver Flächen gezeigt. Durch die nachgewiesene Vergleichbarkeit zwischen der präzisen, aber teuren und der einfacheren Sensorik konnten zudem die Kosten der Nachrüstung erheblich gesenkt werden. Denn die erwarteten Vorteile können nur umgesetzt werden, wenn eine hinreichende Attraktivität einer Umstellung auf semiintensives Grün für eine Vielzahl von Anwendern gegeben ist. Mit der Art der semi-intensiven Begrünung ist es zudem gelungen, auf dem Modelldach die Biodiversität fördernde Strukturen zu schaffen. Erste Vorversuche im Labor und auf der Modellfläche zeigten bereits vielversprechende Ergebnisse hinsichtlich der Rolle von semi-intensivem Grün für die Albedo und die Feinstaubbindung. Nächste Schritte sind die ausgiebige Quantifizierung der Zielgrößen am inzwischen dicht bewachsenen Modelldach und den unter realen Bedingungen bereits umgerüsteten Dächern in Mainz und Bingen. Dann wird sich auch zeigen, inwieweit über das Jahr gespeichertes Regenwasser zur Bewässerung der semi-intensiven Dachbegrünung ausreichen wird. Danksagung Wir bedanken uns beim BMU für die Förderung des Projekts im Rahmen des Programms „Förderung von Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel, Schwerpunkt Kommunale Leuchtturmvorhaben“ sowie bei allen Studierenden und Kooperationspartnern, die am Projekt mitwirken. te auf den semi-intensiv begrünten Parzellen schon nach kurzer Zeit erreicht werden. Die Vielfalt der Pflanzenarten spielt ebenfalls eine Rolle: sie erhöht die Resilienz im Vergleich zu Begrünungen, die nur auf wenigen Arten basieren [16,- 17]. Die Pflanzungen erreichen zwar die höchste Artenanzahl, es wurden jedoch auch nicht heimische Arten gepflanzt, da bei den Staudengärtnereien oft heimische Arten gar nicht bzw. nur als züchterisch bearbeitete Sorten lieferbar sind. Die Verwendung heimischer Arten ist jedoch für die Biodiversität wichtig (vgl. zum Beispiel [15]), und für die freie Natur gibt §-40 BNatSchG seit Pflanzenarten auf den intensiven Versuchsparzellen Gemeine Schafgarbe Achillea millefolium Kahler Frauenmantel Alchemilla epipsila Herzblättrige Bergenie Bergenia cordifolia „Abendglut“ Borretsch Borago officinalis „Alba“ Wirsing Brassica oleracea convar. capitata var. sabauda Grünkohl Brassica oleracea var. sabellica Mittleres Zittergras Briza media Blauroter Steinsame Buglossoides purpurocaerulea Rundblättrige Glockenblume Campanula rotundifolia Pampasgras Cortaderia selloana „Pumila“ Kartäusernelke Dianthus carthusianorum Heide-Nelke Dianthus deltoides „Leuchtfunk“ Amethyst-Schwingel Festuca amethystina Gartenerdbeere Fragaria x ananassa Kaukasus Storchschnabel Geranium renardii Ysop Hyssopus officinalis Echter Lavendel Lavandula angustifolia Virginischer Tabak Nicotiana tabacum Woll-Ziest Stachys byzantina Edel-Gamander Teucrium chamaedrys Pflanzenarten auf den extensiven Versuchsparzellen Scharfer Mauerpfeffer Sedum acre Weißer Mauerpfeffer Sedum album Milder Mauerpfeffer Sedum sexangulare Felsen Fetthenne Sedum rupestre Dickblatt-Fetthenne Sedum dasyphyllum Wildsamenmischungen (Rieger-Hofmann GmbH) Nr. 13 Blumen-/ Kräuterrasen Nr. 15 Pflaster-/ Schotterrasen Nr. 16 Wildgräserrasen Nr. 18 Dachgrünmischung Tabelle 2: Pflanzenliste 71 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt AUTOR*INNEN Prof. Dr. Elke Hietel Technische Hochschule Bingen Fachbereich 1 - Life Sciences and Engineering Kontakt: e.hietel@th-bingen.de Prof. Dr. Oleg Panferov Technische Hochschule Bingen Fachbereich 1 - Life Sciences and Engineering Kontakt: o.panferov@th-bingen.de Prof. Dr.-Ing. Ute Rößner Technische Hochschule Bingen Fachbereich 1 - Life Sciences and Engineering Kontakt: roessner@th-bingen.de Dr. Klemens Seelos Johannes Gutenberg Universität Mainz Kontakt: seelos@uni-mainz.de Prof. Dr. Cornelia Lorenz-Haas Technische Hochschule Bingen Fachbereich 1 - Life Sciences and Engineering Kontakt: c.lorenz-haas@th-bingen.de Dipl.-Biol. Ben Warnecke Technische Hochschule Bingen Fachbereich 1 - Life Sciences and Engineering Kontakt: b.warnecke@th-bingen.de Jan Wustmann, B. Sc. Technische Hochschule Bingen Fachbereich 1 - Life Sciences and Engineering Kontakt: j.wustmann@th-bingen.de LITERATUR: [1] BfN, Bundesamt für Naturschutz: Urbane Grüne Infrastruktur, Grundlage für attraktive und zukunftsfähige Städte, Berlin, 2017. E-paper: https: / / www.bfn. de/ fileadmin/ BfN/ planung/ siedlung/ Dokumente/ UGI_Broschuere.pdf, am 27.04.2020. [2] Mann, G.: Dach-, Fassaden- und Innenraumbegrünung im Jahr 2017. In: Neue Landschaft 6 (2017) S.-23 - 27. 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[14] Thiele, H.-U.: Experimentelle Untersuchungen über die Ursachen der Biotopbindung bei Carabiden. Zeitschrift für Morphologie und Ökologie der Tiere, 53 (1964) S. 387 - 452. [15] Gedge, D., Kadas, G.: Green roofs and biodiversity. Biologist 52/ 3 (2005) S. 161 - 169. [16] Emilsson, T.: Vegetation development on extensive vegetated green roofs: Influence of substrate composition, establishment method and species mix. Ecological Engineering 33 (2008) S. 265 - 277. [17] Lundholm, J., MacIvor, J., MacDougall, Z., Ranalli, M.: Plant species and functional group combinations affect green roof ecosystem functions. PLoS ONE 5/ 3 (2010) e9677. 72 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Wovon ist hier eigentlich die Rede? Um die Begrifflichkeiten und Definitionen im Kontext von „heimischen Arten“ und „Neophyten“ verstehen zu können, braucht es einen Blick zurück, sehr weit zurück: Bedingt durch wiederkehrende Eiszeiten hat sich das Artenspektrum in Mitteleuropa immer wieder drastisch verändert und reduziert (Bild 1 und Bild 2). Nach der letzten Eiszeit, vor etwa 13 000 Jahren, mussten die meisten Arten erst wieder einwandern. Das konnte „von selbst“ geschehen, aber auch mithilfe von Tieren, die auf ihrer Wanderschaft Samen transportierten sowie, ungewollt oder bewusst, durch den Menschen. Der anthropogene Einfluss bei der Artenentwicklung in Mitteleuropa ist schwer abzuschätzen, sollte aber keinesfalls unterschätzt werden. So wird zum Beispiel davon ausgegangen, dass verbreitete Arten wie Buche und Haselnuss bei ihrer Ausbreitung deutlich vom Menschen profitierten. Leichter ersichtlich ist es bei den Ackerkulturen und ihrer Begleitflora, die sich ohne anthropogenen Einfluss deutlich später oder gar nicht etabliert hätten. [1, 2] Die frühen Siedlungsgebiete waren dabei durchaus nicht isoliert. Bereits für die Bronzezeit wird von einem weitreichenden Handelsnetz ausgegangen, das vom heutigen England bis in die heutige Türkei und Israel reichte. Die Geschichte der Arten Mitteleuropas lässt sich also durchaus als eine anthropogen beeinflusste Koevolution lesen. Auf dieser komplexen Ausgangslage aus Verdrängung, Einwanderung und Einführung bauen unsere Definitionen auf. Die oben geschilderte Ausgangslage macht bereits deutlich, dass Definitionen immer auf Rahmenbedingungen basieren: Was ist der Stand der Forschung? Wie werden historische Entwicklungen gewertet. Mit welchen Wertungen sind Definitionen insgesamt verbunden? Nach Kowarik wird international (und wertfrei) von „einheimischen Arten/ Indigenen“ (Entstehung/ Etablierung ohne anthropogenen Einfluss) und „nicht-heimischen Arten/ Neobiota“ (Entstehung/ Etablierung mit anthropogenen Einfluss) ausgegangen [3]. Davon abweichend, subsumierte das deutsche Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) in seiner Fassung von 2009 auch etablierte Neobiota unter dem Begriff der „heimischen Arten“. Diese Definition (§ 7, Abs. 2, Punkt 7 und 8) ist inzwischen entfallen. Geblieben ist nur eine Unterscheidung in seit mindestens 100 Jahren etablierte und in nicht seit mindestens 100 Jahren etablierte Arten (§ 40, Abs. 1). Weitere Begrifflichkeiten (bezogen auf Pflanzen) sind in diesem Kontext die „Archäophyten“ also „nicht-heimischen Arten“, die vor 1492 (vor der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus) in Europa etabliert wurden. „Neophyten“ wiederum werden auch Pflanzen genannt, die erst nach 1492 in Europa etabliert wurden. Es wird also zwischen älteren „Neophyten“ und neueren „Neophyten“ unterschieden, um den quantitativen Unterschied zwischen vorneuzeitlicher und neuzeitlicher Artenverbreitung zu kennzeichnen. [3] Aus gärtnerischer Sicht sind diese - eher auf die Artenentwicklung abzielenden Definitionen - nur bedingt hilfreich. Sie machen aber deutlich, dass „heimisch“ nicht mit einer Lokalisierung in modernen Territorialstaaten gleichgesetzt werden kann. Dagegen spricht schon die weite Verbreitung vieler europäischer Arten, zum Beispiel des Günsels (Ajuga reptans), dessen Verbreitung von Europa bis Nordafrika reicht. Auf der anderen Seite gibt es Arten, Wie „heimisch“ können Arten sein? Überlegungen zu einem fachlich wie politisch nicht leicht zu bewertenden Thema Städtische Freiflächen, Ökosysteme, Biodiversität, heimische Pflanzenarten, Neophyten Sandra Sieber Im Zuge des Bienen- und Insektensterbens rücken „heimische“ Pflanzenarten in den Fokus. Sie sollen bestimmten Tieren Nahrung und Lebensraum bieten, auch als Teil von innerstädtischen Freiflächen. Auf der anderen Seite erfreuen sich aber auch „Neophyten“, wie die Präriestauden, großer Beliebtheit. Die Standpunkte „NUR heimische Arten! “ und „AUCH nichtheimische Arten! “ werden teils erbittert diskutiert. Gute Argumente finden sich für beide Positionen. Dennoch ergeben sich in Bezug auf das Konstrukt „heimische Arten“ einige fachliche und leider auch politische Fragen. 73 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt die auf ein sehr begrenztes Verbreitungsgebiet beschränkt sind und gerade durch diese Spezialisierung keine oder kaum Bedeutung für die gärtnerische Praxis haben. Steiger führt hier das Edelweiß und die Strandaster als Beispiele an [4]. Relevant für die gärtnerische Praxis sind allerdings die „invasiven“ Arten. Hier nennt die „Unionsliste“ 12 Pflanzen, die in Deutschland vorkommen und als invasiv gewertet werden. Nur für die Arten der „Unionsliste“ besteht ein Besitz- und Vermarktungsverbot und ihre Ausbreitung soll mit geeigneten Maßnahmen verhindert bzw. verringert werden.-[5, 6] Um als „invasiv“ zu gelten, muss eine Pflanze ein nachweisbares, deutliches Schadenspotenzial aufweisen, denn ein Handelsverbot ist ein gravierender Eingriff in wirtschaftliche Prozesse (zum Beispiel der Baumschulen) und muss daher gut begründet werden. Die Fähigkeit zur Selbstaussaat - wie bei Cosmeen im Garten - ist noch kein Schadenspotenzial. [7] Alles kein Problem? Die politische Dimension Wer einmal in eine Diskussion zum Thema „heimische Arten“ geraten ist weiß, hier kann es hoch hergehen. Anders als es die trockenen Gesetzestexte und Definitionen vermuten lassen, ist das Thema stark emotional besetzt. Im Kern der Kontroverse lassen sich bei der Pflanzenverwendung zwei Argumente finden, die tatsächlich gegen die Verwendung neuer Arten sprechen: Sie können durch ihre Konkurrenzstärke oder ihr gesundheitliches Gefahrenpotenzial problematisch werden und sie sind für spezialisierte Tiere, die auf bestimmte Pflanzen als Nahrungsspender oder Kinderstube angewiesen sind, nicht oder nur eingeschränkt nutzbar. Hinter der Idee, (vermeintlich) „heimische Pflanzen“ einzusetzen steht immer auch der Wunsch, eine bestimmte, als „heimisch“ gedachte Artenzusammensetzung zu schützen. In einer Broschüre zum Thema heißt es dann beispielsweise: In „Naturgärten wachsen Pflanzen, die es außerhalb des Gartenzaunes kaum noch gibt, nämlich die Vielfalt der einheimischen Wildpflanzen, Lebensgrundlage für eine Fülle von heimischen Tierarten“. [8] Die Formulierung „einheimische Wildpflanzen“ steht hier für bestimmte Vorstellungen von „Natur“ und „Heimat“. Sie verweist auf etwas (vermeintlich) archaisches, das „unberührt“ ist von menschlichen Einflüssen und damit irgendwie „gut“. Diese Vorstellung einer (vermeintlich) bedrohten „unberührten Natur“ und ihrer besonderen Wertigkeit haben wir im Wesentlichen dem Konservatismus des 19. Jahrhunderts und seiner Idee organischer Einheiten zu verdanken. Tradition, Eigenart und regionale Vielfalt spielen in diesem Weltbild eine große Rolle und lassen sich durchaus auf die Suche nach nationaler Identität seit dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert zurückführen. [9] Prägend für diese konservative Auffassung von Natur- und Heimatschutz war der „Bund Heimatschutz“. Für seine Protagonisten hatte die bäuerliche, vorindustrielle Agrarlandschaft und das, was sie für Wildnis hielten, einen großen Wert. Diese „unberührte Natur“ stand unter anderem für „urwüchsige“ Tradition, lokale wie nationale Identität, aber auch für Bild 2: Die Arten und das Eis - Auswirkung der Eiszeiten auf die Artenvielfalt und -zusammensetzung in Mitteleuropa. Neben den Eismassen schränkten auch die Gebirgszüge die Wanderungsbewegung der Arten ein. © Sieber Bild 1: So stellt man sich „heimische Arten“ vor, oder nicht? © Sieber THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt 74 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt eine (moralisch wie genetische) Revitalisierung des Volkes. Die Landbevölkerung wurde zum Bollwerk gegen (vermeintliche) urbane Vermassung und Proletarisierung, aber auch gegen eine als „unnatürlich“ empfundene Kultivierung und Intellektualisierung stilisiert. [10] Landbevölkerung und (Kultur-)Landschaft wurden als organische, gewachsene Einheit gedacht. Auch das Zusammenspiel der Arten und ihrer Lebensräume wird so zur organischen Einheit, mit einem gedachten Gleichgewicht bzw. Entwicklungsziel (Klimaxgesellschaften). [11] In der Pflanzenverwendung von heute heißen diese gedachten Gegenpole von „Urwüchsigkeit“ und „Über-Kultur“, „globalem Nomadentum“ und „lokaler Tradition“ dann „Wildstaude“ versus „gärtnerische Züchtung/ Auslese“, „heimische Art“ versus „Neophyt“. Auch wenn die tatsächlichen Definitionen dabei schnell verwischen (Bild 3). Problematisch ist diese Tradition des konservativen oder organizentrischen Naturschutzes nicht nur wegen ihre Zuschreibungen und begrifflichen Unschärfe. Sie bietet auch Andockstellen für rechte, bzw. neu-rechte Weltbilder. Insbesondere das Konzept des Ethno-Pluralismus ist hier hochgradig anschlussfähig [12]: So haben aus der Sicht eines organizistischen Naturschutzes alle Arten ihre Berechtigung, solange sie nicht in (vermeintlich) fremde Gebiete einwandern und die (vermeintlich) „heimische Natur“ nicht unterwandert/ verdrängt wird. Gleiches gilt im Ethno-Pluralismus: Hier haben alle Ethnien ihre Berechtigung, solange sie nicht in (vermeintlich) fremde Gebiete einwandern und das (vermeintlich) heimische Volk nicht unterwandert/ verdrängt wird (daher der Mythos vom „großen Austausch“). „Neu“ oder „fremd“ zu sein, wird in dieser Weltsicht immer zum Problem, egal ob von Geflüchteten gesprochen wird, oder von Cosmeen … Dass es sich hier nicht nur um flüchtige Ähnlichkeiten handelt [12], die mit einem „Ist doch nicht politisch gemeint“ ausgeräumt werden können, zeigt ein Blick auf alternative Naturschutzkonzepte. Im progressiven oder prozessorientierten Naturschutz existieren keine organisch gewachsenen Artenzusammensetzungen, kein statischer und damit künstlich zu erhaltender Zielzustand und auch keine Wertung bestimmter Arten/ Artenzusammensetzungen. Arten wanderten schon immer, reisten mit den Menschen, so auch heute. Es gibt keine „heimische Natur“, die Neuankömmlinge verändern könnten, da „Natur“ immer Wandel, Veränderung und auch Verdrängung bedeutet. [11] Das Nebeneinander beider Sichtweisen macht deutlich: „Natur“ ist immer ein gedachtes Konstrukt. Es gibt den Baum, den Stein und den Vogel, aber erst weltanschauliche Konzepte und Wertungen machen daraus eine schützenswerte „heimische Natur“ oder „bedrohliche Invasoren“. Die gedachte Natur ganz praktisch Für die gärtnerische Praxis ergeben sich aus diesen abweichenden Sichtweisen einige Probleme. An erster Stelle steht der unscharfe oder inflationäre Umgang mit Begriffen wie „invasiv“, „Neophyt“ und „heimisch“. In Bezug auf die politischen Implikationen bietet die „Fachstelle Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz (FARN)“ Informationsmaterial und Handreichungen. [13] In Planung und Ausführung fehlt zudem oft das Fachwissen im Umgang mit Arten, die gärtnerisch und gestalterisch bislang kaum beachtet wurden (Bild 4). Sind gärtnerische Experimente im eigenen Garten und bei enthusiastischen Privatkunden kein Problem, können sie beim skeptischen Unternehmen im Gewerbegebiet schnell zu Enttäuschung oder Verärgerung führen. Nicht umsonst ist der (vermeintlich) berechenbare „Schottergarten“ so beliebt. Steiger rät zum Beispiel ab von Wiesenexperimenten und empfiehlt Staudenpflanzungen, die in Erscheinung (Blühdauer und Artenzusammensetzung) und Pflege besser zu handhaben sind. [4] Dazu kommen möglicherweise fehlende Bezugsquellen, insbesondere wenn es um „gebietsheimische“ Arten und Saatgut geht, die seit März 2020 für Planungen im Außenbereich verbindlich sind (§ 40, Abs. 1 bis Abs. 3). [14] Dem skeptischen Unternehmen dürfte es zudem gleichgültig sein, ob es „heimische“ Arten oder „Neophyten“ sind, die sich in jeder Ecke des Grundstücks aussamen und so „invasiv“ werden. „Heimisch“ oder nicht, ist bei der Pflanzenauswahl immer nur ein Kriterium unter vielen. Offen ist auch, wie Züchtungen, Kreuzungen und gärtnerische Auslesen (zum Beispiel: Ajuga reptans ‚Atropurpurea‘ ), in das Konstrukt der „heimischen Bild 3: „Natur“ ist immer auch ein gedachtes Konstrukt, das - je nach Anschauung und Wertung - bestimmte Elemente inkludiert und andere exkludiert. © Sieber 75 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Wildpflanzen“ passen. Gerade hier wird deutlich, wie sehr Wertungen und Zuschreibungen die Sicht auf Pflanzen und den Umgang mit ihnen beeinflussen. Auch Aspekte der sozialen Kontrolle und der subjektiven Sicherheit spielen eine Rolle: Ein Minimum an Gestaltung und Pflege muss ablesbar sein, damit es nicht zu Vermüllung der Flächen, fehlendem Sicherheitsgefühl oder auch der Abwertung als „Unkrautfläche“ kommt. [15] Auch die gärtnerischen Geschmäcker sind verschieden. Zudem können Zielkonflikte aufkommen, wenn etwa städtische Gestaltungsvorgaben auf vermeintlich „heimische Arten“ abzielen. Eine große Vielfalt an gärtnerisch bewährten Arten kann zu einer Begrünung vieler Flächen führen, da es sich um ein niedrigschwelliges Angebot handelt. Die Reduktion auf „heimische Arten“ kann durch fehlende Erfahrung Skepsis hervorrufen. Mangelnde Fachkenntnis bei Planung und Pflege führen schlimmstenfalls zu unattraktiven Pflanzungen, die ebenfalls nicht zur Nachahmung einladen. Hier kann der Zweck einer Fläche als Richtschnur dienen: Hecken rund um große Gewerbeflächen oder angrenzend an den Außenbereich, können sich problemlos (und kostengünstig) an Empfehlungen für „gebietsheimische Gehölze“ im Agrarraum orientieren. Für (kleine) Beete mit hoher repräsentativer Funktion können auch bewährte gärtnerische Konzepte (unabhängig von der Herkunft der Arten) eine gute Option sein und sind in jedem Fall besser als „Schottergärten“. Für Brachflächen kann auch das (kontrollierte) Belassen der Spontanvegetation infrage kommen, denn hier haben sich ja gerade Arten angesiedelt, die gut zum Standort passen. Warum nicht diese echte Wildnis zulassen und inszenieren, statt Vorstellungen einer „natürlichen Natur“ mit Bagger und Schüttgütern zu realisieren, wie Lucius Burckhardt schon in den 1980er-Jahren spitzfindig polemisierte. [16] Auch Fragen des Ressourcenschutzes stellen sich beim Thema „heimische Arten“: Sand und Kies sind global immer knapper werdende Rohstoffe. Ist es „nachhaltig“, Lebensräume im Außenbereich abzubaggern, um Trockenbeete/ Magerwiesen im Innenbereich anzulegen? Welche Transportwege/ -emissionen werden hier aufgewendet? Unter welchen sozialen Bedingungen wurden die Schüttgüter abgebaut? Erschreckend ist auch die Bedenkenlosigkeit, mit der in Bauanleitungen für Magerwiesen, der Abtrag von fruchtbarem Oberboden empfohlen wird, der vielleicht wichtigsten Ressource überhaupt. An der Konjunktur der Magerwiesen (ungeachtet der tatsächlichen Standortverhältnisse) lässt sich auch gut der Einfluss wechselnder Naturschutz-Moden bis in den Naturschutz hinein ablesen: In den 1980ern waren es die Feuchtbiotope. [16] Letztlich muss auch die Frage gestellt werden, wie „natürlich“ ein „Naturgarten“ ist, der überkommene, historische Kulturlandschaftsformen (zum Beispiel Magerwiesen als Relikt von Überweidung) nachstellt? Es sind eben gerade keine „einheimischen Wildpflanzen“, die hier präferiert und erhalten werden sollen, sondern Arten früherer Kulturlandschaften! Vom Waldsaum, über Wiese, Acker und Feldhecke bis zum vermeintlich naturnahen Wald: Sie alle sind durch anthropogenen Einfluss entstanden, ihre Artenvielfalt ist nicht „natürlich“ (in der Definition des „von selbst“ Entstandenem). Wertvoll und schützenswert können diese Arten der historischen Kulturlandschaft dennoch sein! Nur eben ohne den Mythos der „unberührten Natur“. Bild 4: Anspruch und Wirklichkeit: Auf welchen „fachlichen Standard“ (siehe oben und Mitte) bauen Freiflächengestaltung und -pflege auf und kann die „insektenfreundliche Bepflanzung“ (unten) dann wirklich besser gelingen? © Sieber 76 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Auch in Bezug auf den Klimawandel kann nicht davon ausgegangen werden, dass vermeintlich „heimische Arten“ die zunehmenden Wetterextreme durchweg besser vertragen (Stichwort „Kleine Eiszeit“! ). Standort- und Pflanzenkenntnisse sind gefragt, wenn es um ihren Einsatz im anthropogen veränderten Innenbereich geht. Bei der Suche nach dem „Stadtbaum der Zukunft“ oder Empfehlungen für Bäume im urbanen Raum, werden daher pragmatisch Arten unterschiedlicher Herkunft getestet. [17] Ausblick Der Erhalt besonders spezialisierter Arten und das Vorsorgeprinzip beim Umgang mit unbekannten Arten sprechen durchaus für die gärtnerische Verwendung etablierter Arten. Daher zum Abschluss keine Empfehlung, sondern Fragen: Welche Erfahrungen haben Kommunen mit den „heimischen Arten“, insbesondere bei den krautigen Pflanzen (Stauden und Gräser)? Welche etablierten Mischungen/ Pflanzkonzepte gibt es bereits und wie haben sich diese in der Praxis bewährt? Damit die biologische Vielfalt im urbanen Raum in jede Richtung gedeihen kann, würde sich das Forschungsprojekt „Gewerbegebiete im Wandel“ [18] über Berichte und den Austausch positiver wie negativer Erfahrungen sehr freuen. Sie könnten die Basis für weitere gute, in Gestaltung und Pflege gelungene Pflanzungen im Stadtgebiet sein. LITERATUR + QUELLEN [1] Küster, H.: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa - Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, 4., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage, C. H. Beck Verlag, München, 2010. [2] Poschlod, P.: Geschichte der Kulturlandschaft - Entstehungsursachen und Steuerungsfaktoren der Entwicklung der Kulturlandschaft, Lebensraum- und Artenvielfalt in Mitteleuropa, 2., aktualisierte Auflage, Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart, 2017. [3] Kowarik, I.: Biologische Invasionen - Neophyten und Neozoen im Mitteleuropa, Ulmer Verlag, 2010, S. 21. [4] Steiger, P.: Heimische Wildstauden im Garten - Attraktiv und naturnah gestalten, Ulmer Verlag, Stuttgart, 2020, S. 11 und S. 32. [5] Amtsblatt der Europäischen Union: Verordnung (EU) Nr. 1143/ 2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Oktober 2014 über die Prävention und das Management der Einbringung und Ausbreitung invasiver gebietsfremder Arten, Artikel 4, https: / / eurlex.europa.eu/ legal-content/ DE/ TXT/ PDF/ ? uri=CELE X: 32014R1143&from=EN [6] Bundesamt für Naturschutz (BfN): Unionsliste - Die Verordnung (EU) Nr. 1143/ 2014 über invasive Arten, https: / / neobiota.bfn.de/ unionsliste.html [7] von Vietinghoff, J., Kühn, N.: Präriepflanzungen in Deutschland - Ein Resümee nach 20 Jahren Erfahrungen, Stadt+Grün, Ausgabe 11 (2019), S. 29 - 34. [8] Naturgarten e. V.: Handbuch invasiver Neophyten - Erkennung, Vermeidung und Bekämpfung, Heilbronn, (2018) S. ii, https: / / www.naturgarten.org/ fileadmin/ Daten%20alte%20Website/ dokumente/ service/ Handbuch_final_weiss_drucker.pdf. [9] Kallscheuer, O., Leggewie, C., Wehler, H. U. und Giesen, B., Junge, K., Kritschgau, C., Schmidt, H. - Aufsätze in: Berding, H. (Hrsg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität - Studien zur Entwicklung kollektiven Bewusstseins in der Neuzeit 2, 6. Auflage, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1999. [10] Sieferle, R. P.: Fortschrittsfeinde? Opposition gegen Technik und Industrie von der Romantik bis zur Gegenwart, Verlag C. H. Beck, München, (1984) S. 167 - 173 und S. 183 - 192. [11] Voigt, A: Wie sie ein Ganzes bilden - analoge Deutungsmuster in ökologischen Theorien und politischen Philosophien der Vergesellschaftung. In: Kirchhoff, T., Trepl, L. (Hrsg.): Vieldeutige Natur - Landschaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene, transcript Verlag, Bielefeld, (2009) S. 331 - 348. [12] Sowohl der Ethno-Pluralismus wie das Konzept der organischen Einheit werden ideengeschichtlich auf Herder zurückgeführt. [13] Fachstelle Radikalisierungsprävention und Engagement im Naturschutz (FARN): Rechtsextreme Ideologien im Natur- und Umweltschutz - Eine Handreichung, 2018. https: / / www.nf-farn.de/ system/ files/ documents/ handreichung1_farn_fuer_web.pdf. [14] Plietzsch, A.: Zur Verwendung von gebietseigenen Gehölzen - Ein Ausblick aus sachverständiger Sicht, erschienen in: ProBaum, Ausgabe 1 (2020), S. 12 - 17. [15] Reif, J.: CityTrop - Projekte und Pflanzen für die grünen Städte von morgen, Ulmer Verlag, Stuttgart, (2017) S. 48 f. [16] Burckhardt, L.: Warum ist Landschaft schön? Martin Schmitz Verlag, 2. Auflage (2008), S. 47 f. [17] Forschungsprojekt Stadtgrün 2021 - Neue Bäume braucht das Land, https: / / www.lwg.bayern.de/ landespflege/ gartendokumente/ merkblaetter/ 078855/ index.php sowie Straßenbaumliste der GALK, https: / / www.galk.de/ arbeitskreise/ stadtbaeume/ themenuebersicht/ strassenbaumliste. [18] „Grün statt grau - Gewerbegebiete im Wandel“, Verbundprojekt im Rahmen des Forschungsprogramms „Nachhaltige Transformation urbaner Räume“, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, http: / / gewerbegebiete-im-wandel.de/ . Dipl.-Ing. (FH) Sandra Sieber Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachgebiet Entwerfen+Freiraumplanung an der TU Darmstadt Kontakt: sieber@freiraum.tu-darmstadt.de AUTORIN 77 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Funktion und Aufbau Die Zukunftsfähigkeit von Städten ist unter anderem abhängig von ihrer Energie- und Ressourceneffizienz, (siehe hierzu auch den Stadtentwicklungsplan Klima Berlin (StEP Kima) [1, 2, 3]. Ein sinnvoller Ansatz ist die Inwertsetzung ungenutzter Flächen. Anbauflächen unter freiem Himmel und Dachgewächshäuser können beispielsweise auf Flachdächern von Supermärkten, Kulturzentren, Schulen, Restaurants, Industrie- und Wohngebäuden errichtet werden. Deutschlands Städte bieten nach Einschätzung von Fraunhofer-Forschern rund 360 Mio. m 2 Flachdächer von Nicht-Wohngebäuden, die für den Anbau von Pflanzen in Gewächshäusern genutzt werden können. Das entspricht in etwa einem Viertel der Größe von Deutschlands Ackerflächen, die für den Gemüseanbau verwendet werden [4]. Zusätzlich stehen vertikale Gebäudeflächen für die Nahrungsmittelproduktion zur Verfügung [5].Relevante Standortkriterien für eine gebäudeintegrierte Farmwirtschaft sind Flächengröße, Aufbau und Belastbarkeit der Primärkonstruktion, die Zugänglichkeit, die Belichtung sowie rechtliche Aspekte [6]. Anbauflächen auf dem Dach unterscheiden sich im Aufbau nicht von flächigen Intensivbegrünungen. Eine Schutzlage schützt den Dachaufbau vor mechanischer Einwirkung. Das Substrat sollte den Kriterien des Nahrungsmittelanbaus genügen. Pflanz- Bild 1: Gewächshaus Dachbegrünung wagnis 4, München. © Pfoser, Hf WU Gebäudeintegrierte Farmwirtschaft Lösungen und Vorteile Urban Farming, Dachbegrünung, Fassadenbegrünung, Stadtklima, Ressourcen, Bürgeraktivierung Nicole Pfoser Die gebäudeintegrierte Farmwirtschaft nutzt Flächen von Gebäuden zum Anbau von Nutz-, Zierpflanzen oder Fisch (Aquaponik), die überwiegend innerhalb der Stadt verwendet oder vermarktet werden. Zur Anwendung stehen, unter Berücksichtigung der Bauphysik sowie der erhöhten Lasten für eine Farmwirtschaft, sonnen- und regenexponierte Flachdächer, Außenwände sowie Innenräume. Die primären Ziele einer gebäudeintegrierten Farmwirtschaft sind die Einsparung ökologisch wertvoller Bodenflächen, Klimabeitrag, Energie- und Ressourceneinsparung durch kurze Versorgungs- und Transportwege, Bildung (Bewusstsein schaffen) sowie die Förderung des sozialen Miteinanders und gemeinnütziger Projekte. 78 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt tröge und Hochbeete auf dem Dach sind heute keine Seltenheit mehr. Die Größe der Anbaufläche ist abhängig vom Nutzungskonzept [5, 7]. Die Personensicherheit muss gegeben sein, die Ver- und Entsorgung mit Wasser und Nährstoffen ist sicherzustellen. Ressourcen- und Stoffkreisläufe (zum Beispiel: Speicherung und Einsatz von Regenwasser, Nutzung von Solarenergie, Kompostierung organischer Abfälle) sind sinnvolle Strategien. Dachgewächshäuser kommerzieller Projekte haben, abhängig von der Produktions- und Vertriebsplanung in der Regel eine Mindestfläche von rund 1 000 m 2 . Eine umweltgerechte Optimierung von Dachgewächshäusern kann beispielsweise durch den Einsatz von Kraft-Wärme- Kopplungen, Wärmepumpen, Solarenergie, adiabater Abluftkühlung, Abwasserwärmerückgewinnung und Betriebswassernutzung erfolgen [6, 8, 9]. Unterhalt und Pflege Abhängig von der Art gebäudeintegrierter Farmwirtschaft (Anbau auf Dächern bzw. in Dachgewächshäusern, Nutzung von Fassaden) ist die Bereitstellung und der Transport von Materialien für Pflege und Wartung zu klären, als auch der Abtransport von Erzeugnissen und nicht kompostierbarem Abfall. Details zur Wasserver- und Entsorgung sind festzulegen. Die Versorgung und Pflege der Anbauflächen sowie Produkte entspricht der in Klein-, Saisongärten und Gewächshäusern am Boden. Der saisonale Anbau von Produkten ist sinnvoll, um kostengünstig zu produzieren. Fruchtwechsel und Mischkulturen vermindern Anbauprobleme durch Nährstoffmangel, Parasiten und Krankheiten. Aussaat-, Anbau und Erntezeiträume sind zu berücksichtigen. Einzelne Produkte stellen unterschiedliche Ansprüche an den Aufbau. So benötigen beispielsweise Kräuter andere Substratdicken als Wurzelgemüse. Bienen- und Hummelvölker sorgen für eine gute Bestäubung [5, 7]. Auch ein gewerblicher Anbau ist insbesondere in Dachgewächshäusern möglich. Grundsätzlich muss abgewogen werden, welches Anbauverfahren (Anbau in Erde, in Substrat, Hydroponik, Aquaponik) und welcher Gewächshaustyp für die jeweilige Zielsetzung geeignet ist [6]. Massnahmenwirkung Innerstädtischer Obst- und Gemüseanbau auf, an oder in Gebäuden ist durch kurze Versorgungswege, Wasser-, Energie- und Stoffkreisläufe energie- und ressourcenschonend sowie CO 2 -reduzierend. Die Bild 2: Formen gebäudeintegrierter Farmwirtschaft. © Pfoser, Hf WU [5, 7] Kenndaten Parameter Werte Substratdicke ab 8 cm für Salate und Kräuter ab 20 cm u. a. Zucchini, Auberginen, Kürbis, Kohl, Melonen, Erdbeeren ab 40 cm u. a. Tomaten, Bohnen und Beerenfrüchte, Wurzelgemüse Traglast (wassergesättigt) extensiv: 90-180 kg/ m 2 zzgl. ggf. Auflast Gewächshausaufbau intensiv: ab 180 kg/ m 2 zzgl. ggf. Auflast Gewächshausaufbau zusätzlich sind Schnee-, Windsog- und Verkehrslasten zu berücksichtigen Höhe der Vegetation 10 - 90 cm im Sommer (ohne Kletterpflanzen, Sträucher und Bäume) Baumvegetation der Einsatz von Obstbäumen ist bei ausreichend durchwurzelbarem Substratvolumen möglich Richtlinien und Leitfäden Dachbegrünungsrichtlinie (FLL 2018), Leitfaden Gebäude, Begrünung, Energie (2013), Fachregel für Abdichtungen - Flachdachrichtlinie (2019), DIN 18531, Dachabdichtungen, Planungsgrundsätze (1991), DIN 18195, Teile 1 bis 10, Bauwerksabdichtungen, DIN 4102, Teil 7, Brandverhalten von Baustoffen und Bauteilen, Bedachungen / DIN V ENV 1187, Prüfverfahren zur Beanspruchung von Bedachungen durch Feuer von außen, Mustererlass der ARGEBAU „Brandverhalten begrünter Dächer”, Juni 1989, DIN EN 13031-1: 203-09 und DIN EN 1991-1: 2010-12 Dachfläche Fassadenbereich Gewächshaus Gebäudebegrünung Vertikale Farmwirtschaft Tabelle 1: Kenndaten Dachaufbau für Farmwirtschaft. © Pfoser, Hf WU 79 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt lokale Nahrungsmittelerzeugung (Obst-/ Gemüseanbau) stoppt den Landverbrauch (Monokultur/ Überdüngung) und leistet zudem einen stadtökologischen Beitrag durch die Verschattung und Verdunstungskühlung durch Pflanzen sowie eine erhöhte Artenvielfalt am Standort. Begrünungen zur Selbstversorgung in Form von intensiven Dachbegrünungen (Beete für den Anbau von Obst und Gemüse), Fassadenbegrünungen (zum Beispiel: Wein, Kiwi, Bohnen) fördern die Umweltbildung (Gartenbau, Ökologie, Handel, Nachhaltigkeit) und die soziale Stadtentwicklung (zum Beispiel: generationsübergreifende und interkulturelle Nachbarschaftsprojekte, Naherholung). Ob temporär oder dauerhaft, die Begrünungen bringen eine erhöhte Aufenthaltsqualität mit sich, schützen die Gebäudehülle vor UV-Strahlen und Witterungseinflüssen) und halten Regenwasser zurück (Einsparung Niederschlagswassergebühren) [5, 7]. Hydroponik und Aquaponik verknüpfen als gebäudeintegrierbare, wasserbasierte Farmingstrategien Abwasseraufbereitungstechnologien mit Nahrungsmittelproduktion und leisten aktiven Klimaschutz durch Regenwassermanagement im und am Gebäude-[10]. Multifunktionale, nachhaltige Infrastrukturentwicklung und urbane Resilienz sind wesentliche Zukunftsthemen. LITERATUR [1] Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (Hrsg.): Stadtentwicklungsplan Klima. Urbane Lebensqualität im Klimawandel sichern. Berlin, 2011. https: / / www.stadtentwicklung.berlin.de/ planen/ stadtentwicklungsplanung/ download/ klima/ step_klima_broschuere.pdf (15.04.2020). [2] Senatsverwaltung für Stadtentwicklung (Hrsg.) Stadtentwicklungsplan Klima 2.0. Berlin, 2016. https: / / w w w.stadtent wicklung.berlin.de/ planen/ stadtentwicklungsplanung/ de/ klima/ (15.04.2020). [3] Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt (Hrsg.): Strategie Stadtlandschaft Berlin. natürlich urban produktiv. Berlin, 2012. https: / / www.berlin. de/ sen/ uvk/ natur-und-gruen/ landschaftsplanung/ strategie-stadtlandschaft/ (15.04.2020). [4] Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik UMSICHT: inFarming. Landwirtschaft auf dem Dach der Forschung, 2011. https: / / www.umsicht.fraunhofer.de/ de/ presse-medien/ pressemitteilungen/ 2011/ infarming.html (27.01.2020). [5] Pfoser, N.: Vertikale Begrünung. Stuttgart , 2018. [6] Leibniz-Zentrum für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) e. V., inter 3 GmbH Institut für Ressourcenmanagement, Institut für Stadt- und Regionalplanung der Technischen Universität Berlin (ISR), Fachgebiet Stadt- und Regionalökonomie: Es wächst etwas auf dem Dach. Dachgewächshäuser, Idee, Planung, Umsetzung. ZFarm, städtische Landwirtschaft der Zukunft, 2012. http: / / www. z alf.de / htmlsite s / z farm / D o cument s / leit faden / dachgewaechshaeuser_leitfaden.pdf (12.05.2020). Der Forschungsbericht wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. [7] Pfoser, N. et al.: Gebäude, Begrünung und Energie: Potenziale und Wechselwirkungen. Interdisziplinärer Leitfaden als Planungshilfe zur Nutzung energetischer, klimatischer und gestalterischer Potenziale sowie zu den Wechselwirkungen von Gebäude, Bauwerksbegrünung und Gebäudeumfeld. 2013. Der Forschungsbericht wurde mit Mitteln der Forschungsinitiative Zukunft Bau des Bundesministeriums für Bau-, Stadt- und Raumforschung gefördert. [8] FLL, Hrsg.: Dachbegrünungsrichtlinien - Richtlinien für die Planung, den Bau und die Instandhaltung von Dachbegrünungen. Bonn, 2018. [9] Philips, A.: Designing urban agriculture. A Complete Guide to the Planning, Design, Construction, Maintenance, and Management of Edible Landscapes. New Jersey, 2013. [10] Technische Universität Berlin, Fakultät VI Planen - Bauen - Umwelt, Institut für Stadt- und Regionalplanung (ISR), Fachgebiet Städtebau und Siedlungswesen: Roof Water Farm, www.roofwaterfarm.com (13.11.2019). Bild 3: Pflanzbeete auf dem Dach der Wohnanlage wagnis 4, Ackermannbogen, München. Wamsler Rohloff Wirzmüller Frei- RaumArchitekten. © Pfoser Prof. Dr.-Ing. Nicole Pfoser Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen, Studiengang Landschaftsarchitektur [www.hfwu. de], Geschäftsführerin Kompetenzzentrum Gebäudebegrünung und Stadtklima e.V. (kgs) [www.kgs-nt.de], Stellv. Direktorin Institut für Stadt und Immobilie (ISI), Stellv. Institutsleiterin der Akademie für Landschaftsbau und Vegetationsplanung (avela) [www.avela.de] Kontakt: mail@pfoser.de AUTORIN 80 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Der Vogelschutzgedanke entstand erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, bis dahin wurden Vögel vor allem als Schädlinge in der Landwirtschaft oder auch als Nahrungsquelle wahrgenommen. Obwohl sich Vögel seither zu der Artengruppe mit der größten Lobby entwickelt haben - etwa im Vergleich zu Schnecken oder Heuschrecken - sind immer noch viele Arten im Rückgang begriffen oder sogar gefährdet. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde nach und nach deutlich, dass Städten eine besondere Bedeutung im Vogelschutz zukommt. Durch die Intensivierung der Landwirtschaft, Flurbereinigungsverfahren und weitere Veränderungen in der Landnutzung bietet das Umland heute verschiedenen Vogelarten schlechtere Bedingungen als die oft deutlich strukturreicheren Städte mit ihren Parks, Friedhöfen und Gärten. Vogelschutz in Frankfurt am Main In Frankfurt am Main werden, wie in vielen Städten, Vogelschutzmaßnahmen sowohl von amtlicher als auch von ehrenamtlicher Seite durchgeführt. Häufig steht dabei eine einzelne Art im Fokus, wie der in Hessen vom Aussterben bedrohte Flussregenpfeifer (Charadrius dubius). Ein Schwerpunkt liegt in der Regel auf der Bereitstellung künstlicher Nisthilfen, beispielsweise für den Weißstorch (Ciconia ciconia). Die Maßnahmen sind besonders erfolgreich, wenn die weiteren Lebensbedingungen im Stadtgebiet günstig für die Arten sind, wie es bei Wanderfalke (Falco peregrinus) und Mauersegler (Apus apus) der Fall ist, oder wenn zusätzlich Pflegeprogramme für den Lebensraum durchgeführt werden, zum Beispiel für den auf Streuobstwiesen lebenden Steinkauz (Athene noctua). Auch in Privatgärten ist das Anbringen Vogelschutz in Großstädten Wie effektiv sind Vogelschutzgehölze? Vogelschutz, Naturschutz, Stadtnatur, Stadtgrün, Wildtiere in der Stadt Indra Starke-Ottich, Fabian Schrauth, Andreas Malten, Thomas Gregor Eine der großen Herausforderungen der zukünftigen Stadtentwicklung ist es, menschliche Nutzungsansprüche mit dem Erhalt der Biodiversität in Einklang zu bringen. Dabei sind Vögel - genau wie andere Artengruppen - auf einen wirksamen Schutz ihrer Lebensräume angewiesen, um langfristig in unseren Städten leben und sich dort auch vermehren zu können. Dieser Artikel beschäftigt sich mit der Frage, welchen Beitrag Vogelschutzgehölze hierzu leisten können und wie sie zum Schutz seltener und gefährdeter Arten optimiert werden können. Bild 1: (oben) Seit über 30 Jahren verfügt Frankfurt über ein Netzwerk aus Vogelschutzgehölzen. © A. Malten Bild 2: (unten) Neben Neubaugebiet und Bahntrasse: Wie viel Platz braucht Vogelschutz in der Stadt? © A. Malten 81 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt von Nisthilfen inzwischen sehr verbreitet. Davon profitieren vor allem häufige Arten wie Kohlmeise (Parus major) und Blaumeise (Cyanistes caeruleus). Eine andere Idee verfolgt das Konzept der Vogelschutzgehölze. Diese wurden erstmals zum Ende des 19. Jahrhunderts von Hans Freiherr von Berlepsch, einem Vorreiter des Vogelschutzes, eingerichtet. Sie sollten verschiedenen Vögeln Brutraum und Nahrung bieten, sowie Schutz und Deckung liefern [1]. Vogelschutzgehölze stellen keine offizielle Schutzkategorie im Sinne des Bundesnaturschutzgesetzes dar und sind auch nicht bundesweit einheitlich definiert. Es empfiehlt sich daher bei der Einrichtung von Vogelschutzgehölzen - gerade in dynamischen Städten mit wachsender Einwohnerzahl und hohem Baudruck - zu prüfen, ob andere Schutzkategorien wie „Geschützter Landschaftsbestandteil“ oder „Naturdenkmal“ angewendet werden können, um die Flächen langfristig zu sichern [2]. Wir definieren Vogelschutzgehölze als eindeutig abgegrenzte Strauch- und Baumbestände, die speziell im Sinne des Vogelschutzes ausgewiesen, gepflegt und entwickelt werden. Sie können in Teilbereichen Strukturen des Offenlandes und Gewässer aufweisen. Neben einer Förderung der Avifauna sind positive Effekte der Vogelschutzgehölze auf andere Artengruppen, zum Beispiel Fledermäuse, sowie auf das Stadtklima möglich. 1987 wurde die „Konzeption für den Vogelschutz in der Stadt Frankfurt am Main“ vorgelegt, welche basierend auf einem Gutachten von Möbus [3] ein Netzwerk aus Vogelschutzgehölzen im Stadtgebiet vorsah (Bild 1). Einige dieser Gehölze bestanden zu diesem Zeitpunkt bereits über mehrere Jahrzehnte und wurden durch ehrenamtliches Engagement gepflegt. Rund 30 Jahre später wurde das Forschungsinstitut Senckenberg vom Umweltamt der Stadt Frankfurt mit einer Evaluierung der Vogelschutzgehölze beauftragt. Dabei stellten sich unter anderem folgende Fragen: Können mit diesen Gehölzen Vögel im Stadtgebiet geschützt werden, die in anderen vorhandenen Strukturen, beispielsweise Gärten, keine passenden Lebensbedingungen vorfinden? Wie viel Raum muss die moderne Stadtplanung für den Vogelschutz vorsehen (Bild 2)? Untersuchung von Artenreichtum, Habitatausstattung und Beeinträchtigungen 2016 wurde eine Inventarisierung aller Flächen durchgeführt [4]. Dabei zeigte sich, dass die Gehölze, von denen bislang lediglich fünf durch eine offizielle Schutzkategorie dauerhaft gesichert sind, einer großen Dynamik unterliegen. Beginnend mit 20 Flächen in den 1980er Jahren, umfasste das Netzwerk 48 Flächen im Jahr 2010, allerdings waren nicht mehr alle Flächen aus der Anfangszeit darin enthalten. 2016 waren beim Grünflächenamt 46 Flächen als Vogelschutzgehölze verzeichnet. Jedoch zeigte sich bei der Inventarisierung, dass von diesen wiederum vier Flächen durch Nutzungsänderung nicht mehr den Anforderungen an ein Vogelschutzgehölz entsprachen. Aufgrund der vielen Nutzungsinteressen in Städten ist die langfristige Flächensicherung daher nicht zu unterschätzen und sollte von vornherein mitgedacht werden. Alle verbliebenen 42 Flächen wurden hinsichtlich Biotoptypenspektrum, Habitatausstattung und Beeinträchtigungen untersucht, charakteristische Pflanzenarten erfasst und eine Einstufung der avifaunistischen Wertigkeit vorgenommen. Für neun Flächen wurde die Wertstufe A (gut) vergeben, 31 der Wertstufe B (mittel) und nur 2 der Wertstufe C (schlecht) zugeordnet. Bild 3: Der Erhaltungszustand des Stieglitz (Carduelis carduelis) wird in Hessen als „ungünstigunzureichend“ eingestuft. Er brütet in einigen Frankfurter Vogelschutzgehölzen. © F. Schrauth Bild 4: Der Star (Sturnus vulgaris) wird deutschlandweit als gefährdet eingestuft. Er brütet in fast allen untersuchten Vogelschutzgehölzen. © F. Schrauth 82 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt In einem zweiten Schritt erfolgte eine Kartierung aller Vögel in 15 ausgewählten Vogelschutzgehölzen der Wertstufen A und B mit Flächengrößen zwischen 0,15 und 3,7 ha. Ein besonderer Fokus wurde dabei auf eine Reviererfassung der Brutvögel gelegt, deren Erhaltungszustand in Hessen als „ungünstigunzureichend“ oder „ungünstig-schlecht“ eingestuft wird (Bild 3), sowie aller Arten, die in Hessen oder deutschlandweit auf der Roten Liste stehen [5, 6]. In den untersuchten Vogelschutzgehölzen konnten insgesamt 56 Brutvogelarten nachgewiesen werden. Das sind rund ein Viertel der 217 in Hessen vorkommenden Brutvogelarten [5] und etwa die Hälfte der aus Frankfurt bekannten Brutvogelarten auf einer Fläche von nur 17,85 ha - das entspricht lediglich 0,07 % des Stadtgebietes! Darunter befanden sich 17 Arten mit ungünstigem Erhaltungszustand oder einer Gefährdungseinstufung in der Roten Liste. 15 Arten konnten allerdings nur in ein bis drei Vogelschutzgehölzen nachgewiesen werden. Häufig vertreten war einzig der Star (Sturnus vulgaris, Bild- 4), der deutschlandweit als gefährdet eingestuft wird und in 13 Gehölzen brütete. Darüber hinaus wurden 15 weitere Vogelarten beobachtet, vor allem als Nahrungsgäste. Einflussfaktoren auf den Artenreichtum Der Artenreichtum der Avifauna von Vogelschutzgehölzen und ihre Eignung als Habitat - insbesondere für gefährdete Arten - wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Setzt man die Anzahl der Brutvogelarten in Bezug zur Flächengröße, war bei den untersuchten Gehölzen eine Zunahme der Artenzahl mit steigender Fläche nachweisbar (Bild 5), wobei der Anstieg vor allem im Bereich unterhalb 1,5 ha am steilsten verlief. Die gleiche Tendenz war bei der Anzahl gefährdeter Arten im Verhältnis zur Flächengröße zu beobachten. Allerdings wurden auf Flächen mit einer Größe unter 0,5 ha gar keine gefährdeten Arten nachgewiesen. Um einen wirksamen Schutz durch Vogelschutzgehölze zu erreichen, wird daher empfohlen sich auf die Anlage und Pflege von Gehölzen mit einer Mindestgröße von 0,5 ha zu konzentrieren. In Frankfurt erreichen derzeit 24 der 42 Vogelschutzgehölze diese Größe nicht. Sie dienen hauptsächlich typischen Gartenvögeln wie Amsel (Turdus merula), Blau- und Kohlmeise als Bruthabitat, die allerdings nicht im Zentrum der Schutzbemühungen stehen, da sie auch vielfältige andere Lebensräume im Stadtgebiet besiedeln. Kleinen Gehölzen kann dennoch eine Bedeutung als Trittsteinbiotop zukommen und sie können als Lebensraum für andere Artengruppen eine Rolle spielen. Bild 5: Anzahl der Brutvogelarten in Abhängigkeit von der Flächengröße der Vogelschutzgehölze. © Senckenberg. Bild 7: Alte Bäume und Totholz als Teil der Vogelschutzgehölze fördern die ( Vogel-)Artenvielfalt. © A. Malten. Bild 6: Die Gehölze mit den meisten Brutvogelarten grenzen an Gewässer an. © A. Malten. 83 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Insbesondere für kleinere Gehölze, die bereits wertvolle Strukturen enthalten, wird empfohlen, diese zu erweitern, um zu einer Steigerung des Artenspektrums und zur Ansiedlung gefährdeter Arten beizutragen. Dabei zeigen die Ergebnisse, dass bereits eine Größe von 1 bis 1,5 ha ausreicht, um ein Spektrum von 25 bis 30 Arten inklusive einiger gefährdeter Arten zu beherbergen. Als weiterer Einflussfaktor auf den Artenreichtum stellte sich die Nähe zu Gewässern dar (Bild-6). So grenzten die vier Vogelschutzgehölze mit der höchsten Gesamtartenzahl und die fünf Gehölze mit der höchsten Zahl gefährdeter Arten an Gewässer. Auch bestimmte Strukturelemente können sich positiv auf den Artenreichtum auswirken. So lag die durchschnittliche Anzahl von Brutvogelarten in Gehölzen mit Altholzbestand und Baumhöhlen wie erwartet etwas höher als in Gehölzen ohne diese Elemente, was auf eine höhere Anzahl von Höhlen- und Nischenbrütern zurückgeführt werden konnte. Fazit Vogelschutzgehölze können in städtisch geprägten Lebensräumen ein wirksames Instrument zum Erhalt der Vogelvielfalt darstellen und auch das Vorkommen gefährdeter Arten fördern. Dabei ist allerdings eine Mindestgröße von 0,5 ha notwendig, damit nicht nur Vogelarten mit kleinen Territorien und geringen Habitatansprüchen profitieren, die auch in Parks und Gärten geeignete Lebensräume finden. Mit Vogelschutzgehölzen bis zu einer Größe von etwa 1,5 ha können bereits zahlreiche Arten gefördert werden. Wenn die Möglichkeit besteht, ist eine Anlage an begünstigten Strukturen wie Gewässern und das Einbeziehen von bereits vorhandenen Altbaumbeständen zu empfehlen (Bild 7), um eine höhere Habitat- und Strukturvielfalt zu gewährleisten. Um unerwünschten Nutzungen vorzubeugen und die Flächen langfristig zu erhalten, sollte zudem frühzeitig eine Sicherung durch eine Ausweisung in einer Schutzkategorie nach Bundesnaturschutzgesetz, zum Beispiel als „geschützter Landschaftsbestandteil“, erwogen werden. LITERATUR [1] Webseite vom Verein der Freunde der Vogelschutzwarte e.V. https: / / www.vogelschutzwarte.de/ dr-h-csittig-hans-freiherr-v-berlepsch.html, letzter Zugriff 21.7.2020. [2] Malten, A., Bönsel, D., Gregor, T., Starke-Ottich, I.: Vogelschutzgehölze - Raum für seltene Arten? In: Starke- Ottich, I., Zizka, G.: Stadtnatur in Frankfurt - vielfältig, schützenswert, notwendig. Senckenberg-Buch 82, 2019, S. 41 - 53. AUTOR*INNEN Dr. Indra Starke-Ottich Arbeitsgruppe Biotopkartierung Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Kontakt: indra.starke-ottich@senckenberg.de Fabian Schrauth, M. Sc. Arbeitsgruppe Biotopkartierung Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Kontakt: fabian.schrauth@senckenberg.de Dipl.-Biol. Andreas Malten Arbeitsgruppe Biotopkartierung Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Kontakt: andreas.malten@senckenberg.de PD Dr. Thomas Gregor Abteilung Botanik und Molekulare Evolutionsforschung Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Kontakt: thomas.gregor@senckenberg.de [3] Möbus, K.: Vogelschutzkonzept für die Stadt Frankfurt. Unveröffentlichtes Gutachten im Auftrag des Garten- und Friedhofsamtes der Stadt Frankfurt, 1986. [4] Malten, A., Bönsel, D.: Bewertung der Vogelschutzgehölze im Stadtgebiet von Frankfurt am Main. Unveröffentlichtes Gutachten im Auftrag des Umweltamts der Stadt Frankfurt am Main, 2017. [5] Werner, M., Bauschmann, G., Hormann, M., Stiefel, D., Kreuziger, J., Korn, M., Stübing, S.: Rote Liste der bestandsgefährdeten Brutvogelarten Hessens. 10. Fassung. Staatliche Vogelschutzwarte für Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland und Hessische Gesellschaft für Ornithologie und Naturschutz. Frankfurt am Main und Echzell, 2014, 82 S. [6] Grüneberg, C., Bauer, H.-G., Haupt, H., Hüppop, O., Ryslavy, T., Südbeck, P.: Rote Liste der Brutvögel Deutschlands. 5. Fassung. Berichte zum Vogelschutz 52, (2015) S. 19 - 67. 84 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt Naturnah gärtnern - für Mensch, Tier und Klima Einblicke in die Kampagne zur Förderung naturnaher Gärten in Rheinstetten Naturnähe, Gärtnern, Artenschutz, Kampagne, Selbstwirksamkeit, Klimaschutz Annika Fricke, Helena Trenks, Somidh Saha Jede*r kann einen Beitrag zu Arten- und Klimaschutz durch Veränderungen im eigenen Garten leisten. Das ist die Idee der Kampagne, die in dem Projekt GrüneLunge konzipiert und in der Stadt Rheinstetten durchgeführt wird. Zu Beginn wurden Bürger*innen mit öffentlichen Veranstaltungen über naturnahe Gartengestaltung informiert. Im Anschluss werden 16 Haushalte bei der Umgestaltung ihrer Gärten über 1 ½ Jahre unterstützt und vernetzt. Schwerpunkte der Kampagne sind, Impulse für mehr Artenschutz in die Stadtgesellschaft zu senden und die Selbstwirksamkeit der Bürger*innen zu fördern. Aus den Ergebnissen der wissenschaftlichen Begleitforschung soll auch eine Handreichung für andere Kommunen entstehen. Artenschutz und Klimaschutz sind globale Herausforderungen. Um diese zu bewältigen, werden aber nicht nur politische Regelungen und Veränderungen auf globaler Ebene benötigt, sondern das Handeln jeder einzelnen Person nach dem Motto: „Denke global, handle lokal“. Hier setzt die Kampagne in Rheinstetten an, denn damit wird betont, dass jede und jeder einen Beitrag zu Arten- und Klimaschutz im eigenen Garten leisten kann. Mit der „Kampagne Naturnah Gärtnern - Für Mensch, Tier und Klima“ wird einerseits das Thema des naturnahen Gärtnerns einem breiteren Publikum der Stadt vorgestellt, andererseits werden Privathaushalte dabei unterstützt, den eigenen Garten naturnah zu gestalten. Eingebettet ist die Kampagne in einen Gesellschaftsdialog, der von dem Arbeitspaket GrüneLunge im Dialog 1 des Forschungsprojekts GrüneLunge 2 durchgeführt wird. Ziel des Gesellschaftsdialogs ist es, durch verschiedene transdisziplinäre Formate für Wichtigkeit und Potenziale von Stadtgrün in Zeiten des Klimawandels und Artensterbens zu 1 GrüneLunge im Dialog ist zusammen mit dem Quartier Zukunft am Aufbau des Karlsruher Transformationszentrum für Nachhaltigkeit und Kulturwandel beteiligt. 2 GrüneLunge: Inter- und transdisziplinäre Entwicklung von Strategien zur Erhöhung der Resilienz in wachsenden Städten und urbanen Regionen. Mehr Informationen auf: https: / / www.projekt-gruenelunge.de/ und auf: https: / / www.kit. edu/ kit/ pi_2019_057_ grune-lunge-fur-gutes-stadtklima.php (Stand: 22.07.2020) Bild 1: Schachbrettfalter auf Taubenskabiose © Ingrid Eberhagen, Naturgarten e. V. 85 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt sensibilisieren. Hierzu arbeiten Mitarbeiter*innen des Reallabors Quartier Zukunft - Labor Stadt 3 des Karlsruher Institut für Technologie (KIT) mit den Städten Rheinstetten und Karlsruhe zusammen. Über das naturnahe Gärtnern Was bedeutet naturnahes Gärtnern? Es gibt keine allgemein gültige Definition; die Kriterien für naturnahe Gärten sind nicht einstimmig festgelegt worden. Vielmehr findet sich in der Literatur und bei zahlreichen Initiativen eine Sammlung an Handlungsempfehlungen, die das naturnahe Gärtnern umfassen. Naturnahe Gärten sind laut dem Naturgarten e. V. gestaltete Gärten mit langlebigen Pflanzengesellschaften und umweltfreundlichen Baumaterialien-[1]. Wichtigstes Kennzeichen ist die Verwendung von heimischen Pflanzenarten. Der Präsident des Naturgarten e. V. Reinhard Witt beschreibt den naturnahen Garten als das „ökologische bewusste Gegenteil des Ziergartens“ [2]. Im Vordergrund steht, durch eine naturnahe Gestaltung und Pflege des Gartens die heimische Flora und Fauna im eigenen Garten zu erhalten. Nach dem Motto „Zulassen, Zeit lassen, weglassen“ bedeutet das auch, herkömmliche Verhaltensmuster, wie das Pflegen eines englischen Rasens, zu hinterfragen und stattdessen alternative und umweltschonende Praktiken einzuüben. Aktuell bilden naturnahe Gärten noch kleine Nischen in unserer heutigen bebauten Umwelt, sie können aber einen wichtigen Teil zur Erhaltung der heimischen Artenvielfalt und zum Klimaschutz beitragen, denn laut dem Naturschutzbund Deutschland gibt es 17 Mio. Gärten in Deutschland, die zusammen etwa der Fläche aller deutschen Naturschutzgebiete entsprechen [3]. Dabei hat jeder Gar- 3 https: / / www.quartierzukunft.de/ ten das Potenzial, ein Stück Natur in der Stadt und Refugium für Pflanzen und Tiere zu sein. Innerstädtische naturnahe Gärten können als Trittsteinbiotope fungieren und so den Biotopverbund ergänzen. Die Grünflächen beeinflussen außerdem durch die natürliche Kühlung das Stadtklima positiv - im Gegensatz etwa zu Steingärten. Gemeinsam gärtnern Naturnahes Gärtnern wird in der Kampagne als eine Gemeinschaftsaufgabe verstanden, denn viele naturnahe Praktiken müssen erst wieder angeeignet und Wissen und Erfahrungen dazu ausgetauscht werden. Daher wird die Vernetzung der Gärtner*innen untereinander in der Kampagne bewusst gefördert. Es wird auch angeregt, Gartenumgestaltungen gemeinsam anzugehen, um deren Realisierung zu erleichtern. Auch der Austausch von Saatgut, Setzlingen oder Ernteerträgen innerhalb der Gruppe fördert das Gemeinschaftsgefühl und trägt zum Klimaschutz bei. Verlauf der Kampagne Die Kampagne wurde in zwei Phasen aufgebaut. Die erste Phase zielt darauf ab, das Thema des Naturnahen Gärtnerns einem breiten Publikum der Stadt vorzustellen. In der zweiten Phase wird eine Gruppe von interessierten Bürger*innen aktiv. In der ersten Phase, die über ein Jahr dauerte, wurden die Bürger*innen Rheinstettens mittels verschiedener Öffentlichkeitsformate - wie Informationsabende, einer Bürger*innen-Umfrage und Informationsständen bei öffentlichen Veranstaltungen - über das Konzept des naturnahen Gärtnerns informiert und sensibilisiert (siehe Bild 2). Zudem wurden zu Beginn relevante Schlüsselpersonen eingebunden, um das Konzept der Kampagne inhaltlich 2019 2020 2021 September Umgestaltung einer öffentlichen Pilotfläche Oktober Vortrag zu naturnahen Gärten im Herbst und Winter Finden und Vernetzen von interessierten Gärtner*innen Weitere Dialogformate Begleitung und Unterstützung bei der Umgestaltung Juni Auszeichnung von naturnah umgestalteten Gärten September Diskussion über Kriterien für naturnahe Gärten Juli Gruppendiskussion mit Schlüsselpersonen Weitere Anpassung und Abstimmung der Kampagne Juli Exkursion zu naturnah gestalteten Gärten Erste Impressionen aus der Praxis April Runder Tisch mit lokalen Schlüsselpersonen Konzept der Kampagne wird diskutiert. Schlüsselpersonen werden als MultiplikatorInnen gewonnen. Mai Tag der offenen Gärten Erster Öffentlichkeitsauftritt Juli Vortrag zu naturnahen Gärten 1. Informationsabend Oktober Eröffnungsveranstaltung Mai Bürger*innen- Umfrage Meinungen und Einschätzungen zum Potential privater innerstädtischer Gärten und das Interesse an naturnahen Gärten werden abgefragt. Das Projekt GrüneLunge im Dialog startet und möchte Ihre Meinung wissen! Mit GrüneLunge im Dialog möchten wir nachbarschaftliches Miteinander und die nachhaltige Gestaltung des eigenen Gartens oder Balkons in Rheinstetten fördern. Unter dem Motto „Denke global, handle lokal“ wollen wir mit verschiedenen Informations- und Mitmachveranstaltungen gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern aus Rheinstetten und Karlsruhe erforschen, was jede und jeder Einzelne durch Begrünung zur Verbesserung des städtischen Klimas und zur Förderung des Artenschutzes beitragen kann. Mit der Kampagne Naturnah Gärtnern - Für Mensch, Tier & Klima möchten wir außerdem Bürgerinnen und Bürger aus Rheinstetten motivieren, den eigenen Garten gemeinschaftlich und naturnah zu gestalten. Naturnah zu gärtnern bedeutet zum Beispiel, keinen chemischen Dünger zu verwenden oder vielfältige Mischungen an heimischen Blumenarten zu pflanzen, um einen Lebensraum für z.B. Bienen und Schmetterlinge zu schaffen. Beim Pflanzen, Pflegen und Ernten kann gegenseitige Unterstützung stattfinden und so eine Garten-Gemeinschaft in Rheinstetten aufgebaut werden. Die Ergebnisse dieser Umfrage helfen uns, unser Projekt sinnvoll und auf Ihre Meinung abgestimmt zu gestalten. Außerdem werden die Ergebnisse genutzt, um die Themen unserer Informations- und Mitmachveranstaltungen zu bestimmen. Die folgenden Fragen werden ungefähr 10 Minuten in Anspruch nehmen. Ihre Angaben werden von uns selbstverständlich vertraulich behandelt und für den oben genannten Forschungszweck verwendet. Ihre Angaben werden anonym ausgewertet. Bitte werfen Sie die ausgefüllte Umfrage bis zum 18.06. in den Briefkasten g g des Technischen Rathauses. Vielen Dank! Adresse: Stadt Rheinstetten Bauamt Martin Reuter Badener Straße 1 76287 Rheinstetten Unsere Umfrage finden Sie alternativ auch online unter: www.soscisurvey.de/ gruenelunge-umfrage y g g g GrüneLunge im Dialog ist ein Projekt des Quartier Zukunft vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Teil des vom KIT zusammen mit dem DWD, der FVA und den Städten Karlsruhe und Rheinstetten durchgeführten Projekts GrüneLunge: Inter- und transdisziplinäre Entwicklung von Strategien zur Erhöhung der Resilienz von Bäumen in wachsenden Städten und urbanen Regionen. Vielen Dank für Ihre Teilnahme! Sind Sie neugierig geworden? Mehr Informationen finden Sie hier: www.quartierzukunft.de/ forschung/ gruenelunge q g g g Falls Sie über unseren E-Mail-Verteiler weitere Informationen erhalten wollen, schicken Sie bitte eine Nachricht an: gruenelunge-im-dialog@itas.kit.edu g g g@ . Sie wohnen in Rheinstetten und überlegen, ob Sie Ihren Garten naturnah begrünen? Dann melden Sie sich gerne bei uns! E-Mail: gruenelunge-im-dialog@itas.kit.edu g g g@ Telefon: Annika Fricke 0721 608-24707 Helena Trenks 0721 608-26486 Angaben zur Person 10. Wie alt sind Sie? ㎎ <18 Jahre ㎎ 18-24 Jahre ㎎ 25-34 Jahre ㎎ 35-49 Jahre ㎎ 50-65 Jahre ㎎ >65 Jahre 11a. Sind Sie wohnhaft in Rheinstetten? ㎎ Ja ㎎ Nein 11b.Wohnen Sie zur Miete? Diese Frage dient dazu, Ihren Handlungsspielraum abzuschätzen. ㎎ Ja ㎎ Nein GrüneLunge im Dialog Für gutes Klima in der Nachbarschaft Susanne Butz (Sozialpädagogin im Bereich Mensch und Umwelt) „Der naturnahe Garten im Herbst und Winter - Vielfalt für Menschen und Insekten“ Jetzt ist die Zeit, in der die meisten Gärten „winterfest“ gemacht werden. Es wird geschnippelt, aufgeräumt, verbrannt, weggefahren. Dabei kann der kalten Jahreszeit sehr viel gelassener entgegengeblickt werden. Mit einem entspannteren Blick ersparen wir uns nicht nur viel Mühe, sondern helfen auch, die Artenvielfalt an Tieren und Pflanzen zu unterstützen. Stehengelassene Staudenstängel und liegengebliebenes Laub können Kinderstube und Überwinterungsplatz von Insekten, Fröschen, Igeln sein. Blumensamen picken Stieglitz und Sumpfmeise oft lieber als vom Futterhäuschen. Und der Frost über den verdorrten Pflanzen zaubert strukturreiche Bilder. Susanne Butz zeigt, dass im naturnahen Garten auch im Winter einiges los ist! 23. Oktober 2019 • 19: 00 - 21: 00 Uhr Bürgersaal Technisches Rathaus Rheinstetten Eintritt frei Sie haben eine Frage oder Interesse an unserem Projekt? Kontaktieren Sie uns gerne! gruenelunge-im-dialog@itas.kit.edu Mehr Infos zum Projekt: www.projekt-gruenelunge.de www.quartierzukunft.de/ forschung/ gruenelunge Das nachbarschaftliche Miteinander stärken und durch eine nachhaltige naturnahe Gestaltung des eigenen Gartens oder Balkons einen persönlichen Beitrag zu Arten- und Klimaschutz leisten? Das sind die Kernideen des Projekts GrüneLunge im Dialog. Teil des Projekts ist auch die Kampagne Naturnah Gärtnern - Für Mensch, Tier & Klima. Mit ihr möchten wir Bürger*innen in der Stadt Rheinstetten motivieren und unterstützen, den eigenen Garten naturnah zu gestalten. Wir organisieren zudem in den nächsten zwei Jahren verschiedene Aktionen, Vorträge und Workshops in Rheinstetten und in Karlsruhe zu den Folgen des Klimawandels, zu Begrünungsmaßnahmen und zur Förderung des Artenschutzes. 23. Oktober Vortrag Bild 2: Verlauf der Kampagne in Rheinstetten. © Fricke et al., KIT 86 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES THEMA Urbanes Land · durchgrünte Stadt auf die Gegebenheiten Rheinstettens abzustimmen. Ergänzend wurden in einem Workshop zusammen mit Bürger*innen Handlungsfelder für einen naturnahen Garten diskutiert. Es konnten außerdem Patinnen und Paten für die Kampagne gewonnen werden, die als Ansprechpersonen vor Ort zur Verfügung stehen und die Umsetzung beispielsweise durch das Einbringen von Expert*innen-Wissen unterstützen. In der zweiten Phase fanden sich durch einen Aufruf 16 Haushalte zusammen, die über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren bei der Umgestaltung der eigenen Gärten (wissenschaftlich) begleitet und unterstützt werden. Zum Auftakt wurde jeder Privatgarten durch Expert*innen des Naturgarten-e. V. besichtigt. Außerdem wurden Pflanzenempfehlungen für jeden Garten herausgegeben und eine Pflanzenbestellung in Auftrag gegeben. Eine Plakette an jedem Gartentor der teilnehmenden Haushalte gibt den Nachbar*innen Hinweise zum naturnahen Gärtnern und erhöht die Sichtbarkeit der Kampagne in der Stadt. Auch die monatliche „Gartenkolumne“ in der Lokalzeitung, die Praxistipps und Anregungen zum naturnahen Gärtnern gibt, zielt darauf ab, das Thema in der Öffentlichkeit präsenter und bekannter zu machen. Wissenschaftlich wird die Kampagne durch Fragebogenerhebungen und das Führen eines Garten- Journals begleitet, um so Motive für das naturnahe Gärtnern zu ermitteln und den Erfolg der Kampagne abbilden zu können. Zudem finden halbjährliche Planungstreffen statt und es soll ein regelmäßiger selbstorganisierter Gartenstammtisch angeregt werden. Aufgrund der im Frühling 2020 herrschenden Kontaktbeschränkungen wurden diese physischen Austauschformate durch digitale Plattformen ergänzt (insbesondere der Austausch über ein Forum und Videokonferenzen). Ausblick - wie es weitergehen soll Je nach Verlauf der COVID-19-Verordnungen können wieder vermehrt Veranstaltungen mit physischer Anwesenheit durchgeführt werden. Dazu zählt ein erstes Planungstreffen mit den Gärtner*innen, um sich über das bisher Erreichte auszutauschen. Zudem werden die Teilnehmenden ermutigt, eigenverantwortliche Veranstaltungen zu naturnahen Gärten durchzuführen und es sind weitere Angebote im Freien, etwa Exkursionen oder Vorträge geplant. Warum eine Bürger*innen-Kampagne? Durch die Kampagne können persönliche Beiträge zu Arten- und Klimaschutz geleistet und die Wahrnehmung für die Wichtigkeit von naturnahem Grün im privaten Bereich im Besonderen, und im städtischen Bereich im Generellem, gesteigert werden. Weiterhin soll die Selbstwirksamkeit der Bürger*innen erleb- und erfahrbar gemacht werden. Mittelfristig soll ein Netzwerk aus interessierten und erfahrenen Gärtner*innen geschaffen werden, die sich für das Thema Naturnahes Gärtnern einsetzen und so die Kampagne verstetigen. Es sollen außerdem Impulse in die Stadtgesellschaft gesendet werden und so ein Dialog über naturnahe Begrünung innerhalb der Stadt Rheinstetten angestoßen und zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung beigetragen werden. Die Erfahrungen, die exemplarisch in der Stadt Rheinstetten gesammelt werden, sollen außerdem in eine Handreichung für eine erfolgreiche Durchführung in anderen Kommunen münden. Mehr Informationen zum Projekt GrüneLunge und zur Kampagne finden sich auch auf der Projekt- Website: www.projekt-gruenelunge.de. Übrigens: Die Kampagne hat die Auszeichnung „Projekt Nachhaltigkeit 2020“ von renn.süd erhalten! LITERATUR [1] NaturGarten e. V.: Leitgedanken Naturgarten. https: / / www.naturgarten.org/ naturgarten-ev/ leitgedanken.html#c92, zuletzt aufgerufen: 07.07.2020 [2] Witt, R.: Natur für jeden Garten. 3. Auflage. Naturgarten Verlag, Ottenhofen, 2018. [3] NABU Hamburg: Der naturnahe Garten. Lebensraum für Tiere und Pflanzen. https: / / hamburg.nabu.de/ tiere-und-pflanzen/ garten/ naturnaher-garten/ index.html, zuletzt aufgerufen: 07.07.2020 AUTOR*INNEN Annika Fricke, M. Sc. Wissenschaftl. Mitarbeiterin Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Kontakt: annika.fricke@kit.edu Dipl.-Ing. Helena Trenks Wissenschaftl. Mitarbeiterin Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Kontakt: helena.trenks@kit.edu Dr. rer. nat. Somidh Saha Projektleiter Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Kontakt: somidh.saha@kit.edu 87 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRODUKTE + LÖSUNGEN Stadtraum Derzeit werden nur etwa zehn Prozent der jährlich entstehenden Flachdächer begrünt. Dabei vereinen Dachbegrünungen eine Vielzahl positiver Wirkungen. Das Leistungsvermögen von Intensivbegrünungen ist am größten. Und entscheidend ist deren zusätzliche Nutzung als Wohn-, Pausen- und Sportfläche. Auf jedem Flachdach könnte ein Garten mit Pflanz- und Gemüsebeet, Spielplatz oder Jogginglaufbahn sein - schnell und barrierefrei erreichbar. Extensiv oder Intensiv Bei begrünten Dächern wird zwischen Extensiv- und Intensivbegrünungen unterschieden. Extensivbegrünungen sind einfache Begrünungsformen mit geringem Schichtaufbau, wenig Gewicht, trockenheitsverträglichen Pflanzen und relativ überschaubarem Pflegeaufwand. Sie werden nur zur Pflege begangen. Dagegen sind Intensivbegrünungen begehbare Begrünungen, sogenannte Dachgärten. Damit das dauerhaft funktioniert, ist der Gründachaufbau höher und damit auch schwerer. Er ist die Grundlage für Pflanzen und Nutzungen, wie wir sie vom ebenerdigen Garten her kennen. Der Pflegeaufwand ist dementsprechend auch größer. Wenn Statik, Wurzelschutz, Absturzsicherung und Budget passen, lassen sich auf dem Dach Begrünungen und Nutzungsformen anlegen wie sie ebenerdig zu finden sind: Grünflächen (Staudenbeete, Rasenflächen, Sträucher, Kleinbäume) Urban Farming (Obst-, Gemüse- und Gewürzpflanzenanbau) Sport- und Spielflächen (Sandkasten, Schaukeln, Rutschen, Laufbahn) Wellness (Swimming-Pool, Whirlpool) Dachgärten lassen sich bei fachgerechter Planung und Erfüllung der notwendigen baulichen Voraussetzungen auf jedem Dach realisieren, ob auf dem Ein- oder Mehrfamilienhaus, einem Gewerbeobjekt, Shopping Center oder ehemaligen Parkdeck. Nach einer Umfrage des Bundesverbands GebäudeGrün e. V. (BuGG) wurden im Jahr 2019 von Der eigene Dachgarten: Multifunktionale Oase in der Stadt Wie sehr wir uns nach lebendigem Grün sehnen, wird uns momentan noch bewusster als sonst. Vor allem in den dicht besiedelten Städten sind Grün-, Sport- und Freizeitflächen rar. Dabei haben wir mit Dachflächen große ungenutzte Potenziale vor uns liegen. Bild 1: Derzeit werden nur etwa zehn Prozent der jährlich entstehenden Flachdächer begrünt. © BuGG/ G. Mann 88 3 · 2020 TR ANSFORMING CITIES PRODUKTE + LÖSUNGEN Stadtraum Impressum Transforming Cities erscheint im 5. Jahrgang Herausgeber Eberhard Buhl, M.A. Verlag Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22, D-72270 Baiersbronn-Buhlbach Tel. +49 7449 91386.36 · Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de · www.trialog.de Redaktionsleitung Dipl.-Ing. arch. Christine Ziegler VDI (verantwortlich) Tel: +49 7449 91386.43 Fax: +49 7449 91386.37 christine.ziegler@transforming-cities.de Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 5 vom 01.01.2020 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 vertrieb@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist zum Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. 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Vor zehn Jahren lag das Verhältnis von intensiver zu extensiver Begrünung noch bei 11 zu 89 %. Die Tendenz geht also, wenn auch in kleinen Schritten, eindeutig in Richtung Dachgärten. Doch ein Dachgarten hat nicht nur seinen Vorteil in der direkten Nutzung, er hat noch viele weitere positive Aspekte: Wasserrückhalt und damit Entlastung der Kanalisation Verbesserung des Stadtklimas durch Verdunstungskühlung Energieeinsparung: Wärmedämmung im Winter und Hitzeschutz im Sommer Schutz der Dachabdichtung vor Extremtemperaturen, Sturm- und Hagelschäden Ersatzlebensraum für Tiere Staubbindung Lärmminderung Investoren und Bewohner profitieren gleichermaßen von der Anlage eines Dachgartens: die Immobilie samt Umfeld wird attraktiver und wertvoller. Die Vorteile eines eigenen Dachgartens liegen auf der Hand: Schnell und (bei Neubau) barrierefrei erreichbar Zusätzliche Nutzfläche (Freizeit, Wohnraum, Sport, Spiel) Wohltuend, abgeschottet, (krisen)sicher Anbau eigener Lebensmittel Naturerlebnisse, Naturnähe, Naherholungsfläche Begehbare Dachbegrünungen sind zusätzlich nutzbare Flächen und das Reizvolle für alle Investoren ist, dass der „Baugrund“ dafür kostenlos vorliegt. Er wurde ja schon ebenerdig bezahlt und erfährt oben auf dem Dach eine „Zweitnutzung“. Und der Quadratmeterpreis eines Dachgartens ist in größeren Städten bei weitem geringer als der eines Grundstücks. Der Gründach-Index, den der Bundesverband GebäudeGrün für elf Städte ermittelt hat, liegt im Durchschnitt bei 1,5 m 2 Gründach pro Einwohner - allerdings sind hierbei alle Dachbegrünungen (extensiv und intensiv) berücksichtigt. Den Platz 1 der „ BuGG - Gründach- Bundesliga “ nimmt die Stadt Stuttgart mit einem Gründach-Index von 4,1 ein. Schön wäre, laut BuGG, wenn diese 4,1 m 2 begehbare Dachgärten wären. Mittelfristig müsse das das Ziel sein. (GPP / BuGG) Weitere Informationen: www.gebaeudegruen.info/ Bild 2: Begehbare Dachbegrünungen sind zusätzlich nutzbare Flächen und das Reizvolle für alle Investoren ist, dass der „Baugrund“ dafür kostenlos vorliegt. ©BuGG/ G. Mann Städtische Ressourcen Am 4. Dezember 2020 erscheint die nächste Ausgabe von Transforming Cities mit dem Themenschwerpunkt Urbaner Wasserhaushalt Städte als Energieerzeuger Abwärme aus Haushalten und Industrie Intelligente Flächennutzung Urbane Landwirtschaft Urban Mining