Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
93
2021
63
Strategien für ein nachhaltiges Wasserressourcenmanagement Starkregen | Hitzestress | Regenwasserbewirtschaftung | Stadtbäume | Dach- und Fassadenbegrünung Starkregen | Hitzestress | Regenwasserbewirtschaftung | Stadtbäume | Dach- und Fassadenbegrünung 3 · 2021 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Zu viel oder zu wenig Wasser ? Jetzt informieren: www.gat-wat.de Mit freundlicher Unterstützung von: gat | wat 2021 Die Leitveranstaltung der Energie- und Wasserwirtschaft 24. - 25. November 2021, Koelnmesse 25. Oktober - 12. Dezember 2021, online Diskutieren Sie u. a. mit diesen Referent: innen Dr. Regina Dube Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) Elisabeth Jreisat Hessenwasser GmbH & Co. KG Prof. Dr. Martin Grambow Bayerisches Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz Umweltminister Olaf Lies Nds. Ministerium für Umwelt, Energie, Bauen und Klimaschutz Susanne Fabry RheinEnergie AG Andreas Feicht Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) Han Fennema Gasunie Gasunie Catharina Sikow-Magny Europäische Kommission GAT-WAT2021_AZ-TC_210x297_3mmB_01.indd 1 09.08.21 12: 06 1 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, Am 9. August dieses Jahres veröffentlichte der Weltklimarat IPCC, eine von den Vereinten Nationen berufene Vereinigung tausender Wissenschaftler aus aller Welt, seinen neuen Bericht zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels. Die Wissenschaftler kommen darin zu dem Schluss, dass der Mensch zweifellos hauptverantwortlich für die globale Erwärmung und den Klimawandel ist. Sie gehen davon aus, dass durch den weiteren Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur Wetterextreme wie langanhaltende Hitzeperioden und überdimensionale Starkregenereignisse künftig sehr wahrscheinlich noch häufiger und intensiver werden. Angesichts der Umweltkatastrophen der vergangenen Wochen - Fluten und Brände geradezu biblischen Ausmaßes - stellt sich die Frage: Das also war erst der Anfang - wieviel schlimmer kann es denn noch werden? Laut Weltklimabericht hat sich die Erde aktuell bereits um durchschnittlich 1,1 °C erwärmt. Geht die derzeitige Entwicklung einfach so weiter, wird das Pariser Klimaziel, höchstens 1,5 °C Erderwärmung, bereits um das Jahr 2030 erreicht. Viel schneller also, als prognostiziert wurde, mit Auswirkungen, die deutlich drastischer ausfallen dürften, als die eben erlebten. Also kein Thema , das sich noch schlanken Fußes auf zukünftige Generationen abwälzen ließe. Was ist zu tun? Außer einer radikalen CO 2 -Reduktion, die jetzt unabdingbar ist, um die Apokalypse doch noch abzuwenden, gilt es vorderhand, mit dem bereits angerichteten Schaden zu leben. Das heißt, wir alle müssen lernen, mit großer Hitze und Trockenheit, mit orkanartigen Stürmen und mit plötzlich auftretenden großen Wassermengen umzugehen. Dazu ist es notwendig, Städte und Gemeinden so umzubauen und anzupassen, dass auch extreme Wettersituationen nicht zwangsläufig zur Katastrophe führen. Ein wesentlicher Faktor dabei ist ein intelligenter Umgang mit der Ressource Wasser. Blau-grüne Infrastrukturen, die helfen Wasser zu speichern, zu versickern und zu verdunsten, statt es abzutransportieren, sorgen für besseres und gesünderes Klima in dicht bebauten Gebieten und beugen Schäden durch Überflutungen vor. Ein integriertes Wasserressourcen-Management ist notwendig, um für die Versorgung mit Trinkwasser und mit Wasser für die verschiedenen sonstigen Abnehmer auch in Trockenzeiten sorgen zu können. Die Strategie dafür gibt es längst, die Technologien ebenfalls. Im vorliegenden Heft lesen Sie, wie wassersensible Stadtplanung aussehen kann und mit welchen Maßnahmen sich Städte und Gemeinden bereits heute gegen die großen Herausforderungen wappnen. Ihre Christine Ziegler Redaktionsleitung „Transforming Cities“ Zu viel oder zu wenig Wasser ? 2 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES INHALT 3 · 2021 FORUM Standpunkt 4 Wasserversorgung in Zeiten des Klimawandels Dr. Wolf Merkel, Vorstand für das Ressort Wasser des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches (DVGW) PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur 6 Systemlösungen für lebenswerte Städte Gemäß Regelwerk DWA-A 102 zum Erhalt der natürlichen Wasserbilanz Dominik Gößner 8 Mit Sensorik und KI zu mehr Resilienz Regina Gnirss, Dominik Kolesch 10 Cloudbasierte Steuerung und Überwachung Modernisierung der Abwasserpumpwerke der Stadt Laatzen Joel Stratemann 13 Voraussetzung für nachhaltigen Kanalbau Der Einfluss von Lastannahmen auf die Ausführungsqualität 16 Spielflächen statt Sickermulden Sickertunnel und Filterschacht im Untergrund, preiswert durch Betonfertigteile Klaus W. König Stadtraum 20 Vertikale Klima-Klär- Anlage Grauwasserreinigung und -nutzung durch Fassadenbegrünung Vera Middendorf, Nadja Becker, Matthias Schulz 22 Das Biodiversitäts- Gründach Trittsteinbiotop, Lebensraum und Beitrag zum Artenschutz Gunter Mann 25 Zukunftsbäume für die Stadt Joachim Bauer, Jens Dietrich 28 Anpassung an den Klimawandel Hamburg schützt seine historischen Gebiete Katherine Peinhardt, Uta K. Mense THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser? 30 Starkregen - Herausforderung für Bevölkerungsschutz und Stadtentwicklung Das Projekt „KlamEx“ Isabelle Fischer, Susanne Krings 34 Stadtquartiere im Klimawandel Kommunales Niederschlagsmanagement in Bestand und Neubau Denise Böhnke, Stefan Norra 40 Rolle der Energie- und Wasserflüsse im Stadtsystem Steigerung der Resilienz unserer Städte zur Anpassung an den Klimawandel Yannick Back, Wolfgang Rauch, Manfred Kleidorfer Seite 10 Seite Seite 13 13 Seite 30 © Phoenix Contact © Güteschutz Kanalbau © Güteschutz Kanalbau © Thomas Oettinger auf Pixabay © Thomas Oettinger auf Pixabay 3 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES INHALT 3 · 2021 45 Mit vereinten Kräften dem Klimawandel begegnen Das KlimaAnpassungs- Netzwerk Tholey (KAN-T): Erfahrungsaustausch, Ideenschmiede und Impulsgeber Manuel Trapp, Dorothee Siemer, Ulrike Schinkel, Simon Spath 50 Strategien zur Bewältigung extremer Trockenheit und des Wassermangels in Berlin Regina Gnirss, Gesche Grützmacher 52 Die Zukunftsinitiative: Wasser in der Stadt von morgen Blau-grüne Transformationsprozesse in der Emscher- Lippe-Region Stephan Treuke, Nora Schecke, Anja Kroos 57 Starkregenvorsorge in Mannheim Steuerungsinstrumente zum Umgang mit Unsicherheiten im städtischen Klimahandeln Jörg Knieling, Alexandra Idler, Olga Izdebska, Nancy Kretschmann, Rebecca Nell 62 Mit Regenwasser nachhaltig umgehen Erprobung eines ganzheitlichen Planungsansatzes zur Förderung einer wassersensiblen Stadtentwicklung Timo C. Dilly, Karim Sedki, Ulrich Dittmer, Martina Scheer 68 Mehrwert der Klimagerechtigkeit für die Klimaanpassung in Kommunen Dargelegt am Beispiel blaugrüner Infrastrukturen Martina Winker, Jan Hendrik Trapp, Engelbert Schramm 74 Klimawandel und Bevölkerungswachstum Herausforderungen für die Wasserversorgung Ulrich Roth 81 Die Wasserwirtschaft auf der digitalen Reise Der „1. HRW-Digitalisierungsindex für die deutsche Wasserwirtschaft“ - Ziele, Struktur, Ergebnisse und nächste Schritte Mark Oelmann, Christoph Czichy, Eva-Maria Inderelst FOKUS Forschung + Lehre 86 Spreeberlin - die Stimme eines Flusses Jakob Kukula PRODUKTE + LÖSUNGEN Infrastruktur 88 Starkregen ohne Überschwemmung Dezentrale Lösungen reduzieren das Risiko 88 Impressum Seite Seite 50 50 Seite 68 © Berliner Wasserbetriebe Seite 74 © Roth Unwetter mit Starkregen. © pixabay 4 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES FORUM Standpunkt Die Auswirkungen des Klimawandels werden immer extremer. Im Osten Deutschlands sind Mensch und Natur mit ausgedehnten Hitze- und Trockenperioden konfrontiert: Grundwasserspiegel sinken, Talsperren füllen sich nur mäßig. Im Westen dagegen fügten im Sommer 2021 schwere Unwetter und Überflutungen Menschen, ihrem Lebensraum und auch der Trinkwasser-Infrastruktur erhebliche Schäden zu. In Zukunft benötigen wir neue Antworten auf die Frage: Wie sorgen wir für eine sichere Wasserversorgung in einer lebenswerten Umwelt? In Städten wird zunehmend vor allem das Handling Wasserversorgung in Zeiten des Klimawandels Trinkwasser: Spitzen-Niveau kann langfristig nur durch erhöhte Schutzmaßnahmen gesichert werden Knapp 6 000 Wasserversorger stellen Trinkwasser rund um die Uhr zuverlässig und in bester Qualität zur Verfügung. Dennoch zeigt der Klimawandel wie ein Vergrößerungsglas die Herausforderungen der Wasserwirtschaft auf: Zukünftig kommt es immer häufiger darauf an, die Folgen von Dürre und Starkregen zu mildern. In ausgedehnten Hitze- und Trockenphasen gilt es, Spitzenverbräuche beim Trinkwasser zu managen und die knappen Ressourcen qualitativ noch besser zu schützen. Zugleich stellen die zunehmenden Starkwetterereignisse erhöhte Anforderungen an den Schutz der Versorgungsstrukturen vor Hochwasser und die Flexibilität von Speichersystemen. von „zu viel oder zu wenig Wasser“ eine Herausforderung: Mit Blick auf die prognostizierte künftige Häufung von Starkwetterereignissen gilt es, vorsorgende Maßnahmen zu treffen, um zum Beispiel mit Multi-Funktions-Speicherräumen und eigens angelegten Überflutungsflächen die Folgen von Unwettern und Hochwasser zu dämpfen. Daneben können aber auch Trocken- und Hitzephasen in städtischer Intensiv-Bebauung sehr belastend werden. Sie wechseln sich ab mit kurzen, sintflutartigen Regenfällen, die bislang ungenutzt in die Kanalisation wegfließen. Neue städtebauliche Konzepte zielen darauf ab, Regenwasser für die nachfolgenden Trockenzeiten zu speichern mit dem Ziel, beispielsweise Grünflächen, die das Stadtklima verbessern, in Phasen ohne Regen am Leben zu erhalten. Ein solches Umsteuern ist gerade auch in Bereichen gefragt, in denen Trinkwasser genutzt wird. Auch wenn Deutschland ein wasserreiches Land ist und wir auch in Zukunft aller Voraussicht nach genug Wasser zur Verfügung haben werden, so kam es gerade in den trockenen Sommern 2018 bis 2020 regional zu angespannten Versorgungssituationen. Um Situationen wie diese künftig zu vermeiden, kommt es mehr denn je darauf an, die Balance zwischen Wasserdargebot und Wasserbedarf auszutarieren. Verteilungskonflikte lassen sich nur umgehen, wenn Nutzungszugriffe bestmöglich gesteuert werden. Das Wasserrecht schreibt zwar den Vorrang zur Nutzung des Wassers zum Trinken, Kochen und für die Körperhygiene fest. Allerdings bedarf es vielfach klarerer Regeln und einer konsequenteren Umsetzung vor Ort. Der steigende Bedarf der Landwirtschaft, als einem wichtigen Abnehmer zur Beregnung der Dr. Wolf Merkel, Vorstand für das Ressort Wasser des Deutschen Vereins des Gas- und Wasserfaches (DVGW). © DVGW Kosten für Anpassungsmaßnahmen. © DVGW 5 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES FORUM Standpunkt Unter den zukünftigen Herausforderungen für die Wasserwirtschaft ist der Klimawandel sicher eine der größten. Um ihr zu begegnen, bedarf es neben smarten Konzepten auch des intensiven Meinungs- und Erfahrungsaustausches zwischen Experten der Branche, Politik und Wissenschaft. Die gat|wat 2021 als Leitkongress der Branche legt einen Schwerpunkt darauf und bietet eine Plattform für den übergreifenden Diskurs. Deren Ziel ist, zu Lösungen beizutragen, die die Trinkwasserversorgung in Zeiten des Klimawandels zukunftsfest aufstellen. www.gat-wat.de Felder, muss beispielsweise in diesem Zusammenhang neu betrachtet werden. Um diesen Bedarf dauerhaft decken zu können, ist es notwendig, in Zukunft großräumiger zu denken und die gesamte Infrastruktur in den Blick zu nehmen. Zugleich ist die Versorgung wichtiger Abnehmer anzupassen, etwa mit Hilfe der Wiederverwendung von Wasser für die Industrie oder dem Einsatz wassersparender Beregnungstechniken in der Agrarwirtschaft. Künftig gilt es, den gesamten Wasserkreislauf in den Blick zu nehmen. Nachhaltige Bewirtschaftungskonzepte müssen Berücksichtigung finden, wenn es darum geht, den steigenden Wasserbedarf zum Beispiel der Landwirtschaft zu decken. Auch gilt es, die Entnahmerechte zu flexibilisieren. Um auf den akut ansteigenden Bedarf in Trockenphasen reagieren zu können, benötigen Wasserversorger die Option, vorübergehend mehr Wasser als vertraglich zugesichert entnehmen zu können. Weitere Anpassungsmaßnahmen an den Klimawandel sind auch baulicher Art. Sei es, dass Hochbehälter erweitert, neue Talsperren gebaut werden oder Fernleitungen Versorgungsgebiete verbinden: Der Aufwand - auch finanziell - zur Sicherung der Trinkwasserversorgung auf dem gewohnt hohen Niveau wird in Zukunft steigen. Wie stark, zeigt eine DVGW- Umfrage unter 180 Wasserversorgern im Frühjahr 2021: Die Mehrheit erwartet in den nächsten zehn Jahren etwa dreimal so hohe Aufwendungen wie in den letzten zehn Jahren. Ob dies reicht, um auch Extremwetterlagen wie der jüngsten Hochwasserkatastrophe begegnen zu können, werden die nächsten Jahre zeigen. LEITKONGRESS GAT|WAT 2021 Qualität ist viel wert www.kanalbau.com Bild: Münchner Stadtentwässerung Gütesicherung Kanalbau RAL-GZ 961 Stadt: München Regenauslasskanal Ungererstraße / Nordfriedhof Inbetriebnahme des Kanals: 1902 6 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Die durch Versiegelung von Flächen im städtischen Raum entstandenen urbanen Hitzeinseln lassen sich durch Energieabfuhr über die Verdunstung großer Regenwassermengen reduzieren. Weniger urbane Hitzeinseln verringern wiederum Intensivität und Häufigkeit von Niederschlagsereignissen über Städten. Der Erhalt des natürlichen Wasserhaushaltes reduziert demnach sowohl urbane Hitzeinseln als auch Starkniederschläge über städtischem Gebiet - zwei Faktoren, die für Lebensqualität in urbanen Räumen wichtig sind. Bereits im Jahr 2006 fand deshalb die Forderung „die Veränderung des Wasserhaushaltes durch Siedlungsaktivitäten so gering zu halten, wie es ökologisch, technisch und wirtschaftlich vertretbar ist“ in das Regelwerk der DWA-A 100 Eingang. Der Effekt dieser Zielsetzung in der DWA-A 100 auf die tatsächlichen Planungen hielt sich, aus subjektiver Wahrnehmung in der täglichen Praxis, jedoch in Grenzen. Der Fokus bei den Planungen des Regenwassermanagements lag meist weiterhin auf der Reduzierung des Abflusses mit allen verfügbaren Methoden, ohne den natürlichen Wasserhaushalt einzubeziehen. Möglicherweise lag dies an der üblichen Planungspraxis, an der nicht formulierten Konkretisierung der Ziele und den nicht vorhandenen Methoden zur Berechnung und zum Nachweis der natürlichen Wasserbilanz eines Gebietes. Neu: DWA-A 102 zum Erhalt der natürlichen Wasserbilanz Dies hat sich mit Erscheinen der Regelwerksreihe DWA-A 102 nun geändert. Mit dem Weißdruck existiert seit Dezember 2020 ein Regelwerk, das den Erhalt der natürlichen Wasserbilanz bei Neuerschließungen und Überplanungen fordert und diese Forderungen im Entwurf der DWA- M 102-4 auch konkretisiert! Im Entwurf der DWA-M 102-4 ist definiert, wie und wo die Zielwasserbilanz, die nach der entwässerungstechnischen Neuerschließung von Siedlungsflächen und der städtebaulichen und/ oder entwässerungstechnischen Überplanung von Siedlungsgebieten erreicht werden soll, entnommen werden kann und wie sie ermittelt werden soll. Folglich stehen Kommunen und Planern Systemlösungen für lebenswerte Städte Gemäß Regelwerk DWA-A 102 zum Erhalt der natürlichen Wasserbilanz Dominik Gößner Unter dem Aspekt, dass wir auch in Zukunft in lebenswerten urbanen Gebieten wohnen wollen, kommt dem Erhalt des natürlichen Wasserhaushaltes eine besondere Bedeutung zu. In der Regel sind im Wasserhaushalt Verdunstungsanteile von mehr als 50 % des Jahresniederschlags enthalten. Beim Verdunstungsvorgang wird eine extrem hohe Menge Energie in Form von latenter Wärme gebunden und in höhere Atmosphärenschichten transportiert und dadurch aus unserem Lebensraum entfernt. Bild 1: Natürliche Wasserbilanz durch Verdunstung. © Optigrün international AG Bild 2: Grüne Oasen mitten in der Stadt: Axel- Springer-Haus in Berlin. © Optigrün international AG 7 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur erstmals konkrete Leitlinien zur Verfügung, mit denen sowohl die einzuhaltende Wasserbilanz als auch die aufgrund der Planung zu erwartende Wasserbilanz ermittelt werden kann - dies schafft eine Basis für gemeinsames Handeln der Beteiligten. Welche Folgen hat die neue Regelwerksreihe auf die Bebauung? Bei einer stichprobenartigen Begutachtung der Zielwasserbilanzen, die bei Neuerschließungen oder Überplanungen erreicht werden sollen, fällt auf, dass die geforderte Verdunstungsrate in der Regel über 50 % liegt, dass also über die Hälfte des Jahresniederschlags wieder vor Ort versickert werden soll. In dicht besiedelten Regionen ist dieser Zielwert nicht einfach zu erreichen. Denn dort muss ein Großteil der Niederschläge, insbesondere auch aus den Wintermonaten, zurückgehalten werden, um sie dann im Frühling und Sommer verdunsten zu lassen. Entsprechende Regenwasserspeicher 1 werden im Tiefbaubereich oder auf Dachflächen errichtet. Neben der Speicherung des Regenwassers ist dessen Verdunstung die nächste Herausforderung. Dazu sind Grünflächen notwendig, denen das Wasser aus den Regenwasserspeichern zugeführt werden kann. Neben dem Speichern und Verdunsten von Regenwasser besteht eine weitere, bereits bestehende Anforderung an das Regenwassermanagement: der temporäre Regenwasserrückhalt zur Einhaltung von Einleitbeschränkungen und zum Überflutungsschutz. Für diese Aufgaben sind Regenwasserrück- 1 Definition Regenwasserspeicher: Dauerhafter Speicherraum für Regenwasser, der nur durch aktive Entnahme entleert wird. halteanlagen 2 - unterirdische Rigolen oder Retentionselemente auf Dachflächen - erforderlich. Regenwasserrückhalteanlagen speichern Regenwasser nicht dauerhaft, da sie sonst ihren temporären Zweck zur Einhaltung von Einleitbeschränkungen oder dem Rückhalt von Starkregenereignissen nicht mehr erfüllen könnten. Folglich sind zum Erhalt des natürlichen Wasserhaushaltes und zur Einhaltung der Anforderungen des bestehenden Regenwassermanagements zwei verschiedene Arten von Regenwasserspeichern notwendig: temporäre Regenwasserspeicher bzw. Regenwasserrückhalteanlagen und dauerhafte Regenwasserspeicher bzw. Zisternen. Müssen nun zusätzlich zu den bereits notwendigen Regenwasserrückhalteanlagen Regenwasserspeicher zur Erhöhung der Verdunstung geschaffen werden? Nicht zwangsläufig. Es besteht die Möglichkeit, Regenwasserspeicher intelligent zu steuern, sodass darin enthaltenes Regenwasser so lange wie möglich zurückgehalten wird, um die Verdunstung zu fördern. Außerdem fließt nur Regenwasser ab, wenn ein Regenereignis bevorsteht, und nur so viel wie nötig, damit die Speicherkapazitäten des Regenwasserspeichers nicht überschritten werden. Pumpen, Abläufe in Zisternen und auf Retentionsgründächern sind mit einem Server verbunden und werden von hier aus intelligent gesteuert. Dazu werden kontinuierlich Wetterdaten ausgewertet. Die Systemlösung von OPTI- GRÜN und FRÄNKISCHE verbindet Hochbau mit Tiefbau, in dem so viel Regenwasser wie möglich auf dem Grundstück in Regen- 2 Definition Regenwasserrückhalteanlage: Speicherraum zum temporären Rückhalt von Regenwasser, welcher sich selbstständig, über eine Drossel oder Versickerung entleert. wasserspeichern auf dem Dach und im Tiefbau zurückgehalten wird. Die intelligente Steuerung der vernetzten Bauteile macht es möglich, das Regenwasser aus der Zisterne einem beliebigen Nutzen zuzuführen. In der Steuerung können Zielwasserbilanzen hinterlegt werden. Wenn beispielsweise 70 % des jährlichen Niederschlags verdunstet, 30 % versickert und 0 % abgeleitet werden sollen, werden die Pumpen in der Zisterne, basierend auf Wettervorhersagedaten und Simulationswerten aus der Vergangenheit, so gesteuert, dass die Zielwasserbilanz so gut wie möglich eingehalten wird. Zur Verdunstung wird dann Regenwasser von der Zisterne auf das Gründach und zur Versickerung in die Versickerungsanlage gepumpt. Auf diese Weise lassen sich die in dichten urbanen Räumen gebauten Regenwasserspeicher und Retentionsgründächer so effizient wie möglich nutzen, um die Zielvorgaben der DWA-A 102 bzw. der Kommune auf wirtschaftliche Art und Weise zu erreichen. M. Eng. Dominik Gößner Leiter Forschung & Entwicklung Produktmanagement Optigrün international AG Kontakt: d.goessner@optigruen.de AUTOR Bild 3: Wasserbilanzsteuerung durch intelligentes Regenwassermanagement. © Optigrün international AG 8 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Der Trend zur Urbanisierung ist weiterhin ungebrochen: Die Menschen ziehen in die Städte und der Wasserverbrauch steigt. In Berlin drehen schon heute jeden Tag knapp 3,7 Mio. Menschen ihren Wasserhahn auf. Das Wassermanagement und die Infrastruktur dahinter bleiben für die meisten aber unsichtbar. Doch gerade die Trockenphasen und die unterirdische Kanalisation die hohen Abflussintensitäten des Starkregens nicht aufnehmen und ableiten kann. Damit wird das Thema Wasser automatisch für andere Akteure in der Stadt relevant. Der Verkehr ist betroffen und mit ihm die Fahrwege für Polizei, Feuerwehr, Technisches Hilfswerk und für Pendelnde. Die Herausforderungen des Wassermanagements werden somit wichtiger für Mobilitätsdienstleistungen, kritische Infrastrukturen und die öffentliche Sicherheit. Die Wasserver- und Abwasserentsorger in den Städten müssen erkennen, wie vernetzt die Daseinsvorsorge in den Städten schon heute ist und sie demnach vernetzter denken. In Berlin haben wir uns bereits auf den Weg gemacht. Überflutungen in der Stadt Zusammen mit den anderen Infrastrukturbetreibern der Stadt - Berliner Verkehrsbetriebe, Berliner Stadtreinigung, Vattenfall Wärme Berlin, GASAG und Stromnetz Berlin - haben wir das InfraLab Berlin gegründet. Hier forschen wir gemeinsam an der Stadt der Zukunft und widmen uns Themen, die alle angehen und nur miteinander gelöst werden können. Dazu zählen zum Beispiel Überflutungsereignisse durch Starkregen im urbanen Raum. Ereignisse wie jene in Mit Sensorik und KI zu mehr Resilienz Wassermanagement, Klimawandel, Resilienz, KI, Robotik Regina Gnirss, Dominik Kolesch Extremwetter nimmt zu und stellt neue Anforderungen unter anderem an das Wassermanagement. Das wird besonders bei Starkregenereignissen deutlich. Das Thema betrifft nicht nur die Wasserver- und Abwasserentsorger, sondern auch andere Bereiche der Daseinsvorsorge. Überflutete Straßen wirken sich auf den Verkehr und den Handlungsspielraum der Einsatzkräfte aus. Die Akteure in der Stadt müssen sich deshalb mehr vernetzen. Auch neue Maßnahmen zum Wassermanagement, zum Beispiel der Einsatz von Robotik und KI sind gefragt, um auch bei extremerem Wetter die Wasserversorgung zu gewährleisten. Überschwemmungen in den letzten Sommern haben gezeigt, was der Klimawandel für die Städte bedeutet. Das künftige Wassermanagement der Städte muss auf extremeres Wetter ausgelegt sein und braucht neue Tools zur Instandhaltung und Schadenserkennung, wenn es den Herausforderungen gewachsen sein soll. Zu viel oder zu wenig Regen? Und Herausforderungen gibt es viele: Klimawandel bedeutet nicht nur mehr aride Wetterphasen, sondern auch, dass zum Beispiel Starkregen wesentlich häufiger und heftiger vorkommt. In kurzer Zeit regnen unzählige Liter auf die Städte. Insbesondere in stark versiegelten urbanen Verkehrsräumen kann es dann zu pluvialen Überflutungen kommen, da Bild 1: Sensoren an und unter der Straße und in Abflüssen messen im Projekt SENSARE den aktuellen Wasserstand und versenden ihn über LoRaWAN. © SENSARE Bild 2: Automatisch erkannte und markierte Schadensarten entlang einer Kanalhaltung. © AUZUK A / e.sigma 9 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Münster (2014), Dortmund (2015) und Berlin (2017) machen die potenzielle Intensität und das Ausmaß deutlich. Das vom BMVI geförderte Projekt „SEN- SARE“ (Sensorbasierte Stadtgebietsanalyse für Starkregen zur Warnung und Resilienzverbesserung der Verkehrsinfrastruktur) erstellt Gefahrenkarten für Starkregenereignisse und sendet Warninformationen direkt in die Leitzentrale der Verkehrsinfrastruktur. Deshalb haben wir im Projekt alle Senken der Stadt, in denen Überflutungen entstehen können, digital erfasst. Darüber lassen wir Simulationen laufen, die unterschiedliche Regenszenarien abbilden. In vier Quartieren überprüfen wir die Ergebnisse mit realen Starkregenereignissen: Die Signale der Sensoren in und unter der Straße werden mit LoRaWAN übertragen. So stellen wir fest, ab wann die Kanalisation überfordert ist und Straßen zum Beispiel für Busse nicht mehr befahrbar sind. Das ermöglicht uns unter anderem, den Verkehr und den ÖPNV umzuleiten, wenn das System digital Alarm schlägt. Neben dem InfraLab sind weitere Partner aus Industrie, Wissenschaft und Verwaltung mit dabei. SENSARE soll uns und anderen Städten helfen, resilienter gegenüber den Folgen des Klimawandels zu werden. Das überschüssige Wasser auf der Straße wird im weitverzweigten Kanalnetz in Berlin gespeichert. Dazu kommen kathedral-große Stauräume, die fast 300 000- m 3 Wasser fassen können. Insgesamt ist das Kanalnetz in Berlin 9 700 km lang - soweit wie ein Langstreckenflug von Berlin nach Tokyo. Damit das Abwasser mit dem Regenwasser ungehindert zu den Klärwerken gepumpt werden kann, inspizieren wir unsere Kanäle in regelmäßigen Abständen. Dazu nutzen wir einen Kamera-Roboter, der Bilder aufnimmt, mit denen wir Schäden erkennen. Bisher werten die Fachexpert*innen der Berliner Wasserbetriebe das komplette 2D-Bildmaterial manuell aus, was ebenso zeitintensiv wie fehleranfällig ist. Mit KI die Kanalisation erhalten Die Berliner Wasserbetriebe forschen daran, diese Bilderkennung und Schadensklassifizierung in die Hände einer künstlichen Intelligenz zu geben. 2016 startete das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt „AUZUKA“ mit dem ehrgeizigen Ziel, für Kommunen Assistenzsysteme zu schaffen, die Kanalschäden (teil-) automatisiert erfassen können. Die Herausforderung liegt in der neuartigen kontrastreicheren Bildqualität sowie in eindeutig und für alle möglichen Schäden ausreichende vorhandene Trainingsdaten zur automatisierten Bilderkennung. Das entwickelte virtuelle Auswertesystem ist bereits bei den Berliner Wasserbetrieben in der Testanwendung. Die Qualität in der Kanalinspektion konnte so deutlich gesteigert werden. Künstliche Intelligenz kann auch auf anderem Wege dabei helfen, das Kanalsystem in Stand zu halten, das teilweise schon über 100- Jahre alt ist. Regelmäßige Investitionen und Bauvorhaben sind notwendig, um das Netz zu erhalten. Und je gezielter Schäden behoben werden können, desto besser. Im Projekt „SEMA- Berlin“ simuliert eine künstliche Intelligenz den Alterungsprozess der Kanäle. Die KI zieht ihr Wissen aus über 140 000 Datensätzen zum Zustand, zu baulichen Eigenschaften und zu Umwelteinflüssen der Berliner Abwasserkanäle. Auch das Alter und Material der Kanäle und Open Data zu Boden- Regina Gnirss Leiterin Forschung und Entwicklung Berliner Wasserbetriebe Kontakt: regina.gnirss@bwb.de Dominik Kolesch Berliner Wasserbetriebe Kontakt: dominik.kolesch@bwb.de AUTOR*INNEN Bild 3 (oben): Eine künstliche Intelligenz simuliert den Alterungsprozess der Berliner Kanalisation. © Kompetenzzentrum Wasser Berlin / SEMA-Berlin Bild 4 (unten): Im InfraLab Berlin entwickeln die Infrastrukturbetreiber der Stadt Ideen und Konzepte für die smarte Stadt der Zukunft. © InfraLab Berlin art oder dem Grundwasserniveau werden genutzt. Das ermöglicht es, einen digitalen Blick in die Zukunft zu werfen. Die Ergebnisse von SEMA-Berlin tragen dazu bei, das Kanalsystem gezielt zu erhalten und zu sanieren, damit in Berlin auch in Zukunft das Wasser weiter aus dem Wasserhahn fließt - und die Kanalisation den zunehmenden Starkregen verlässlich aufnehmen kann. 10 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Wenn es um den Einsatz von Pumpensteuerungen und Fernwirklösungen geht, gehören Abwasserpumpwerke aufgrund ihrer dezentralen Lage zu den prädestinierten Bauwerken. Da die Außenstationen häufig über das ganze Stadtgebiet verteilt sind, werden alle wichtigen Betriebsdaten und Informationen der einzelnen Pumpwerke über geeignete Protokolle an die übergeordnete Leitstelle übertragen (Bild 1). Auf diese Weise lassen sich die dezentralen Bauwerke dauerhaft durch das Betreiberpersonal steuern und überwachen. Bei Störungen werden darüber hinaus die verantwortlichen Mitarbeiter benachrichtigt, was Ausfallzeiten reduziert und Folgeschäden vermeidet. Allerdings verfügen zahlreiche Pumpwerke noch über veraltete Technik und agieren vollkommen autark. Am Beispiel der Stadt Laatzen lässt sich veranschaulichen, wie der Übergang zu einer modernen Lösung aussehen kann (Bild 2). Bislang technisch unterschiedliche Automatisierungstechnik verbaut Das im Landkreis Hannover gelegene Laatzen umfasst eine Fläche von etwa 34 Quadratkilometer. In ihrem Einzugsgebiet sorgen aktuell 17 dezentrale Pumpwerke für den Abtransport des Abwassers der rund 42 000 Einwohner. Die verschiedenen Außenstationen weisen dabei unterschiedliche bauliche Bedingungen hinsichtlich der Pumpenzahl, Sensorik und lokalen Automatisierungstechnik auf. Kleinere Pumpwerke besitzen zwei Pumpen, eine analoge Niveaumessung sowie einzelne digitale Signale. Im Gegensatz dazu sind in den großen Pumpwerken bis zu drei Pumpen und eine zusätzliche Durchflussmessung installiert. Ihre maximale Förderleistung beträgt zwischen 250 und 300 Kubikmeter pro Stunde (Bild 3). Ein weiterer Unterschied zwischen den 17 Pumpwerken besteht in der verbauten Automatisierungstechnik. Sämtliche Laatzener Pumpstationen verfügen über speicherprogrammierbare Steuerungen (SPS). Eine Station ist komplett erneuert worden und soll deshalb gleich eine Steuerung von Phoenix Contact bekommen. Bei zwei weiteren Stationen müssen die Schaltschränke modernisiert werden. Im Rahmen dieser Aktivität ist ebenfalls die Umstellung der Steuerungstechnik geplant. Die restlichen 14 Außenstationen sind mit Pumpensteuerungen verschiedener Hersteller ausgestattet, weil sie über die Jahre historisch gewachsen sind (Bild 4). Die SPS, welche die Ansteuerung der Pumpen in Abhängigkeit des Höhenstands verantworten, informieren das Betreiberpersonal der Stadt Laatzen beispielsweise bei Störungen per Telefonanruf oder SMS. Bislang gibt es keine zentrale Erfassung der Betriebsdaten der Abwasserpumpwerke in einem zentralen Leitsystem, sodass die Mitarbeiter die dezentralen Bauwerke anfahren und überprüfen müssen. Dies Cloudbasierte Steuerung und Überwachung Cloudbasierte Steuerung und Überwachung Modernisierung der Abwasserpumpwerke der Stadt Laatzen Modernisierung der Abwasserpumpwerke der Stadt Laatzen Joel Stratemann Joel Stratemann Wasserwirtschaftliche Anlagen wachsen im Laufe ihres Lebenszyklus, weshalb sich die in ihnen ver- Wasserwirtschaftliche Anlagen wachsen im Laufe ihres Lebenszyklus, weshalb sich die in ihnen verbaute Technik oftmals erheblich unterscheidet. Steht eine Modernisierungsmaßnahme an, ist dies ein baute Technik oftmals erheblich unterscheidet. Steht eine Modernisierungsmaßnahme an, ist dies ein guter Zeitpunkt, um die Automatisierung in die digitale Welt zu überführen. Wie sich dies effektiv und guter Zeitpunkt, um die Automatisierung in die digitale Welt zu überführen. Wie sich dies effektiv und wirtschaftlich umsetzen lässt, zeigt das Beispiel der Abwasserpumpwerke der Stadt Laatzen. wirtschaftlich umsetzen lässt, zeigt das Beispiel der Abwasserpumpwerke der Stadt Laatzen. © Phoenix Contact PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur 11 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur ist notwendig, um zum Beispiel wesentliche Betriebsdaten - wie Mengenzähler - händisch zu dokumentieren. Im Kontext der voranschreitenden Digitalisierung sind nun sämtliche Pumpwerke der Stadt Laatzen durch eine ganzheitliche Lösung modernisiert worden. Das Retrofit zielte darauf ab, die Betriebsdaten über ein zentrales Leitsystem aufzunehmen und zu visualisieren, damit das Personal unterstützt wird und sich Ressourcen einsparen lassen. Zudem sollten wichtige Störmeldungen an das Betreiberpersonal übermittelt werden. Durch die Modernisierung wird ferner langfristig ein einheitlicher technischer Standard bei allen Pumpwerken etabliert, was die Bedienung und Wartung vereinfacht. Schnelle Anbindung an das zentrale Leitsystem Die Herausforderung bei der Erneuerung historisch gewachsener Infrastruktur liegt in der Diversität der verwendeten Komponenten, Technologien und baulichen Rahmenbedingungen. Folglich muss eine ganzheitliche Lösung kompatibel zu sämtlichen Variationen und Gegebenheiten sein, sodass zwangsläufig eine Offenheit des Systems erforderlich ist. Vor diesem Hintergrund haben sich die Verantwortlichen der Stadt Laatzen bei der neuen technischen Ausstattung der Pumpwerke für eine Steuerung auf Basis der PLCnext Technology in Kombination mit dem Smart Pump Portal - beides von Phoenix Contact - entschieden. 14 Außenstationen sind durch eine PLCnext Control ergänzt worden (Bild 5). Relevante Betriebsdaten werden durch digitale und analoge Signale erfasst und über das Mobilfunknetz an das zentrale Leitsystem übertragen. Zu diesem Zweck wird das standardisierte Kommunikationsprotokoll OPC UA eingesetzt, das einfach handhabbar ist sowie die Messwerte auch bei Verbindungsabbrüchen speichert und zu einem späteren Zeitpunkt weiterleitet. Die PLCnext Control erweitert somit die bestehende Pumpensteuerung und dient als intelligente Schnittstelle zum Leitsystem. Aus dieser Konstellation resultiert für die Stadt Laatzen der Vorteil, dass sich Abwasserpumpwerke mit existierender Pumpensteuerung bereits an das zentrale Leitsystem anbinden lassen. Langfristig kann die vorhandene Pumpensteuerung bei Bedarf abgelöst werden, denn die Automatisierungstechnik von Phoenix Contact ist durch ein Software- Update um die Funktionen einer vollständigen Pumpensteuerung ausbaubar. Wie schon erwähnt, sollen in drei Pumpwerken die Schaltschränke inklusive Steuerung erneuert werden. In diesen Außenstationen wird die oben beschriebene Automatisierungstechnik auf Basis der PLCnext Technology genutzt. Der Unterschied zu den 14 Bauwerken mit vorhandener Pumpensteuerung besteht darin, dass die Funktionserweiterung „Pump Control“ bereits durch ein Update in der Automatisierungstechnik vorliegt. Einfacher Ausbau um zusätzliche Funktionen Bei der Pumpensteuerung „Pump Control“ handelt es sich um eine Software-basierte Funktionserweiterung für die PLCnext-Steuerungen von Phoenix Contact. Die Software-Lösung entspricht genau den Anforderungen der Stadt Laatzen, da sich mit ihr zum Beispiel bis zu drei Pumpen steuern lassen. Zu den Funktionseigenschaften zählen neben einer effizienten Niveauregulierung beispielsweise eine Bild 1: Die Außenstation „An der Masch“ ist mit einer Pumpensteuerung eines anderen Herstellers ausgestattet. © Phoenix Contact Bild 2: Die Stadt Laatzen ist für den Abtransport des Abwassers der rund 42 000 Einwohner verantwortlich. © Phoenix Contact Bild 3: In den großen Pumpwerken sind bis zu drei Pumpen installiert. © Phoenix Contact Bild 4: Im Betriebsgebäude Maschstraße befindet sich ebenfalls eine Steuerung eines anderen Anbieters. © Phoenix Contact 12 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Zwangseinschaltung, Betriebsüberwachung sowie dynamische Schaltschwellen zur Reduzierung von Verschmutzungen. Die Pumpensteuerung kann durch eine Parametrierung außerdem jederzeit an die jeweiligen Rahmenbedingungen der einzelnen Abwasserpumpwerke angepasst werden. Die integrierte webbasierte Oberfläche erlaubt etwa eine Änderung der Pumpenzahl, der verwendeten Messtechnik oder verschiedener weiterer Funktionen. Abgesehen von der Pumpensteuerung übernimmt die Software-Erweiterung ebenfalls die Kommunikation zum zentralen Leitsystem. Für diese Aufgabe setzt die Stadt Laatzen das webbasierte Smart Pump Portal ein, das auf der ebenso webbasierten Resylive-Plattform aufsetzt (Bild 6). In Kombination mit der Automatisierungstechnik aus dem offenen Ökosystem PLCnext Technology entsteht so ein ganzheitliches Konzept. Über die Portallösung lassen sich sämtliche Betriebsdaten visualisieren und langfristig historisieren. Die Daten werden darüber hinaus dazu genutzt, um die Fördermengen der Pumpwerke sowie deren Schaltspiele und Betriebsstunden in Berichten zu dokumentieren, sodass die dezentralen Bauwerke nicht mehr werktäglich angefahren werden müssen. Ein Vorteil des Webportals ergibt sich aus dem Wegfall der Wartung und Instandhaltung, weil keine eigene IT-Infrastruktur bereitgestellt werden muss. Zudem können die Mitarbeiter orts- und zeitunabhängig auf alle notwendigen Informationen der Abwasserpumpwerke zugreifen, wobei der Zugang zum Portal den gängigen Anforderungen im Hinblick auf die IT-Sicherheitsrichtlinien entspricht. Deutliche Steigerung von Effizienz und Wirtschaftlichkeit Aufgrund der von der Pumpensteuerung unterstützten branchenspezifischen Funktionen sowie der eingebauten Fernwirkschnittstelle über standardisierte Protokolle und des Webportals zur Dokumentation der Betriebsdaten werden die die Abwasserpumpwerke betreffenden Betriebsabläufe in puncto Effizienz und Wirtschaftlichkeit optimiert. In Summe bietet die ganzheitliche Lösung der Stadt Laatzen sowohl Offenheit als auch Flexibilität. Während sich bestehende Pumpensteuerungen ergänzen und langfristig ablösen lassen, verfügen neue Abwasserpumpwerke von Anfang an über eine leistungsfähige Steuerung auf der Grundlage der Software-Lösung Pump Control (Bild 7). Mehr Informationen: www.phoenixcontact.de/ wasser Bei der PLCnext Technology handelt es sich um ein offenes Ökosystem, das sich aus verschiedenen Bestandteilen zusammensetzt. Neben den PLCnext-Steuerungen sind das die modulare Softwareplattform PLCnext Engineer, der digitale Marktplatz PLCnext Store, die PLCnext Community zum Erfahrungsaustausch sowie die Option einer systemischen Cloudintegration. Eine speziell entwickelte Firmware-Architektur erlaubt die Nutzung von IEC61131-Programmiersprachen in Kombination mit Hochsprachen - wie C++ oder C# - oder einem Regelalgorithmus-Modell in Matlab Simulink. Dabei kann ein Steuerungsprogramm aus lediglich einer oder einer beliebigen Kombination der genannten Sprachen bestehen. Zukunftsfähig wird das Ökosystem durch die flexible Erweiterung der PLCnext-Steuerungen um zusätzliche Funktionen, beispielsweise Pump Control oder neue Protokolle. Dazu wird einfach die entsprechende App - etwa MQTT - aus dem PLCnext Store auf die SPS geladen. Der Anwender muss bei einer technischen Weiterentwicklung also kein neues Gerät kaufen, sondern kann die vorhandene Hardware einfach anpassen. Das spart Zeit und Geld. Joel Stratemann MBA Infrastructure Applications & Projects Phoenix Contact Electronics GmbH Kontakt: info@phoenixcontact.de AUTOR OFFENES ÖKOSYSTEM FÜR MEHR FLEXIBILITÄT UND ZUKUNFTSSICHERHEIT Bild 7: Anja Gnad, als technische Angestellte für die Pumpstationen verantwortlich, und ihr Kollege Mathias Weber, Vorarbeiter im Bereich Abwasser, sind überzeugt. © Phoenix Contact Bild 5: Neben der PLCnext-Steuerung A XC F 2152 (Mitte) nutzt die Stadt Laatzen die Stromversorgung der Produktfamilie Uno (links) sowie ein TC Modem (rechts). © Phoenix Contact Bild 6: Über die Portallösung Smart Pump Portal lassen sich sämtliche Betriebsdaten visualisieren. © Phoenix Contact 13 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Regelwerk gibt alles vor Der Einbau von Abwasserkanälen und -leitungen ist durch DIN EN 1610 „Einbau und Prüfung von Abwasserleitungen und -kanälen” auf europäischer Ebene geregelt; im Arbeitsblatt DWA-A 139 werden darauf aufbauend ergänzende Details beschrieben. Zusätzlich sind für verwendete Werkstoffe die zugehörigen Herstelleranleitungen zu beachten. Nach DIN EN 1610, Abschnitt 4.2, gilt: „Die Ausführung der Arbeiten muss in der Weise kontrolliert werden, dass die Entscheidungen, die sich aus den Planungsunterlagen ergeben, eingehalten oder an die veränderten Bedingungen angepasst sind“. Gemäß Arbeitsblatt DWA- A 139 muss das Tragwerksystem Rohr/ Boden vorhandene und zukünftige Belastungen mit ausreichender Sicherheit aufnehmen können. Deshalb müssen die auf Abwasserleitungen und -kanäle einwirkenden statischen und dynamischen Lasten schon bei der Planung festgelegt werden. Dazu gehören auch Belastungen aus Bauzuständen, die für die Bemessung bestimmend sein können. Hinzu kommt: Das Tragwerksystem Rohr/ Boden muss vor der Bauausführung definiert und nachgewiesen, bzw. in Art und Ausführung vorgegeben sein. Darüber hinaus müssen die statischen Nachweise der Rohre (siehe ATV-DVWK-A 127) und der Sicherung der Baugrube (siehe DIN 4124) vorliegen und auf der Baustelle inhaltlich bekannt sein. Die in der Rohrstatik genannten Lastannahmen sind Grundlage für die Ausführung auf der Baustelle und somit auch prüfrelevante Daten, die der Prüfingenieur zur Beurteilung der Bauausführung berücksichtigt. Voraussetzung für nachhaltigen Kanalbau Der Einfluss von Lastannahmen auf die Ausführungsqualität Innerhalb der RAL-Gütesicherung Kanalbau führen die vom Güteausschuss beauftragten Prüfingenieure regelmäßige Baustellenbesuche bei Gütezeicheninhabern durch. Gegenstand der Besuche von Maßnahmen in offener Bauweise ist die Prüfung der Qualifikation des Unternehmens auf der Baustelle und ob eine fachgerechte Bauausführung und Einhaltung der Technischen Regeln vorliegt und somit die Voraussetzungen für eine Einhaltung der prognostizierten Nutzungsdauer des Bauwerks gegeben ist. Voraussetzung hierfür ist ein für den konkreten Einzelfall zutreffender statischer Nachweis des Rohr- Boden-Systems und dass die Einbaubedingungen und Lastannahmen auf der Baustelle (Bettung, Verfüllung usw.) den Annahmen aus der Rohrstatik entsprechen und eingehalten werden. Bild 1: Stephan Tolkmitt gehört zu den Prüfingenieuren, die in vorgegebenen Abständen die Baustellen der Gütezeichen führenden Unternehmen besuchen. © Güteschutz Kanalbau 14 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Durch den Planer ist das Tragwerkssystem Rohr/ Boden vorzugeben, und es sind die für die statische Berechnung maßgebenden Randbedingungen der Baumaßnahme im Objektfragebogen zu benennen (ATV-DVWK-A 127, S. 41). Die statische Berechnung wird dann in der Regel durch den Rohrhersteller auf dieser Basis sowie der Rohr-Kenngrößen erstellt. Während der Ausführung muss geprüft werden, ob die tatsächlichen Randbedingungen auf der Baustelle den Annahmen in der Statik bzw. im Objektfragebogen entsprechen. Bodenart und Verkehrslast Im Arbeitsblatt ATV-DVWK-A 127 sind die Böden in Hinblick auf ihre Eigenschaften für die statische Berechnung in vier Gruppen eingeteilt (Kurzzeichen nach DIN 18 196) - siehe Tabelle 1. Außerdem werden die Rohrleitungen durch die Verkehrslasten beansprucht. Für deren Berechnung verwendet der Statiker sogenannte Regelfahrzeuge mit genormten Abmessungen und Gewichten. Darüber hinaus sind die Verkehrslasten unter Baustellenbedingungen (zum Beispiel: geringe Überschüttung) zu beachten. Einbettungsbedingungen Die Einbettungsbedingungen berücksichtigen die Einflüsse aus der Einbettung des Rohres in der Leitungszone. Die Definition der diesbezüglichen Einbettungsbedingungen B1 bis B4 entspricht sinngemäß den Überschüttungsbedingungen A1 bis A4, also: B1: Lagenweise gegen den gewachsenen Boden bzw. lagenweise in der Dammschüttung verdichtete Einbettung (ohne Nachweis des Verdichtungsgrades); gilt auch für Trägerbohlwände (Berliner Verbau). B2: Senkrechter Verbau innerhalb der Leitungszone mit Kanaldielen, die bis zur Grabensohle reichen und erst nach der Verfüllung und Verdichtung gezogen werden. Verbauplatten und -geräte unter der Voraussetzung, dass die Verdichtung des Bodens nach dem Ziehen des Verbaus erfolgt. B3: Senkrechter Verbau innerhalb der Leitungszone mit Spundwänden oder Leichtspundprofilen und Verdichtung gegen den Verbau, der bis unter die Grabensohle reicht. B4: Lagenweise gegen den gewachsenen Boden bzw. lagenweise in der Dammschüttung verdichtete Einbettung mit Nachweis des nach ZTVE-StB erforderlichen Verdichtungsgrades (nicht anwendbar bei Böden der Gruppe G4). Die Auswirkungen bezüglich des Auflagerwinkels sind in Tabelle 2 dargestellt. Überschüttungsbedingungen Bei der Grabenverfüllung oberhalb der Leitungszone werden vier Überschüttungsbedingungen unterschieden (A1 bis A4), die im Wesentlichen vom gewählten Grabenverbau abhängig sind - siehe Tabelle 3. Auch die Grabenform beeinflusst die Belastung des Rohres. Das Arbeitsblatt ATV-DVWK-A 127 unterscheidet verschiedene Grabenformen. Zur rechnerischen Abschätzung der Lasterhöhung infolge Unterrammung wird auf den Arbeitsbericht „Berechnungsansätze für die Rohrbelastung im Graben mit gespundetem Verbau“ verwiesen. Beim Einbau von Abwasserrohren in einem Stufengraben steigt der Einfluss auf die Rohrbelastung mit der Höhe der Stufe im Verhältnis zum Rohrdurchmesser. Durch eine größere Setzung auf der Seite des tieferliegenden Rohres stellt sich eine verstärkte Lastumlagerung auf das höher liegende Rohr ein. Dieser Lastumlagerungseffekt tritt auch dann ein, wenn das untere Rohr vorher in einem eigenen Graben separat eingebaut wurde und das obere Rohr etwas später in einem neuen Bauabschnitt eingebaut wird. Rohrwerkstoff Je nach Zusammenwirken von Rohrsteifigkeit und Bodenverformung werden Rohre als biegesteif oder biegeweich bezeichnet. Biegesteif sind Rohre, bei denen die Belastung keine wesentlichen Verformungen hervorruft und damit keine Auswirkung auf die Druckverteilung hat. Biegeweich sind Rohre, deren Verformung die Belastung und Druckverteilung wesentlich beeinflusst, da der Boden Bestandteil des Tragsystems ist. Infolge der unterschiedlichen Verformungsfähigkeit des Rohres und des umgebenden Bodens lagern sich die errechneten Bodenspannungen um. Allgemein gilt der Merksatz „Ein steifes Rohr zieht die Lasten an, ein weiches Rohr weicht der Belastung aus.“ Die Druckverteilung am Rohrumfang ist abhängig von der Ausbildung des Tabelle 1: Einfluss der Bodenart auf die Rohrbelastung. © Güteschutz Kanalbau Bereich Auswirkung Bodenart anstehender Boden, Boden unter dem Rohr ungünstiger günstiger G4 G3 G2 G1 Leitungszone ungünstig günstiger G3 G2 G1 Überschüttung günstiger ungünstiger G3 G2 G1 Bedingung Auswirkung 2 = 180° günstiger ungünstiger 2 = 120° 2 = 90° Tabelle 2: Einfluss des Auflagerwinkels auf die Rohrbelastung. © Güteschutz Kanalbau 15 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Optigrün international AG | optigruen.de Stadtklima-Retter planen Gründächer Dachbegrünungen kompensieren die Flächen- Dachbegrünungen kompensieren die Flächenversiegelung, speichern und verdunsten versiegelung, speichern und verdunsten Niederschlagswasser und entlasten dadurch Niederschlagswasser und entlasten dadurch die Kanalisation. die Kanalisation. Gleichzeitig sorgen sie für ein angenehmeres Gleichzeitig sorgen sie für ein angenehmeres Stadtklima und mildern den Hitzeinseleffekt. Stadtklima und mildern den Hitzeinseleffekt. Auflagers, von der Verfüllung der Leitungszone sowie vom Verformungsverhalten der Rohre. Das Arbeitsblatt ATV-DVWK-A 127 definiert unterschiedliche Auflagerreaktionen oder Lagerungsfälle. Grabenverbau Durch Vorgabe der Einbettungs- und Überschüttungsbedingungen wird in der Statik zum Beispiel der Einfluss der Grabensicherung auf die Belastung der Rohre berücksichtigt. Silowirkung Die Erdlasten werden als Bodenspannung in der Ebene des Rohrscheitels berechnet. Die möglicherweise entstehenden Reibungskräfte zwischen Grabenverfüllung und Grabenwand können unter bestimmten Randbedingungen zur Entlastung dieser Spannungen führen (horizontaler Erddruck). Sie werden in der statischen Berechnung berücksichtigt und können wesentlich zur Entlastung der Rohre beitragen. Diese Berechnungsmethode ist jedoch nur ansetzbar, wenn die Grabenwände auf Dauer erhalten bleiben (ATV- DVWK-A 127). In der Praxis kann dies jedoch vom Unternehmen nicht sichergestellt werden, da es zukünftige Bautätigkeiten im Bereich des Kanalgrabens nicht beeinflussen kann. Auch für den Auftraggeber ist eine solche Zusage nur eingeschränkt möglich. Fazit Die Bedeutung der im Vorfeld getroffenen Annahmen für die Rohrstatik wird in der Praxis häufig unterschätzt. Nur wenn sichergestellt ist, dass die Eingangsgrößen der Rohrstatik den Gegebenheiten in der Praxis entsprechen, ist die Rohrstatik für die konkrete Maßnahme relevant. Die Übereinstimmung der Annahmen in der Statik mit den tatsächlichen Einbaubedingungen ist daher zu prüfen. Im Rahmen der Eigenüberwachung der Unternehmen mit Gütezeichen Kanalbau RAL-GZ 961 werden Arbeitshilfen zur Verfügung gestellt, mit denen systematisch die Übermittlung der Sollwerte auf die Baustelle, die Dokumentation der Istwerte sowie der Abgleich von Soll/ Ist erfolgen kann. So etwa in Form des „Leitfadens für die Eigenüberwachung AK Kanalbau in offener Bauweise“. Darüber hinaus stellt die Gütegemeinschaft Kanalbau den ausführenden Unternehmen eine Arbeitshilfe zur Beurteilung der Randbedingungen und zur Einschätzung erforderlicher, relevanter Angaben zur Verfügung. Die Durchführung der Eigenüberwachung und insbesondere die Kontrolle der Lastannahmen werden durch die Prüfingenieure bei den Baustellenbesuchen innerhalb der RAL-Gütesicherung geprüft. Tabelle 3: Einfluss der Überschüttungsbedingungen auf die Rohrbelastung. © Güteschutz Kanalbau Bedingung Auswirkung A4 günstiger ungünstiger A1 A2 A3 RAL-Gütegemeinschaft Güteschutz Kanalbau Bad Honnef E-Mail: info@kanalbau.com www.kanalbau.com KONTAKT 16 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Ein Sonderfall mit Versickerung ganz ohne Sickermulde ist der Kindergarten St. Martin in Bad Saulgau-Braunenweiler. Im Frühjahr 2020 wurde hier mit dem zweiten Bauabschnitt der Kita eine Versickerungsanlage komplett unterirdisch gebaut. Voraussetzung dafür ist nach den strengen baden-württembergischen Anforderungen ein vorgeschalteter, bauartzugelassener Filterschacht. Alternative Versickerungs- Lösungen Die Baugrunduntersuchung ergab, dass bis in eine Tiefe von 2 m die auf dem Grundstück anstehenden Böden für eine Versickerung von Niederschlagsabflüssen nur eingeschränkt geeignet sind. Das bedeutet: Austausch der nicht versickerungsfähigen Bodenschicht, Anlegen einer Mulde mit maximal 30 cm Einstautiefe und Reinigung des Regenwassers durch die bewachsene Bodenschicht an der Oberfläche. Damit wären allerdings große Teile des Gartengeländes in Anspruch genommen worden. Bei korrekter Planung und Ausführung steht in bewachsenen Mulden spätestens nach 24 Stunden kein Wasser mehr, als Dauer-Spielfläche dürfen sie jedoch auch im trockenen Zustand nicht genutzt werden. Der Boden würde verdichtet, der Bewuchs zertreten. Die schnelle Aufnahmefähigkeit für Wasser und die Reinigungsfähigkeit durch das Zusammenspiel von Organismen und Substrat in den oberen Zentimetern des Mutterbodens wären nicht mehr ideal. Bei Starkregen könnten daraus Überflutungen resultieren oder Überläufe in den Kanal, die in der dann erreichten Dimension weder geplant noch gewünscht sind. Ein Mulden-Rigolen-System wäre bei einem anderen Gebäude an derselben Stelle die richtige Wahl gewesen. Doch für die Betreiber des Kindergartens war die Entscheidung klar, als die Wahl Spielflächen statt Sickermulden Sickertunnel und Filterschacht im Untergrund, preiswert durch Betonfertigteile Regenwasserbehandlung, Versickerungstechnik, Schadstoffbelastung, Filtertechnik Klaus W. König Für die Versickerung des Regenwassers sind bewachsene Mulden die erste Wahl. Der Reinigungseffekt durch den darunter liegenden Oberboden ist ausreichend, wenn der Niederschlag unbelastet ist. Die Ausführungskosten sind moderat, eine Erlaubnis der Wasserbehörde ist oft nicht erforderlich. Damit haben GaLaBau-Betriebe seit mehr als einem Jahrzehnt ein zusätzliches und wenig kompliziertes Betätigungsfeld. Doch was tun, wenn die Aufgabe vom Regelfall abweicht? © Frauke Riether auf Pixabay PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur 17 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur bestand zwischen Sickermulden oder Spielflächen für die Kinder. Ähnlich bei Einkaufszentren und innerstädtischen Geschäftshäusern: Für Sickermulden ist nicht genügend Platz und meist auch zu wenig Schutz gegeben. Und aus Sicht der Betreiber wird die komplette Oberfläche als Parkplatz für Kunden und Mitarbeiter benötigt. Genau für diese Fälle wurden Filterschächte entwickelt, mit denen Regenabflüsse von Dach- und Verkehrsflächen weitestgehend gereinigt werden können. Haben solche Produkte ein Prüfzeichen des Deutschen Instituts für Bautechnik (DIBt), dann werden sie von der unteren Wasserbehörde als geeignet anerkannt, sofern die Planer im Entwässerungsgesuch die gesetzlichen Rahmenbedingungen einhalten und die Bemessung gemäß den Regeln der Technik vornehmen. Unterirdischer Filterschacht ViaPlus Im speziellen Fall in Bad Saulgau wird nur das Regenwasser der Dachflächen unterirdisch versickert. Die Dachdeckung besteht aus Ziegeln, einem in Hinblick auf die Auslösung von Schadstoffen völlig unbedenklichen Material. Dachrinnen und Fallrohre sind bei dieser Betrachtung von untergeordneter Bedeutung. Dies gilt selbst für die Werkstoffe Kupfer und Zink, die dabei üblicherweise verwendet werden und Schwermetalle in nur geringer Dosierung abgeben. Wegen der in Baden-Württemberg kritischen Haltung der Wasserbehörden bei Versickerung ohne bewachsenen Oberboden wurde zwischen Dachablauf und unterirdischer Sickerrigole vorsorglich ein „Alleskönner“ eingeplant: der Mall-Substratfilter ViaPlus. Er kann Schwermetalle herausfiltern, aber auch mineralische Kohlenwasserstoffe und kleinste Partikel wie zum Beispiel Mikroplastik von Reifenabrieb - alles Stoffe, die von stark frequentierten Parkplätzen, nicht jedoch von der Dachfläche der Kindertagesstätte, in relevanten Mengen zu erwarten sind. „Trotzdem die richtige Entscheidung“, meint Dipl.-Ing. Stephan Klemens, Entwicklungsleiter des Herstellers Mall. „Ist laut DIBt-Zulassung das Filtersubstrat bei extremer Beanspruchung durch Regenabfluss von stark frequentierten Verkehrsflächen nach vier Jahren zu wechseln, so kann es bei der Kita in Bad Saulgau wegen der geringen Schadstoffbelastung des Dachwassers um ein Vielfaches länger genutzt werden“. Cavi ist lateinisch, der Plural von Cavum, und bedeutet Ummantelung, Höhlung. Sickertunnel CaviLine lassen sich nicht nur linienförmig, wie in Bad Saulgau, sondern auch im Parallelbetrieb flächenförmig anordnen und sind als Gesamtanlage beliebig erweiterbar. Vorteilhaft für den Baufortschritt sind die herstellerseitige Regelstatik des Sickertunnels und die termingerechte Lieferung. Das erleichtert die Arbeit für Planer, Bauleiter und Ausführungsbetrieb vor Ort. In der Folge sind die Kosten der Investition geringer als bei vergleichbaren unterirdischen Varianten. Die spätere Wartung beschränkt sich, obwohl die Sickertunnel zugänglich und begehbar sind, auf den Filterschacht. Das verringert die Betriebskosten. Und eine Beanspruchung des Oberbodens als Filtermedium für Schadstoffe, wie bei Sickermulden üblich, findet nicht statt. Mall-Sickertunnel CaviLine aus Stahlbeton sind damit stabile, platzsparende und kostengünstige Lösungen zur Versickerung von Regenwasser. KÜNSTLICHE HÖHLE, MIT SLW 60 BEFAHRBAR Ein Betriebsbuch für die Bauherrschaft zum Nachweis ausgeführter Wartungen gehört zum Lieferumfang solcher Filter bei Mall. Es enthält die Betriebs- und Wartungsanleitung, die Zyklen der Wartung (12 Monate) und Eigenkontrollen (3 Monate) sowie Formulare zur Betriebsdokumentation. Ein korrekt geführtes Buch dient als Nachweis des ordnungsgemäßen Betriebs in Bezug auf Durchsatz und Stoffrückhalt gegenüber der Wasserbehörde. Falls der Betreiber keine sachkundige bzw. eingewiesene Person für die genannten Tätigkeiten stellt, kann er Mall mit dieser Dienstleistung beauftragen. „Eines der Pilotobjekte mit dem Vorgänger dieses Filterschachts“, Bild 1: Versetzen des Filterschachts ViaPlus vom Kran des Lieferfahrzeugs in die vorbereitete Baugrube. © König 18 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur so Klemens, „war ein Neubau des Bundesministeriums für Umwelt in der Stresemannstraße, im Zentrum von Berlin. Das war bereits 2011, nachdem wir erstmals die allgemeine bauaufsichtliche Zulassung für den Substratfilter Via- Plus erhalten hatten“. Unterirdischer Sickertunnel CaviLine Das unterirdische Rigolensystem aus Stahlbetonhalbschalen dient der Versickerung von Regenwasser. Es besteht bei der Kita in Bad Saulgau aus vier vorgefertigten Teilen mit je 2,50 m Länge, 2,70 m Breite und 1,25 m lichter Höhe. Das Stauvolumen wird nach dem Arbeitsblatt DWA- A 138 ermittelt. Dafür sind zwei Faktoren entscheidend: Einerseits die im Verlauf eines Starkregens anfallende Wassermenge laut den lokalen Starkregendaten aus dem KOSTRA-DWD-Atlas. Andererseits die Wassermenge, die über die Sickerfläche abgeleitet werden kann. Hierbei ist die Sickergeschwindigkeit im anstehenden Boden, der kf-Wert, entscheidend. Das erforderliche Rigolenvolumen ergibt sich aus der Differenz von Niederschlags- und Versickerungsvolumen bei vorgegebener Jährlichkeit des Regenereignisses. Modulartig aneinandergereiht werden die Elemente direkt auf etwa 15 cm sickerfähigen Kiessand oder auf Split 2/ 8 mm gesetzt. Bevor die Verfüllung beginnt, wird die gerundete Oberseite des Tunnels mit Geotextil abgedeckt, der Domschacht für den Einstieg bis zur Geländehöhe aufgesetzt und die Zulaufleitung vom Filterschacht zum Sickertunnel verlegt. Bei der Kita in Bad Saulgau waren dank guter Vorbereitung und reibungslosen Ablaufs sämtliche Fertigteile des Filters und des 10- m langen Sickertunnels in zwei Stunden Aus unserer unmittelbaren Umgebung gelangen winzige Plastikpartikel ins Meer - und über die Nahrungskette zu uns zurück. Weltweit verteilt belastet Mikroplastik Luft, Boden und Wasser. Bei der Suche nach dessen Herkunft gerät Reifenabrieb in den Fokus. Und der Regenabfluss von Straßen, Parkplätzen, Industrie- und Gewerbeflächen bietet die Möglichkeit, einiges davon zurückzuhalten, zum Beispiel durch Substratfilter. ViaPlus-Anlagen werden horizontal durchflossen und haben einen eigenen Sedimentationsraum vor dem Filter- und Adsorptionselement. Sie sind speziell auf den Rückhalt von abfiltrierbaren Stoffen wie Reifenabrieb, aber auch von Schwermetallen und Mineralölkohlenwasserstoffen ausgelegt, sind vom Deutschen Institut für Bautechnik auf Leistung und Umweltverträglichkeit geprüft und haben eine allgemeine bauaufsichtliche Zulassung für die direkte Versickerung des Regenwasserablaufs von stark verschmutzten Verkehrsflächen. Diese Behandlungsmethode ist ebenfalls geeignet, wenn die Ableitung des Regenwassers in Oberflächengewässer erfolgt. SUBSTRATFILTER MACHEN AUCH MIKROPLASTIK DINGFEST Bild 2: Versetzen des Sickertunnels CaviLine. Das letzte der vier Tunnelteile kann direkt vom Kran des Lieferfahrzeugs aus eingepasst werden. © König Bild 3: Dimensionierung von Sickerfläche und Retentionsvolumen des unterirdischen Sickertunnels CaviLine. © Mall 19 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur versetzt und mit den erforderlichen Leitungen verbunden. Dies haben ein Baggerführer und zwei Mitarbeiter des städtischen Bauhofs erledigt. Hohlkörperrigolen, flach und oberflächennah Grund zur Entwicklung dieses im Jahr 2020 neu auf den Markt gekommenen Produktes CaviLine ist laut Herstellerangaben seine flache und oberflächennahe Bauweise. Die zylindrischen, liegenden Halbschalen ergeben ein sehr gutes Verhältnis zwischen Hohlkörpervolumen und Sickerfläche. Das bedeutet günstige Baukosten. In Kombination mit Behandlungsanlagen, wie zum Beispiel ViaPlus, eignen sich solche Sickertunnel als „Linienentwässerung“ von Dach- und Verkehrsflächen. Sie könnten sogar wie Kanäle unmittelbar und in beliebiger Länge unter Straßen eingebaut werden - und das mit relativ geringer Überdeckung, also mit wenig Aushub nahe an der Oberfläche. Hohlkörperrigolen des Typs CaviLine haben gegenüber den gebräuchlichen Füllkörperrigolen Vorteile durch den Werkstoff Stahlbeton. Sie sind damit statisch bestimmt, standsicher, bis SLW 60 belastbar und kommen auch bei großen Hohlräumen ohne innere Aussteifungen aus. Die Innenhöhe von 1,25 m gilt nach der Definition der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) als „begehbar“. Die Inspektion ist damit unkompliziert, braucht keine spezielle technische Ausrüstung, keine Kamerabefahrung. Der Einstieg, falls nötig, erfolgt durch den Domschacht. Nicht erforderlich ist eine regelmäßige Wartung, sie beschränkt sich auf den Filterschacht. Projektleitung Im Fachbereich 3 „Bauen und Planen“ der Stadtverwaltung Bad Saulgau ist auch die Abteilung Hochbau angesiedelt. Von dort aus wurde der Neubau der Kindertagesstätte im Stadtteil Braunenweiler realisiert. Architektin Fabiola Merkt war die verantwortliche Projektleiterin der Bauherrschaft und zusammen mit dem Eigenbetrieb Abwasser der Stadt Bad Saulgau zuständig für alle Leistungsphasen der Versickerungsanlage. WEITERE INFORMATIONEN • Ratgeber Regenwasser. Für Kommunen und Planungsbüros. Rückhalten, Nutzen, Versickern und Behandeln von Regenwasser im Siedlungsgebiet. Hrsg.: Mall GmbH, Donaueschingen, 8. Auflage, 2020. • Regenwasserbewirtschaftung und Niederschlagswasserbehandlung, Planerhandbuch. (Hrsg.: ) Mall GmbH, Donaueschingen, 2020. • https: / / www.mall.info/ produkte / re genw a s s er be w ir t s c h aftung/ Dipl.-Ing. Klaus W. König Fachjournalist, Lehrbeauftragter an der ESB Business School der Hochschule Reutlingen, öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger für Bewirtschaftung und Nutzung von Regenwasser kwkoenig@koenig-regenwasser.de AUTOR Bild 5 (rechts): Sickertunnel CaviLine aus Stahlbetonfertigteilen. Eine begehbare Hohlkörperrigole, statisch bestimmt, standsicher, bis SLW 60 belastbar und ohne innere Aussteifungen, als Gesamtanlage beliebig erweiterbar. © Mall Bild 4 (links): Substratfilter ViaPlus aus Stahlbetonfertigteilen mit einem eigenen Sedimentationsraum vor dem Filter- und Adsorptionselement, die das zu reinigende Wasser horizontal durchfließt. © Mall 20 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Beschreibung von VertiKKA: VertiKKA ist ein Modul, das die Elemente Fassadenbegrünung, Grauwasserreinigung und Energieerzeugung durch Photovoltaik verbindet. Die angestrebten positiven Auswirkungen von VertiKKA liegen in der Kombination der Einzelvorteile von Fassadenbegrünungssystemen (zum Beispiel: gesteigerte Kühlungs- und Dämmwirkung, Verbesserung von Luftqualität und Feinstaubbindung, Reduktion der Lärmbelastung) und der Erzeugung von erneuerbarem Strom durch PV. Bei der Bewässerung mit Grauwasser kann dieses gereinigt, Nährstoffe recycled und Trinkwasser (im Vergleich zu einer Fassadenbegrünungs- Bewässerung mit Trinkwasser) eingespart werden. Zusätzlich will VertiKKA folgende Synergieeffekte ausnutzen: Schutz der Pflanzen vor extremen Witterungsbedingungen durch die PV-Module; höhere PV-Stromerträge durch Kühlungseffekte der Pflanzen; ständige Verfügbarkeit von getrennt erfasstem Grauwasser für die Bewässerung der Fassadenbegrünungsmodule und dadurch ständige Verfügbarkeit von gereinigtem Grauwasser. Im Detail unterscheidet sich VertiKKA von bereits vorhandenen Fassadenbegrünungssystemen oder gebäudeintegrierter Photovoltaik. VertiKKA ist als autarke Einheit mit geringem Wartungsaufwand konzipiert und wird als „angelehnt-stehende“ Variante mit einem Trägergerüst an der Fassade fixiert. Die Photovoltaik- Elemente sind bewegliche, semitransparente, bifaziale PV-Module. Momentan wird an mehreren PV-Modulen geforscht: Glas-Glas- Modulen, Folien-Modulen sowie eine Kombination aus beiden. In normalem Zustand sind sie geöffnet, verschatten die Pflanzen und schützen sie so vor zu starker Sonneneinstrahlung. Bei Starkregenereignissen oder extremen Wetterbedingungen schließen sie sich zu einer geschlossenen Fassade vor der Begrünung. Somit trägt die Photovoltaik zu einem geringeren Wartungsaufwand der Pflanzwand nach extremem Wetter bei. Bewässert wird mit getrennt erfasstem, vorgereinigtem Grauwasser. Das Prinzip bei der Reinigung des Grauwassers entspricht einer Tropfkörperanlage bzw. einem Biofilter. Im VertiKKA-Projekt werden gerade verschiedene Reinigungssubstrate getestet. So werden Substrate aus Pflanzenkohle verschiedener Ausgangs- Vertikale Klima-Klär-Anlage Grauwasserreinigung und -nutzung durch Fassadenbegrünung Fassadenbegrünung, Grauwasserreinigung, Fassaden-PV, Stadtklima, urbanes Abwassersystem Vera Middendorf, Nadja Becker, Matthias Schulz Verdichtete Städte führen in Kombination mit dem Klimawandel zu vielen Herausforderungen. Erwärmungseffekte („urban heat island effect“), wenig Platz für blau-grüne Infrastruktur und die Überlastung der urbanen Abwasserstruktur bei Extremwetterereignissen sind nur einige davon. Im Rahmen des BMBF-Förderprogramms „Ressourceneffiziente Stadtquartiere“ entwickeln neun Partner derzeit VertiKKA, eine Vertikale Klima-Klär-Anlage. VertiKKA möchte die Komponenten Fassadenbegrünung und Photovoltaik (PV) mit neuartigem Abwassermanagement zu einer platzsparenden, multifunktionalen Gesamtlösung für urbane Räume kombinieren. Bild 1: Konzept kreislauforientiertes Abwassermanagementsystem über VertiKKA. © Middendorf et al., in Anlehnung an Maier, K. et al. 2017 [1] Dünger VertiKKA Grauwasser Schwarzwasser Biomasse & Co-Substrate Strom & Wärme Energie Landwirtschaft Biogasanlage Betriebswasser Siedlung 21 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum stoffe und Blähglasgranulat eingesetzt. Die Begrünung besteht aus einem Vlies-Substrat-System, bei dem eine umfassende Pflanzenauswahl je nach Standortbedingungen und anderen Präferenzen möglich ist. Die smarte Steuerung und Überwachung von PV und Bewässerung wird über Sensorik je nach äußeren Bedingungen gewährleistet. Insgesamt soll die VertiKKA als innovatives GI-Konzept die Ressourceneffizienz, Lebensqualität und Klimaanpassung urbaner Räume verbessern und so einen Beitrag leisten zur nachhaltigen Stadtentwicklung und zur Erreichung der Sustainable Development Goals (SDGs). Um dies zu belegen, wird die technische Entwicklung begleitet von einer umfassenden und ganzheitlichen Nachhaltigkeit suntersuchung. Diese enthält die Bewertung und Darstellung der ökologischen, ökonomischen und sozialen Effekte, die für Fassade, Gebäude, Quartier und Stadt von der VertiKKA ausgehen. Ferner leistet die VertiKKA einen Beitrag für das Neudenken von Abwassermanagementsystemen. Neue urbane Entwässerung Da VertiKKA mit Grauwasser bewässert wird, ist eine Abwassertrennung in Grau- und Schwarzwasser bereits am Entstehungsort notwendig. Das Grauwasser wird das ganze Jahr über die Fassade gereinigt und steht danach zur Bewässerung des Gartens, von Grünanlagen oder für die Toilettenspülung wieder zur Verfügung. Das Wasser wird also nicht abgeführt, sondern im Sinne einer Schwammstadt vor Ort gebraucht, verdunstet und versickert. Das hat den positiven Nebeneffekt, dass der Überhitzung der Städte mit der Erzeugung von Verdunstungskälte über VertiKKA entgegengewirkt wird. Außerdem können die Nährstoffe, die im Grauwasser enthalten sind, direkt an den Wänden in Pflanzenwachstum umgewandelt werden. Das anfallende Schwarzwasser kann zum Beispiel zusammen mit Küchenabfällen lokal gesammelt und über eine Unterdruckleitung in eine dezentrale Biogasanlage eingespeist werden. Das energiereiche Schwarzwasser wird zur lokalen und erneuerbaren Energieproduktion genutzt. Die gewonnene Wärme und der Strom können im Quartier sofort genutzt werden. Der anfallende Gärrest aus der Biogasanlage wird als Dünger direkt auf landwirtschaftliche Felder ausgebracht, sodass die darin enthaltenen Nährstoffe im Sinne einer Kreislaufwirtschaft wieder in Biomasse umgewandelt werden können. So werden die Nährstoffe und Eigenschaften der verschiedenen Abwässer optimal genutzt. Einen zusätzlichen Effekt bringt die Entlastung der Abwasserkanäle. Durch die dezentrale Nutzung der Grau- und teilweise auch Schwarzwasserströme werden unterirdische Stauräume frei, die bei Starkregenereignissen dazu dienen, Überschwemmungen zu vermeiden. Daneben können die Stauräume etwa auch Platz für Transportleitungen bieten. VertiKKA trägt somit zu einem Neudenken beim urbanen Abwassermanagement bei. Vision Wie würde demnach eine klimaresilliente Stadt aussehen? Die Stadt ist grün: VertiKKA ist Teil einer lebenswerten Stadt, die durch viel Stadtgrün - Parks, Bäume, aber auch Fassadenbegrünung - der urbanen Überhitzung entgegenwirkt. Die Stadt ist blau: Abwässer werden vor Ort getrennt und darin enthaltene Nährstoffe effizient genutzt. Die Stadt ist gelb: Energieproduktion geschieht lokal direkt an den Wänden durch Photovoltaik-Strom und in den Biogasanlagen, die mit Schwarzwasser und Küchenabfällen gefüttert werden. Die Stadt ist vernetzt: Die Notwendigkeit für künstliche Dünger entfällt, die Abwassersysteme werden entlastet und können den unterirdischen Raum für andere Nutzungsformen (etwa Transportleitungen und/ oder Stauraum für Starkregenereignisse) überlassen. Das Leben in der Stadt ist bezahlbar: Der öffentliche ökologische und soziale Nutzen der VertiKKA auf Quartiers- und Stadtebene wird durch öffentliche Fördergelder kompensiert, so dass sich der Betrieb einer VertiKKA auch wirtschaftlich darstellen lässt. QUELLEN: [1] Maier, K., Wolf, M., Londong, J.: Die Neuorganisation der ländlichen Abwasserentsorgung. In: Wasserwirtschaft, Wassertechnik 67, 7 - 8, (2017) 34 - 37. Vera Middendorf Björnsen Beratende Ingenieure GmbH Kontakt: v.middendorf@bjoernsen.de Matthias Schulz Björnsen Beratende Ingenieure GmbH Kontakt: m.schulz@bjoernsen.de Nadja Becker IZES gGmbH Kontakt: becker@izes.de AUTOREN 22 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Mit Strukturvielfalt höhere Artenvielfalt erreichen Dachbegrünungen vereinen eine Vielzahl positiver Wirkungen. Eine der vielleicht wichtigsten und verständlichsten Argumente „pro Gründach“ ist die Funktion als „ökologischer Ausgleich“ bzw. „Minderungsmaßnahme“. Zur Biotopvernetzung und als Erhalt der Artenvielfalt, insbesondere in der Stadt, können begrünte Dächer je nach Ausbildung Funktionen als Ersatzlebensraum, Trittsteinbiotop und teilweise als Ausgleichsfläche übernehmen. Arten- und strukturreiche Biodiversitätsgründächer können als Minderungsmaßnahme für den Eingriff in die Natur anerkannt werden. Gründach ist nicht gleich Gründach - je nach Aufbauhöhe und Vegetation unterscheidet man grundsätzlich zwischen den beiden Begrünungsarten Extensiv- und Intensivbegrünung. Die Übergangsform wird als „Einfache Intensivbegrünung“ bezeichnet. Die Höhe des Schichtaufbaus (Dränage und Substrat) und die damit verbundene Wasserspeicherfähigkeit gibt vor, welche Vegetationsformen sich daraus bilden. Diese nehmen unter anderem auch Einfluss auf die Lebensraumqualität für Tiere. In Abhängigkeit von Begrünungsart und Vegetationsformen sind folgende Charakteristika hinsichtlich der Tierwelt zu beobachten: von der „Moos-Sedum-Begrünung“ (extensiv) bis zur „Hohe Stauden- und Sträucher-Begrünung“ (intensiv) ist ein kontinuierlicher Anstieg der Bodentierarten (Asseln, Schnecken, Regenwürmer, Hundert- und Tausendfüßer) zu verzeichnen. Das Extrembiotop „Extensivdach“ wird oftmals nur temporär von sehr mobilen Tierarten (Spinnen, Heuschrecken, Wildbienen und weiteren „Fluginsekten“) besiedelt und unterliegt einer hohen Besiedlungsdynamik und fortlaufenden Zu- und Abwanderungsprozessen. Die meisten Tierpopulationen bei Extensivbegrünungen sterben aufgrund des winterlichen Durchfrierens des Substrates bzw. aufgrund der sommerlichen Trockenheit aus und müssen im Folgejahr das Dach neu besiedeln. Dagegen finden alle Tiere, also auch die großen Bodentiere, auf Intensivbegrünungen bessere Lebensbedingungen hinsichtlich Nahrung und Habitaten. Temperatur- und Feuchteverhältnisse sind relativ ausgeglichen, und durch die hohen Substratschichten sind auch im Winter frostfreie Rückzugsmöglichkeiten gegeben. Auch für Vögel kann das Gründach ein idealer, da vor Katzen, Hunden, Füchsen und anderen Fressfeinden geschützter Rückzugsraum für Nahrungsaufnahme und Brutpflege sein. Extensivbegrünungen mit Anhügelungen und Einfache Intensivbegrünungen mit einer Wildstauden-Gehölze-Vegetation weisen aufgrund ihrer hohen Struktur- und Habitatvielfalt die höchste Zahl an Tierarten auf, sowohl bei der Bodenfauna als auch bei Laufkäfern und Wildbienen. Je artenreicher die Vegetationsform, desto höher ist die Artenvielfalt. Die Artenzahlen der verschiedenen Bodentiergruppen sind bei bestimmten Dachbegrünungen durchaus mit den Werten anderer Stadtbiotope vergleichbar. Das Biodiversitätsgründach Trittsteinbiotop, Lebensraum und Beitrag zum Artenschutz Dachbegrünung, Biodiversität, Stadtbiotope Gunter Mann Neben der aus aktuellem Anlass im Blickpunkt stehenden Punkte Überflutungs- und Überhitzungsvorsorge spielen immer noch „Artenschutz“ und „Biodiversität“ eine große Rolle. Es wird zwar viel über Artenvielfalt und „Biodiversitätsgründächer“ gesprochen, die Umsetzungsrate ist allerdings noch viel zu gering. Immerhin hat sie in den letzten Jahren, aufgrund von kommunalen Vorgaben, auffällig zugenommen. Im vorliegenden Beitrag sollen die wichtigsten Aspekte von Biodiversitätsgründächern erläutert werden. Bild 1: Artenreiche Dachbegrünung als Minderungsmaßnahme für Eingriffe in die Natur. © BuGG 23 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Wie wichtig Rückzugsbereiche für frost- und trockenheitsempfindliche Bodentiere sind, zeigen die Untersuchungsresultate der mit Anhügelungen aufgewerteten Extensivbegrünungen: Der Anteil der Dächer mit Bodentieren steigt im Vergleich zu dünnschichtigen Extensivbegrünungen deutlich an. Mit höher werdendem Substrataufbau und der damit verbundenen steigenden Vegetationsausprägung und Pflanzenhöhe steigt auch die Wahrscheinlichkeit, Bodentiere zu finden. Analog mit der Wahrscheinlichkeit, überhaupt Bodentiergruppen zu finden, steigt auch die Anzahl der gefundenen Arten. Durch das dauerhafte Vorkommen größerer Bodentierpopulationen erhöht sich das Ressourcenspektrum einer Dachbegrünung um mögliche Beutetiere für andere Tiere in der Nahrungspyramide. Definition „Biodiversitätsgründach“ Unter einem „Biodiversitätsgründach“ ist eine Dachbegrünung mit hoher Struktur- und Artenvielfalt zu verstehen, die Tieren weitere Lebensräume bieten. Durch eine erhöhte Struktur- und Pflanzenvielfalt auf dem Dach wird die Artenvielfalt der Fauna nachhaltig gefördert. Vereinfacht dargestellt, gibt es zu den „Biodiversitätsgründächern“ zwei Varianten, ausgeprägt als: Höherwertige Extensivbegrünung Einfache Intensivbegrünung In der Regel geht man bei einem „Biodiversitätsgründach“ von einer extensiven Dachbegrünung aus, die durch verschiedene Maßnahmen aufgewertet ist. Es können auch Intensivbegrünungen eine hohe Artenvielfalt aufweisen, wenn sie gezielt mehr auf die Tiere und weniger auf den Menschen ausgerichtet sind - was durch Pflanzenauswahl und Nutzungsart erreicht wird. Fazit: Artenreiche Dachbegrünung plus Biodiversitätsbausteine gleich „Biodiversitätsgründach“. Vegetationstechnik und Gründachschichtaufbau Der Basis-Aufbau eines kostengünstigen Biodiversitätsgründaches in Form einer mehrschichtigen Extensivbegrünung mit einer Gesamtaufbauhöhe von 10 - 15 cm sieht wie folgt aus: etwa 2 - 4 cm Dränschicht (Kunststoff- oder Schüttgüterdränage) Filtervlies etwa 6 - 12 cm Vegetationstragschicht Sedum-Gras-Kraut-Vegetation Der Basisaufbau von 10 - 15 cm wiegt im wassergesättigten Zustand etwa 120 - 180 kg/ m² und kann sowohl auf Dächern mit und ohne Gefälle eingesetzt werden. Schon allein dieser Aufbau bietet (gegenüber einer einfacheren Sedum-Begrünung) neben den vielen positiven Wirkungen (unter anderem Regenwasserrückhalt, Kühleffekte, Hitze- und Kälteschutz, Lärmminderung) ein sehr gutes Kosten-Nutzen- Verhältnis und lässt zudem viele Gestaltungsmöglichkeiten und eine große Artenvielfalt zu. Sind die statischen Möglichkeiten gegeben, sind höhere Gründachaufbauten zu befürworten. Um die ökologische Wertigkeit noch zu erhöhen, sind weitere Maßnahmen in Form von „Biodiversitätsbausteinen“ zu ergänzen. Werden dabei Substratanhügelungen verwendet, sind folgende zusätzliche Lasten zu berücksichtigen: pro Zentimeter Substrat fallen je Quadratmeter etwa 12 - 14 Kilogramm an. Andere Biodiversitätsbausteine (beispielsweise Steinhaufen) sind als zusätzliche Punktlasten statisch zu berücksichtigen. Biodiversitätsbausteine/ Habitatelemente Nachfolgend sind verschiedene Maßnahmen aufgeführt, die zu einer höheren Struktur- und damit auch zu einer höheren Artenvielfalt der Fauna führen. Die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und muss fortlaufend den Praxiserfahrungen angepasst werden. Substratmodellierungen mit Bereichen höherer Substratauflage (Substrathöhen von ca. 10 - 20 cm) für ein breiteres Pflanzenspektrum Partielle Substratanhügelung mit einer Aufbauhöhe von etwa 30 - 40 cm und Pflanzung von anspruchslosen Gehölzen (zum Beispiel: Zwergkiefer, Felsenbirne, Ginster) und Stauden als Rückzugsmöglichkeiten für frost- und trockenheitsempfindliche Bodentiere Pflanzenauswahl mit Blühzeitraum von April bis Oktober Gezielte Pflanzenauswahl (etwa spezielle Futterpflanzen für Insekten und Vögel) Bild 2 (oben): Biodiversitätsbausteine: Substratmodellierung, Totholz und Steinhaufen. © BuGG Bild 3 (unten): Artenreiche Dachbegrünung mit vielfältigen Blühaspekten als Maßnahme zum Erhalt der Artenvielfalt. © BuGG 24 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Sandflächen als weiteres Mikro-Habitat Totholz als Haufen oder Einzelstrukturen als Lebensraum, Versteck oder Nisthilfen Industriell gefertigte Nisthilfen für Insekten und Vögel Steine als Haufen oder Einzelstrukturen als Versteck oder Nisthilfe Wasserflächen. Ausprägung von kleinen „Pfützen“ bis hin zu Teichen. Meist temporär ausgebildet, das heißt: Sie füllen sich durch Niederschlagswasser. Diese können auch mit einem dauerhaften Wasserstand über automatische Wasserzufuhr (Regenbzw. Trinkwasser) angelegt werden Pflanzenauswahl Bei der Pflanzenverwendung sollte auf bewährte Pflanzenarten heimischer Herkunft geachtet werden, die als Saatgutmischung in Verbindung mit Sedumsprossen oder als Flachballenstauden ausgebracht werden. Oftmals bieten Dachbegrünungssystemanbieter geeignete Saatgutmischungen an. Diese Artenzusammenstellungen haben sich auf dem Extremstandort „Dach“ bewährt und sind aufgrund von Erfahrungen vieler Jahrzehnte entstanden. Durch wissenschaftliche Untersuchungen untermauert und dank besserer Verfügbarkeit auch besser umsetzbar, bietet der Einsatz gebietseigener Wildpflanzen (aus zertifiziertem Regiosaatgut, samenhaltigem Mahdgut oder Rechgut aus regionaltypischen Magerrasen) weitere Möglichkeiten naturnaher Dachbegrünungen. Regionale Saatgutmischungen werden auch immer häufiger von kommunaler Seite aus vorgeschrieben. Zu bedenken ist, dass diese Mischungen zwar auch auf den vorgenannten „klassischen“ Gründachaufbauten mit Substraten nach den FLL-Dachbegrünungsrichtlinien und den „üblichen“ Aufbauhöhen aufgebracht werden können, sich jedoch ein anderes Vegetationsbild im ersten Jahr und den Folgejahren zeigen wird, als wir es bisher (aus eigener Erfahrung oder Fachliteratur und Werbebroschüren) gewohnt sind. Es gibt einerseits eine andere Zusammensetzung aus ein- und mehrjährigen Arten und andererseits oftmals keine Langzeiterfahrungen, wie sich die Vegetation auf dem Dach bei relativ geringen Vegetationstragschichten (gegenüber dem gewachsenen Boden) entwickeln wird. Das heißt auch, dass wir uns mit neuen Pflegekonzepten beschäftigen müssen, was in diesem Beitrag nicht vertieft wird. Zusammenfassung Fast jedes Gründach kann mit relativ geringem Mehraufwand artenreicher ausgebildet werden, auch wenn es nicht zwingend gleich als „Biodiversitätsgründach“ gelten muss. Auch wenn es dazu keine klare Definition gibt, so ist damit dennoch eine Dachbegrünung mit auffällig hoher Struktur- und Artenvielfalt und besonderen Ausstattungselementen (zum Beispiel: Substratanhügelungen, Nisthilfen, Wasserflächen) gemeint. Je struktur- und pflanzenartenreicher ein Dach ist, desto artenreicher ist seine Tierwelt. Die BuGG-Fachinformation „Biodiversitätsgründach“ mit Grundlageninformationen ist zu finden unter: www.gebaeudegru e n . info/ s er v i ce / do wnlo a d s / bugg-fachinformation Im dritten Quartal des Jahres erscheint die Neufassung mit vielen Praxisbeispielen. QUELLEN • BuGG: BuGG-Fachinformation Biodiversitätsgründach. - Bundesverband GebäudeGrün e.V. (BuGG), Eigenverlag, Berlin, 2020. • FLL: Fachbericht Bienenweid e . F o r s c h u n g s g e s e l l s c h a f t L a n d s c h a f t s e n t w i c k l u n g Landschaftsbau e. V. (FLL), Eigenverlag, Bonn, 2020. • Mann, G.: Vorkommen und Bedeutung von Bodentieren (Makrofauna) auf begrünten Dächern in Abhängigkeit von der Vegetationsform. Dissertation Univ. Tübingen, 1998. • Schröder, R., Jeschke, D.,Kiehl, K.: Wie extensive Dachbegrünung regionaltypische Biodiversität fördern kann. Gebäude-Grün 4 (2020), Patzer Verlag, Berlin. • Witt, R., Kaltofen, K.: Klimawandel: Fluch oder Chance? - Naturgarten Verlag, 2020. Dr. Gunter Mann Präsident Bundesverband Gebäude- Grün e. V. (BuGG) Kontakt: gunter.mann@bugg.de AUTOR Bild 4 (oben): Auch ein Biodiversitätsbaustein: temporäre Wasserflächen als Insekten- und Vogeltränke. © Mann Bild 5 (unten): Je nach Pflanzenauswahl finden verschiedene Wildbienenarten Nahrung auf begrünten Dächern. © Mann 25 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Die Sommermonate der letzten Jahre haben uns die Folgen des Klimawandels deutlich vor Augen geführt: In den Mittelgebirgen sind mittlerweile riesige Forstflächen monostrukturierter Fichtenbestände zusammengebrochen und auch die heimische Rotbuche fällt dort, wo sie die Reifephase erreicht hat, großflächig durch Schwächung und anschließender Komplexkrankheit aus. In ähnlicher Weise sind auch in den kommunalen Wäldern, in Straßen, auf Wegen und Plätzen Zukunftsbäume für die Stadt Stadtbäume, Klimawandelanpassung, Biodiversität Joachim Bauer, Jens Dietrich Mit der Broschüre „Zukunftsbäume für die Stadt“ wird ein handliches, sehr aussagekräftiges Kompendium von großem praktischem Wert angeboten, das die Suche nach robusten, klimaverträglichen Bäumen mit möglichst großer Standortamplitude erleichtern soll. Sie kann Fachleuten, Entscheidungsträgern, aber auch den Anwohnern bei öffentlichen Diskussionen, ein hilfreiches Instrument sein. Entscheidend für einen in der Zukunft stabilen städtischen Baumbestand ist die Auswahl geeigneter Arten und Sorten und die Notwendigkeit, eine möglichst breite Arten- und Sortenvielfalt in die Straßen, auf Wege und Plätze zu bringen. und in Grünanlagen der Städte und Gemeinden teils gravierende Ausfälle zu verzeichnen. Es zeigt sich aber auch, dass es Gehölze gibt, die vergleichsweise gut mit dieser Situation zurechtgekommen sind, und vor allem, dass Gehölzbestände, die ein größeres Artenspektrum aufweisen, grundsätzlich stabiler sind. Das Ziel muss deshalb der schrittweise Aufbau robuster und artenreicher Bestände sein. Nur so können unsere Gehölzbestände gegen die vielen verschiedenen, zurzeit vielleicht noch nicht auftretenden Schadorganismen und gegen die weiteren Folgen des Klimawandels gewappnet werden. Schon jetzt müssen sich die kommunalen Grünflächenämter mit zahlreichen Schadorganismen und den daraus resultierenden Folgen, die es vor einigen Jahren nur vereinzelt oder überhaupt nicht gegeben hat, auseinandersetzen. Der Aufbau stabiler und artenreicher Gehölzbestände kann jedoch nur erreicht werden, wenn Bild 1 (links): Titelblatt der Broschüre „Zukunftsbäume für die Stadt“. © GALK e. V. Bild 2 (rechts): Der Feldahorn ist eine heimische Baumart, die viel mehr Aufmerksamkeit verdient. Auszug aus der Broschüre. © GALK e. V. 26 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum auch geeignete Arten und Sorten am für sie optimalen Standort gepflanzt werden. Viele der bisher im Straßenraum verwendeten Bäume sind nicht ausreichend an die sich abzeichnenden Klimaveränderungen, einhergehend mit zunehmender Trockenheit, höherer Strahlungsintensität und veränderter Niederschlagsverteilung, angepasst. Andere, bislang nur wenig verwendete oder in unseren Breiten nicht heimische Baumarten sind im Hinblick auf diese Veränderungen besser geeignet und sollten deshalb in Zukunft auch in stärkerem Maße im Straßenraum und in den Grünanlagen eingesetzt werden. Die Nachfrage nach Baumarten, die sich in dieser Situation auch künftig dauerhaft behaupten können, wird sich in den nächsten Jahren deshalb stetig erhöhen. Eine Entscheidungshilfe für alle mit der Planung und Ausführung von Baumpflanzungen befassten Verantwortlichen ist dringend erforderlich, fanden Vertreter der Deutschen Gartenamtsleiterkonferenz (GALK) und des Bundes deutscher Baumschulen (BdB) und erarbeiteten deshalb eine Zusammenstellung, in der bewährte und neue Zukunftsbäume vorgestellt werden (Bild 1). Die GALK-Straßenbaumliste, die Ergebnisse der bundesweiten GALK-Straßenbaumtests und die Erfahrungen des Baumschulverbandes bildeten die Grundlage dafür. Die GALK-Straßenbaumliste wird seit mittlerweile 45 Jahren vom Arbeitskreis Stadtbäume der Gartenamtsleiterkonferenz stetig fortgeschrieben und zur allgemeinen Nutzung bereitgestellt. Die Straßenbaumtests werden seit Mitte der 1990er Jahre in den Mitgliedsstädten des Arbeitskreises als Praxistests durchgeführt und deren Ergebnisse regelmäßig erfasst. Untersucht werden, neben neuen und Erfolg versprechenden Arten und Sorten, auch altbekannte Arten, die bislang in unseren Breiten jedoch nur selten oder in geringem Umfang als Straßenbäume verwendet werden (Bild 2). Hauptkriterium ist die Eignung der Baumarten am Extremstandort Straße unter Berücksichtigung der prognostizierten Klimaveränderungen. Dies vorausgesetzt, werden auch nicht heimische Baumarten an Bedeutung gewinnen. Sie sind im Hinblick auf die Klimaveränderungen oft besser geeignet und sollten deshalb in Zukunft auch in stärkerem Maße eingesetzt werden. Neben der Auswahl der geeigneten, standortgerechten Baumart muss aber auch der Standort selbst verstärkt in das Blickfeld der kommunalen Entscheidenden oder Landschaftsplanenden rücken. Für die optimale Ausgestaltung der Standorte sind in den vergangenen Jahren fachliche Anforderungen formuliert worden. Ziel ist es, die große Vielfalt geeigneter Baumarten für die jeweils konkrete planerische Aufgabe zu nutzen, denn eine der größten Herausforderungen des Klimawandels wird sein, den Baumbestand in den Städten so vielfältig wie möglich auszugestalten. Bei Betrachtung der Straßenbaumbestände fällt auf, dass diese in den meisten Städten noch zum größten Teil aus den drei Baumgattungen Linde, Ahorn und Platane bestehen. Hier gilt es, Schritt für Schritt eine größere Vielfalt bei der Pflanzenverwendung einzusetzen, um in Zukunft gegen die vielen verschiedenen und teilweise jetzt noch nicht bekannten Schaderreger gewappnet zu sein. Schon jetzt müssen sich die kommunalen Grünflächenämter mit Schädlingen und Krankheiten auseinandersetzen, die es vor einigen Jahren nur vereinzelt oder überhaupt nicht gegeben hat. Die Konzentration auf wenige Baumarten birgt große Risiken, denn beim Auftreten entsprechender Schadorganismen kann der Totalausfall einzelner Arten natürlich gravierende Auswirkungen auf den Gesamtbaumbestand einer Kommune haben. Der häufig gestellten Frage, ob es die eine „Super-Baumart“ gibt, muss eindeutig eine Absage erteilt werden. Es gibt eine solche nicht. Ziel muss es vielmehr sein, die Vielfalt an Arten im Straßenbaumbestand grundlegend zu erhöhen und die für den Bild 4: Die dornenlose Gleditschie ist eine Baumart, die gut mit trockenen Standorten zurecht kommt. © J. Bauer Bild 3: Die Blasenesche ist eine kleinwüchsige Baumart mit auffälligen Fruchtständen. © J. Dietrich 27 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum jeweiligen Standort geeignete Art oder Sorte einzusetzen. Nur so können Städte und Gemeinden auf den vorhersehbaren Klimawandel angepasst reagieren und künftig auftretenden Schadorganismen und Krankheiten entgegenwirken. Das Ziel der Vielfalt kann jedoch nur erreicht werden, wenn auch das Wissen über die entsprechend geeigneten Baumarten vorliegt. Aus diesem Grunde wurden aus den 175 in der GALK-Straßenbaumliste aufgeführten Arten und Sorten insgesamt 65 Spezies ausgewählt, beschrieben und illustriert. Diese Zukunftsbäume können die Grundlage bilden für die künftigen Straßenbaumpflanzungen und helfen, dass unsere Städte und Gemeinden auch weiterhin einen gesunden Baumbestand aufweisen. Dass die für Straßenräume geeigneten Bäume natürlich ebenso in Parks und Gärten verwendet werden können, versteht sich von selbst, denn sie sind zugleich auch - vielseitig verwendbare - Stadtbäume. Wer im harten Straßenraum überleben kann, schafft dies in der Regel auch in den Grünanlagen, denn Straßenbäume sind im besten Sinne Überlebenskünstler. Insofern sollten die in der Broschüre angebotenen Arten und Sorten auch für Planende und Verantwortliche von kommunalem und privatem Grün von Interesse sein, nicht nur für jene, die sich um die Straßenräume kümmern. Die ausgewählten Zukunftsbäume werden jeweils auf einer eigenen Seite mit den wichtigsten Informationen kompakt in einem Textkasten vorgestellt. Neben Herkunft, Höhe und Breite sind Wuchsform, Blatt- und Rindenbeschreibung, die Blütenfarbe und, in Zeiten des Klimawandels ganz wichtig, die Klimatoleranz aufgeführt. Hinzu kommen das Kriterium Straßenbaumtauglichkeit und die Besonderheiten des jeweiligen Baumes, also jene Merkmale, die für ihn charakteristisch sind. Ergänzt wird der Text durch selbsterklärende Symbole zu den Lichtansprüchen und zur Bienenfreundlichkeit. Gerade letztere ist ein in der Vergangenheit häufig unterschätzter Aspekt und kann, in Zeiten zunehmenden Insektensterbens, zumindest einen kleinen Beitrag zur Unterstützung der Wildbienen, Hummeln und natürlich auch der Zuchtbienen in unseren Städten leisten. Nun gilt es, sowohl die technischen Vorgaben, als auch den Appell zu größerer Vielfalt bei der Gehölzverwendung konsequent umzusetzen. Die gemeinsam vom GALK-Arbeitskreis Stadtbäume und dem Bund deutscher Baumschulen erstellte Broschüre „Klimabäume“ soll hierfür einen praxisbezogenen Beitrag liefern. Die interessierten Nutzerinnen und Nutzer finden in der interaktiven Online-Version der GALK-Straßenbaumliste unter www.galk.de zahlreiche weiterführende Informationen. Auf der GALK-Internetseite ist die Broschüre als e-book und als PDF abrufbar, ebenso auf der BdB- Website www.gruen-ist-leben.de. Funke Kunststoffe GmbH info@funkegruppe.de • Tel.: 02388 3071-0 www.funkegruppe.de M i t Z u l a s s u n g v o m D e u t s c h e n I n s t i t u t f ü r B a u t e c h n i k • DIBt-Nr. Z-42.1-572 Funke Baumwurzelbelüfter D-Raintank 3000 ® Für Bewässerung und Belüftung Funke Baumversorgung mit System - unterirdisch gut! für Neuanpflanzung und Sanierung Baumversorgung Funke Baumbewässerungswinkel Dr. Joachim Bauer Amt für Landschaftspflege und Grünflächen Stadt Köln joachim.bauer@stadt-koeln.de Jens Dietrich Deutsche Gartenamtsleiterkonferenz, GALK e. V. Stadt Leipzig jens.dietrich@galk.de AUTOREN 28 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Der einzigartige und unwiederbringliche Wert von historisch bedeutsamen Orten oder Gebäuden gilt allgemein als unbestritten. Gleichzeitig sind wir gerade an die Präsenz dieser historischen Orte oder einzigartigen Stadtpanoramen so gewöhnt, dass wir ihre Existenz als selbstverständlich nehmen - der wahre Wert zeigt sich dann oftmals erst im kollektiven schmerzlichen Verlust, wie es beispielsweise die Bilder der brennenden Kathedrale von Notre Dame in Paris im Jahr 2019 gezeigt haben. Aufgrund dieses inhärenten Wertes sind das kulturelle Erbe und die historischen Gebiete so bedeutend, dass sie insbesondere gegenüber den weniger sichtbaren und eher schleichenden Bedrohungen berücksichtigt und geschützt werden müssen. Wie gehen wir also auf unserer gemeinsamen Reise zur Anpassung an ein sich veränderndes Klima mit den besonderen Bedrohungen für historische Gebiete um? Die Welterbestätte Hamburger Speicherstadt und das Kontorhausviertel mit dem Chilehaus ist genau solchen Risiken ausgesetzt. Ersteres ist ein Komplex historischer Lagerhäuser, die seit Ende des 19. Jahrhunderts auf hunderttausenden von Kiefernholzpfählen im Hamburger Hafen gebaut wurden. Nachdem die Lagerhäuser rund hundert Jahre später in den 90er Jahren des 20.- Jahrhunderts ihre ursprüngliche Funktion verloren hatten, hat sich die Speicherstadt zu einem Zentrum für die Kulturszene entwickelt, das sich auch für Start- Ups und die Kreativwirtschaft als attraktiver Standort nahe der Hamburger Innenstadt herausstellte. Das Kontorhausviertel besteht derweil aus einer Reihe von Bürogebäuden, die ursprünglich für hafenbezogene Aktivitäten genutzt wurden. Seine einzigartige Backsteinarchitektur ist auch heute noch ein funktionaler und ästhetischer Gewinn für die Hamburger und repräsentiert mit der spitz zulaufenden Fassade des Chilehaus eins von Hamburgs bekannten Wahrzeichen. Klimawandelbedingte Folgen, wie der Anstieg des Meeresspiegels, Starkregenereignisse, Hitze und Sturmfluten stellen mittel- oder langfristig für die historischen Bauten ein hohes Risiko dar, weil der andauernde und sich verschärfende Einfluss dieser Faktoren zu erheblichen Schäden führen kann. Im Rahmen des von der EU geförderten ARCH-Projekts nimmt Hamburg diese Risiken nun genauer unter die Lupe und sensibilisiert gleichzeitig für die Bedeutung der Stärkung der Widerstandsfähigkeit seiner historischen Orte. Aber nicht nur das - Hamburg arbeitet mit technischen Experten und anderen vom Klima betroffenen Regionen zusammen, um neue Wege zu Bei der Anpassung an den Klimawandel setzt Hamburg auch auf den Schutz seiner Geschichte Wenn der Klimawandel die Städte beeinflusst, was passiert dann mit den historischen Gebieten? Katherine Peinhardt, Uta K. Mense Bei allen Fortschritten, die bei der Anpassung an den Klimawandel gemacht wurden, bleibt ein wichtiges Element unserer Gesellschaft oft auf der Strecke: Kulturelles Erbe und historische Gebiete werden viel zu selten in Gesprächen über das Klima erwähnt. Und vielleicht ist das auch verständlich - es ist leicht, ihre Präsenz und Widerstandsfähigkeit als selbstverständlich anzusehen. Doch während sich Städte auf die physischen, wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen vorbereiten, die der Klimawandel mit sich bringt, sind diese wertvollen und unersetzlichen Teile unserer kollektiven Geschichte beispiellosen Risiken ausgesetzt. Ob durch häufigere Überschwemmungen, Hitzewellen oder Stürme - der Klimawandel ist eine Bedrohung für einige der kulturell bedeutendsten Orte der Welt. Städte wie Hamburg arbeiten daran, kulturelles Erbe und historische Gebiete in ihre Maßnahmen gegen den Klimawandel einzubeziehen. © Karsten Bergmann auf Pixabay 29 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum entwickeln, die Zukunft seiner historischen Gebiete zu sichern. Das erste davon ist ein innovatives digitales 3D-Modell, das Informationen über die gebaute Umwelt, das kulturelle Erbe und Klimadaten für Hamburg zusammenführt. Dies ist ein neuer Ansatz für die Überwachung und den Schutz des kulturellen Erbes, denn es überbrückt die bestehende Kluft zwischen der Anpassung an den Klimawandel, dem Katastrophenrisikomanagement und dem Management des kulturellen Erbes. Hamburg ist auch an der Entwicklung eines Historic Area Information System (oder HArIS) beteiligt, das wichtige Daten wie Luftverschmutzung, Regenwasserversickerung oder Gebäudesetzungen überwachen wird - während das Tool an historischen Orten in Hamburg getestet wird, setzt es einen neuen Standard dafür, was umfassende Klimaschutzmaßnahmen wirklich bedeuten. So wie Ansätze zur Klimaanpassung inklusiv sein müssen, um effektiv zu sein, so muss auch die Art und Weise, wie historische Gebiete geschützt werden, inklusiv sein. Das bedeutet, dass die Einbindung von Stakeholdern und die Zusammenarbeit mit ihnen im Mittelpunkt der Arbeit stehen, lokal und darüber hinaus. Zu diesem Zweck ist Hamburg auch Teil des ARCH Mutual Learning Framework und tauscht sich mit anderen Städten wie Liverpool, Thessaloniki und Regensburg aus, die alle vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie Hamburg. Der Managementplan für das UNESCO Welterbe, der erstmals 2014 in Kraft trat, wird ebenfalls dahingehend aktualisiert, dass künftig die Einflüsse des Klimawandels als potenzielle Bedrohung berücksichtigt werden und der Aufbau von mehr Resilienz proaktiv gefördert wird. In diesem Zusammenhang wird auch die Sensibilisierung der Bevölkerung für das Thema durch einen aktiven Wissenstransfer als fundamentaler Bestandteil des EU-Projekts betrachtet. Der Welterbekoordinator der Stadt Hamburg, Bernd Paulowitz, betont die Bedeutung des Projekts für Hamburg außerdem noch mit Blick auf den materiellen Erhalt: „Es ist für uns sehr wichtig, die Welterbestätte nachhaltig gegen die Auswirkungen des Klimawandels zu schützen. Hierzu bedarf es eines gezielten Monitorings, um Bauwerksschäden frühzeitig zu erkennen und dementsprechend Methoden und Maßnahmen zu entwickeln, die unser Kulturerbe vor einem unwiederbringlichen Substanzverlust bewahren.“ Dies zeigt, dass die Auswirkungen des Klimawandels bereichsübergreifend sind: Städte müssen die Art und Weise überdenken, wie sie nicht nur ihre Infrastruktur und sozialen Dienstleistungen im Lichte des Klimawandels verwalten, sondern auch, wie sie sich nachhaltig für den Erhalt ihres kulturellen Erbes einsetzen. Eine Möglichkeit, die Widerstandsfähigkeit in unserer Zukunft vorherzusagen, ist die Art und Weise, wie wir uns um die Erinnerungen an unsere Vergangenheit kümmern. Die Art und Weise, wie wir unsere historischen Bereiche auf den Klimawandel vorbereiten, lässt erahnen, wie wir anderen vielfältigen Bedrohungen durch den Klimawandel begegnen, nämlich den Lebensgrundlagen, Landschaften und Ökosystemen. Städte wie Hamburg verbinden die Punkte zwischen Kultur und Klimawandel und stellen sicher, dass beim Schutz unserer Städte und Gemeinden unsere Geschichte nicht auf der Strecke bleibt. Als wirkungsvolle Maßnahme gegen die Folgen von Starkregenereignissen haben Sie das Wasser mit diesem funktionalen Systemaufbau als kontrollierten Zwischenspeicher komfortabel im Griff. Und das Ganze versteckt unter einem tollen grünen Dach. www.zinco.de/ systeme/ retentions-gruendach Regenwasserbremse für die Kanalisationsnetze in unseren Städten! Tel: 07022 9060-600 Wasserrückhalt via Retentions-Gründach Katherine Peinhardt ARCH Projekt ICLEI - European Secretariat GmbH Kontakt: katherine.peinhardt@iclei.org Dr. des. Uta K. Mense EU-Projektkoordination / Welterbe Denkmalschutzamt Hamburg, BKM Kontakt: uta.mense@bkm.hamburg.de AUTORINNEN Mehr Informationen zu dem Projekt: savingculturalheritage.eu 30 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Während dieser Beitrag entstand, zwei Wochen nach Unwettertief „Bernd“, sind weiterhin Einsatzkräfte in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz im Katastropheneinsatz. Extreme Regenfälle hatten Starkregen - Herausforderung für Bevölkerungsschutz und Stadtentwicklung Ergebnisse aus dem Projekt „KlamEx“ Bevölkerungsschutz, Stadtentwicklung, Starkregen, Klimawandel Isabelle Fischer, Susanne Krings Im Projekt „Klassifikation meteorologischer Extremereignisse zur Risikovorsorge gegenüber Starkregen für den Bevölkerungsschutz und die Stadtentwicklung“ (KlamEx, 2019 - 2020) der Strategischen Behördenallianz „Anpassung an den Klimawandel“ wurde unter anderem der Zusammenhang zwischen Starkregenereignissen und dem Einsatzgeschehen der Feuerwehren mit quantitativen und qualitativen Methoden untersucht. Unter den Ergebnissen sind Handlungsempfehlungen zur Anpassung an und zum Umgang mit Starkregen im Katastrophenschutz und in der Stadtentwicklung. Mitte August 2021 im Westen Deutschlands in kürzester Zeit zu Hochwasserereignissen mit verheerenden Folgen geführt. Die aktuellen Ereignisse haben ein in Deutschland bisher nicht dagewesenes Ausmaß. Allerdings bringen Starkregenereignisse und deren Folgen Jahr für Jahr Menschen in Gefahr, verursachen massive Schäden an Gebäuden und Infrastrukturen und stellen die Gefahrenabwehr vor erhebliche Herausforderungen. Regelmäßig wird in diesem Zusammenhang auch die Frage nach der Bedeutung des Klimawandels für das Auftreten extremer Wetterphänomene diskutiert. Die Strategische Behördenallianz „Anpassung an den Klimawandel“ setzt sich seit ihrer Gründung im Jahr 2007 mit den Auswirkungen des Klimawandels auf Extremwetterereignisse auseinander. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR), der Deutsche Wetterdienst (DWD), die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk (THW) und das Umweltbundesamt (UBA) führen im Rahmen der Behördenallianz gemeinsame Forschungsprojekte durch, um die Wissensbasis zu erweitern und den gesellschaftlichen Umgang mit den Folgen des Klimawandels zu verbessern. Das gerade abgeschlossene Forschungsprojekt der Behördenallianz trägt den Kurztitel „KlamEx“, für: „Klassifikation meteorologischer Extremereignisse zur Risikovorsorge gegenüber Starkregen für den Bevölkerungsschutz und die Stadtentwicklung“ (01/ 2019 - 12/ 2020; Abschlussbericht: BBK 2021 [1]). Ziel des Vorhabens war es, die Zusammenhänge zwischen dem meteorologisch beschreibbaren Ereignis und dem dadurch ausgelösten Einsatzgeschehen genauer unter die Lupe zu nehmen. © Thomas Oettinger auf Pixabay 31 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Anlass für das BBK, sich damit im Rahmen des Projekts auseinanderzusetzen, gab unter anderem der Monitoringbericht zur Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel [2]. Um etwaige Auswirkungen klimatischer Veränderungen auf den Bevölkerungsschutz abbilden zu können, wird hier auch auf den Indikator „Einsatzstunden bei wetter- und witterungsbedingten Schadenereignissen“ zurückgegriffen ([2] S. 234 - 235). Da die Indikatoren des Berichts für ganz Deutschland gelten, können im konkreten Fall nur die Einsatzstunden des THW berücksichtigt werden, da diese bundesweit vorliegen. Dieser Umstand begrenzt allerdings die Aussagekraft des Indikators, weil das THW nur auf Anforderung in den Einsatz geht und mit seinen Spezialfähigkeiten auch schwerpunktmäßig für bestimmte Einsatzbereiche angefordert wird. Die vielen Einsatzstunden, die von Feuerwehren und Hilfsorganisationen geleistet werden, können bislang nicht berücksichtigt werden ([2] S. 235). Dieser Umstand ist vor dem Hintergrund besonders unglücklich, dass Einsatzkräfte immer wieder von einer Zunahme extremwetterbedingter Einsätze berichteten. Einblicke in die Ergebnisse des KlamEx-Projekts Um dem Verhältnis von Ereignis und Einsatz einen Schritt näher zu kommen, ging das KlamEx-Projekt zunächst den Grundsatzfragen nach, was genau unter einem „Ereignis“ und unter einem „Einsatz“ zu verstehen ist, denn tatsächlich ist es nicht trivial, diese Fragen eindeutig zu beantworten. Beim DWD wurde daher zunächst eine meteorologische Definition extremer Niederschlagsereignisse erarbeitet. Angewendet auf die Datengrundlage der radarbasierten Niederschlagsklimatologie (RADKLIM) konnte anhand dessen ein Katalog aller in Deutschland seit dem Jahr 2001 verzeichneten extremen Niederschlagsereignisse generiert werden. Jedes einzelne Ereignis ist darin erfasst und hinsichtlich einer Reihe von Eigenschaften, etwa seiner räumlichen Ausdehnung, Andauer und Intensität, beschrieben. Die katalogisierten Ereignisse wurden anschließend unter anderem hinsichtlich ihrer räumlichen Verteilung betrachtet. Bild 1 zeigt die räumliche Verteilung aller Extremereignisse der Dauerstufe 1 - 9- Stunden (Typ „Starkregen“) für den Zeitraum 2001 - 2020. Gerade starke Niederschläge mit kurzer Dauerstufe sind in den letzten 20 Jahren in allen Regionen Deutschlands aufgetreten. Betrachtet man die Häufigkeit der katalogisierten Ereignisse, zeigt sich über die vergangenen zwei Jahrzehnte eine leichte Zunahme. Für die Ableitung eines Klimatrends zu mehr extremen Niederschlagsereignissen ist die Zeitreihe aktuell noch zu kurz. Der Katalog wird aber durch den DWD kontinuierlich fortgeschrieben, sodass entsprechende Auswertungen perspektivisch möglich werden. Es konnte allerdings anhand der im Projekt erstellten Datenbasis ein bislang in der Fachliteratur nur als Hypothese formulierter Zusammenhang zwischen der Temperatur und der Extremität von Niederschlagsereignissen empirisch nachgewiesen werden: Die Intensität der Ereignisse, sowohl bezogen auf Starkregen als auch auf Dauerregen (das heißt: Ereignisse die hinsichtlich einer längeren Dauerstufe als extrem eingestuft wurden) nimmt demnach mit einer Zunahme der Temperatur zu. Gleichzeitig erhöht sich der Anteil des Starkregens im Verhältnis zum Dauerregen. Niederschläge treten also bei steigenden Temperaturen häufiger in Form kurzer, konvektiver Ereignisse auf. Diese Verschiebung in der Niederschlagscharakteristik Bild 1: Deutschlandweites Auftreten extremer Starkniederschlagsereignisse der Dauerstufe 1 - 9 Stunden in den Jahren 2001 bis 2020. © DWD 2021; aus KlamEx- Abschlussbericht, BBK 2021 32 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? konnte im KlamEx-Projekt erstmals direkt anhand von Messdaten gezeigt werden. Die Frage, was genau ein „Einsatz“ ist, wurde im Projekt denjenigen gestellt, die ganz praktisch damit zu tun haben: Mittels einer Online-Befragung haben 182 Feuerwehren und untere Katastrophenschutzbehörden aus zehn Bundesländern Auskunft darüber gegeben, was sie unter einem Einsatz verstehen und wie die von ihnen angewandten Verfahren zur Einsatzerfassung aussehen. Die so entstandene Übersicht über die Erfassungspraxis zeigt ein heterogenes Bild. So kann ein „Einsatz“ etwa bezogen auf jede Einsatzstelle (zum Beispiel: eine Adresse), auf jede ausrückende taktische Einheit (zum Beispiel: ein bestimmtes Fahrzeug und dessen Besatzung) oder ein ganzes Ereignis (zum Beispiel: „Sturmtief Ela“) erfasst und dokumentiert werden. Je nachdem, welche Informationen zur Einsatzursache hinterlegt werden, lässt sich eine mehr oder weniger eindeutige Verknüpfung mit einem meteorologischen Ereignis herstellen: Während die Angabe „Starkregen“ recht klar auf den Auslöser des Einsatzes schließen lässt, kann sich hinter einem „Wasser“-Einsatz auch ein Rohrbruch verbergen. Hinzu kommt ein breites Spektrum zur Datenerfassung und -verarbeitung genutzter Systeme, die nicht durchgängig untereinander kompatibel sein dürften. Die uneinheitliche Auslegung des Einsatzbegriffs und die vielfältigen Dokumentationsweisen erschweren die organisationsübergreifende Vergleichbarkeit der Einsatzdaten und stehen einer statistischen Auswertung entgegen. Die Heterogenität der Einsatzerfassung war im Grunde nicht überraschend, in ihrer Ausprägung allerdings bislang unbekannt. Die empirischen Daten geben einen zuvor nicht verfügbaren Überblick. Aus diesem geht auch hervor, dass zwar oft nicht genau dieselben, aber doch durchaus ähnliche Informationen erhoben werden. Es werden beispielsweise regelmäßig Ortsangaben für die Einsätze gemacht - sei es in Form von Adressdaten oder GPS-Koordinaten. Diese Ähnlichkeiten können Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung der Erfassungspraxis hin zu einer besseren Vergleichbarkeit bieten. Die Wahrnehmung einer generell zunehmenden Einsatzbelastung aufgrund von extremen Wetterereignissen lässt sich demnach nicht ohne weiteres durch eine Auswertung der Einsatzdaten über alle Organisationen und administrativen Einheiten hinweg überprüfen. Daher wurde im Projekt zusätzlich die Frage aufgeworfen, inwiefern das mit dem Ereigniskatalog nun flächendeckend homogen erfasste Auftreten von extremen Niederschlagsereignissen Rückschlüsse auf das diesbezügliche Einsatzgeschehen zulässt. Um sich dieser Fragestellung anzunähern, bedurfte es einer genaueren Betrachtung des Zusammenhangs zwischen Ereignis und Einsatz. Dieser wurde im Rahmen des KlamEx-Projekts exemplarisch anhand von Fallstudiengebieten untersucht. Neben Informationen zu den dort seit 2001 niedergegangenen, katalogisierten Niederschlagsereignissen wurden die örtlichen Feuerwehreinsatzdaten sowie eine Reihe gebietsbezogener Daten genutzt. Die Korrelationsanalysen, von denen eine in Bild 2 beispielhaft dargestellt ist, ergaben deutliche Unterschiede hinsichtlich der Stärke des Zusammenhangs zwischen dem Einsatzgeschehen und den meteorologischen Ereignisparametern einerseits und dem Einsatzgeschehen und den nicht-meteorologischen Gebietsparametern andererseits: Während die Korrelation mit den Ereignisparametern im niedrigen positiven Bereich liegt (vgl. Bild-2a), ist die Korrelation mit den Gebietsparametern - Topographie, Besiedlungsdichte und Versiegelungsgrad - deutlich höher (vgl. Bild 2b - d). Ob es im Zuge eines Niederschlagsereignisses zu Einsätzen kommt, wird demzufolge maßgeblich von Faktoren beeinflusst, die mit den Gegebenheiten vor Ort zu tun haben. Darüber hinaus dürften weitere, nicht direkt messbare Faktoren einen Einfluss auf das Einsatzgeschehen haben. In Experteninterviews mit Ein- Bild 2: Beispiel für die Verschneidung und Korrelationsanalyse in einem Fallstudiengebiet: a) Niederschlagssumme, b) Topographic Position Index ( TPI), c) Bevölkerungsdichte, d) Versiegelungsgrad. Der höhere Korrelationseffizient (r) weist darauf hin, dass das Einsatzgeschehen „enger“ mit den Gebietsparametern (b - d) verknüpft ist als mit den meteorologischen Parametern (a) . © KlamEx- Abschlussbericht, BBK 2021 33 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? satzkräften der Feuerwehr wurden Informationsgrad und Risikobewusstsein sowie das Maß an Selbsthilfefähigkeit in der Bevölkerung als relevante Faktoren für die Herausbildung von Einsatzstellen bzw. für deren Ausbleiben genannt. Bei einem intensiver betrachteten Niederschlagsereignis im Fallstudiengebiet Nordwalde im Jahr 2010 konnte allein durch Selbstbzw. Nachbarschaftshilfe die Zahl der Einsatzstellen von 350 auf 250 reduziert werden. Schlussfolgerungen Mit Blick auf die Vorsorge vor extremen Niederschlagsereignissen lassen sich aus dem Ereigniskatalog mehrere grundlegende Erkenntnisse ableiten. So geht etwa aus der räumlichen Analyse hervor, dass sich das Auftreten extremer Ereignisse des Starkregentyps im Beobachtungszeitraum deutlich schwächer an den orographischen Bedingungen orientierte als es bei extremen Dauerregenereignissen der Fall war. Insbesondere kurze, heftige Starkregenereignissen können davon ausgehend praktisch überall in Deutschland auftreten. Darüber hinaus konnte nachgewiesen werden, dass die „Extremität“ der Niederschlagsereignisse mit der Temperatur zunimmt, sowohl bei Starkregen als auch bei Dauerregen. Vorsorge vor extremen Niederschlagsereignissen dürfte daher im Zuge des Klimawandels weiter an Bedeutung gewinnen. Ob ein extremes Niederschlagsereignis ein ausgeprägtes Einsatzgeschehen hervorruft, wird allerdings auch ganz maßgeblich von nicht-meteorologischen Parametern mitbestimmt: Aus der genaueren Betrachtung einzelner Extremereignisse in den Fallbeispielgebieten, lässt sich der hohe Einfluss der Bedingungen vor Ort ableiten. Diese Einsicht unterstreicht zum Beispiel den Wert von Starkregengefahrenkarten bzw. -risikokarten auf Basis entsprechender Informationen für die planerische und bauliche Vorsorge ebenso wie für die Gefahrenabwehr. Zu den hinsichtlich des Einsatzgeschehens einflussreichen Bedingungen vor Ort zählen den befragten Experten zufolge allerdings auch solche, die man selten in Karten vermerkt finden wird, wie eben die Selbstschutz- und Selbsthilfefähigkeiten der Bevölkerung. Maßnahmen zur Verbesserung des Umgangs mit extremen Niederschlagsereignissen können dementsprechend an unterschiedlichen Stellen ansetzen. Auf Basis der Projektergebnisse stellt der KlamEx-Abschlussbericht daher umfangreiche Handlungsempfehlungen mit den Schwerpunkten Bevölkerungsschutz und Stadtentwicklung zusammen. Ob Einsätze aufgrund von extremen Niederschlagsereignissen in Deutschland tatsächlich zugenommen haben, kann auch nach dem Abschluss des KlamEx-Projekts letztlich nicht beantwortet werden. Ziel des Projekts war es allerdings auch eher, die Möglichkeiten der Nutzung von Einsatzdaten für ein Monitoring des Einsatzgeschehens auszuloten. Der so entstandene Überblick über die Praxis der Einsatzerfassung und -dokumentation macht zwar deutlich, dass eine übergreifende Auswertung der Daten nicht ohne weiteres möglich ist. Allerdings konnten auch Gemeinsamkeiten zwischen den Datensätzen herausgearbeitet und Ansatzpunkte für eine verbesserte Kompatibilität zwischen den erfassten Einsatzinformationen und den dabei verwendeten Dokumentationsformen und -systemen aufgezeigt werden. Von den Befragten wurde vielfach ein hohes Interesse signalisiert, das Thema weiterzuverfolgen. Weitere Informationen sind dem vollständigen Abschlussbericht des KlamEx-Pojekts [1] sowie der Projekthomepage zu entnehmen unter: www.dwd.de/ klamex LITERATUR: [1] Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) (Hrsg.): Klassifikation meteorologischer Extremereignisse zur Risikovorsorge gegenüber Starkregen für den Bevölkerungsschutz und die Stadtentwicklung (KlamEx). Projekt der Strategischen Behördenallianz „Anpassung an den Klimawandel“. Bonn, 2021. [2] Bundesregierung: Monitoringbericht zur Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel, 2019. (Herausgegeben vom Umweltbundesamt, Dessau). Aufrufbar unter: https: / / www.umweltbundesamt. de/ sites/ default/ files/ medien/ 1410/ publikationen/ das_monitoringbericht_2019_barrierefrei.pdf Isabelle Fischer Sachbearbeiterin Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Kontakt: referat-II.3@bbk.bund.de Susanne Krings Referatsleiterin (komm.) Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe Strategie Kritische Infrastrukturen, Cybersicherheit Kritische Infrastrukturen Kontakt: referat-II.3@bbk.bund.de AUTORINNEN 34 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Zu viel UND zu wenig Wasser! In den letzten Jahren wurde die Bedeutung der Klimawandel-Vorhersage „das Wetter wird extremer“ deutlich greifbarer. Ausgehend von einem eher ausgeglichenen Klima in den 80ern, wo Temperaturen über 30 °C im Schnitt einmal im Jahr zu „Hitzefrei“ in der Schule führten und der sommerliche Landregen die Grundlage der Landwirtschaft und Wasserversorgung bildete, erlebten wir in den letzten Jahren einerseits langandauernde Hitze- und Trockenphasen, die die Böden Deutschlands bis in tiefe Schichten austrockneten oder die Quellwasserversorgung im Schwarzwald zeitweise unterbrachen. Versiegende Quellen und niedrige Grundwasserstände werden dort in Zukunft bei sommerlicher Trockenheit häufiger erwartet, aufgrund der klimawandelbedingten Verschiebung der Hauptregenmenge in den Winter. Andererseits erleben wir punktuell bis regional auftretende (Stark-)Regenereignisse, die in diesem Jahr bereits zu großen Schäden für Betroffene und Infrastruktur führten. Klimawandel bedeutet beides gleichzeitig: zu viel und zu wenig Wasser. Daher sind die traditionellen Formen des Umgangs mit der Ressource Wasser nicht mehr ausreichend, Stadtquartiere im Klimawandel Kommunales Niederschlagsmanagement in Bestand und Neubau - Erkenntnisse praxisnaher Forschung Stadtquartier, Klimaanpassung, Niederschlagsmanagement, Bauleitplanung, Starkregenvorsorge Denise Böhnke, Stefan Norra Die rezenten und zu erwartenden Veränderungen im Niederschlagsregime hin zu mehr Extremen stellen das kommunale Niederschlagsmanagement sowie die Planung vor neue Aufgaben. Vielfältige Anpassungsmaßnahmen stehen mittlerweile hierfür zur Verfügung, dem gegenüber stehen jedoch teilweise hohe Herausforderungen bei der Umsetzung. Dieser Beitrag widmet sich dem Niederschlagsmanagement bzw. der Starkregenvorsorge in Bestand und Neubau, bestehenden Fachberichten und er zeigt interdisziplinäre Zusammenhänge auf und gibt beispielhaft Erkenntnisse aus zwei praxisnahen Forschungsprojekten wider. © Andi Graf auf Pixabay THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser? 35 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? die Frage nach notwendigen aber sinnvollen Änderungen wird auf allen Ebenen umso dringlicher. Zwei Forschungsprojekte zur Klimaanpassung in Bestand und Neubau Dieser Beitrag soll exemplarisch Erkenntnisse aus zwei praxisnahen Forschungsprojekten vorstellen, die sich mit dem Thema Wasser im Bestand als auch in der kommunalen Planung beschäftigt haben. In dem von der Landesanstalt für Umwelt BW geförderten Projekt KomKlim begleiteten Forscher des KIT als Klimaanpassungsexperten einen Teil des Bauleitplanungsprozesses für einen neu entstehenden Stadtteil auf der ehemaligen Fläche der Spinelli Baracks, innerhalb des Stadtplanungsamtes Mannheim. Dabei standen Fragen im Vordergrund, wie das geplante Quartier klimaangepasst gestaltet (etwa in Bezug auf Trockenheit und Starkregen) und dies überzeugend kommuniziert werden kann, aber auch welche Hindernisse derzeit für die tatsächliche Umsetzung bestehen [1]. In einem aktuellen BMBF- Forschungsprojekt mit der Stadt Karlsruhe liegt der Fokus unter anderem auf der (Software-gestützten) Beschreibung und Bewertung der Ressource Wasser und von Ökosystemleistungen im Hinblick auf einen effizienten und nachhaltigen Ressourceneinsatz - am Beispiel des Bestandsquartiers Innenstadt-Ost [2]. Dieser Beitrag präsentiert exemplarisch einige Erkenntnisse zum Thema Niederschlagsmanagement in Bestand und Neubau, mehr Informationen sind in den jeweiligen Veröffentlichungen zu den Projekten zu finden. Ergebnisse vieler praxisnaher Forschungskollaborationen Die verschiedenen Ressorts der Bundesregierung sowie der Landesregierungen stellen in den letzten Jahren vermehrt Gelder zur Verfügung, um die Folgen des Klimawandels, Klimaschutz- und Anpassungsmaßnahmen zu untersuchen und Lösungsstrategien bzw. Maßnahmen zu entwickeln. Besonders hervorzuheben sind dabei Kooperationen zwischen Universitäten und Praxispartnern (Gewerbe, Verwaltung usw.) die das neue Thema sowohl aus wissenschaftlicher Sicht als auch im Sinne der Praxistauglichkeit bearbeiten. Als Ergebnis ist eine Vielzahl an Praxishilfen, Leitfäden und Merkblättern mit teils ähnlichen Inhalten entstanden, wobei die konkrete Auswahl sicher von Fragestellung und persönlicher Betroffenheit abhängt. Einen Überblick über eine kleine Auswahl von Praxishilfen zur Starkregenvorsorge und ihren Themen bietet Tabelle 1. Zielgruppen sind hierbei Kommunen und Ingenieurbüros, aber auch Architekten und private Bauherren. Alle vorgestellten Leitfäden enthalten Maßnahmenbeschreibungen, qualitative Wirkungsbeschreibungen, Anforderungen sowie Empfehlungen zur Umsetzung, planungsrelevante Informationen sowie weiterführende Literatur. Meist Synergieaber auch Konfliktpotenziale, den Bezug zu DIN-Normen, B-Plan-relevante Hinweise, seltener Angaben zu Kosten oder quantitativer Wirkung (Angaben und Berechnungsmethoden). Der Fokus der Leitfäden liegt hier auf Seite der Planung. Im Bestand sind die Möglichkeiten aufgrund des Planungsrechts und bestehender Zwänge deutlich eingeschränkt bzw. erfordern andere Instrumente zur Umsetzung. Dezentrale, platzsparende Lösungen können aber auch hier lokal eingesetzt werden (rigolengebundene Versickerung). Dem gegenüber steht die Schwierigkeit, dass die Vorhersage der Veränderung des Niederschlagsregimes über Klimamodelle deutlich komplexer ist und dadurch weniger eindeutig ausfällt als bei der Temperaturentwicklung. Diese Unsicherheit erschwert langfristige Planungen. Die letzten Jahre deuten jedoch darauf hin, dass sich das Wetter bzw. die Witterung von Jahr zu Jahr stärker unterscheidet (das Wetter wird extremer), als dies früher der Fall war. Da die traditionelle Infrastruktur auf das Regionalklima des letzten Jahrhunderts ausgelegt ist, muss dessen Änderung unweigerlich zu Engpässen (Trockenheit) und Überschreitungen (Starkregen) im Bestand führen. Starkregenthematik im Bestand Während die Zahl an Überschwemmungen durch Flusshochwasser in Deutschland in über 30 Jahren (1980 - 2010) relativ konstant geblieben ist, haben sich schadenträchtige Unwetter mit Starkregen in der gleichen Zeit fast verdreifacht (Tabelle 1, Nr. 2). Derartige Überschwemmungen betreffen also nicht nur Gemeinden an Bach- oder Flussläufen, sondern vermehrt alle restlichen Siedlungen, bei denen sich im Starkregenfall das Wasser oberflächlich lokal staut bzw. konzentriert abfließt. Kommunales Starkregenrisikomanagement setzt dabei vermehrt auf Starkregengefahrenkarten, die potenzielle Fließwege sowie Überschwemmungsbereiche simulieren und so bestehende Risikobereiche präventiv aufzeigen (Tabelle 1, Nr. 9). Das grundsätzliche Problem ist die Bodenversiegelung in bebauten Gebieten, da diese den natürlichen Wasserhaushalt derart stört, dass der hohe Anteil des natürlicherweise in den Boden versickernden und von der Vegetation zurückgehaltenen Wassers nun fast vollständig in das Kanalsystem abgeleitet werden muss. Untersuchungen zur Versiegelungssituation mittels Biotopkartierungen 36 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? ergaben zum Beispiel für den Straßen- und Wegebereich der Innenstadt-Ost Karlsruhe, dass rund 95 % der Fläche von 90 000 m² versiegelt (Pflaster = vollversiegelt), die Innenhöfe der Blockrandbebauungen (83 000 m²) zu 56 % vollversiegelt und zu 17 % teilversiegelt (Schotterwege usw.) sind. Entsiegelungspotenziale stehen dabei immer Flächenzwängen entgegen. Im Privaten ist die Eigentümerstruktur oft ein Hinderungsgrund für Veränderungen (zum Beispiel: Neugestaltung eines Hinterhofes, der mehreren Eigentümern anteilig gehört), da zunächst gemeinsame Visionen entwickelt und rechtliche Absprachen getroffen werden müssen. Im öffentlichen Raum bestehen durch Nutzungsbedarfe von Straßen, Gehwegen usw. kaum Entsiegelungspotenziale, dafür werden in Karlsruhe streckenweise die Gleistrassen begrünt. Basiert die schadlose Ableitung des Niederschlages fast ausschließlich auf dem städtischen Kanalsystem (wie es in vielen Städten Deutschlands der Fall ist), gewinnen hydraulisch-technische Merkmale wie das Kanalsystem (Misch- oder Trennsystem), die Kanaldimensionierung, Vorhandensein von Regenrückhalteoptionen (Bauwerke, Gründächer, multifunktionale Flächen usw.) an Bedeutung. Die lokale Starkregengefährdung hängt daher stark von der Kapazität des Kanalsystems ab. Ein entscheidender und oft unterschätzter Flaschenhals für den tatsächlichen Wasserabfluss in das Kanalsystem ist der Übergang von Straße zu Kanal durch den Straßenablauf („Gully“). Ist dessen Funktionalität durch Verunreinigung beeinträchtigt, kann nur ein Bruchteil der den Berechnungen zu Grunde gelegten Regenmengen abgeführt werden, Rückstau ist die Folge mit entsprechender Gefährdung für umliegende Infrastrukturen. Eine grundlegende Vorsorgemaßnahme sind daher gut gewartete und regelmäßig gesäuberte Sinkkästen. Bei unversiegelten Flächen hängt die tatsächliche Versickerung stark von der Wasserdurchlässigkeit des vorhandenen (meist anthropogen überprägten) Bodens bzw. vom Bodentyp ab, aber auch vom Bild 1: Qualitative Unterschiede des Wasserhaushalts in natürlicher (links) versus bebauter (rechts) Umwelt. © Böhnke Nr. Name des Leitfadens Thema Fokus bzw. Kurzbeschreibung Einzelmaßnahmen und Maßnahmenkonzepte zur Klimawandelanpassung 1 Maßnahmensteckbriefe der Regenwasserbewirtschaftung - Ergebnisse des Projektes KURAS (2017) Regenwasserbewirtschaftung Maßnahmen-Steckbriefe (mit vielen relevanten Details) 2 Leitfaden für eine wassersensible Stadt- und Freiraumgestaltung in Köln (2016) Regenwasserbewirtschaftung, Fokus Starkregen Maßnahmen-Steckbriefe (u. a.); Leitfaden für Kommunen, Stadt-/ Landschaftsplaner, Architekten 3 Hinweise für eine wassersensible Straßenraumgestaltung, Hamburg (2015) Regenwasserbewirtschaftung, Fokus Starkregen Maßnahmen-Steckbriefe (u. a.); Leitfaden für Planung und Entwurf von Stadtstraßen 4 MURIEL - Multifunktionale Retentionsflächen. Teil 1 - 3: Wissenschaftl. Grundl., Praxistests, Arbeitshilfe (2017) Starkregenvorsorge - Anlage multifunktionaler Retentionsflächen Umfassende Informationen (u. a. Maßnahmen + deren Bewertung und Betrieb, Fördermöglichkeiten) 5 Wassersensible Stadt- und Freiraumplanung - SAMUWA (2016) Wasserhaushalt, Überflutungsvorsorge, städtebauliches Leitbild - für Siwawi, Stadt-/ Landschaftsplaner Vorgehensmodell für den Planungsprozess, Analysemethoden (u. a. Wabila) 6 Grauwasserrecycling wirtschaftlich schon rentabel? (2005) Grauwasser und seine Nutzung Kurzübersicht zum Thema, weiterführende Literatur Klimaanpassung in Raumplanung und auf Bauleitplanungsebene 7 Klimaanpassung in der räumlichen Planung (2016) u. a. Starkregen, Hochwasser in Raumordnung und Bauleitplanung Ausführliche Praxishilfe, fachl./ rechtl. Grundlagen mit Formulierungshilfen 8 Klimaanpassung in Planungsverfahren (2008) Leitfaden für die Stadt- und Regionalplanung, Schwerpunkt Nordwestdeutschland Maßnahmen der Landschafts-/ Stadtplanung, Hochwasseru. Küstenschutz 9 Leitfaden Kommunales Starkregenrisikomanagement in Baden-Württemberg (2016) Starkregen - Risikomanagement und Analyse der Gefahrenlage für Kommunen. Umfassender thematischer Überblick, u. a. Starkregengefahrenkarten, Fördermöglichkeiten Tabelle 1: Berichte und Leitfäden zum Thema (Stark-)Regenmanagement als Klimaanpassung und deren Inhalte. © Böhnke 37 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Grad der Austrocknung des Bodens (insbesondere bei tonhaltigen Böden), der Topographie des Geländes usw. Bei ebenem Gelände mit gut durchlässigen Böden, wie in Mannheim und Karlsruhe, kann überschüssiges Regenwasser gut in Mulden (begrünt, multifunktional, bei Bedarf kombiniert mit Rigolen; privater oder öffentlicher Bereich) gesammelt und versickert werden; anspruchsvoller ist dabei die Schaffung von wasserleitenden Gefälle- und Bordstrukturen (mind. 2 % Gefälle) im Straßenraum aufgrund der ebenen Topographie ([1], Tabelle 1, Nr.-2). Soll die Wassermenge nachträglich reduziert werden, die im Starkregenfall im Bestand abgeleitet werden muss, kann dies über Entsiegelung und Begrünungsmaßnahmen oder die nachträgliche Implementierung von Zwischenspeichern bzw. Versickerungsbauwerken jeglicher Form erreicht werden - von Dachbegrünungen, über Mulden-Rigolen-Lösungen oder Zisternen zur Regenwassersammlung. Die Regenwasserbewirtschaftung ist auch im Hinblick auf Trockenphasen und zum Schutz der Ressource Wasser eine zukunftsfähige Maßnahme mit vielen Synergieeffekten (Tabelle 1, Nr.-1). Konzeptuelle Darstellung der Ressource Wasser unter wasserwirtschaftlichen Aspekten Da einerseits ein Zuviel an Wasser besteht und das überschüssige Regenwasser im Starkregenfall schadlos „entsorgt“ werden muss (ableiten, zwischenspeichern, versickern usw.), andererseits aber die Ressource Wasser an sich ein wertvolles Gut ist, sollte das Ziel nachhaltigen Wassermanagements die Schonung von Trinkwasserressourcen (meist Grund- oder Oberflächenwasser) sein und die gezielte Sammlung, Aufbereitung und Nutzung von Regenwasser (zentral oder dezentral). Zur Schonung von Trinkwasser kann auch die Nutzung von Grauwasser als Sekundärquelle sinnvoll sein (Tabelle- 1, Nr. 1, 6). Eine Übersicht über verschiedene Aspekte zum Thema Wasser/ -wirtschaft im Bestand gibt Bild-2. Die Bedeutung von Schonung bzw. Sanierung von Grund- und Oberflächenwasserressourcen sowie die Regenwassernutzung wird durch den Klimawandel sehr wahrscheinlich zunehmen. Zwar ist die genaue Entwicklung der regionalen Niederschlagsverteilung schwer zu prognostizieren, nicht aber die Effekte der gut prognostizierbaren Temperaturerhöhung. Höhere Verdunstungsraten und längere Trockenphasen werden zu einem höheren Wasserverbrauch in verschiedenen Sektoren führen. War beispielsweise die deutsche Landwirtschaft in vielen Sparten nicht oder wenig auf Bewässerung angewiesen, führen höhere Temperaturen (mehr Verdunstung) und längere Trockenzeiten (weniger oberflächennahes Bodenwasser) unweigerlich zu höherem Wasserbedarf für die Bewässerung (vor allem für Obstbäume und Feldfrüchte), um die Versorgung der Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Bild 2: Wasser(-wirtschaft) im urbanen Raum: Herkunft, Stoffflüsse sowie Nachhaltigkeits- und Seitenaspekte. © Böhnke, Quellen: s. Tab.1 38 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Kommunale Klimaanpassung im Neubau Es gibt sehr viele Leitfäden und Praxishilfen, die sich mit dem Thema beschäftigen. Da insbesondere Starkregen ein über einen kurzen Zeitraum auftretendes und eher technisches Problem darstellt, seine Effekte vergleichsweise gut abschätzbar, sichtbar und auch messbar sind, bieten die Leitfäden im Vergleich zu Schriften zu anderen Klimawandelfolgen deutlich mehr konkrete, oft praxiserprobte Anpassungs- und Minderungsmaßnahmen samt Festsetzungsmöglichkeiten für den Bauleitplan. Doch noch ein anderer Effekt scheint dieses Thema für den Prozess der Bauleitplanung gut handhabbar zu machen: Die Effekte einzelner Starkregenvorsorge- Maßnahmen sind deutlich konkreter zu beziffern und können anhand weniger Parameter (zum Beispiel: Regenmenge/ Zeiteinheit, Fassungsvermögen der Rückhaltemaßnahme, Kanaldimensionierung usw.) vergleichsweise genau abgeschätzt werden und sind im Abwägungsprozess daher gut begründbar („harter Faktor“). Im Gegensatz dazu sind die Effekte von Maßnahmen zur Linderung von Hitze deutlich schwerer zu beziffern, da das lokale Mikroklima und dessen Effekt auf die Anwohner (Biometeorologie) das Ergebnis hochkomplexer und raumzeitlich stark variierender (Wechsel-)Vorgänge sind, und die simple Rückführung auf einfache Parameter wie zum Beispiel Lufttemperatur („durch die Maßnahme wird es im Mittel um 1 °C kühler vor Ort“) irreführend und eher kontraproduktiv sein können. Wer schon im Sommer von der Sonne in den Schatten Baumes getreten ist weiß, dass nicht allein die Lufttemperatur für das Wohlbefinden entscheidend ist. Da die Bauleitplanung aber derartige Größen in ihrer Argumentation benötigt, und diese für Hitze deutlich weniger konkret zu formulieren sind als für andere Bereiche, hat das Thema immer Nachteile gegenüber anderen Belangen („weicher Faktor“). Ein weiter kritischer Faktor beim Thema Starkregenvorsorge in der Bauleitplanung ist „den richtigen Zeitpunkt“ nicht zu verpassen. Gemeint sind sowohl die richtige Planungsphase (Rahmenplanung, städtebaulicher Entwurf, B-Plan, Objektplanung usw.) als auch das Thema innerhalb der jeweiligen Planungsphase frühzeitig einzubringen. Ein Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Bauleitplanern und Klimaanpassungsexperten ist der Vorschlag einer Zuordnung verschiedener Starkregen-Anpassungsmaßnahmen zu den einzelnen Planungsphasen (Tabelle 2). Flächenintensive Maßnahmen wie Flächen- oder Muldenversickerung oder das Schaffen einer angepassten Geländetopographie sind Aspekte, die sehr frühzeitig in den städtebaulichen Entwurf, besser noch in die Vorplanung bzw. in die Bedingungen bei der Wettbewerbsausschreibung integriert werden müssen. Eine nachträgliche Berücksichtigung flächenintensiver Lösungen kann erhebliche Planänderungen erfordern, die aus Zeit- und Kostengründen schwer vertretbar wären. Als Folge müssten, ähnlich wie im Bestand, kleinteilige und dezentrale Lösungen gesucht werden die teils deutlich teurer und ressourcenintensiver sind (Flächen-/ Muldenversickerung versus technische Rigolen). Dabei sind diese Starkregen-Sammelflächen, multifunktional und ansprechend gestaltet, auch hinsichtlich des Freiraums ein Gewinn, lockern sie doch den Gebäudebestand auf, wirken sich begrünt positiv auf das Mikroklima aus und bieten entsprechend ausgestaltet eine hohe Aufenthaltsqualität. Die größte Schwierigkeit aber auch größte Chance ist es daher, die neuen Ansprüche der Klimaanpassung in die bestehende Planungsroutine zu integrieren. Dies kann über den frühzeitigen und regelmäßigen Einbezug eines Klimaanpassungsexperten in den Planungsprozess geschehen, der am besten direkt im Stadtplanungsamt verortet ist. Oder auch über eine klare Verteilung von Zuständigkeiten für Bild 3: Starkregenereignis und Effekte auf versiegelten (oben) versus begrünten (unten) Flächen. © Böhnke 39 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? die neuen Belange, und eine intensivere und frühzeitigere Zusammenarbeit zwischen Planungsamt und Fachabteilungen. Aufgrund des sektoral organisierten Verwaltungssystems ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Fachbereichen systemimmanent erheblich erschwert. Um den Anforderungen des Baugesetzbuches zur Förderung der Klimaanpassung (§ 1 Abs. 5) dennoch gerecht zu werden, ist daher - bis Planungsroutinen entwickelt sind und das Thema der Klimaanpassung fachbereichsübergreifend implementiert ist - ein erhöhter Arbeitseinsatz unumgänglich. Die Lokal-Politik kann durch die Priorisierung des Themas hierbei entscheidende Impulse geben. Abschließend ist zu sagen, dass die Wissengrundlage zum Thema Klimawandel und -anpassung in vielfältiger Form vorhanden ist, viele naturnahe bis technische Anpassungsmaßnahmen stehen zur Klimaanpassung in Bestand und Neubau zur Verfügung. Die Realisierung in der Praxis ist dabei mit vielfältigen Herausforderungen konfrontiert, etwa dem politischen Willen, der Integration in Verwaltungsstrukturen und -abläufe, der wirtschaftlichen Machbarkeit (von Einzelhaushalten bis Staat) aber auch der gesellschaftlichen Tragfähigkeit der notwendigen Anpassungen. Die Dringlichkeit zur Umsetzung ergibt sich direkt aus den rezenten und zu erwartenden Auswirkungen des Klimawandels, die die bisherigen Formen im Umgang mit Themen wie Niederschlags- und Wasserressourcenmanagement, aber auch mit Hitze auf die Probe stellen. Dr. Denise Böhnke Wissenschaftliche Mitarbeiterin Arbeitsgruppe Umweltsystemanalyse Karlsruhe Institut für Technologie (KIT) Kontakt: denise.boehnke@kit.edu apl. Prof. Dr. Stefan Norra Leiter Arbeitsgruppe Umweltmineralogie und Umweltsystemanalyse Karlsruhe Institut für Technologie (KIT) Kontakt: stefan.norra@kit.edu AUTOR*INNEN Erst-Verortung Maßnahmen zur Zielerreichung 1 Übergeordnete/ Strategische/ Rahmenplanung Rückbau und Entsiegelung (Retention/ Versickerung) Grünflächen anlegen (Retention/ Versickerung) Reaktivierung ehem. Gräben und Fließgewässer Reduzierung der baulichen Dichte 2 Städtebaulicher Entwurf Bauliche Dichte regeln (z. B. GRZ) Flächen- oder Muldenversickerung Angepasste Geländetopographie schaffen (schadlose Ableitung) Grünflächen anlegen (Retention/ Versickerung) 3 B-Plan Wasserdurchlässige Beläge (Versickerung) Fassadenbegrünung (Wasserrückhalt) Dachbegrünung (Wasserrückhalt) Begleitmaßnahmen Starkregenvorsorge, z. B. Erdgeschossbodenhöhe, Straßenoberkanten usw. (schadlose Ableitung) Multifunktionale Fläche (Sammel-Retention/ Versickerung) 4 Objektplanung Regenwasserspeicherung (Baumrigole, Speichermulde) Angepasste Straßentopographie schaffen (schadlose Ableitung) Gebäudegebundene Retentionsräume (Neubau) Abdichtung gegen Sickerwasser (z. B. Schwarze/ weiße Wannen) Schutzmaßnahmen gegen Rückstau (Hebeanlage, Verschluss) LITERATUR [1] Institut für Industriebetriebslehre und Industrielle Produktion (IIP): NaMaRes - Ressourcenmanagement im Quartier im Kontext nachhaltiger Stadtentwicklung, 2019. Projekt-Homepage. https: / / www.iip. kit.edu/ 1064_4242.php. [2] Vogt A., Böhnke D., Norra S.: Umsetzung der kommunalen Klimaanpassung in die Bauleitplanung im Pilotprojekt der Entwicklung des Geländes der Spinelli Barracks / Grünzug Nordost in Mannheim. Abschlussbericht mit Maßnahmenkatalog. Hrsg: LUBW Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (LUBW). Karlsruhe, 2018. Tabelle 2: Strategische Maßnahmen für das Regenwassermanagement. © Böhnke 40 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Unsere Städte sind kontinuierlicher Änderung unterworfen. Das Bevölkerungswachstum führt zu einem steigenden Bedarf an Wohn-, Gewerbe- und Verkehrsflächen und damit zu zunehmender Versiegelung von natürlichen Flächen. Aber auch das Klima ändert sich und führt unter anderem zu vermehrt auftretenden Starkniederschlagsereignissen aber auch zu längeren Trockenperioden und Hitzewellen, bzw. einer steigenden Anzahl an Hitzetagen und Tropennächten pro Jahr [1, 2, 3]. Ohne Anpassung führen diese Effekte zu einer Überlastung bestehender Entwässerungsnetze und einer Verschlechterung mikro- und bioklimatischer Bedingungen. Somit sehen sich Städte in naher Zukunft großen Herausforderungen gegenübergestellt, welchen sie mit nachhaltigen Anpassungsmaßnahmen entgegenwirken müssen. In der Planung der Niederschlagswasserbehandlung hat bereits ein Paradigmenwechsel eingesetzt, als im Neubau Niederschlagswasser nicht mehr in die bestehende Kanalisation einzuleiten ist, sondern auf eigenem Grund dezentral behandelt wird. Oft besteht diese Behandlung in einer Versickerung in den Untergrund, aber auch andere Verfahren (Gründächer, Regenwasserteiche, Regengärten, Regenwassernutzungen, etc.) sind möglich. Zunehmend gewinnt dabei der Mehrfachnutzen der Anlagen an Bedeutung. Derartige naturnahe Lösungen, so genannte „Nature-Based Solutions (NBS)“ [4], dienen nicht mehr nur der raschen Ableitung anfallender Niederschlagsvolumina, sondern zeichnen sich durch zusätzliche Ökosystemdienstleistungen aus. So können, zusätzlich zur Entwässerungsfunktion Mikroklima, Biodiversität und/ oder Grundwasserbilanz verbessert und auch Erholungsräume geschaffen werden [5]. Weltweit werden ähnliche Systeme und Konzepte zur Minderung der Auswirkungen des Klimawandels eingesetzt, die Bezeichnungen sind in den verschiedenen Ländern jedoch unterschiedlich [6]. Eine in den letzten Jahren immer häufiger verwendete Herangehensweise zur Klimawandelanpassung in den Städten ist das Schwammstadt-Prinzip, welches durch die Verbesserung der natürlichen Prozesse Infiltration, Versickerung, Evapotranspiration und Speicherung von Wasser sowie durch die Förderung von Synergien Konzepte für eine nachhaltige und klimaresiliente Stadtentwicklung darstellt [7]. Die wichtigsten Faktoren des Effekts der überwärmten Städte sind die Unterschiede in Evapotranspirations- und Konvektionseffizienz zwischen den städtischen Gebieten und deren Umland [8]. Somit verstärkt eine zunehmende Oberflächenversiegelung, die zu höheren Abflussraten, verringerter Grundwasserneubildung und in der Folge zu einer verringerten Evapotranspiration führt [9], die Temperaturunterschiede zwischen der Stadt und dem Umland, was als urbaner Wärmeinseleffekt bekannt Rolle der Energie- und Wasserflüsse im Stadtsystem Steigerung der Resilienz unserer Städte zur Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels Klimawandelanpassung, Resilienz, Stadtgrün, Stadtklima, Urbanisierung, Wasserwirtschaft Yannick Back, Wolfgang Rauch, Manfred Kleidorfer Die voranschreitende Versiegelung unserer Städte im Zusammenspiel mit den Auswirkungen des Klimawandels führt, durch höhere Abflussraten, verringerte Grundwasserneubildung und fehlende Evapotranspiration, vermehrt zu Überflutungen und einem Anstieg des urbanen Wärmeinseleffekts. Im Projekt cool-INN werden Synergien und die Multifunktionalität von Klimawandelanpassungsmaßnahmen genutzt, um eine ideale Anlage mit hohem Kühleffekt zu konzipieren. Wissenschaftlicher Schwerpunkt ist eine ganzheitliche Betrachtung des Energie- und Wasseraustauschs zwischen der Hydrosphäre, Atmosphäre und Biosphäre. 41 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? ist [10]. Dies führt zu einer Verschlechterung der Lebensqualität, sowie zu einer Erhöhung der Gesundheitsrisiken und hitzebedingter Sterblichkeit [11, 12]. Durch die zunehmende Versiegelung und die damit einhergehende fehlende Porosität in den Städten werden die negativen Effekte verstärkt. Gegenteiliges bewirkt die Erhöhung der Infiltrations- und Speicherrate, wodurch die Vegetation mit Wasser versorgt werden kann. Mittels einfallender Sonnenstrahlung nutzen Vegetationsflächen die Energie zur Photosynthese und tragen, neben der Aufnahme von Kohlendioxid (CO 2 ) und der Abgabe von Sauerstoff (O 2 ), durch den Prozess der Evapotranspiration zur Verdunstungskühlung bei. Die hierfür aufgebrachte Energie kann auch als latente Wärme (LE) bezeichnet werden. Auf versiegelten Flächen wird weder Wasser gespeichert, noch kann Wasser in den Untergrund versickern. Die durch die Sonneneinstrahlung ankommende Energie wird auf helleren versiegelten Oberflächen reflektiert und auf dunkleren Oberflächen absorbiert. Tagsüber trägt die absorbierte Energie zur Erhöhung der Oberflächentemperatur bei. Die über den Bodenwärmestrom (G) im Unterboden gespeicherte Energie trägt durch den Wärmeaustausch zwischen Boden und Atmosphäre bereits tagsüber, aber vor allem nachts, wenn die Energiezufuhr durch die Sonneneinstrahlung versiegt, zur Aufheizung der bodennahen Luft bei. Im Gegensatz zu vegetativen Flächen nutzen versiegelte Flächen die Energie zur Erhöhung der bodennahen Lufttemperatur. Diese Energie wird auch als sensible Wärme (H) bezeichnet. Daraus folgt eine Erhöhung der städtischen Hitzebelastung sowie eine Verschlechterung des menschlichen Wohlbefindens. Durch das vermehrte Auftreten von Hitzetagen pro Jahr wird diese Situation zunehmend verschlechtert. Das Verhältnis von H zu LE, was als Bowen-Verhältnis verstanden wird, ist essentieller Bestandteil der Oberflächenenergiebilanz, welche wiederum grundlegend für das interagierende System Boden-Atmosphäre ist [13]. Berücksichtigt man nun auch den Aspekt durch den Klimawandel stärker ausgeprägter Trockenperioden, wird ersichtlich, dass die Infiltration und die natürliche Speicherung auf und innerhalb innerstädtischer Vegetationsflächen an Grenzen stoßen, um die Vegetation über die Sommermonate hinweg ausreichend mit Wasser zu versorgen. Eine trockene, unter Stress stehende Vegetation ist nicht mehr in der Lage, entscheidend zur Verdunstungskühlung beizutragen. Um unsere Städte effizient gegen die Auswirkungen des Klimawandels anzupassen, bedarf es, neben der Entsiegelung, einer Optimierung der Anpassungsmaßnahmen hinsichtlich der Wasserversorgung, bzw. des Niederschlagswassermanagements. Die Steigerung der Reflektion durch hellere Oberflächen allein, wie beispielsweise auf Dächern durch das Konzept „white roofs“ bekannt, trägt nicht zu einer ganzheitlichen Betrachtung bei und nimmt zudem Platz und Raum weg, um Niederschlagswasser versickern, speichern und Verdunstungskühlung fördern zu können. Energie- und Wasseraustausch unterschiedlicher Oberflächen Um Synergien nutzen und die Multifunktionalität von dezentralen Entwässerungssystemen steigern zu können, bedarf es einer ganzheitlichen Betrachtung der komplexen Systeme und Prozesse, die den Energie- und Wasseraustausch zwischen der Hydrosphäre, Atmosphäre und Biosphäre steuern. Sowohl für die urbane Entwässerung als auch für die Temperaturentwicklung sind die Stadtstruktur und die Oberflächenbeschaffenheit (Versiegelungsgrad, Bowen- Verhältnis, Emissionswert und Gesundheitszustand der vorhandenen Vegetation) essentiell und müssen auf verschiedenen Maßstabsebenen betrachtet und analysiert werden. Ein eigens am Arbeitsbereich für Umwelttechnik der Universität Innsbruck entwickelter GIS-basierter Modellierungsansatz zur Analyse der urbanen Temperaturentwicklung [14], welcher in der Lage ist, räumlich verteilte Werte der Oberflächentemperatur, mittleren Strahlungstemperatur und des UTCI - Universal Thermal Climate Index mit einer räumlichen Auflösung bis zu unter einem halben Meter zu modellieren, wird laufend weiterentwickelt. Durch eine Verbesserung des Ansatzes können bereits weitere Parameter und Prozesse innerhalb des interagierenden Systems Boden- -- Atmosphäre analysiert werden (siehe Bild 1). Die verfügbare Energie, berechnet aus der Differenz der netto Oberflächenstrahlung und G, nimmt mit steigendem Versiegelungsgrad ab und versiegt im Schatten fast gänzlich. Der Versiegelungsgrad korreliert positiv mit dem Bowen-Verhältnis. In Form von LE stellt die verfügbare Energie zusammen mit dem Wassergehalt der Vegetation die Basis zur potenziellen Evapotranspiration dar. Überwiegt der Anteil von H, verringert sich das Potenzial der Verdunstungskühlung und G nimmt zu (Erhöhung der nächtlichen urbanen Hitze). Dies spiegelt sich in den Oberflächentemperaturen wieder und führt zur Erhöhung der tagsüber vorkommenden urbanen Hitze. Durch den Wärmeaustausch steigen in weiterer Folge die bodennahen Lufttemperaturen, wodurch das thermische Wohlbefinden negativ beeinflusst und der urbane Hitzeinseleffekt verstärkt wird. 42 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Um ganzheitliche Aussagen über den oberflächeninduzierten Wärmebzw. Kühleffekt machen zu können, wurden H und G addiert (diese stellen die wärmezuführenden Determinanten dar) und LE gegenübergestellt. Die Interaktion beider Kurven (siehe Bild 1) zeigt einen Kipppunkt, welcher den Kühleffekt (höherer Anteil an LE führt zur Erhöhung der Verdunstungskühlung) vom Wärmeffekt (höherer Anteil an H + G führt zur Erhöhung der bodennahen Lufttemperaturen und des nächtlichen Bodenwärmestroms) trennt. Die Überlagerung dieser Ergebnisse mit den zuvor berechneten Werten der Oberflächentemperaturen und des UTCI zeigen, anhand genauer numerischer Werte des UTCI, die Korrelation der drei Energieflüsse (H, G und LE) mit dem menschlichen Wärmeempfinden. Des weiteren zeigen die Daten den Zusammenhang zwischen dem verfügbaren Wassergehalt, dem Gesundheitszustand der Vegetation und dem Potenzial der Verdunstungskühlung. Eine gesunde gut mit Wasser versorgte Vegetation ist in der Lage die Oberflächentemperaturen um 19 °C (ΔLST) und den UTCI um 2.55 °C (ΔUTCI) im Vergleich zu einer versiegelten Fläche zu reduzieren. Diese Erkenntnisse unterstreichen die Wichtigkeit einer inkludierten und nachhaltigen Wasserversorgung, bzw. eines Niederschlagswassermanagements zur optimierten Anpassung an die Folgen des Klimawandels. Um den Modellierungsansatz weiter zu verbessern, aber auch um die Auswirkungen verschiedener Klimawandelszenarien zu berücksichtigen, wird für zukünftige Studien eine Methodik der numerischen Strömungsmechanik herangezogen (engl. CFD - Computational Fluid Dynamics). Diese Methodik erlaubt die Simulation von Windströmungen und -geschwindigkeiten, sowie Lufttemperaturen auf Basis von bestimmten Eingabeparametern, deren Ergebnisse dann wiederum als Eingabeparameter im GIS-basierten Modell dienen (siehe Bild 2). Aus den daraus folgenden Untersuchungen kann, auch unter Berücksichtigung verschiedener Klimawandelszenarien, der Einfluss von Klimawandelanpassungsmaßnahmen durch die Veränderung der Oberflächeneigenschaften, auf die Lufttemperaturen im kleinräumigen Maßstab ermittelt werden. Von der Theorie in die praktische Umsetzung Neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen geht es aber auch um deren praktische Umsetzung. Die vorab präsentierten Studien sind Teil des Anfang 2020 gestarteten Projektes cool-INN im Herzen der Stadt Innsbruck in Österreich. Das Projekt stellt eine Schnittstelle dar, Wissenschaft und Praxis zusammenzuführen. Innerhalb des von der Innsbrucker Kommunalbetriebe AG ins Leben gerufenen Projektes soll mit Hilfe wissenschaftlicher Konzeptionsarbeit und Simulation (durch die Projektpartner Universität Innsbruck und BOKU Wien) sowie in Zusammenarbeit mit kommunalen Entscheidungsträgern eine ideale Anlage mit hohem Kühleffekt, aber auch mit multifunktionalen Möglichkeiten konzipiert werden. Es ist geplant, den Stand der Technik mit der Expertise aller notwendigen Stakeholder und den Bedürfnissen der Bürger*innen zu vereinen, um einen nachweislichen Kühleffekt für Innsbruck zu erzielen. Das Projekt schafft so einen Experimentierraum für blaue und grüne Infrastruktur und die Steigerung von Mehrfachnutzen im urbanen Raum. Da es sich beim Untersuchungsgebiet und Umgestaltungsobjekt um einen Park (dem Ing.-Etzel-Park im Stadtteil Saggen der Stadt Innsbruck) handelt, Bild 1: Räumliche Verteilung der latenten Wärme (LE), sensiblen Wärme (H), des Wassergehalts der Vegetation ( VWC) und der potenziellen Evapotranspiration für unterschiedliche Oberflächeneigenschaften innerhalb einer Fallstudie in der Stadt Innsbruck in Österreich. Die Grafik beschreibt den Zusammenhang zwischen dem verfügbaren Wassergehalt, dem Gesundheitszustand der Vegetation und dem Potenzial der Verdunstungskühlung. Zudem beschreibt sie einen Kipppunkt, welcher den Kühleffekt vom Wärmeeffekt trennt. © Back et al. 43 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? stehen vor allem die Oberflächen im Vordergrund. Der Park ist aktuell zu fast 70 % versiegelt und lädt in der aktuellen Gestaltung daher wenig zum längeren Verweilen ein. Die konkrete Umgestaltung der Parkanlage in die Praxis wird ab Sommer 2021 in Angriff genommen und ist, wie in Bild 3 zu sehen, wie folgt geplant: Das Herzstück des Projektes bildet das Wasserkonzept und setzt sich aus den zwei Schwerpunkten Frischwasserkreislauf und Brauchwasserkreislauf zusammen. Von drei Seiten führen gepflasterte Wasserläufe zu einer zentralen ebenfalls gepflasterten Fläche. In diesen Bereichen werden unterschiedliche Wasserelemente angebracht, welche allein oder kombiniert betrieben werden können. Die Steuerung der Wasserelemente erfolgt automatisch in Kopplung mit einer Wetterstation. Aus hygienischen Gründen werden das zentrale Wasserelement, die Wasserwände und der Trinkbrunnen mit Frischwasser gespeist. Das zentrale Wasserelement verfügt über sechs Bodendüsen mit zwei unterschiedlichen Düsenarten: Vollstrahldüsen und Schaumeffektdüsen. Das verwendete Wasser wird in der zentralen Fläche etwa 5 cm aufgestaut und gelangt über einen Ablauf in die Versickerung bzw. in den Brauchwasserkreislauf. Drei aneinander gereihte Wasserwände sind am Ende eines Wasserlaufes angebracht und können mittels des anliegenden Leitungsdruckes von ungefähr 10 bar zwei unterschiedliche Sprühnebelarten erzeugen. Der Trinkwasserbrunnen liegt am Ende eines weiteren Wasserlaufes und ist als Umlaufbrunnen ausgeführt. Ein Teil des verwendeten Frischwassers wird über den Brauchwasserkreislauf wiederverwendet. Aus der zentralen Fläche wird das bereits verwendete Wasser über einen Bodenablauf in einen Schlammfang und anschließend in eine Versickerung geleitet. Aus dem Schlammfang wird mittels einer Saugleitung ein Teil des verwendeten Wassers entnommen und nach einer Filtration der Schwebstoffe und der Passage durch eine UV-Anlage an den Enden der Wasserläufe diesen bodennah wieder zugeführt. Die Wasserläufe werden abwechselnd einzeln beschickt, so dass die nicht verwendeten Wasserläufe abtrocknen können. Dadurch soll die Verdunstungsleistung erhöht sowie eine mögliche Algenbildung unterbunden werden. Im Zuge der Umgestaltung wird der kranke Pflanzenbestand erneuert und neue Bepflanzung hinzugefügt. Der Grünflächenanteil wird von rund 1 000- m² auf 1 500- m² erweitert. Ausgenommen Wasserläufe und zentrale Wasserfläche werden in der Gestaltungsfläche alle befestigten Flächen aus wasserdurchlässigen Materialen ausgeführt. In den Wegebereichen wird zunächst Drainbeton (530 m²) eingesetzt. Die Veranstaltungsfläche (Bild-3: B) sowie eine Vorplatzfläche (Bild 3: A) werden mit einer wassergebundenen Wegedecke (260 m²) ausgestattet. Bei der Umsetzung wird grundsätzlich auf den Einsatz hocheffektiver Baustoffe im Sinne des Projektziels, des Umweltschutzes und der Nachhaltigkeit geachtet. So werden zum Beispiel bei den wassergebundenen Wegedecken CO 2 -neutral produzierte Materialien der DISPOplus GmbH (ENREGIS-Gruppe) eingesetzt. Der Aufbau einer wassergebundenen Wegedecke ist in Bild 3 dargestellt. Die Deckschicht und die dynamische Tragschicht verfügen bei hoher Beanspruchbarkeit über die Eigenschaft, Niederschlagwasser zu speichern und sukzessive wieder an die Umwelt abgeben zu können. Die Deckschicht wird zudem in unterschiedlichen Farbtönen (hier grau und rot) aufgebracht, um auch hier die unterschiedlichen thermischen Auswirkungen der Farbgebung als Feldversuch analysieren zu können. Insgesamt werden durch die angeführten Maßnahmen Bild 2: Kopplung der Software GIS und CFD zur Verbesserung der Eingangsdatensätze Windgeschwindigkeit und Lufttemperatur und zur genaueren Untersuchung des Einflusses unterschiedlicher Klimawandelanpassungsmaßnahmen, unter Berücksichtigung verschiedener Klimawandelszenarien, auf das Stadtklima auf mikroskalarer Ebene. © Back et al. 44 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? rund 1 198-m 2 (85-m 3 ) Asphalt abgetragen und durch Grünflächen oder wasserdurchlässige Flächen ersetzt. Die Oberflächen der Sitzmöglichkeiten sind aus Holz und werden mit Schlitzen ausgeführt. Dadurch kann die Luft unter der sitzenden Person zirkulieren und erzielt eine kühlende Wirkung. Bei der Farbgestaltung und Materialwahl der Oberflächen wird auf die Auswahl von nicht zu hellem und nicht zu dunklem Material geachtet, da dies entweder zu einer hohen Wärmeabsorption oder -rückstrahlung führt. Danksagung Diese Arbeit ist Teil des Projektes cool-INN (Projekt Nr. KR19SC0F14953), Förderungszeitraum: Februar 2020 bis Januar 2023, welches vom Österreichischen Klima- und Energiefonds gefördert wird. LITERATUR [1] Willems, P. et al.: Impacts of Climate Change on Rainfall Extremes and urban Drainage Systems. International Water Association (IWA) Publishing 11, (2012). [2] Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). Summary for policymakers. IN: Climate Change 2014: Impacts, Adaptation and Vulnerability. Part A: Global and sectoral Aspects. Contribution of Working Group II of the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge University Press, Cambridge, United Kingdom and New York, NY, USA, (2014) p.1 - 32. [3] Bastin, J-F. et al.: Understanding climate change from a global analysis of city analogues. PLoS ONE 14, (2019) p. 1 - 13. [4] Nesshöver, C. et al.: The science policy and practice of nature-based solutions: An interdisciplinary perspective. Science of the Total Environment 579, (2017) p. 1215 - 1227. [5] Stangl, R. et al.: Wirkung der grünen Stadt - Studie zur Abbildung des aktuellen Wissenstandes im Bereich städtischer Begrünungsmaßnahmen. Für das Bundesministerium Verkehr, Innovation und Technologie, Österreich, Wien (2019). [6] Fletcher, T. D. et al.: SUDS, LID, BMPs, WSUD and more - The evolution and application of terminology surrounding urban drainage. Urban Water Journal 12, (2014) p. 525 - 542. [7] Nguyen, T. T. et al.: Implementation of a specific urban water management - Sponge City. Science of the Total Environment 652, (2019) p. 147 - 162. [8] Manoli, G. et al.: Magnitude of urban heat islands largely explained by climate and population. Nature 573, (2019) p. 55 - 60. [9] Bonneau, J. et al.: Stormwater infiltration and the ‘urban karst ’ a review. Journal of Hydrology 552, (2017) p. 141 - 150. [10] Oke, T. R.: The energetic basis of the urban heat island. Quarterly Journal of the Royal Meteorological Society 108, (1982) p. 1 - 24. [11] Rydin, Y. et al.: Shaping cities for health: complexity and the planning of urban environments in the 21st century. Lancet 379, (2012) p. 2079 - 2108. [12] Vicedo-Cabrera, A. M. et al.: The burden of heat-related mortality attributable to recent human-induced climate change. Nature Climate Change 11, (2021) p. 492 - 500. [13] Moderow, U. et al.: Energy balance closure and advective fluxes at ADVEX sites. Theoretical and Applied Climathology 143, (2021) p. 761 - 779. [14] Back, Y. et al.: A rapid fine-scale approach to modelling urban bioclimatic conditions. Science of the Total Environment 756, (2021) p. 143732. Bild 3: Umgestaltungsplan des Ing.-Etzel-Parks im Innsbrucker Stadtteil Saggen und vergrößertes Detail des Aufbaus der im Projekt eingesetzten wassergebundenen Wegedecken (A und B). © DI Lisa Stöllnberger vom Referat Grünanlagen - Planung und Bau der Stadt Innsbruck AUTOREN Yannick Back, MSc. Doktorand Wissenschaftlicher Mitarbeiter Universität Innsbruck, Arbeitsbereich Umwelttechnik Kontakt: yannick.back@uibk.ac.at Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Wolfgang Rauch technischer Institutsleiter Universität Innsbruck, Arbeitsbereich Umwelttechnik Kontakt: wolfgang.rauch@uibk.ac.at Univ.-Prof. Dipl.-Ing. Dr. Manfred Kleidorfer technischer Professor für nachhaltige Wasserinfrastruktur Universität Innsbruck Arbeitsbereich Umwelttechnik Kontakt: manfred.kleidorfer@uibk.ac.at 45 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Die Gemeinde Tholey liegt im nördlichen Saarland (SL) und beherbergt in neun Ortsteilen knapp 13 000 Einwohner*innen auf einer Fläche von rund 58 km² (Bild 1). Aufgrund seiner geografischen Lage gehört Tholey zu den saarländischen Gemeinden mit den höchsten Jahresniederschlagsmengen von etwa 1 000-mm. Auch Starkregenereignisse haben in der jüngeren Vergangenheit in Teilen der Gemeinde ihre Spuren hinterlassen. Um die Folgen zukünftiger Extremwetterereignisse abzumildern und um die Bürger*innen zu schützen, wird in der Gemeinde das Projekt KAN-T - Schaffung eines KlimaAnpassungsNetzwerks in der Gemeinde Tholey zum proaktiven Umgang mit den Folgen des Klimawandels - umgesetzt, welches neben dem Thema Starkregen auch die Themen Hitze und Sturm behandelt. Ziel des Vorhabens ist es, eine Klimaanpassungsstrategie für die Gemeinde auf den Weg zu bringen, welche alle relevanten Akteure und Handlungsebenen einbezieht. Das Vorhaben wird durch das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU; FKZ 67DAS163A) gefördert. Das Projektteam besteht aus Vertreter*innen der IZES gGmbH, des Saar-Lor-Lux Umweltzentrums der Handwerkskammer des Saarlandes, der Gemeinde Tholey und des Landkreises St. Wendel. Den Kern des Projekts bildet das im Jahr 2019 gegründete KlimaAnpassungsNetzwerk Tholey (KAN-T), welches sich - getreu dem saarländischen Motto „Großes entsteht immer im Kleinen“ - als Ideenschmiede und Impulsgeber für Aktivitäten zur Klimaanpassung versteht und welches die Entwicklung und Umsetzung der Anpassungsstrategie für Tholey sowie die Information und Sensibilisierung der Bürger*innen unterstützt. Die aktive Beteiligung des Landkreises am Netzwerk gewährleistet darüber hinaus die Identifikation von Synergien mit Planungen und Aktivitäten benachbarter Kommunen und die Einbindung des KlimaAnpassungs- Netzwerks in bestehende Netzwerke und Initiativen übergeordneter administrativer Ebenen. Mit vereinten Kräften dem Klimawandel begegnen Das KlimaAnpassungsNetzwerk Tholey (KAN-T): Erfahrungsaustausch, Ideenschmiede und Impulsgeber Klimawandel, Starkregen, Akteursnetzwerk, Handwerk, Bauwesen, kommunale Planung Manuel Trapp, Dorothee Siemer, Ulrike Schinkel, Simon Spath Das Projekt KAN-T unterstützt die saarländische Gemeinde Tholey proaktiv dabei, sich den Folgen des Klimawandels zu stellen. Neben den Handlungsfeldern Wasser, Bauwesen und kommunale Planung ist die Gründung und Verstetigung des KlimaAnpassungsNetzwerks zentraler Bestandteil von KAN-T. Relevante Akteure widmen sich den zu erwartenden Herausforderungen und entwickeln umsetzbare Lösungsansätze. Ein erster ganzheitlicher Ansatz beginnt mit der Weiterbildung lokaler Betriebe, die gemeinsam mit Schüler*innen und kommunalen Akteuren Pegelmessgeräte bauen, und mündet in einem Frühwarnsystem für Starkregen, das von der Jugendfeuerwehr betreut und gewartet wird. Bild 1: Luftbild von Tholey. © Anton Didas, www.tholey.de, CC BY 4.0 46 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Das KlimaAnpassungsNetzwerk Tholey wirkt auf drei verschiedenen Stufen (Layer, Bild 2): Das aktive Kernteam setzt sich aus Vertreter*innen der Kommune, Fachplaner*innen, Ingenieur*innen und Architekt*innen, der Wasser- und Energieversorgung Kreis St. Wendel GmbH (WVW), des Zivil- und Katastrophenschutzes (Feuerwehr, THW), des Zweckverbands natura Ill-Theel, der Gewerbebzw. Handwerksbetriebe und -verbände sowie der Land- und Forstwirtschaft mit Bezug zur Gemeinde Tholey zusammen. Je nach Themenschwerpunkt wird das Kernteam um weitere Akteure (Layer „Thematische Einbindung“) erweitert, wie beispielsweise Ortsvorsteher*innen, Vertreter*innen sozialer Einrichtungen oder lokaler Vereine, Netzwerke oder Innungen, um andere Fachdisziplinen, Perspektiven und Expertisen in den Diskurs einzubeziehen. Andere relevante Akteursgruppen (Layer „Information“) werden regelmäßig über die Inhalte und Ergebnisse des Vorhabens und der Netzwerkarbeit informiert: Dazu gehören unter anderem die saarländischen Ministerien und der Landrat des Landkreises St. Wendel, übergeordnete Einrichtungen des Zivil- und Katastrophenschutzes, Verbände für Naturschutz, Handwerk, Industrie und Gewerbe, Organisationen der Land- und Forstwirtschaft, landesweit agierende Ver- und Entsorgungsunternehmen sowie regionale Banken. Gemeinsam mit den Akteuren wurden bereits während der Projektentwicklungsphase die Handlungsfelder „Wasser“, „Bauwesen“ und „Kommunale Planung“ als besonders relevant identifiziert. Diese Handlungsfelder boten zunächst die thematische Grundlage für die Netzwerkarbeit; innerhalb der Projektlaufzeit wird das Themenspektrum jedoch sukzessive erweitert. Handlungsfeld Wasser Durch verheerende Starkregenereignisse in den vergangen Jahren im Saarland ist die Thematik sehr stark ins Bewusstsein der Bürger*innen, aber auch der kommunalen Verwaltung gerückt. Daher lag der Fokus des KlimaAnpassungsNetzwerks zunächst auf dem Handlungsfeld Wasser. In einem ersten Schritt wurden mit Hilfe einer geeigneten Software Starkregenereignisse unterschiedlicher Jährlichkeit und Intensität simuliert. Auf Grundlage der so erzeugten Starkregengefahrenkarten (Bild 3) und eines dazugehörigen Simulationsvideos können nun potenzielle Gefahren für Gebäude und (kritische) Infrastrukturen und sensitive Einrichtungen identifiziert und mögliche Anpassungsmaßnahmen festgelegt werden. Während die statische Karte insbesondere in der kommunalen Planung und in der Öffentlichkeitsarbeit Verwendung findet, zeigt das Simulationsvideo die Dynamik eines Starkregenereignisses und unterstützt die Gemeinde bzw. die Feuerwehr bei der direkten Kommunikation mit den Bürger*innen (zum Beispiel: Verhalten vor, während und nach dem Starkregen). Die Bürger*innen haben die Möglichkeit, sich über drohende Gefahren zu informieren, gezielte Beratungsangebote durch Mitglieder des Netzwerks (zum Beispiel: Feuerwehr) wahrzunehmen und (im Rahmen der Eigenvorsorge) entsprechend selbst tätig zu werden. In Workshops des KlimaAnpassungsNetzwerks zum Handlungsfeld Wasser wurden auf Grundlage der verifizierten Simulationsergebnisse gemeinsam mit den Akteuren tragfähige Maßnahmen für verschiedene Verantwortungs- und Wirkungsbereiche definiert. Zu diesen gehören „private Maßnahmen zum Objektschutz“ (bauliche Maßnahmen), „private Maßnahmen zum Schutze der Allgemeinheit“ (zum Beispiel: Regenwasserrückhalt auf privaten Flächen) und „kommunale Maßnahmen“ (zum Beispiel: Schaffen von Retentionsflächen). Die Maßnahmenentwicklung wurde durch Wirksamkeitsanalysen und Finanzierungskonzepte ergänzt; die Ergebnisse fließen in die Anpassungsstrategie der Gemeinde Tholey ein. Handlungsfeld kommunale Planung Wohn- und Gewerbegebiete mit ihren Gebäuden, Wegebeziehungen und Infrastrukturen haben oft eine sehr lange Lebensdauer. Daher ist es wichtig, insbesondere im Neubau die Weichen bereits heute in Richtung Klimaanpassung zu stellen. Eine vorausschauende Planung unterstützt somit die Minderung gesundheitlicher Belastungen der Bevölkerung, die Reduzierung zukünftiger Schäden an Sachgütern und Infrastrukturen sowie damit verbundene Kosten für die Haushalte, für die Bild 2: Das Klima- Anpassungs- Netzwerk Tholey. © IZES 47 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Kommune und die Allgemeinheit. Im Handlungsfeld kommunale Planung sind geeignete Planungs- und Steuerungsinstrumente untersucht worden, die von der Gemeinde angewandt werden können, um die Umsetzung von einzelnen Anpassungsmaßnahmen sowie die Steigerung der Klimaresilienz der Gemeinde Tholey als Ganzes zu fördern. Grundsätzlich lassen sich hier formale, informelle sowie fakultative und fiskalische/ ökonomische Instrumente unterscheiden. Das Hauptelement der formellen Instrumente ist die Bauleitplanung als Grundlage stadtplanerischen Handelns. Sowohl in Flächennutzungsplänen als auch in Bebauungsplänen lassen sich Maßnahmen zur Minderung von Klimafolgen darstellen bzw. festsetzen (zum Beispiel: Freihalten von Kalt-/ Frischluftbahnen, Schaffung bzw. Erhaltung von Retentionsflächen oder Minimierung von Versiegelungsgraden). Während die formellen Instrumente überwiegend in der Neubau-Planung Berücksichtigung finden, bieten fakultative und fiskalische/ ökonomische Instrumente auch die Möglichkeit zur Maßnahmenumsetzung im Bestand. Zu diesen Instrumenten gehören unter anderem das Ausloben städtebaulicher Wettbewerbe oder die Schließung städtebaulicher Verträge, die Entwicklung von Gestaltungshandbüchern für Planende und Bauherr*innen sowie die gezielte Beratung und Baubegleitung im Hinblick auf klimaangepasstes Bauen. Über Gebühren (zum Beispiel: gesplittete Abwassergebühr), Bürger*innen- Wettbewerbe (zum Beispiel: zur Gartengestaltung) oder über spezielle Förderprogramme können gezielt Anreize zur klimaangepassten Gestaltung der Gebäude und des Wohnumfelds gesetzt werden. Als Gesamtkonzept zur klimaangepassten Planung fungiert als informelles Instrument die Klimaanpassungsstrategie für die Gemeinde Tholey. Hier werden die entscheidenden Argumente zur Klimaanpassung in der Bauleitplanung, aber auch bei der Formulierung städtebaulicher Verträge oder auch für den Bestand und die Instrumente des besonderen Städtebaurechts (Sanierung oder Stadtumbau; formelles Planungsinstrument) für Tholey grundsätzlich festgelegt. Ziel der Klimaanpassungsstrategie ist die Integration der Klimaanpassung als Querschnittsthema in alle Planungs- und Entscheidungsprozesse der Kommune. Handlungsfeld Bauwesen Das Handlungsfeld Bauwesen hat sich das Ziel gesetzt, Gebäudeeigentümer*innen in der Gemeinde Tholey für die Optionen der „baulichen Klimaanpassung“ zu sensibilisieren und eine entsprechende individuelle fachgerechte Beratung und Umsetzung zu ermöglichen. Einen Schwerpunkt der Aktivitäten des Handlungsfelds bildet daher die gezielte Aus- und Weiterbildung sowie Schulung von Handwerker*innen, Planer*innen, Ingenieur*innen und Bauamtsmitarbeiter*innen. In Zusammenarbeit mit der saarländischen Bauwirtschaft wurden hierzu zielgruppenspezifische Schulungsmodule erarbeitet. Diese Schulungsmodule sind in die gewerkübergreifenden Themenblöcke „Starkregen“, „Hitze“ sowie „Sturm, Blitz und Hagel“ eingeteilt. Der Themenblock „Starkregen“ zeigt in verschiedenen Unterrichtseinheiten (zum Beispiel: „Grundlagen Starkregen und Überschwemmungen“ und „Hochwasserangepasste Planung und Gestaltung“) die potenziellen Gefahren durch Starkregen, aber auch mögliche bauliche Anpassungsmaßnahmen. Zusätzlich sind themenblockübergreifende und 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES Bild 3: Starkregengefahrenkarte Tholey. © IZES 48 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? ergänzende Module erarbeitet worden, wie etwa „Effektive Gründächer“ und „Kühlen mit Wärmepumpen in Kombination mit PVbzw. PVT-Kollektoren“. Nach erfolgreicher Erprobung der Schulungsmodule ist eine feste Verankerung der Themen in der Handwerksausbildung vorgesehen. Zusätzlich zu den Schulungsmodulen wurde die Veranstaltungsreihe „Klimaanpassung in der Bauwirtschaft“ ins Leben gerufen, in der die Themen Hitze, Wasser sowie Sturm, Blitz und Hagel in kompakter Form einem breiten Fachpublikum nahegebracht werden. Ein weiterer Schwerpunkt des Handlungsfeldes ist die direkte Information der Bürger*innen bzw. Gebäudebesitzer*innen in Tholey über potenzielle Gefahren für ihre Gebäude etwa durch Starkregen, aber auch über private Handlungsmöglichkeiten und Verhaltensweisen, wie zum Beispiel den Einbau von Rückstauklappen oder Hebeanlagen, den Installationsort technischer Anlagen, die Art und Weise der Heizöl- oder Pelletlagerung. Neben herkömmlichen Informationsmaterialen, sowohl digital als auch in gedruckter Form, sind noch weitere Veranstaltungen (Besichtigung von Best-Practice-Beispielen) sowie Onlineangebote (Webportal zu KAN-T auf der Homepage Tholeys unter anderem mit der Starkregengefahrenkarte, dem Simulationsvideo, entsprechende Anpassungsmaßnahmen, Bürgerforen) vorgesehen. Die ersten vielversprechenden Ansätze Aus den Handlungsfeldern heraus wurden bereits erste Ansätze und Anpassungsmaßnahmen entwickelt, welche in der Gemeinde Tholey umgesetzt werden sollen. Im Handlungsfeld Bauwesen wurde die Vulnerabilität kommunaler und sozialer Einrichtungen in der Gemeinde insbesondere gegenüber Starkregen und Hitze analysiert und bewertet. Eine sinnvolle Lösung besteht darin, in Schulen aber auch in Pflegeheimen den sommerlichen Wärmeschutz zu verbessern. An dieser Stelle kann die Gemeinde voran gehen und durch die Umsetzung von Demonstrationsvorhaben Überzeugungsarbeit für den Nutzen „baulicher Klimaanpassung“ leisten. Im Handlungsfeld Wasser werden in Zusammenarbeit mit einem Ingenieurbüro und mit Hilfe der Starkregengefahrensimulation Abflussmengen unterschiedlich starker Niederschlagsereignisse für neuralgische Punkte in einem akuten Gefahrenbereich bezüglich des Starkregens innerhalb der Gemeinde ermittelt. Diese Abflussberechnung unterstützt die Planungen für eine Fremdwasserentflechtung und die Auslegung eines Regenrückhaltebeckens, wodurch potenziell gefährdete Siedlungsbereiche zukünftig geschützt werden. Im Handlungsfeld kommunale Planung fließen die Handlungsempfehlungen in die Entwicklung bestehender und zukünftiger Wohngebiete ein. Handlungsfeldübergreifender Ansatz Aktuell wird eine besonders wegweisende Maßnahme auf den Weg gebracht, die alle drei Handlungsfelder miteinander verbindet. Für die Gemeinde Tholey wird ein Frühwarnsystem für Starkregenabflüsse und Flusshochwasser aufgebaut. Die Grundlage für dieses Warnsystem stellen Ultraschall-Pegelmessgeräte (Bilder 4 und 5) dar, die an wichtigen Punkten in den Wassereinzugsgebieten der Gemeinde installiert werden. Per Long Range Wide Area Network (LoRaWAN) werden die Messwerte der einzelnen Messgeräte zentral zusammengeführt, verarbeitet und als Warnsystem für die Gemeinde Tholey, die Feuerwehr sowie die Bürger*innen der Gemeinde Tholey online, möglicherweise auch per Smartphone-App, verfügbar gemacht. Die Pegelmessgeräte werden auf Initiative der Wirtschaftsförderungsgesellschaft St. Wendeler Land mbH mit eigens dafür geschulten Handwerksbetrieben und gemeinsam mit Schüler*innen der Gemeinschaftsschule in Tholey gebaut. Anhand unterschiedlicher Starkregensimulationen (verschiedene Intensitäten) werden zusammen mit der örtlichen Feuerwehr und dem THW die neuralgischen Punkte für die Installation der Pegelmessgeräte identifiziert (Bild 6). Solarbetrieben sind die Messgeräte unabhängig von einer externen Stromversorgung und können beispielsweise an Brücken installiert werden. Mit der Wasser- und Energieversorgung Kreis St. Wendel GmbH werden zusätzlich bekannte Gefahrenschwerpunkte im Kanalnetz identifiziert, um hier mit leicht modifizierten Geräten (hinsichtlich der Energieversorgung) die Abflussmengen kontrollieren zu können. Nach erfolgreicher Installation der Geräte sollen diese über ein LoRaWAN ihre aktuellen Messwerte an die entsprechenden Bild 4 (links): Pegelmessgerät entwickelt in der IoT 2 -Werkstatt des Umweltcampus Birkenfeld, von oben. Bild 5 (rechts): Pegelmessgerät, von unten. © Wirtschaftsförderungsgesellschaft St. Wendeler Land mbH, www.wfg-wnd.de, CC BY 4.0 49 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Empfänger übermitteln. Dieses LoRaWAN wird mit Unterstützung des Landkreises St. Wendel im Rahmen des „Smart Cities“-Projekts in der Gemeinde installiert. Aktuell wird geprüft, wo genau die Daten zusammengeführt und verarbeitet und inwieweit diese Informationen zusätzlich in das Warnsystem der Feuerwehr integriert werden können, um die Dopplung von Organisationsstrukturen und Informationskanälen zu vermeiden und in Gefahrensituationen wertvolle Zeit einsparen zu können. Die Geräte werden im Freien installiert und sind somit ständigen Witterungseinflüssen, wildwachsenden Pflanzen aber auch Vandalismus ausgesetzt; für die Kontrolle, Pflege und Wartung der installierten Geräte werden aktuell Gespräche mit der örtlichen Jugendfeuerwehr geführt. Durch die Einbindung der verschiedenen Akteure und Handlungsebenen sowie das Aufgreifen und die Verknüpfung bestehender Netzwerkstrukturen wird die Reichweite des KlimaAnpassungsNetzwerks Tholey deutlich erhöht. Zusätzlich werden durch die Integration der freiwilligen Feuerwehr, der Jugendfeuerwehr und der örtlichen Schule Bürger*innen unterschiedlicher Altersklassen aktiv für das Thema Klimaanpassung in Tholey sensibilisiert und in die Aktivitäten des Netzwerks einbezogen. Ausblick Das Projekt KAN-T hat bereits viele innovative und unkonventionelle, wegweisende Ideen entwickelt und Impulse hinsichtlich einer klimaangepassten Gestaltung gesetzt. Das KlimaAnpassungsNetzwerk Tholey hat viele Akteur*innen aktiviert, für den Nutzen der Klimaanpassung sensibilisiert und sinnvolle Maßnahmen angestoßen. Die Gemeinde ist bestrebt, das KlimaAnpassungsNetzwerk Tholey über das Projektende (Dezember 2021) hinaus in Eigeninitiative weiter zu betreiben. Manuel Trapp Wissenschaftlicher Mitarbeiter IZES gGmbH Kontakt: mtrapp@izes.de Dorothee Siemer Wissenschaftliche Mitarbeiterin IZES gGmbH Kontakt: siemer@izes.de Dr. Ulrike Schinkel Wissenschaftliche Mitarbeiterin IZES gGmbH Kontakt: schinkel@izes.de Simon Spath Wissenschaftlicher Mitarbeiter Saar-Lor-Lux Umweltzentrum GmbH Kontakt: s.spath@hwk-saarland.de AUTOR*INNEN Bild 6: Warnsystem. © IZES 50 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Erhebungen zum städtischen Klima Berlins sind seit 1985 Teil des Umweltatlas der Senatsverwaltung. 1 Dazu zählen Bestandsaufnahmen des heutigen Klimas, aber auch Abschätzungen der Auswirkungen der durch den Klimawandel zu erwartenden Verhältnisse. Demnach sagt das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung häufigere, länger andauernde Hitzeperioden voraus. Weiterhin wird es für die Bevölkerung eine deutliche Zunahme der Hitzetage und Tropennächte geben. In der Folge sind steigende monatliche Wasserbedarfe im Sommer zu erwarten und Nutzungskonkurrenz zum Beispiel mit der Landwirtschaft und der Schifffahrt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Wassersparmaßnahmen wie etwa Einschränkungen bei der Gartenbewässerung zukünftig zur Ressourcensicherung nötig sein werden. Die Berliner Wasserbetriebe stellen als kommunaler Wasserver- und Abwasserentsorger die Trinkwasserversorgung der 3,7 Mio. Einwohner Berlins 1 https: / / www.berlin.de/ umweltatlas/ klima/ Strategien zur Bewältigung extremer Trockenheit und des Wassermangels in Berlin Wassermanagement, Klimawandel, Dürre, Wassermangel, Trockenheit, Berlin Regina Gnirss, Gesche Grützmacher Das Potsdamer Institut für Klimafolgenforschung sagt häufigere, länger andauernde Hitzeperioden voraus. Für die Bevölkerung wird es eine deutliche Zunahme der Hitzetage und Tropennächte geben. Die Folge sind steigende monatliche Wasserbedarfe im Sommer und Nutzungskonkurrenz zum Beispiel mit der Landwirtschaft und der Schifffahrt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Wassersparmaßnahmen wie etwa Einschränkungen bei der Gartenbewässerung zukünftig zur Ressourcensicherung nötig sein werden. sicher. Das Trinkwasser wird über rund 700 Brunnen aus dem Grundwasser innerhalb des Stadtgebietes gewonnen und mittels naturnaher Verfahren zu Trinkwasser aufbereitet. Deshalb sind 25 % des Stadtgebietes Wasserschutzgebiete, zum großen Teil bestehend aus Wald-, Gewässer- und Grünflächen. Rund 70 % des geförderten Rohwassers entstammen jedoch indirekt den Flüssen und Seen der Stadt, gewonnen über Uferfiltration oder künstliche Grundwasseranreicherung. Da die staugeregelten Flüsse und Seen auch als Vorfluter für die Kläranlagen und Regenwassereinleitungen dienen, gibt es damit einen direkten Zusammenhang zwischen der Trinkwasserversorgung und einer weitergehenden Abwasserreinigung sowie der dezentralen Regenwasserbewirtschaftung. Berlin wurde weltweit von der Internationalen Water Association für dieses Konzept der nachhaltigen Bewirtschaftung des Wasserkreislaufs als Water Wise City ausgewählt. 2 Für die Bevölkerung verhindert es Trinkwasser- 2 https: / / iwa-network.org/ city/ berlin/ Bild 1 (links): Infiltrationsbecken mit Einlaufbauwerk an der Grundwasseranreicherung Saatwinkel, Wasserwerk Tegel, Berlin. © Berliner Wasserbetriebe Bild 2 (rechts): 25 % des Stadtgebietes von Berlin sind Wasserschutzgebiete - Hier: Wasserschutzgebiet in Wuhlheide. © Berliner Wasserbetriebe / Joachim Donath 51 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? knappheit, es verbessert sich das Stadtklima und die Auswirkungen extremer Trockenheiten werden dadurch reduziert. Unter dem Eindruck der Jahre 2018 - 2020 mit unterdurchschnittlichen Niederschlägen im gesamten Nordosten Deutschlands haben die Berliner Wasserbetriebe ein „Konzept zur Festigung der Resilienz der Trinkwasserversorgung in Berlin“ entwickelt. Die Bestandsaufnahme zeigt, dass das System der Trinkwassergewinnung aus dem Grundwasser in unmittelbarer Ufernähe gegenüber Trockenphasen relativ robust aufgestellt ist. Der Grundwasserleiter dient dabei als riesiger Speicher, der über die natürliche Grundwasserneubildung im unmittelbaren Einzugsgebiet, die Uferfiltration und die künstliche Anreicherung mit Oberflächenwasser gespeist wird. Diese Ressourcen können sich gegenseitig ausgleichen und kurzzeitige saisonale Defizite überbrücken. Solange die Wasserstände in den Flüssen und Seen konstant bleiben (was durch die Stauhaltung der Berliner Gewässer und die Zuflüsse aus den Klärwerksableitungen geregelt wird), kann genügend Wasser in den Untergrund infiltrieren. Aber auch ein kurzzeitiges Absinken des Wasserstandes ist noch nicht als kritisch zu sehen - dann kann nämlich verstärkt landseitiges Grundwasser zuströmen. Langfristig ist jedoch zu erwarten, dass auf Grund der steigenden Durchschnittstemperaturen die Verdunstung ansteigt und somit die Grundwasserneubildung sinkt. Wie stark dieser Rückgang sein wird und ob er Einschränkungen in den förderbaren Jahresmengen zur Folge haben wird, wird derzeit gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz Berlins im Rahmen des „Masterplans Wasser“ erarbeitet. Bereits jetzt können wir jedoch abschätzen, dass die Nutzungskonflikte zum Beispiel mit der Siedlungsentwicklung, der Schifffahrt und auch der Landwirtschaft zukünftig zunehmen werden. Daher wurden im Resilienzkonzept Maßnahmen auf drei verschiedenen Ebenen angestoßen: Investitionen in die Robustheit des Systems (zum Beispiel: Brunnenerneuerungen, Verstärkung des Rohrnetzes oder Behälterausbau), Erschließung zusätzlicher Ressourcen (zum Beispiel über die Inbetriebnahe stillgelegter Brunnengalerien oder Wasserwerke) Aktive Gestaltung des Stakeholderdialogs, um im Vorfeld von akuten Nutzungskonflikten Maßnahmen auch an anderer Stelle anzustoßen. Flankierend wurde im Rahmen des Förderprogramms der Deutschen Anpassungsstrategie zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels, im Forschungsprojekt „HYDRA“ der Grundwasseranreicherungsstandort Wasserwerk Spandau untersucht. Das Projekt wurde im Verbund mit dem Kompetenzzentrum Wasser Berlin durchgeführt, mit der Senatsverwaltung für Umwelt, Klima und Verkehr als assoziiertem Partner. Die Klimaprognosen für die Region Nordostdeutschland wurden ausgewertet und den Kapazitätsszenarien des Wasserversorgungskonzeptes 2040 für Berlin gegenübergestellt. Für die zukünftig längeren Trockenperioden konnten aus HYDRA Empfehlungen für einen bedarfsgerechten Betrieb der Grundwasseranreicherung gegeben werden. Demnach soll die Anreicherung verstärkt in die Wintermonate mit höheren Abflüssen in den Flüssen verschoben werden. Die zusätzlichen Infiltrationsmengen können die zukünftig höhere Entnahme (Spitzenlasten) ausgleichen und die Grundwasserstände im Einzugsgebiet stabilisieren. Regina Gnirss Leiterin Forschung und Entwicklung Berliner Wasserbetriebe Kontakt: regina.gnirss@bwb.de Dr. Gesche Grützmacher Stellvertretende Leiterin Wasserversorgung Berliner Wasserbetriebe Kontakt: gesche.gruetzmacher@bwb.de AUTORINNEN Bild 3: Forschungsprojekte ebenfalls zu Technologien der Wasserwiederverwendung. © Berliner Wasserbetriebe / Technische Universität München 52 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Klimawandelfolgenanpassung in der Stadt Der Klimawandel wird vorwiegend in den stark verdichteten Stadtgebieten vor allem durch Starkregenereignisse aber auch durch andauernde Hitzeperioden immer deutlicher spürbar. Infolge der stark versiegelten Flächen führen diese Starkregenereignisse vielerorts zu Überschwemmungen und Sturzfluten - wie die jüngsten Ereignisse in NRW zeigen - die zu schweren Schäden in der Gebäudeinfrastruktur führen, während das Aufheizen insbe- Bild 1: Dach- und Fassadenbegrünung Gemeinschafts-Müll- Verbrennungsanlage / Oberhausen. © EGLV/ Oliver Hasselluhn Die Zukunftsinitiative: Die Zukunftsinitiative: Wasser in der Stadt von morgen Blau-grüne Transformationsprozesse in der Emscher-Lippe-Region Klimawandel, Anpassungsstrategien, blau-grüne Infrastruktur, urbaner Wasserhaushalt, Klimaresilienz Stephan Treuke, Nora Schecke, Anja Kroos Der Emscher-Umbau ist eine der aufwendigsten ingenieurtechnischen, städtebaulichen und ökologischen Herausforderungen Europas und zugleich Deutschlands größtes Infrastrukturprojekt. Seit 1992 werden die Emscher und ihre Nebenläufe von der Emschergenossenschaft auf einer Gesamtlänge von 329 Kilometern zu naturnahen Gewässern umgebaut; bis Ende 2021 werden die Flüsse abwasserfrei sein. Die naturnahe Umgestaltung fungiert dabei gleichzeitig als Motor für eine wassersensible Stadt- und Raumentwicklung und als Impulsgeber für eine nachhaltige „grün-blaue“ Transformation der gesamten Region. sondere der Innenstadträume die Gesundheit der Bewohner*innen vor Ort gefährdet. Vor diesem Hintergrund wurde 2014 von Emschergenossenschaft und Lippeverband (EGLV), den Emscher-Partnerkommunen und dem Land Nordrhein-Westfalen die Zukunftsinitiative (ZI) „Wasser in der Stadt von morgen“ gegründet. Mit Hilfe der Zukunftsinitiative sollen wasserwirtschaftliche Themen mit den Handlungsfeldern der Stadt- und Freiraumplanung verknüpft werden, um 53 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Strahlkraft“, welches bei der Zukunftsinitiative „Wasser in der Stadt von morgen“ angesiedelt ist. Mit einem Gesamtfördervolumen von 250 Mio. EUR sollen bis 2040 im gesamten Gebiet des Regionalverbands Ruhr (RVR) 25 Prozent der befestigten Flächen abgekoppelt, und die Verdunstungsrate um 10 Prozentpunkte gesteigert werden. Neben diesen beiden Kernzielen sollen darüber hinaus Hitzeinseln reduziert, das Gewässer ökologisch verbessert und die Biodiversität gestärkt werden. Die Bandbreite der Klimawandelanpassungsmaßnahmen, die innerhalb der gesamten Gebietskulisse des RVR primär im Bestand umgesetzt werden, umfasst [3]: die Abkopplung von versiegelten Flächen die Dach- und Fassadenbegrünung die Schaffung von Verdunstungsflächen und Flächenentsiegelung die Anlage und attraktive Gestaltung von Regenwasserversickerungsanlagen die Schaffung von Notwasserwegen und Retentionsflächen den Bau multifunktionaler Freiflächengestaltung als Element urbaner Freiräume Das Beispiel der Dach- und Fassadenbegrünung der Gemeinschafts-Müllverbrennungsanlage Niederrhein in Oberhausen zeigt, wie eine solche Klimawandelfolgenanpassungsmaßnahme erfolgreich umgesetzt werden kann. Transformative Governance: der Schlüssel zum Erfolg Die Transformation zur klimaresilienten Region setzt - neben den Klimawandelfolgenanpassungsmaßnahmen - eine tiefgreifende Transformation auf der Arbeits- und Kommunikationsebene voraus, die als Basis für die interkommunale und fachübergreifende Zusammenarbeit und für ein integrales Handeln in der Region dient. In diesem Sinne stehen die Dialogkultur, das Erarbeiten gemeinsamer Ziele und das Prozesshafte im Fokus des Ansatzes der transformativen Governance, welcher von der Zukunftsinitiative „Wasser in der Stadt von morgen“ langfristig verfolgt wird. Die Service-Organisation der Zukunftsinitiative „Wasser in der Stadt von morgen“ fungiert dabei als zentrale Koordinierungsstelle bei EGLV, insbesondere für die operative Umsetzung des Projektes „Klimaresiliente Region mit internationaler Strahlkraft“. Sie nimmt je nach Bedarf die Rolle des Beraters, Vermittlers und Dienstleisters ein. In diesem Kontext sind EGLV gemeinsam mit den Kommunen die Initiatoren, Multiplikatoren und Ermöglicher für die Umsetzung einzelner Projekte der Klimawandelfolgenanpassung. Die jeweiligen die Klimaresilienz der Region zu stärken, und einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensqualität der Bewohner*innen vor Ort zu leisten. Die nötige Anpassung der bestehenden städtischen Infrastrukturen an den Klimawandel macht ein strategisches und integrales Handeln unverzichtbar, denn nur wenn Wasserwirtschaft sowie Stadt- und Raumplanung gemeinsam an einem Strang ziehen, sind nachhaltige Lösungen umsetzbar. Seit 2014 konnten auf der Basis einer intensiven Vernetzung und interkommunalen Zusammenarbeit eine Reihe von Projekten umgesetzt werden, die einen entscheidenden Beitrag zur Stärkung der blaugrünen Infrastruktur in den Städten der Emscher- Region leisten. Die Umsetzung der Vielzahl von Klimawandelfolgenanpassungsmaßnahmen erfolgt dabei nach dem Prinzip der Schwammstadt, welches auf die Verbesserung des lokalen Mikroklimas abzielt. Dabei soll insbesondere das zu schnelle Abfließen von Wasser, welches besonders in den stark versiegelten Städten als ein Kernproblem für Überschwemmungen angesehen wird, verhindert werden. Rückhalteflächen und eine stärkere Begrünung der Flächen im Bestand tragen dafür Sorge, dass das Wasser unter der Oberfläche abgespeichert und nicht direkt in das Kanalnetz eingespeist wird. Die Abkopplung vom Mischwassersystem über verschiedene Retentionsinstrumente führt gleichzeitig zu einem zusätzlichen Kühlungseffekt bei der Verdunstung beispielsweise über die Wasserfläche einer Mulde, Verrieselung über Grünflächen oder über Pflanzen durch Bewässerung aus einer Zisterne. Darüber hinaus schont die Bewässerung aus Zisternen auch über längere Trockenphasen die Trinkwasserressourcen [1]. Daraus resultiert eine Reduzierung des direkten Abflusses bzw. eine verzögerte Zuleitung ins Gewässer, wodurch wiederum positive Auswirkungen auf die Summe der Oberflächenabflüsse und die Gewässer bei Starkregen verzeichnet werden können. Des Weiteren können durch die vielfältigen Klimawandelfolgenanpassungsmaßnahmen der Hochwasserschutz verbessert, die Kosten der Wasserinfrastruktur gesenkt und die Grundwasserneubildungsrate gestärkt werden [2]. Durch die Aufwertung der städtischen Räume wird darüber hinaus die Aufenthaltsqualität für die Bewohner*innen vor Ort gestärkt und die Artenvielfalt urbaner Ökosysteme erhöht. Der politische Auftrag zum klimafesten Umbau der Städte der Emscher-Region wurde auf der Ruhrkonferenz 2019 im Rahmen des Themas „Grüne Infrastruktur Metropolregion Ruhr“ vom Umweltministerium erneuert: Dies war der Startschuss für das Projekt „Klimaresiliente Region mit Internationaler 54 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Ansprechpartner*innen in den Kommunen, die „ZI- Stadt-Koordinator*innen“, formulieren die Interessen und Anforderungen der Kommunen und leiten diese an die ZI-Service-Organisation weiter. Die ZI- Stadtkoordinator*innen bilden dabei das „Gesicht“ der Zukunftsinitiative innerhalb ihrer Kommune. Auf der strategischen und normativen Ebene verständigen sich diese im „Gegenstromprinzip“ mit dem Vorstand von EGLV über die Strategien und deren Umsetzung, in „Rückkopplung“ mit den Dezernent*innen der Kommunen und den ZI-Stadt- Koordinator*innen [4]. Ein jährliches Dezernententreffen sorgt für Austausch und Verständigung auf der Führungsebene, die ihrerseits ebenfalls die Verankerung von Leitlinien in Verwaltung und Politik verfolgt. So haben die Dezernent*innen der Emscherkommunen bereits im Frühjahr 2018 einen Maßnahmenplan 2020+ initiiert, der die Weichen für die Umsetzung von Schlüsselthemen auf dem Weg zu einer nachhaltigen wassersensiblen Stadtgestaltung stellt. Der Maßnahmenplan resultiert aus den vielschichtigen Fachimpulsen der Experten-Netzwerke und des Experten-Forums. So konnten die Akteure der ZI zusammen mit den Dezernent*innen in wenigen Jahren das politische Narrativ für ein fachbereichs- und städteübergreifendes integrales Handeln schaffen [5]. Die Spiegelorganisation als Instrument der Kooperation zwischen EG und Kommunen Die Umsetzung der von der ZI initiierten Klimafolgenanpassungsmaßnahmen in den Städten erfordert eine Vielzahl von überzeugten Projektbeteiligten und das Commitment auf ein gemeinsames Zielbild. Eine der größten Herausforderungen der ZI, insbesondere vor dem Hintergrund der komplexen Verwaltungsarchitektur und der polyzentrischen Stadtstruktur des Emscher-Lippe-Gebiets, besteht im Aufbau von geeigneten Organisationsstrukturen und Prozessabläufen, um eine reibungslose Projektabwicklung in enger Abstimmung mit den Kommunen, Wasserverbänden und den weiteren beteiligten Stakeholdern zu ermöglichen. Relevant ist dies insbesonders aufgrund der spezifischen Systemlogiken der Kommunalverwaltungen und der ZI als Wissensorganisation. Letztere basiert auf Vernetzung und dialogorientierter Zusammenarbeit sowie einer spezifischen ZI-Kultur, welche sowohl explizite als auch implizite Standards und Spielregeln umfasst. Beide Systeme weisen spezifische Arbeitsweisen auf, welche auf die Transformationspfade einer klimaresilienten Region Einfluss nehmen. Daher ist die bereits angeschnittene Etablierung von Organisationsstrukturen und Formaten notwendig, welche Transformationen Bild 2: Aufbau der ZI „Wasser in der Stadt von Morgen“. © Emschergenossenschaft 55 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? auf einer praktisch-methodischen Ebene möglich machen und befördern. Im Rahmen der Entwicklung von kommunalen Spiegelorganisationen wird derzeit eine solche Organisationsstruktur etabliert. Diese sollen die Zusammenarbeit und Vernetzung in der ZI befördern und die Initiierung und Umsetzung von integralen Projekten erleichtern. Die Spiegelorganisationen setzen sich idealtypisch aus emergenten Teams, mit personell unterschiedlichen Kompetenzen und Ressourcen, in den Verwaltungen zusammen, welche sich je nach Interessen, Themen und Querschnittsbereichen zusammenfinden und als überzeugte Projektbeteiligte und Multiplikator*innen agieren. Dabei soll einerseits das fachspezifische Wissen aus den Zuständigkeiten in den kommunalen Verwaltungen gebündelt und anderseits eine Beteiligung in der Wissensorganisation über die jeweilige Zuständigkeit hinaus ermöglicht werden. Unterstützt wird die Etablierung von Spiegelorganisationen durch ausgewählte Methoden und Formate sowie Organisationsmodelle, welche einen Orientierungsrahmen in der kollaborativen Entwicklung bieten und zur Prozessgestaltung von Projekten und Initiativen sowie der fachämterübergreifenden Zusammenarbeit und dem agilen Projektmanagement beitragen. Als vermittelnde Instanz dient eine Verbindungsstelle, mit je einem/ einer Mitarbeiter*in der Service-Organisation, in drei Pilotkommunen der Emscher-Region, mit dem Ziel, den Aufbau der Spiegelorganisationen und die Kommunikation und Vernetzung in und zwischen den Kommunen und der Service-Organisation, EGLV und dem Gesamtsystem ZI zu vertiefen. Diese neu eingerichteten Stellen sollen innerhalb eines experimentellen Ansatzes auf die Herausforderungen in den kommunalen Verwaltungen reagieren und prozessbegleitend die Themen und Formate der ZI in enger Zusammenarbeit mit den Kommunen weiterentwickeln. Sie sind dabei weniger eine klassische, personelle Ressource zur Bearbeitung standardisierter Prozesse, sondern unterstützen die Kommunalverwaltungen bei der Etablierung von Strukturen zur Synchronisation der Arbeitsweisen und Kultur der Zusammenarbeit in der ZI. Im Sinne einer gelingenden transformativen Governance können so Hürden im Transformationsprozess verringert werden. Der Transformationsprozess findet hierbei auf mehreren Ebenen statt: Inhaltlich, politisch und normativ gewollt ist eine Transformation zur klimaangepassten und -resilienten Region. Operativ und methodisch werden ebenfalls Elemente einer Transformation von Arbeitsabläufen, Verwaltungsprozessen und Organisationsformen adressiert. Dahinter steht die Prämisse, dass sich agile und integrierte Formen der Zusammenarbeit und Vernetzung, welche nicht allein durch Zuständigkeiten festgelegt werden, förderlich auf eine nachhaltige und integrale Projektumsetzung und Zielerreichung einer klimaresilienten Region auswirken [6, 7, 8]. Exemplarische Eindrücke aus der Praxis konnten im Rahmen einer Veranstaltung des Netzwerks „Agile Verwaltung“ (Themenwoche des Forums „Agil in die Zukunft“ vom 7. - 11. Juni 2021) gewonnen und innerhalb eines kreativ-partizipatorischen Diskussionsformats zu Chancen und Hürden von Transformationsprozessen vertieft werden [9]. Geleitet wurde die Session von Mitarbeiter*innen einer Partnerkommune und der Service-Organisation. Die Teilnehmenden setzten sich aus städtischen Vertreter*innen, ZI-SO-Mitarbeiter*innen und anderen Akteursgruppen zusammen. Die Ergebnisse bestätigen, dass sektorales Arbeiten und Denken in Zuständigkeiten die integrale Projektrealisierung von Klimaanpassungsmaßnahmen erschweren. In enger Wechselwirkung standen hierbei auch Aspekte der Digitalisierung, durch welche geeignete Hilfsmittel zur agilen, effizienten und flexiblen Zusammenarbeit bereitgestellt werden. Hürden liegen jedoch sowohl in dem Transfer und der Organisation von Wissen über Anwendung und Nutzung als auch in der technischen Infrastruktur und Ausstattung sowie der Überwindung zur Veränderung eigener Routinen und Praktiken [10, 11]. In der Lösungssuche einigte sich die Gruppe darauf, dass Transformationsprozesse Zeit benötigen, Commitment und Community Building sowie den „Mut sich zu verändern“. Diese Elemente werden von der Verbindungsstelle aufgenommen, mit dem Ziel, diese in dem Modellvorhaben zur gelebten Praxis werden zu lassen. Ausblick Als eines der maßgeblichen Ziele hat die „Klimaresiliente Region mit Internationaler Strahlkraft“ in ihrem zweijährigen Bestehen die Voraussetzungen für ein fachbereichs- und städteübergreifendes integrales Handeln geschaffen. Bereits 60- Projekte konnten im Rahmen intensiver Zusammenarbeit umgesetzt werden. Damit wurde der Grundstein gelegt, die Wasserwirtschaft zum Motor der wassersensiblen Stadt- und Freiraumentwicklung weiterzuentwickeln. Die Transformation des Emscher-Lippe-Gebiets durch faktisches Handeln kommt insbesondere bei den neuen Arten der projektbezogenen Zusammenarbeit, bei dem hohen Vernetzungsgrad und bei der Kommunikation auf Augenhöhe zwischen den Partnern zur Geltung. 56 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Die Spiegelorganisationen bilden hierbei eine Organisationsstruktur, welche Kooperation und Vernetzung fördert und im Aufbau strukturähnlich zum Gesamtsystem der ZI ist. Emscher-Umbau und Grüne Infrastruktur in der Metropole Ruhr verweisen auf den internationalen Vorbildcharakter der umgesetzten Aktivitäten, was durch die Teilnahme an der renommierten „Stormwater“-Konferenz in Polen veranschaulicht wird. Vom 21. bis 23. Juni 2021 wurde auf der größten polnischen Fachkonferenz zum Thema Regenwasser über die Aspekte Retention, Klimawandel und grün-blaue Infrastruktur diskutiert. Die Emschergenossenschaft und der RVR berichteten im Rahmen eines gemeinsamen Beitrags über die grün-blaue Infrastruktur des Ruhrgebiets. Vorgestellt wurden die großen Leitprojekte beider Verbände: Die „Offensive Grüne Infrastruktur 2030“ des RVR und die „Klimaresiliente Region mit internationaler Strahlkraft“ der Emschergenossenschaft. Beide Projekte sind aus dem Themenforum „Grüne Infrastruktur“ der Ruhr-Konferenz NRW hervorgegangen und machen die Metropole Ruhr zu einer anerkannten Modellregion in Europa. Das Ziel einer klimaresilienten Region wird demnach auf verschiedenen Ebenen und Transformationspfaden verfolgt: Darunter die inhaltliche Steuerung und Planung von Maßnahmen und Projekten, die methodisch-prozesshafte Vernetzung, Kooperation und integrale Zusammenarbeit sowie die Verstetigung und der Transfer von Wissensbeständen und Ergebnissen in Politik, Praxis und Wissenschaft. LITERATUR [1] Treuke, S., Paetzel, U.: Wasser in der Stadt von morgen - die Klimaresiliente Region mit internationaler Strahlkraft entsteht im Emscher-Lippe-Gebiet. E & S Special Regenwassermanagement, 2021. [2] Paetzel, U., Giga, A., Treuke, S.: Emscher-Lippe-Gebiet: Klimaresiliente Region mit internationaler Strahlkraft, Wasserwirtschaft Wassertechnik 11-12 (2020). [3] Emschergenossenschaft (EG): Zukunftsinitiative „Wasser in der Stadt von morgen“. Gemeinsame Absichtserklärung der Emscherkommunen, der EM- SCHERGENOSSENSCHAFT und des Ministeriums für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, natur- und Verbraucherschutz des Landes NRW. Bottrop, 2014. Online unter: http: / / www.wasser-in-der-stadt.de/ fileadmin/ Medien/ Projekte/ Dokumente/ Zukunftsinitiative_Unterschriften_web.pdf [14.07.2021]. [4] Werner, M., Raasch, U., Falk, C., Geretshauser, G.: Für Grün - für Blau: für die Region. Auf dem Weg in eine „Klimaresiliente Region mit internationaler Strahlkraft“, Transforming Cities 3 (2019). [5] Emschergenossenschaft/ Lippeverband (EGLV): FO- RUM AGILE VERWALTUNG 2021, (2019). Online unter: https: / / www.eglv.de/ emscher-lippe/ kooperationenund-projekte/ [14.07.2021]. [6] Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (Hrsg.): Vom Stadtumbau zur städtischen Transformationsstrategie. BBSR-Online-Publikation 09/ 2020, Bonn. [7] Böhme, C., Dilger, U., Quilling, E.: Integriertes Verwaltungshandeln für eine gesundheitsfördernde Stadtentwicklung. Forschungsberichte der ARL 08, 2018. [8] Holm, H.: Entscheidungsmethoden in der öffentlichen Verwaltung. Sicher - wirtschaftlich - transparent, Freiburg im Breisgau: Haufe-Lexware; Haufe, 2021. [9] Emschergenossenschaft (EG): Wasser in der Stadt von morgen. Zukunftsinitiative, 2021. Online unter: http: / / www.wasser-in-der-stadt.de/ wasser-in-derstadt-von-morgen/ [14.07.2021]. [10] Schenk, B., Schneider, C.: Mit dem digitalen Reifegradmodell zur digitalen Transformation der Verwaltung Leitfaden für die Organisationsgestaltung auf dem Weg zur Smart City, Wiesbaden: Springer Gabler, 2019. [11] Looks, H., Fangmann, J., Tomaschewski, J., Schön, E.-M.: Agilität und Nutzerzentrierung in der öffentlichen Verwaltung. In: Fischer, H., Hess, S. (Hrsg.): Mensch und Computer 2019 - Usability Professionals, 8. - 11. September 2019, Hamburg. Dr. Stephan Treuke Zukunftsinitiative „Wasser in der Stadt von Morgen“ Emschergenossenschaft | Lippeverband (EGLV) Kontakt: Treuke.Stephan@eglv.de Nora Schecke Zukunftsinitiative „Wasser in der Stadt von Morgen“ Emschergenossenschaft | Lippeverband (EGLV) Kontakt: schecke.nora@eglv.de Anja-Carina Kroos Praktikantin Zukunftsinitiative „Wasser in der Stadt von Morgen“ Emschergenossenschaft | Lippeverband (EGLV) Kontakt: Anja.Kroos@rub.de AUTOR*INNEN 57 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Starkregenvorsorge in Mannheim Steuerungsinstrumente zum Umgang mit Unsicherheiten im städtischen Klimahandeln Klimawandel, Starkregen, Überflutungsschutz, extreme Trockenheit, Wassermangel Jörg Knieling, Alexandra Idler, Olga Izdebska, Nancy Kretschmann, Rebecca Nell Zunehmende Extremwetterereignisse wie Starkniederschläge oder Stürme stellen Kommunen vor Herausforderungen. Präventive sowie Akutmaßnahmen zur Bewältigung betreffen dabei unterschiedliche Bereiche: von klimagerechtem Bauen und Naturschutz, regenerativen Energien und Biodiversität bis hin zu Aufklärung und Einbindung der Bevölkerung gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten zur Klimafolgenanpassung. Je nach Lage, Struktur und Ressourcen der betreffenden Kommune werden direkte, indirekte oder verwaltungsinterne Steuerungsinstrumente angewandt. Das BMBF-Forschungsprojekt SMARTilience beschäftigt sich mit kommunalem Klimaschutz und Klimafolgenanpassung und bearbeitet diese gemeinsam. In diesem Rahmen wird die Erstellung einer Geodatennutzungsstrategie im Kontext Starkregen als ein zentrales Steuerungsinstrument in den beiden Reallaborstädten Halle (Saale) und Mannheim erarbeitet. Exemplarisch wird in diesem Beitrag die Starkregengefahrenkarte der Stadt Mannheim als ein weiteres Steuerungsinstrument vorgestellt. Weiter wird ein Überblick über die unterschiedlichen Steuerungsinstrumente in Bezug auf Starkregenereignisse gegeben. © Erik Witsoe on unsplash In Folge des Klimawandels werden extreme Niederschlagsereignisse zukünftig häufiger auftreten, insbesondere in Ländern, die in höheren geografischen Breiten liegen, wie Deutschland. [1,- 2,- 3]. In den letzten Jahrzehnten sind beispielsweise Starkregenereignisse mit einer Dauer von 24 h um rund 25 % häufiger aufgetreten [4]. Basierend auf den Hochrechnungen regionaler Klimamodelle wird für Deutschland von einem weiteren Anstieg der Starkniederschläge mit einer Dauerstufe von 24 h um 25 % bis 2100 ausgegangen [4, 5]. Neben den Fachbehörden des Katastrophenschutzes und weiteren kommunalen Akteuren ist das Engagement der Bevölkerung im Umgang mit Starkregenereignissen und deren Folgen von zentraler Bedeutung. Die Aufgabe wird folglich als eine Gemeinschaftsaufgabe beschrieben [2], die von allen Beteiligten Zusammenarbeit und Mitverantwortung erfordert. Starkregenereignisse stellen Städte und Gemeinden vor zahlreiche Herausforderungen und Unsicherheiten. Die Fragestellung lautet deshalb, wie Steuerungsinstrumente aussehen können, um THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser? 58 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Direkte Steuerung beruht auf Regulierung und umfasst alle Arten von rechtlich gesetzten Vorschriften, Geboten, Verboten, Verordnungen, Erlassen, aber auch Regeln, Normen oder Standards [3]. Im Bereich der Starkregenvorsorge gehören hierzu beispielsweise Flächennutzungs- und Bebauungspläne, ebenso wie Landschafts- und Grünordnungspläne. Indirekte Steuerung setzt auf Information und Überzeugung (Kommunikation) und finanzielle Anreize [3]. Im Bereich der Starkregenvorsorge zählen dazu zum Beispiel Informations- und Beteiligungsangebote, Starkregengefahrenkarten oder Förderprogramme zur Begrünung von Dach-, Fassaden-, und Entsiegelungsflächen. Zur Optimierung der verwaltungsinternen Prozesse und Organisation spielen insbesondere die Koordination der relevanten Bereiche, die Regelung von Verantwortlichkeiten, die Optimierung der Abstimmungsprozesse und die Zusammenführung von Informationen und Daten eine Rolle [3, 8]. Die Entwicklung integrierter Planungsmethoden, welche „gesamtstädtische und teilräumliche Überflutungskonzepte […] mit den verschiedenen Planungsebenen der Stadt-, Verkehrs- und Landschaftsplanung verzahnen“ [12, S. 3] kann das Handeln im Bereich der Starkregenvorsorge fördern. Weitere Instrumente umfassen zum Beispiel die integrale Entwässerungsplanung (Zuständigkeit für Kanalnetzbewirtschaftung, Grundstücksentwässerung, Wasserbewirtschaftung und Überflutungsschutz in einem einzigen Sachgebiet), eine detaillierte Gefährdungsanalyse für starkregenbedingte Überflutungen sowie Workshops zur Erstellung von Starkregengefahrenkarten. Fallbeispiel: Instrumente zur Starkregenvorsorge in Mannheim Wie viele andere Kommunen ist die Stadt Mannheim von Starkregenereignissen und Hochwasser betroffen. Die Auswirkungen des Klimawandels verstärken das bereits warme, milde Klima. Die Folgen sind zunehmend wärmere und längere Sommer, welche durch langanhaltende Hitzewellen einerseits zu Trockenheit führen. Andererseits häufen sich Starkregenereignisse mit Hochwassergefahren an Neckar und Rhein. Der Vergleich der Zeiträume 1961 - 1990 und 1981 - 2010 zeigt für Mannheim eine Zunahme der Starkniederschlagsereignisse um 23,8 % . Durch diese Steigerung ist für die Stadt Handlungsdruck entstanden, die Klimafolgenanpassung konsequenter zu bearbeiten [13]. Von Starkregen spricht man bei großen Niederschlagsmengen je Zeiteinheit. Er fällt meist aus konvektiver Bewölkung (zum Beispiel aus Cumulonimbuswolken). Starkregen kann überall auftreten und zu schnell ansteigenden Wasserständen und (bzw. oder) zu Überschwemmungen führen. Häufig geht Starkregen mit Bodenerosion einher. [6] STARKREGEN diese Unsicherheiten zu minimieren. Am Beispiel der Stadt Mannheim werden im Folgenden Instrumente zur Starkregenvorsorge diskutiert. Starkregenvorsorge in Städten Eine klimaresiliente städtische Entwicklung stellt die kommunale Verwaltung vor verschiedene Herausforderungen. Einerseits besteht hoher Handlungsbedarf, der aber andererseits mit großen Unsicherheiten behaftet ist. Zugleich ist das Handlungsfeld durch eine langfristige Perspektive charakterisiert und die Zuständigkeiten sind sektor- und ebenenübergreifend organisiert [7]. Die mit Starkregenereignissen verbundenen Unsicherheiten erschweren somit das Handeln der Städte. Dazu zählen zum einen die Warnzeiten für Starkregenereignisse, die im Vergleich zu Warnungen etwa vor Flusshochwasser deutlich kürzer sind und weniger präzise vorherzusagen sind [3]. Zum anderen ist die Prognose von Starkregenereignissen oftmals schwierig, weil in vielen Kommunen teilweise keine oder nur unzureichende Prognosedaten vorliegen. Die Eintrittswahrscheinlichkeit von Starkregenereignissen ist zwar in allen Orten etwa gleich hoch, und dies gilt auch unabhängig von vorherigen Regenereignissen [8]. Starkregengefahrenkarten können aber, zum Beispiel mit Hilfe von Oberflächenabflussmodellen, als Orientierung dienen [9]. Die eher langfristigen und oftmals schleichenden Auswirkungen des Klimawandels und das damit verbundene fehlende Problembewusstsein erschweren das politische Handeln im Bereich der Starkregenvorsorge und können zur Verschleppung notwendiger Entscheidungen führen [10]. Das Verwaltungshandeln wird zusätzlich von Zielsetzungen und Vorgaben zum Klimaschutz und zur Klimafolgenanpassung auf internationaler, nationaler und Bundesländer-Ebene beeinflusst, welche im Rahmen städtischer Politik umzusetzen sind [11]. Lösungswege für die kommunale Starkregenvorsorge Um die Herausforderungen der Starkregenvorsorge zu adressieren, stehen den Kommunen direkte, indirekte und verwaltungsinterne Steuerungsinstrumente zur Verfügung [3, 8, 11]: 59 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Mannheim verfügt über eine Vielzahl von Instrumenten und Maßnahmen zur Starkregenvorsorge und zum Hochwasserschutz. Dazu zählt beispielsweise das kommunale Entwässerungssystem, ein Förderprogramm zur Begrünung von Dach-, Fassaden- und Entsiegelungsflächen oder Alarm- und Einsatzpläne bei Hochwasser, Starkregen und Stürmen. Ein weiteres Instrument sind Starkregengefahrenkarten für drei besonders betroffene Stadtteile Mannheims. [14] Ziel der Starkregengefahrenkarten ist eine Gefährdungsanalyse für starkregenbedingte Überflutungen durch Anwendung eines gekoppelten hydrodynamischen 2D-Oberflächenabflussmodells, um zu einer langfristigen Anpassung an Starkregenereignisse, der Vermeidung von damit verbundenen Hochwassern und Überschwemmungen sowie zur Minderung der Folgen für Infrastruktur, Bevölkerung, Natur und Wirtschaft beizutragen. Die Karten werden federführend durch den Eigenbetrieb Stadtentwässerung der Stadt Mannheim in Zusammenarbeit mit einem externen Dienstleister und in Abstimmung mit allen relevanten Fachbereichen der Stadt erstellt. Mit Hilfe der Simulationen der Starkregengefahrenkarten können frühzeitig Areale identifiziert werden, die bei einem bestimmten Starkregenvolumen die Wassermassen nicht mehr absorbieren können und überschwemmt werden. Mit Hilfe der Identifizierung und einer darauf aufbauenden Risikoanalyse können gezielte Maßnahmen, wie Entsiegelung, Begrünung oder Strukturierung von Entwässerungswegen in den betroffenen Gebieten, sowie präventive Maßnahmen wie Sensibilisierung und Beratung umgesetzt werden. Die präventiven Maßnahmen dienen insbesondere dazu, private Haushalte in die Starkregenvorsorge mit einzubeziehen, da viele versiegelte Flächen und unzureichende Entwässerungswege auf privaten Grundstücken liegen. Anknüpfend an die Ziele zur Starkregenvorsorge in Mannheim beschäftigt sich das Forschungsprojekt SMARTilience 1 mit der Anpassung urbaner Strukturen an die Folgen von Starkregenereignissen. Ziel ist es, bereits existierende Strategien und Maßnahmen zu unterstützen, zu optimieren und weiterzuentwickeln, um die Anpassungsfähigkeit der Stadtverwaltung an Starkregenereignisse und klimaresilientes Handeln zu erhöhen. Hierfür wurden insbesondere zwei Ansätze verfolgt. Zum einen 1 Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Projekt SMARTilience (01LR1704E) hat zum Ziel, ein integriertes sozio-technisches Steuerungsmodell für eine klimaresiliente Stadtentwicklung zu konzipieren und in den Reallaboren Halle (Saale) und Mannheim anzuwenden. Dabei werden Klimaschutz und Klimafolgenanpassung integriert betrachtet. Das SMARTilience-Konsortium besteht aus der HafenCity Universität Hamburg, IAT der Universität Stuttgart, malik sowie Drees und Sommer. Bild 1: Starkregengefahrenkarte. Simulation „Extremer Niederschlag 128 mm“ im Stadtgebiet Mannheim- Casterfeld. © EB Stadtentwässerung, Stadt Mannheim, 2021 Legende oak-ext-maximaler Wasserstand [m] 0 - 0,001 0,001 - 0,02 0,02 - 0,1 0,1 - 0,3 0,3 - 0,6 0,6 - 1 > 1 Modellgrenze Schacht Haltung sonstige Mischwasser Regenwasser Schmutzwasser 0 250 500 1.000 Meter 1: 5.000 ± 60 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? erfolgt im Rahmen einer Peer-to-Peer-Methodik ein bundesweiter Austausch mit anderen Kommunen zu Starkregen- und Hochwasservorsorge. Durch den Austausch werden Good-Practice-Lösungen aus anderen Kommunen weitergegeben, diskutiert und an die jeweiligen Bedarfe der Städte angepasst. Damit wird ein langfristiger Lernprozess angestoßen, der zum Ziel hat, die Anpassungsfähigkeit von Kommunen an Klimafolgen, darunter auch an Starkregenereignisse, zu steigern. Die Lösungen werden dokumentiert und allen Kommunen frei zugänglich zu Verfügung gestellt. Zum anderen entwickelt das Forschungsprojekt eine Geodatennutzungsstrategie in den beiden Reallaborstädten Halle (Saale) und Mannheim. In Mannheim wurden dazu zunächst in einer Umfrage und einem Workshop Betroffenheiten der Stadt durch Starkregenereignisse identifiziert. [15] In einem weiteren Schritt wurde analysiert, inwiefern Geodaten zur Adressierung dieser Betroffenheiten bereits eingesetzt werden bzw. welche Geodaten notwendig wären, um die Betroffenheit zu minimieren. Aufbauend auf den Ergebnissen dieser Analysen soll die Geodatennutzungsstrategie für die Stadt Mannheim dazu beitragen, die Nutzung von Geodaten bei der Konzeption von Maßnahmen zur Klimafolgenanpassung zu erhöhen. Im Falle von Mannheim besitzt die Stadt bereits eine Vielzahl an Geo- und Sensordaten sowie informationstechnologische Strukturen zu deren Übertragung und Nutzung. Herausforderungen liegen in der Frage nach der Aufarbeitung und Aktualisierung der Daten, der Datengüte sowie den damit definierten Verantwortlichkeiten innerhalb der Verwaltung. Zudem sind die Themen Datenschutz und Zentralisierung der Daten wichtige Aspekte der Strategie. Die Geodatennutzungsstrategie wird als Instrument zur Klimafolgenanpassung in Mannheim pilotiert und dokumentiert, sodass sie weiteren Kommunen zur Verfügung gestellt werden kann. Ausblick Das Beispiel der Stadt Mannheim veranschaulicht, dass die Starkregenvorsorge ein komplexes Wechselspiel aus regulativen, informellen und organisationalen Steuerungsinstrumenten erfordert. Die Zusammenarbeit zwischen relevanten Fachbereichen der Stadtverwaltung, externen Dienstleistern, Bevölkerung sowie anderen Kommunen spielt eine wichtige Rolle. Die Kooperation ermöglicht einen Erfahrungsbzw. Wissensaustausch, welcher, kombiniert mit Maßnahmen wie zum Beispiel der Erstellung von Starkregengefahrenkarten, dabei unterstützt, mit Unsicherheiten im städtischen Klimahandeln umzugehen. Wichtig ist es, daneben auch regulative Steuerungsformen, beispielsweise die Norm DIN- EN- 752, mit einzubeziehen, welche die Ziele für Entwässerungssysteme außerhalb von Gebäuden in kommunalen Gebieten definiert. Zudem sollten Aspekte aus nationalen Regelungen des Wasserhaushaltsgesetzes (WHG) oder auf internationaler Ebene aus der EU-Hochwasserrisikomanagement-Richtlinie (HWRM-RL) berücksichtigt werden. Basierend auf der Status Quo-Analyse und den abgeleiteten Handlungsoptionen gilt es, konkrete Lösungsmöglichkeiten umzusetzen [3]. Vor diesem Hintergrund wird das Portfolio von Steuerungsinstrumenten, Maßnahmen und Aktivitäten zur Starkregenvorsorge in Mannheim konstant erweitert. Unter anderem ist es Ziel des SMARTilience-Projekts, weitere Lösungen im Bereich der Hitze- und Starkregenanpassung, wie intelligente Bewässerungssysteme, die auf auf vorhandenen Geo- und Sensordaten basieren, zu pilotieren. Im Rahmen des SMARTilience-Forschungsprojekts richtet sich die Entwicklung der Geodatennutzungsstrategie auf die klimaschutz- und klimaanpassungsbezogene Datennutzung [14]. Die Erstellung einer Geodatennutzungsstrategie erfolgt in mehreren iterativen Schritten. Im ersten Schritt wird eine Analyse des Bestands an verfügbaren Daten in der Kommune, der bestehenden Geodatennutzung und von Datenlücken durchgeführt. In einem weiteren Schritt werden Betroffenheiten durch Klimafolgen definiert. Dies geschieht mit verschiedenen Formaten, beispielsweise Umfragen, bilateralen Gesprächen und Workshops zu bestimmten Themen bzw. Betroffenheiten in der Kommune. Dann werden die Betroffenheiten und Möglichkeiten der Geodatennutzung verknüpft. Darauf aufbauend werden die Ergebnisse für eine verbesserte Geodatennutzung als Strategie ausformuliert. Mit Blick auf die Umsetzung werden die relevanten Akteure benannt, welche entweder über Daten verfügen, diese nutzen oder aufbereiten und anderen Akteuren in der Stadtverwaltung zur Verfügung stellen (können). GEODATENNUTZUNGSSTRATEGIE Um den Austausch der Beispielkommunen untereinander sowie zwischen den beteiligten Wissenschafts- und Praxisakteuren systematisch zu fördern, gemeinsame Herausforderungen zu erkennen und zu analysieren, Good Practices und funktionierende Lösungsansätze zu identifizieren und voneinander zu lernen, verwendet SMARTilience die Methodik des Peer-to-Peer-Learning. Herausforderungen in der kommunalen Praxis der Reallabore werden in regelmäßigen Learning-Sessions (online) mit internen und externen Akteuren diskutiert, um gemeinsam Lösungsansätze zu entwickeln. PEER-TO-PEER-LEARNING 61 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? LITERATUR [1] Masson-Delmotte, V., Zhai, P., Pirani, A., Connors, S. L., Péan, C., Berger, S., Caud, N., Chen, Y., Goldfarb, L., Gomis, M. I., Huang, M., Leitzell, K., Lonnoy, E., Matthews, J. B. R., Maycock, T. K., Waterfield, T., Yelekçi, O., Yu, R., Zhou, B. (eds.): Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC). Climate Change 2021. The Physical Science Basis. Cambridge University Press, 2021. [2] Geomer GmbH: Wissenswertes - Starkregen und Klimawandel, 2021. https: / / www.starkregengefahr.de/ wissenswertes/ . Zugegriffen: 08.07.2021. [3] UBA (Umweltbundesamt): Vorsorge gegen Starkregenereignisse und Maßnahmen zur wassersensiblen Stadtentwicklung - Analyse des Standes der Starkregenvorsorge in Deutschland und Ableitung zukünftigen Handlungsbedarfs. Abschlussbericht, Dessau-Roßlau, 2019. [4] Deutscher Wetterdienst (DWD) (Hrsg.): Becker, P., Becker, A., Dalelane, C., Deutschländer, T., Junghändel, T., Walter, A.: Die Entwicklung von Starkniederschlägen in Deutschland. Plädoyer für eine differenzierte Betrachtung, 2016. https: / / www.dwd.de/ DE/ leistungen/ besondereereignisse/ niederschlag/ 20160719_ entwicklung _starkniederschlag _deutschland.pdf ? _ _ blob=publicationFile&v=3. Zugegriffen: 08.07.2021. [5] Schmitt, T., Krüger, M., Pfister, An., Becker, M., Mudersbach, C., Fuchs, L., Hoppe, H., Lakes, I.: Einheitliches Konzept zur Bewertung von Starkregenereignissen mittels Starkregenindex. DWA Korrespondenz Abwasser, Abfall 65 (2) (2018) S. 113 - 120. [6] Deutscher Wetterdienst (DWD): Starkregen, 2021. https: / / www.dwd.de/ DE/ service/ lexikon/ begriffe/ S/ Starkregen.html. Zugegriffen: 08.07.2021. [7] Böcher, M., Nordbeck, R.: Klima-Governance: Die Integration und Koordination von Akteuren, Ebenen und Sektoren als klimapolitische Herausforderung - Einführung in den Schwerpunkt. Dms - der moderne Staat - Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management 7(2) (2014) S. 253 - 268. [8] LAWA (Bund-/ Länderarbeitsgemeinschaft Wasser): LAWA-Strategie für ein effektives Starkregenrisikomanagement. Erfurt, 2018. [9] LReg. BW (Landesregierung Baden-Württemberg): Land veröffentlicht Leitfaden für Starkregen, 2016. https: / / www.baden-wuerttemberg.de/ de/ ser vice/ presse/ pressemitteilung/ pid/ land-veroeffentlichtleitfaden-zum-starkregenrisikomanagement-fuerstaedte-und-gemeinden-1/ . Pressemitteilung. Zugegriffen: 08.07.2021. [10] Kemmerzell, J., Tews, A: Akteursorientierungen im überlokalen Handlungsraum. Herausforderungen und Chancen lokaler Klimapolitik im Mehrebenensystem. dms - der moderne staat - Zeitschrift für Public Policy, Recht und Management 2 (2014) S. 269 - 287. [11] Engels, A., Wickel, M., Knieling, J., Kretschmann, N., Walz, K.: Lokale Klima-Governance im Mehrebenensystem: formale und informelle Regelungsformen. In: von Storch, H., Meinke, I., Claußen, M. (Hrsg.): Hamburger Klimabericht. Wissen über Klima, Klimawandel und Auswirkungen in Hamburg und Norddeutschland, Berlin: Springer VS (2018 ) S. 265 - 282. [12] Deister, L., Brenne, F., Stokman, A., Henrichs, M., Jeskulke, M., Hoppe, H., Uhl, M.: Wassersensible Stadt- und Freiraumplanung. Handlungsstrategien und Maßnahmenkonzepte zur Anpassung an Klimatrends und Extremwetter. SAMUWA Publikation. Stuttgart: Universität Stuttgart, 2016. [13] Ministerium für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft Baden-Württemberg, Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg (Hrsg.): Monitoring-Bericht zum Klimaschutzgesetz Baden-Württemberg. Teil I Klimafolgen und Anpassung. Stuttgart, Karlsruhe. Hochwasserrisikosteckbrief zur Hochwasserrisikokarte Mannheim, Stuttgart, 2017. [14] Stadt Mannheim, Eigenbetrieb (EB) Entwässerung: Starkregengefahrenkarte. Simulation Extremer Niederschlag 128 mm/ s im Stadtgebiet Mannheim-Casterfeld. Mannheim, 2021. [15] SMARTilience: GIS-Befragung in den beiden Partnerstädten Halle (Saale) und Mannheim von DreSo. Fraunhofer IAO, 2021. Stuttgart.https: / / www.morgenstadt.de/ de/ projekte/ smart _city/ smartilience/ geo.html. Zugegriffen am 21.07.2021 Prof. Dr.-Ing., M.A. pol./ soz. Jörg Knieling Leiter des Fachgebiets Stadtplanung und Regionalentwicklung HafenCity Universität Hamburg (HCU) Kontakt: joerg.knieling@hcu-hamburg.de Alexandra Idler Projektkoordination SMARTilience Stadt Mannheim, Abteilung Klimaschutz Kontakt: Alexandra.Idler@mannheim.de Olga Izdebska, M. Sc. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Projekt SMARTilience Stadtplanung und Regionalentwicklung HafenCity Universität Hamburg (HCU) Kontakt: olga.izdebska(at)hcu-hamburg.de Nancy Kretschmann, M. Sc. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Projekt SMARTilience Stadtplanung und Regionalentwicklung HafenCity Universität Hamburg (HCU) Kontakt: nancy.kretschmann@hcu-hamburg.de Rebecca Nell, M.A. Institut für Arbeitswissenschaften und Technologiemanagement (IAT) der Universität Stuttgart Kontakt: rebecca.nell@iat.uni-stuttgart.de AUTOR*INNEN 62 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Wasser in der Stadt der Zukunft Der Anpassungsdruck auf die städtische Wasser- und Abwasserinfrastruktur nimmt infolge von Klimawandel, steigenden Bevölkerungszahlen in Metropolregionen sowie sozialer und wirtschaftlicher Bedarfe zu [1, 2, 3]. Durch Nachverdichtung und Neuerschließungen steigt die Flächenversiegelung, das Mikroklima ändert sich und das Abflussverhalten bei Regenereignissen wird beeinflusst. Zusätzlich begünstigen bebaute bzw. versiegelte Oberflächen die Entstehung von Hitzeinseln [4, 5]. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass in den Sommermonaten zum einen vermehrt extreme Starkregen und zum anderen Trockenperioden auftreten, die auch in Deutschland regional zu einer Wassermangelsituation führen können [6, 7]. Um die damit Mit Regenwasser nachhaltig umgehen Erprobung eines ganzheitlichen Planungsansatzes zur Förderung einer wassersensiblen Stadtentwicklung Regenwassermanagement, urbaner Wasserhaushalt, Infrastrukturen, Stadtklima Timo C. Dilly, Karim Sedki, Ulrich Dittmer, Martina Scheer Im Rahmen des Forschungsprojektes SMART&WISE (Smarte und verlässliche Wasser- und Abwasserinfrastruktursysteme für unsere Zukunftsstädte in Indien und Deutschland) wurden ganzheitliche Planungsansätze untersucht, die einen nachhaltigen Umgang mit Regenwasser in der Stadt der Zukunft gewährleisten sollen. Eine Empfehlung für ein strukturiertes Vorgehen bei der Planung von Regenwasserbewirtschaftungsmaßnahmen verknüpft Analysen des Wasserhaushalts, des Überflutungsrisikos, der Wasserversorgung und des Stadtklimas. Der Ansatz wurde anhand der Pilotgebiete Ochsenhausen (Baden-Württemberg) und Kurichi (Indien) getestet und evaluiert. © Peggy und Marco Lachmann-Anke auf Pixabay 63 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? einhergehenden Herausforderungen zu bewältigen, sollen auch in der Siedlungswasserwirtschaft Smart-City-Konzepte, die auf digitale Lösungen zurückgreifen, Anwendung finden. Jedoch sind die Ziele einer „smarten“ nicht von denen einer „traditionellen“ Siedlungswasserwirtschaft zu unterscheiden [8]. Eine Smart City muss nicht zwangsläufig eine digitale Stadt sein, sondern sollte als Strategie in erster Linie einer nachhaltigen und integrierten Stadtentwicklung zum Wohle der Bürger verpflichtet sein. Für den Bereich Wasser ist es daher essenziell, das urbane Wassermanagement ganzheitlich zu denken und zu planen. Wesentliche Handlungsfelder sind dabei (1.) die Planung und Erneuerung von Wasserversorgungssystemen unter Berücksichtigung alternativer Wasserressourcen, (2.) ein nachhaltiges Regenwassermanagement, das eine schadlose Ableitung und eine Nutzung kombiniert sowie (3.) die ressourcenorientierte Behandlung und das Recycling von Abwasser. Umgang mit Regenwasser Eine nachhaltige Regenwasserbewirtschaftung muss einerseits die schadlose Ableitung von Regenwasser gewährleisten und andererseits Regenwasser als wertvolle städtische Wasserressource nutzbar machen. Wassersensible Städte müssen demnach das Risiko von urbanen Sturzfluten und (kanalindizierten) Überflutungen infolge Starkregen minimieren, die Auswirkungen von städtebaulichen Maßnahmen auf den Wasserhaushalt berücksichtigen, die Nutzung von Regenwasser fokussieren und Maßnahmen zur Reduzierung von Hitzeinseln mitdenken. Dabei kommt blau-grünen Infrastrukturen eine Schlüsselrolle zu. Sie ermöglichen nicht nur einen Rückhalt und die Versickerung von Regenwasser, sondern können durch eine gesteigerte Verdunstungs- und Kühlleistung (und möglicherweise Verschattung) auch der Bildung von Hitzeinseln entgegenwirken [9]. Struktur für die Planung Im Projekt SMART&WISE wurde ein strukturiertes Vorgehen für die Planung eines nachhaltigen Regenwassermanagements entwickelt (siehe Bild 1). Das Vorgehen berücksichtigt die einschlägigen technischen Regelwerke und Empfehlungen (zum Beispiel: [10, 11, 12, 13]), geht jedoch darüber hinaus. Bei der Planung von Infrastruktursystemen wird zwischen einem Retrofit-Ansatz (unter Einbeziehung bestehender Infrastrukturen) und einem Greenfield-Ansatz (Neuplanung) unterschieden. Beide Ansätze verwenden die vier Analysen Überflutungsrisiko, Wasserhaushalt, Wasserknappheit und Hitzeinseln. Das Einbeziehen von Entscheidungsträgern wird beim beschriebenen Planungsprozess vorausgesetzt und daher im Folgenden nicht explizit erläutert. Für den Retrofit-Ansatz wird empfohlen, die Ergebnisse der vier Einzelanalysen zu überlagern, um den IST-Zustand zu bewerten und einen Handlungsbedarf abzuleiten. In einem iterativen Planungsprozess sollen Lösungsvarianten für eine Verbesserung der IST-Situation erzeugt werden. Dabei sind naturnahe aber auch konventionelle technische Maßnahmen zu berücksichtigen. Für konventionelle Entwässerungssysteme muss nach Misch- und Trennsystem unterschieden werden. Außerdem ist zu beachten, dass auch Regenwasser vor der Einleitung in ein Gewässer (ober- oder unterirdisch, das heißt in das Grundwasser) unter Umständen aufgrund seiner stofflichen Belastung behandelt werden muss. Für den Vergleich der IST-Situation mit den generierten Lösungsvarianten wird eine Visualisierung unter Verwendung von Indexwerten vorgeschlagen. Beim Greenfield-Ansatz wird ein hierarchisches Vorgehen empfohlen. So ist zunächst zu überprüfen, ob auf Grund von (1.) Wasserknappheit eine Speicherung und Nutzung des Regenwassers notwendig ist. Anschließend sind (2.) eine Wasserhaushaltsbilanz aufzustellen und (3.) potenzielle Hitzeinseln im Planungsgebiet zu identifizieren. Regenwasserbewirtschaftungsmaßnahmen sind so lange umzusetzen, bis der Zielzustand (zum Beispiel: natürlicher Wasserhaushalt) bezogen auf Infiltration und Evapotranspiration erreicht ist. Dabei sollen die Ergebnisse aus der Hitzeanalyse bei der Standortwahl und bei der Auswahl von Maßnahmen (Baumrigolen, Gründächer, Grünfassaden, etc.) berücksichtigt werden. In Gebieten, in denen mit Wassermangel zu rechnen ist, sollte eine Bewässerung dieser Anlagen mit eingeplant werden. Dafür soll vor allem die Wasserressource „behandeltes Abwasser“ in Betracht gezogen werden. Nach Abschluss dieser Grobplanung und der Verteilung von Maßnahmen im Planungsgebiet ist die Entwässerungsplanung (inklusive der Dimensionierung des Kanalnetzes) durchzuführen. Dabei soll auch der gestalterische Aspekt von sichtbaren Wasserwegen Eingang in die Planung finden. Für das Gesamtkonzept ist dann eine Starkregenbetrachtung, wie in der (4.) Überflutungsanalyse vorgesehen, durchzuführen. Ausgehend davon sind bei Bedarf, der sich aus der Überflutungsanalyse ergibt, Retentionsräume und Maßnahmen zur Speicherung von Regenabflüssen zu planen. Abschließend ist analog zum Retrofit-Ansatz die stoffliche Belastung des Regenabflusses und dessen Behandlungsbedürftigkeit zu berücksichtigen. 64 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Bild 1: Entwurf eines strukturierten Vorgehens für die ganzheitliche Planung von Regenwasserbewirtschaftungsmaßnahmen. © Dilly et al. 65 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Wasserknappheit, Wasserhaushalt, Hitzeinseln und Überflutungsgefährdung Kern der beiden Ansätze Retrofit und Greenfield ist die Verknüpfung der vier Analysen Wasserknappheit, Wasserhaushalt, Hitzeinseln und Überflutungsgefährdung. Auf das Vorgehen bei den einzelnen Analysen wird im Folgenden kurz eingegangen. Die Wasserknappheitsanalyse beschreibt das Vorgehen, um einen Vergleich zwischen zukünftigem Wasserbedarf und Wasserverfügbarkeit unter Verwendung verschiedener Zukunftsszenarien aufzustellen. Diese Analyse bildet das Bindeglied zur Wasserversorgung und zur Abwasserbehandlung, da auch recyceltes Abwasser als Wasserressource in Betracht zu ziehen ist. Ziel der Wasserhaushaltsanalyse ist es, den urbanen Wasserhaushalt im bebauten Zustand mit einem Referenzzustand zu vergleichen und Defizite aufzuzeigen. In Deutschland wird für Neuerschließungen der natürliche (unbebaute) Wasserhaushalt als Referenz empfohlen [13]. Dieser kann auch als Referenzzustand für Retrofitplanungen dienen, wenn eine wassersensible Stadtentwicklung angestrebt wird. Zur Identifikation von Hitze-Hotspots wird ein zweistufiger Prozess empfohlen. Der erste Schritt besteht darin, Bereiche zu lokalisieren, die eine definierte Grenztemperatur erreichen oder überschreiten. Diese Grenztemperatur muss fallspezifisch gewählt werden. Als Grenzwert können dabei zum Beispiel die gefühlten Tageshöchsttemperaturen für starke oder extreme Wärmebelastung (> 35 °C oder > 38 °C) [14, 15] aber auch niedrigere Lufttemperaturen [16], sowie Grenzwerte in Abhängigkeit von der Länge einer Hitzeperiode dienen. Der zweite Schritt ist eine Vulnerabilitätsanalyse (vgl. [17]), innerhalb welcher die stadtspezifische Stadtstruktur (Bevölkerungsdichte, gefährdete Bevölkerungsgruppen, Erreichbarkeit von Grünflächen etc.) untersucht wird, um Hotspots zu definieren. Durch die Überlagerung der Ergebnisse aus beiden Schritten wird der Handlungsbedarf lokalisiert. Die Analyse der Überflutungsgefährdung beschreibt den Ablauf der modellbasierten, hydrodynamischen Niederschlags-Abfluss-Simulation. Ziel der Analyse ist es, Überflutungs-Hotspots zu identifizieren. Diese können durch Überstau aus der Kanalisation oder durch Oberflächenabfluss verursacht werden (vgl. [18, 19]). Es ist wichtig, die Ursache (zum Beispiel: angeschlossene Außengebiete mit hoher Abflusswirksamkeit) dieser Überflutungs- Hotspots zu analysieren und zusammenhängende Gebiete zu bestimmen. Je nach Datenverfügbarkeit kann ein 1D-Kanalnetzmodell, ein 2D-Oberflächenmodell oder ein gekoppeltes 1D/ 2D-Modell erstellt werden. Bei schlechter Datenbasis kann als erster Schritt auch eine (manuelle) Fließweganalyse (GIS) angesetzt werden. Um die Güte der Ergebnisse durch eine Verifizierung bzw. Validierung einstufen zu können, sind Standortbesichtigungen durchzuführen. Anwendbarkeit und Übertragbarkeit Die mit dem entwickelten Planungsansatz generierten Lösungen sind stark von den klimatischen, sozialen und wirtschaftlichen sowie sozial-ökologischen Randbedingungen des Planungsgebietes abhängig. Die Anwendbarkeit des Ansatzes wurde bisher in zwei Pilotgebieten getestet. In Ochsenhausen, einer Kleinstadt in Baden-Württemberg, und in Kurichi, einer Vorstadt von Coimbatore in Tamil Nadu, Indien. Für das deutsche Pilotgebiet wurde der Retrofit- Ansatz angewendet. Es wird davon ausgegangen, dass das Gebiet nicht von Wasserknappheit betroffen ist. Als Grundlage für die Analyse der Hitzeinseln wurden Landsat 8 OLI/ TIRS Temperaturdaten und eine Vulnerabilitätsanalyse verwendet. Die Vulnerabilität wurde dabei manuell anhand von Flächennutzungsdaten festgelegt. Für die Wasserhaushaltsanalyse kann in Deutschland die Software WABILA [20, 21] verwendet werden. Sie ermöglicht die Ermittlung von Abfluss, Verdunstung und Versickerung in Abhängigkeit von der klassifizierten Fläche und vorhandenen Regenwasserbewirtschaftungsmaßnahmen. Auf der Basis von 1D-, 2D- und 1D/ 2D-gekoppelten Analysen, die mit der Software ++SYSTEMS (tandler.com) durchgeführt wurden, konnten Kanalüberläufe und Oberflächenabflüsse, die bei Starkregen zu Überflutungen führen, lokalisiert werden. Die drei Analyseergebnisse wurden in rasterbasierte Indexkarten umgewandelt und durch eine gleichmäßige Überlagerung zu einem Gesamtergebnis für das Pilotgebiet zusammengeführt. Darauf aufbauend wurden in einem iterativen Prozess Lösungsvarianten erstellt, die Regenwasserbewirtschaftungsmaßnahmen im öffentlichen Raum (zum Beispiel: Versickerungsflächen, Mulden und Flächenentsiegelung) und eine umfangreiche Umgestaltung privater Grundstücke (zum Beispiel: Gründächer, Zisternen, Mulden) berücksichtigen. Im Planungsansatz ist vorgesehen, dass die Bewertung dieser Varianten durch eine erneute Durchführung der Analysen erfolgen soll. Es konnte zwar eine deutliche Verbesserung gegenüber der IST-Situation erreicht werden, jedoch wurden auch Schwachstellen bei der Anwendung ersichtlich. Eine Reduzierung des Hitzeinseleffekts durch Regenwasserbewirtschaftungsmaßnahmen wurde zwar angenommen, aber 66 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? gezogen werden, da eine Erhöhung der Verdunstung und Infiltration in Wassermangelgebieten den Wasserstress weiter erhöhen würde. Es ist vielmehr ein Gleichgewicht zwischen Wasserquellen (inklusive Regenwasser), Wasserspeicherung, Wasserwiederverwendung und dem Wasserbedarf herzustellen, wobei zu berücksichtigen ist, dass blau-grüne Infrastrukturen unter Umständen auch bewässert werden müssen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Ansatz im Detail noch weiter ausgearbeitet werden muss, jedoch die Anwendung bereits gezeigt hat, dass er dazu geeignet ist, die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei der Planung von blau-grünen Infrastrukturen zu erleichtern. Im Projekt SMART&WISE wird an den beschriebenen offenen Fragestellungen weitergearbeitet. Unter www.smart-water.solutions ist der aktuelle Projektstand einzusehen. Danksagung Der präsentierte Ansatz wurde im Rahmen des deutsch-indischen Forschungsprojektes SMART&- WISE entwickelt und erprobt. Die Autoren bedanken sich beim Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und dem Indo-German Science & Technology Centre (IGSTC) für die Förderung des Projektes. LITERATUR [1] UNESCO: The United Nations world water development report, 2019: Leaving no one behind. United Nations Educational. Scientific and Cultural Organization, Paris, 2019. [2] World Bank Group: Water Scarce Cities. Thriving in a Finite World. International Bank for Reconstruction and Development / The World Bank, Washington, 2018. noch nicht modelliert. An dieser Stelle sollen numerische Modelle zur Simulation von Wind- und Temperaturverteilung Anwendung finden (vgl. [22, 23]). Des Weiteren ist festzustellen, dass die Mehrzahl der Regenwasserbewirtschaftungsmaßnahmen primär zu einer Erhöhung der Infiltrationsrate beitragen. Daher ist im Vergleich zur Infiltration eine Erhöhung der Verdunstung mit den verwendeten Maßnahmen und Berechnungsansätzen schwierig und die Zielbedingung „Erreichen des natürlichen Wasserhaushaltes“ nur schwer zu erreichen. Zusätzliche Untersuchungen sind erforderlich, um Regenwasserbewirtschaftungsmaßnahmen in Bezug auf die Verdunstung zu bewerten. Die Anwendung der Planungshilfen auf das indische Pilotgebiet zeigt weitere Grenzen der Anwendung auf. Im Gegensatz zum Pilotgebiet Ochsenhausen steht in Kurichi eine geringere Datengrundlage zur Verfügung. Das erschwert vor allem die Analyse der Überflutungsgefährdung. Trotz der Bebauung des Gebietes wurde der Greenfield-Ansatz gewählt, da die vorhandene Infrastruktur (und die vorliegenden Daten) für eine Transformation als ungeeignet eingestuft wurde. In Verbindung mit dem hohen Anteil an versiegelten Flächen in Kurichi, den zu erwartenden Niederschlagsmengen und den festgestellten Hitzeinsel-Potenzialen ergibt sich für das Gebiet ein umfassender Handlungsbedarf. So wurden Lösungsvarianten mit Baumrigolen, Wand- und Dachbegrünungen zur Abminderung von Hitzeinseleffekten aber auch Bodenfilter-Anlagen zur Regenwasserbehandlung, sowie Anlagen zur Regenwasserspeicherung und -nutzung erstellt. In semiariden oder ariden Regionen kann die Abweichung vom natürlichen Wasserhaushalt nicht als Argument für Regenwasserbewirtschaftungsmaßnahmen heran- Bild 2: Schematische Darstellung der Analyse des IST-Zustandes im Retrofit- Planungsansatz zum Umgang mit Regenwasser. © Dilly et al. 67 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? [3] Difu: Wasserinfrastrukturen für die zukunftsfähige Stadt. Beiträge aus der INIS-Forschung. Deutsches Institut für Urbanistik gGmbH, Berlin, 2017. [4] EEA: Unequal exposure and unequal impacts: social vulnerability to air pollution, noice and extreme temperatures in Europe. European Environment Agency, Luxembourg, 2018. [5] Tzavali, A., Paravantis, J. P., Mihalakakou, G., Fotladi, A., Stigka, E.: Urban Heat Island Intensity: A Literature Review. In: Fresenius Environmental Bulletin 24 (12b), (2015) S. 4537 - 4554. [6] DWD: Deutscher Klimaatlas. Deutscher Wetterdienst, 2019. Online verfügbar unter https: / / www.dwd.de/ DE/ klimaumwelt/ klimaatlas/ klimaatlas_node.html, zuletzt geprüft am 15.08.2019. [7] Hahn, A., Kuffer, M., Mihalic, I., Mittag, S., Strasser, B. (Hrsg.): Grünbuch 2020 zur Öffentlichen Sicherheit. 1. Auflage 12/ 2020. Zukunftsforum Öffentliche Sicherheit e. V., Berlin, 2020. [8] Dilly, T. C., Dittmer, U., Schmitt, T. G.: Smart Water: Konzepte für einen intelligenten Umgang mit Wasser in der Stadt der Zukunft. Korrespondenz Abwasser, Abfall. 66, (2019) 802 - 811. [9] Umweltbundesamt: Untersuchung der Potentiale für die Nutzung von Regenwasser zur Verdunstungskühlung in Städten. Dessau-Roßlau, September 2019, ISSN 1862-4804. [10] DWA: Arbeitsblatt DWA-A 100 - Leitlinien der integralen Siedlungsentwässerung (ISiE), 2016. Dezember 2006. [11] DWA: Arbeitsblatt DWA-A 102-1/ BWK-A 3-1 „Grundsätze zur Bewirtschaftung und Behandlung von Regenwetterabflüssen zur Einleitung in Oberflächengewässer - Teil 1: Allgemeines“, Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e. V., Dezember 2020, ISBN 978-3-96862-044-2. [12] DWA: Arbeitsblatt DWA-A 102-2/ BWK-A 3-2 „Grundsätze zur Bewirtschaftung und Behandlung von Regenwetterabflüssen zur Einleitung in Oberflächengewässer - Teil 2: Emissionsbezogene Bewertungen und Regelungen“, Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e. V., Dezember 2020, ISBN 978-3-96862-046-6. [13] DWA: Merkblatt DWA-M 102 / BWK-M 3-4 (Gelbdruck) - Grundsätze zur Bewirtschaftung und Behandlung von Regenwetterabflüssen zur Einleitung in Oberflächengewässer - Teil 4: Wasserhaushaltsbilanz für die Bewirtschaftung des Niederschlagswassers“, Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e. V., Dezember 2020, ISBN 978-3-96862- 032-9. [14] VDI: VDI-Richtlinie 3787 Blatt 9, Umweltmeteorologie: Berücksichtigung von Klima und Lufthygiene in räumlichen Planungen. Verein Deutscher Ingenieure, Düsseldorf, 2004. [15] BMU: Handlungsempfehlungen für die Erstellung von Hitzeaktionsplänen zum Schutz der menschlichen Gesundheit. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit, Bonn, 2017. [16] WHO: Health and Global Environmental Change. Series No.2.Heat-waves: risks and responses. World Health Organisation Europe, Copenhagen 2004, ISBN 92 890 1094 0. [17] Stadt Freiburg: Klimaanpassungskonzept. Ein Entwicklungskonzept für das Handlungsfeld „Hitze“. Stadtplanungsamt, Stadt Freiburg i. Breisgau, 2019. [18] LUBW: Leitfaden Kommunales Starkregenrisikomanagement in Baden-Württemberg. LUBW Landesanstalt für Umwelt Messungen und Naturschutz, Karlsruhe, 2016, ISBN: 978-3-88251-391-2. [19] DWA: Merkblatt DWA-M 119 „Risikomanagement in der kommunalen Überflutungsvorsorge für Entwässerungssysteme bei Starkregen“. Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e. V. November 2016, ISBN 978-3-88721-392-3. [20] Henrichs, M., Langner, J., Uhl, M.: Development of a simplified urban water balance model (WABILA). Water Science & Technology, 73.8 (2016) S. 1785 - 1795. [21] https: / / de.dwa.de/ de/ Wasserbilanz.html, zuletzt geprüft: 19.07.2021. [22] Weber, F.-A., Bolle, F.-W., Halbig, G., Willen, L., Weber, B., Völker, V., Hasse, J., Schultze, J., Hölsgens, R., Dankwart- Kammoun, S., Schlumberger, J., Büter, B., Burmeister, C., Frerichs, S., Simon, A.: Stadtklima im Wandel [UC]² - Klimamodelle für die Praxis (KliMoPrax). Abschlussbericht des BMBF-Verbundvorhaben KliMoPrax, Förderkennzeichen 01LP1603A-E, FiW e. V., Aachen, 2019. [23] Stadt Zürich; Grüne Stadt Zürich (Hrsg.): Programm Klimaanpassung. Fachplanung Hitzeminderung. Zürich, 2020. Dipl.-Ing. Timo Christopher Dilly Wissenschaftlicher Mitarbeiter Wasser - Infrastruktur - Ressourcen Fachgebiet Siedlungswasserwirtschaft Technische Universität Kaiserslautern Kontakt: timo.dilly@bauing.uni-kl.de Karim Sedki, M. Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Wasser - Infrastruktur - Ressourcen Fachgebiet Siedlungswasserwirtschaft Technische Universität Kaiserslautern Kontakt: karim.sedki@bauing.uni-kl.de Prof. Dr.-Ing. Ulrich Dittmer Leiter des Fachgebiets Siedlungswasserwirtschaft an der TU Kaiserslautern Wasser - Infrastruktur - Ressourcen Fachgebiet Siedlungswasserwirtschaft Technische Universität Kaiserslautern Kontakt: ulrich.dittmer@bauing.uni-kl.de Dr.-Ing. Dipl.-Wirt. Ing. Martina Scheer Infrastrukturplanung und Entwicklung Ingenieurbüro Scheer Kontakt: info@ib-scheer.de AUTOR*INNEN 68 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Warum Klimagerechtigkeit? Während in der freien Landschaft das Klima weitgehend von natürlichen Gegebenheiten bestimmt wird, besteht in der Stadt durch Bauwerke, Glasfassaden, Asphaltierung und andere Formen der Versiegelung ein menschgemachtes Klima. Hier können die Hitze- und Trockenperioden oder Starkregenereignisse mit dem Überflutungsrisiko besonders stark wirken. In dicht besiedelten Agglomerationen mit einem hohen Anteil versiegelter Flächen tritt vielfach Überhitzung auf, wobei im Sommer auch nachts die Außentemperaturen häufig nicht mehr Mehrwert der Klimagerechtigkeit für die Klimaanpassung in Kommunen Dargelegt am Beispiel blau-grüner Infrastrukturen Klimagerechtigkeit, Stadtgrün, Wasserressourcen, Wasserinfrastruktur, Klimaanpassung, Gerechtigkeitsprinzipien Martina Winker, Jan Hendrik Trapp, Engelbert Schramm Kommunen müssen Anpassungsmaßnahmen vornehmen, um den zunehmenden Wetterextremen im Zuge des Klimawandels begegnen zu können. Die Frage ist, wo und wie mit Anpassungsmaßnahmen begonnen werden sollte, da nicht das gesamte Stadtgebiet gleichermaßen betroffen ist und gleichzeitig angepasst werden kann. Der Zugang über Klimagerechtigkeit kann eine wichtige Hilfestellung in der Analyse und Identifikation von prioritären Bereichen in der Stadt sein. Dies wird in diesem Artikel am Beispiel von Anpassungsmöglichkeiten im Bereich der blau-grünen Infrastrukturen dargestellt und erläutert. THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser? Bild 1: Unwetter mit Starkregen. © pixabay 69 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? unter 20 °C absinken (sogenannte „tropische Nächte“). Man spricht von städtischer Überhitzung. Diese schlägt in die Innenbereiche der Gebäude durch. Ebenso wie Starkregenereignisse werden solche Perioden wahrscheinlich künftig häufiger, länger anhaltend und höher temperiert auftreten und mit Trockenheit einhergehen. Hinzu kommt, dass Schäden, die durch zu viel oder zu wenig Wasser entstehen, in Zukunft eine noch größere Belastung darstellen werden. Folgerichtig ist die Klimaanpassung des urbanen Raums und seiner Infrastrukturen ein zentrales Ziel der Stadtentwicklung. In Bezug auf die Anpassung werden auch Fragen der Klimaresilienz thematisiert. Städte und ihre Infrastrukturen sollen „robust“ und anpassungsfähig sein. Allerdings sind weder alle Räume in einer Stadt in gleicher Weise von den Folgen des Klimawandels betroffen, noch ist ihre Bevölkerung homogen. Vielmehr bestehen Unterschiede im gebauten städtischen Raum, aber auch Unterschiede in der Sozialstruktur. In vielen Städten liegen beispielsweise Einfamilienhausgebiete im Grünen oder sind nachts gut durchlüftet. Der konzeptionelle Zugang über den Begriff der „Klimagerechtigkeit“ kann zu einer Differenzierung der politischen Maßnahmen beitragen. Besonderes und bisher (zu) selten genutztes Potenzial für mehr Klimagerechtigkeit bietet die Vernetzung und das Wechselspiel von stadttechnischer Infrastruktur mit den grünen (Grünanlagen, Gründächer usw.) und blauen Infrastrukturen (Wasserkörper/ Gewässer). Für gewöhnlich wird Klimagerechtigkeit unter einer globalen und intergenerationalen Perspektive diskutiert, in der auf die sozial und räumlich ungleichen Bedrohungen und Anpassungsbedarfe durch den Klimawandel sowie die ungleichen Beiträge in Form von Treibhausgasemissionen im Globalen Süden und Norden hingewiesen wird [1]. Im urbanen Kontext war Klimagerechtigkeit lange ein eher unüblicher Begriff [2], wenn er auch in letzter Zeit verstärkt insbesondere von politischen Akteuren der demokratischen Parteien aufgegriffen wird und eine klimagerechte Stadtentwicklung auch im Baugesetzbuch auf Basis von § 1, Abs. 5 im Zusammenwirken mit § 1a, Abs. 5 implizit angelegt ist. Zudem ist auf kommunaler Ebene der Ansatz der Umweltgerechtigkeit seit Jahren fest etabliert. Umweltgerechtigkeit zielt als normatives Leitbild auf die Vermeidung und den Abbau der sozialräumlichen Konzentration gesundheitsrelevanter Umweltbelastungen sowie die Gewährleistung eines sozialräumlich gerechten Zugangs zu Umweltressourcen [3]. Neben den beiden genannten Gerechtigkeitsprinzipien, Verteilungsgerechtigkeit mit Blick auf Umweltbelastungen und Zugangsgerechtigkeit zu Umweltressourcen, wird in der Auseinandersetzung mit Umweltgerechtigkeit regelmäßig als drittes Prinzip die Verfahrensgerechtigkeit im Sinne von Beteiligungsmöglichkeiten an Entscheidungsprozessen bei umweltrelevanten Vorhaben eingeführt [1,- 4]. Alle drei dieser sich überlagernden und wechselseitig beeinflussenden Gerechtigkeitsdimensionen - Verteilungsgerechtigkeit, Zugangsgerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit - sind für die Auseinandersetzung mit Klimawandelfolgen im urbanen Kontext relevant. Die Auseinandersetzung mit dem Begriff der Klimagerechtigkeit ist geeignet, in die Suche nach einer klimaangepassten Stadtentwicklung veränderte Perspektiven, sozial-räumliche Differenzierungen und Prioritäten einzutragen. Verteilungsgerechtigkeit, Zugangsgerechtigkeit, Verfahrensgerechtigkeit: drei Dimensionen der Klimagerechtigkeit Verteilungsgerechtigkeit: Durch den Zugang über den Gerechtigkeitsbegriff können soziale Ungleichheiten und räumliche Unterschiede explizit in die Diskussion um urbane Klimaanpassung aufgenommen werden. Denn die Klimafolgen schlagen sich in der Stadt räumlich ungleich nieder und werden zusätzlich durch soziale Ungleichheiten in städtischen Räumen überlagert: Hochverdichtete und versiegelte Quartiere können sich bei Hitze stärker aufheizen und bei Starkregen eher überflutet werden als weniger dicht bebaute Stadtviertel - in vielen Städten lassen sich räumlich „hot spots“ des Klimawandels identifizieren, wie zum Beispiel kommunale Hitzeaktions- und Risikovorsorgepläne zeigen. Öffentliche Grünflächen und Parks sowie private Gärten sind in der Stadt räumlich nicht gleich verteilt. Neben der sozialen Ungleichheit, beispielsweise aufgrund von Einkommen und Bildungsabschlüssen, werden unter der Perspektive von Klimagerechtigkeit auch individuelle Merkmale wie Alter, Geschlecht, Erkrankungen etc. und damit die unterschiedliche Vulnerabilität der/ des Einzelnen thematisiert. Denn ältere Menschen, kleine Kinder und Menschen mit chronischen Erkrankungen sind etwa bei Hitzewellen einem höheren Risiko ausgesetzt als Gesunde [5, 6]. Gleichzeitig sind hier auch Themen wie die Umlage von Anpassungs- und Schadenskosten und eingesetzte Ressourcen relevant. Die Verteilungsgerechtigkeit als Dimension der Klimagerechtigkeit erkennt diese Ungleichverteilungen im städtischen, sozial differenzierten Raum an. Und so kann es im Kontext der Verteilungsgerechtigkeit beispielsweise darum gehen, eine „gerechte sozialräumliche Verteilung von Grün“ [7] in der Stadt herzustellen. 70 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Zugangsgerechtigkeit: Die Zugangsgerechtigkeit ist mit der Verteilungsgerechtigkeit verknüpft, zeichnet sich aber durch einen Gestaltungsanspruch aus. Beispielsweise variieren die sogenannte „Grünausstattung“ und „Grünerreichbarkeit“ nicht nur von Stadt zu Stadt, sondern auch innerhalb einer Stadt. Gerade der Zugang zu Grün in fußläufiger Entfernung, also im direkten Wohnumfeld und Quartier, hat sich nicht zuletzt in der Corona-Pandemie als wichtiger Faktor für Gesundheit und die Lebensqualität im Quartier erwiesen. Hier geht es jedoch nicht nur um den physischen Zugang, sondern auch um die damit verbundenen Ökosystemleistungen. So trägt Stadtgrün etwa durch die Verdunstung von Wasser und Verschattung zur Kühlung in der Stadt bei. Wichtig mit Blick auf den Zugang ist jedoch auch die Ausgestaltung der Zugänglichkeit auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen [8]. So kann etwa der Zugang über Treppen oder unbefestigte Wege als auch mangelnde Beleuchtung oder fehlende Übersicht dazu führen, dass zum Beispiel Menschen mit eingeschränkter Mobilität etwa mit Gehhilfen oder Menschen mit hohem Sicherheitsbedürfnis wie etwa Frauen aufgrund ihrer geschlechtsspezifischen Sozialisation die entsprechenden Angebote trotzdem nicht nutzen können und werden. Neben der unterschiedlichen Verwundbarkeit sozialer Gruppen verfügen diese jedoch auch über unterschiedliche Ressourcen beim Umgang mit und der Anpassung an die Folgen des Klimawandels sowie der Beteiligung an (planerischen) Entscheidungsprozessen. Letzteres greift der Aspekt der Verfahrensgerechtigkeit auf. Verfahrensgerechtigkeit: Dieser Aspekt zielt auf eine gerechte und möglichst gleiche Beteiligung von Akteuren an kommunalen Planungsprozessen ab, unabhängig von ihrem sozio-ökonomischen Status sowie sozio-demographischen Merkmalen. Verfahrensgerechtigkeit kann so angelegt werden, dass die Beteiligung (besonders) vulnerabler Gruppen an den Planungsprozessen gezielt gesucht bzw. gefördert wird, da diese ein besonderes Schutzbedürfnis gegenüber Klimafolgen haben. Zudem ermöglicht eine integrative Planung unter früher Einbeziehung aller Akteure eine Aushandlung auf Augenhöhe und damit ein ausgewogeneres Ergebnis bezüglich der Ziele und Interessen der einzelnen kommunalen Akteure, ihrer eingesetzten Ressourcen, als auch in der Prioritätensetzung der anstehenden Gestaltung. Einführung blau-grüner Infrastrukturen Neben der Wasserinfrastruktur, bestehend aus Wasserver- und Abwasserentsorgung sowie Niederschlagswassermanagement, können auch Gewässer und urbanes Grün als blaue und grüne Infrastruktur begriffen werden. Dabei ist wichtig, dass zum urbanen Grün nicht nur die öffentlichen Parks, Grünflächen oder Straßenbäume zählen, sondern auch privates Stadtgrün berücksichtigt wird. In der Debatte wird immer häufiger von einer blau-grünen Infrastruktur gesprochen [9, 10]. Gemeint sind städtische grüne und blaue Infrastrukturen, die als strategisches Netz geplant sind und verstanden werden, welches sich durch die Stadt zieht. Diese Infrastruktur kann aus naturnahen und künstlich angelegten Elementen bestehen. Wichtig ist das gemeinsame Beplanen und Weiterentwickeln dieser Infrastrukturen, da Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Bereichen bestehen, wie folgende Zusammenhänge zeigen: Ohne Wasser kann das Stadtgrün seinen Ökosystemleistungen in Hitzeperioden nicht nachkommen. Ohne Entsiegelung und den in der Folge teilentsiegelten Flächen und Grünflächen, die für Wasserrückhalt aber auch Versickerung und Verdunstung sorgen, wären die Auswirkungen von Starkregen noch viel deutlicher. Vor dem Hintergrund der Vernetzung ist es sinnvoll, Stadtgrün und Wasserressourcen auch mit Blick auf die Erreichung einer größtmöglichen Klimagerechtigkeit im urbanen Raum gemeinsam zu betrachten. Mehrwert der Klimagerechtigkeit am Beispiel der blau-grünen Infrastrukturen Mit Blick auf die in den nächsten Jahren sehr großen und notwendigen Anstrengen zur Anpassung der Kommunen an den Klimawandel, kann eine Betrachtung durch die Brille der Klimagerechtigkeit hilfreich sein. Dies wird an einigen ausgewählten Aspekten Bild 2: Wasserspielplatz im Palmengarten, Frankfurt am Main. © Martina Winker, ISOE, 2017 71 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? und Beispielen entlang der blau-grünen Infrastrukturen etwas genauer dargestellt. Ganzheitliche Analyse der Risiken und Schadensereignisse durchführen, um Ressourcen zielführend zu nutzen und Synergien zu identifizieren Städte und Kommunen haben die unterschiedlichsten Karten und Vorsorgepläne. So gibt es zum Beispiel Hitze- oder Hochwassergefährdungskarten ebenso wie Hitzeaktions- und Risikovorsorgepläne. Häufig werden jedoch die weiteren Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel einseitig diskutiert. So werden Maßnahmen im Bereich der blauen und grünen Infrastrukturen, um eine bessere Starkregenvorsorge zu erzielen, nicht unbedingt gleichzeitig mit Blick auf den Erhalt ihrer Funktionen in langen Hitze- und Trockenperioden gestaltet. So enthält beispielsweise das dezentrale Regenwassermanagement mit seinen unterschiedlichen Komponenten wie Dach- und Fassadenbegrünung, Wasserspeicherung und Entsiegelung wichtige Elemente, um Starkregenereignisse abzumildern. Gleichzeitig könnten diese Maßnahmen auch in Phasen langanhaltender Trockenheit und Hitze wichtige Beiträge zu Kühlung und Erhalt der Aufenthaltsfähigkeit leisten. Dafür braucht es jedoch Ergänzungen, um das Regenwasser für Bewässerungszwecke nutzen zu können, als auch intelligente Möglichkeiten, idealerweise jenseits von Trinkwasser, zur Nachspeisung der Zisternen/ Speicherelemente. Zudem bedarf es bei der Anlage von Fassaden- und Dachbegrünung einiger Überlegungen für dieses Szenario mit Blick auf Substratauswahl und Bodenvolumen. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass die Investitionen und Betriebskosten für Maßnahmen im Bereich des dezentralen Regenwassermanagements mit wenig zusätzlichem Aufwand, gemessen an Gesamtaufwand und -kosten, Wirksamkeit in beide Richtungen erzielen können. Dafür braucht es jedoch die notwendigen Kenntnisse, Vorwissen und Bereitschaft zur Umsetzung. Ist bekannt, wo sich besonders vulnerable Quartiere befinden, die unter beiden Extremwetterszenarien leiden und gegen die Auswirkungen gerüstet werden müssen, können diese entsprechend klimagerecht umgestaltet werden. Besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen gezielt in den Blick nehmen. Der mit der Verteilungs- und Zugangsgerechtigkeit verbundene Gestaltungsanspruch kommunalen Handelns in der Klimaanpassung muss auch dahingehend ausgelegt werden, dass Anpassungsmaßnahmen mittels blau-grüner Infrastrukturen nicht nur ausgehend von mikroklimatisch besonders betroffenen Räumen entschieden werden. Dabei lassen sich gerade sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen und Quartiere prioritär berücksichtigen. So haben in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen oder auch Menschen mit geringerem Einkommen weniger Möglichkeiten, in Trocken- und Hitzeperioden Orte mit angenehmer Aufenthaltsqualität zu erreichen. Das heißt, für sie ist der Bedarf von öffentlichem Grün in der direkten Umgebung besonders groß, da zum Beispiel kein Geld für Ausflüge oder Reisen vorhanden ist, um in Hitzeperioden aus der Stadt rauszukommen, oder aber dies aufgrund der eingeschränkten Mobilität deutlich erschwert ist. Gleichzeitig sind das Gruppen, die meist weniger Möglichkeiten haben, eigenständig Schutzmaßnahmen, wie bessere Dämmung von Dächern und Wänden, Rollläden aber auch Barrieren gegen Überflutungswasser oder Elemente des dezentralen Regenwassermanagements, zu ergreifen. Dies kann an den geringeren finanziellen Ressourcen, an mangelndem Wissen oder Überforderung in der Umsetzung (Angebote von Handwerker einholen, Implementierung organisieren) liegen und daran, dass in Mietverhältnissen der eigene Handlungsspielraum deutlich geringer, aber ein Umzug aus finanziellen oder organisatorischen Gründen nicht möglich ist. Das heißt, hier macht eine Aufwertung bestehender Grünflächen, wie etwa in die Jahre gekommenes Bestandsgrün oder unattraktive versiegelte Hinterhöfe, einen großen Unterschied, sodass die Zugangsgerechtigkeit verbessert werden kann. Dies sollte mit Blick auf die zuvor geschilderten Überlegungen zu Risiken und Schadensereignissen jedoch auch hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit geschehen. Bild 3: Gemeinsame Quartiersbegehung zur integrierten Planung der Infrastruktur. © Jan Trapp, 2018 72 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Prioritäten bei der Planung und Umsetzung richtig setzen und beachten. Gleichzeitig ist völlig klar, dass trotz einer optimalen Nutzung synergetischer Effekte nicht alle Ziele gleichzeitig erreicht werden können. Angesichts der Flächenkonkurrenzen in den Städten Deutschlands sind die Kapazitäten von blau-grünen Infrastrukturen endlich. Keineswegs lässt sich Starkregenereignissen, Trockenheit und Hitze gleichzeitig begegnen und eine hohe Aufenthaltsqualität garantieren. Nimmt man weitere Ziele wie den Erhalt und die Erhöhung der Biodiversität, den Grundwasserschutz oder auch Luftreinhaltung und Lärmschutz hinzu, zeigt sich dies noch deutlicher. Das heißt, es gilt bewusst Prioritäten bei den Zielen zu identifizieren und auszuhandeln. Was hat wo Priorität? In gewissen Gebieten, etwa Trinkwasserschutzgebieten oder Landschaftsschutzgebieten sind diese eindeutig vermerkt. Es bleibt jedoch meist ein großer urbaner Bereich, in dem dies ausgehandelt und neu entschieden werden muss. Hier gilt es gesamtstädtische Strategien und Pläne, aber auch die Interessen der Stadtgesellschaft ausreichend zu kennen und zu berücksichtigen. Denn nur durch eine gemeinsam getragene Strategie im privaten und öffentlichen Raum können Veränderungen wirksam erreicht werden. Dabei gilt es nicht nur die planerischen Ziele und Prioritäten zu beachten, sondern auch die prozessualen Entscheidungen im Auge zu behalten. Es ist wichtig abzusichern, dass Erwartungen der Bürger*innen auch realisierbar sind und dauerhaft Bestand haben. So muss etwa die Förderung von privatem Grün mit dem Wassermanagement abgestimmt sein. Es ist wenig förderlich, wenn für dieselben Personen in der nächsten Trockenzeit aufgrund von Wasserlimitierungen im Trinkwasserbereich ein Bewässerungsverbot für Stadtgrün ausgesprochen wird. Vermutlich kann eine Stadt durch in der Konsequenz nicht vollständig durchdachte Fördermaßnahmen (hier am Beispiel Stadtgrün) mittelfristig sogar Gefahr laufen, engagierte Bürger*innen zu enttäuschen und bezüglich zukünftiger Beteiligungen zu verlieren. Fazit Angesichts des fortschreitenden Klimawandels ist es erforderlich, die kommunale Planung an die unvermeidlichen Folgen der Klimaveränderung anzupassen. Einerseits muss Starkregenvosorge über dezentrale Regenwasserbewirtschaftung und eine angepasste Planung (insbesondere Bodennutzung und Vermeidung von Versiegelung) mitgedacht werden. Andererseits kann der städtischen Überhitzung durch verstärkte Begrünung begegnet werden, da durch die Verdunstung ein Kühleffekt erzielt wird. Insbesondere im Innenstadtbereich wird auch das Konzept der vertikalen Begrünung wichtig. Fassadenbegrünung kann aber auch im Bestand mit der Isolation der Gebäudehülle verknüpft werden. Urbanes Grün lässt sich zudem so gestalten, dass Niederschläge dort zurückgehalten werden und Wasser verdunsten und versickern kann. Eine klimagerechte Stadtentwicklung geht grundsätzlich davon aus, dass sich die Klimafolgen räumlich in der Stadt ungleich niederschlagen; in der Regel werden sie zusätzlich durch soziale Ungleichheiten im städtischen Räumen überlagert, wie vorhandene Umweltkartierungen zeigen. Die Auseinandersetzung mit Fragen der Klimagerechtigkeit in die Stadtentwicklung bedeutet, die bestehenden bzw. sich abzeichnenden Ungerechtigkeiten zu benennen und zu versuchen, diese aktiv zumindest abzumildern oder - weitergehend - zu kompensieren [11]. In kommunalpolitische Entscheidungen können dabei sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen und Quartiere prioritär berücksichtigt werden. Vereinfacht ausgedrückt, kann die Verschiedenheit der Vulnerabilität und der Problembewältigungskapazität der sozialen Gruppierungen eine unterschiedliche und unterschiedlich rasche Behandlung erfordern. Die abgeleiteten Maßnahmen sollten zudem angepasst an die jeweils fokussierten Bevölkerungsgruppen anders (aus)gestaltet werden. Es ist jeweils daran zu denken, die entsprechenden Zielgruppen angemessen zu adressieren. Die Erreichbarkeit von bzw. der Zugang zu Grün in fußläufiger Entfernung, also im direkten Wohnumfeld und Quartier, hat sich nicht zuletzt in der Corona-Pandemie als wichtiger Faktor für Gesundheit und die Lebensqualität im Quartier erwiesen. Hier kann eine klimagerechte Grünplanung unter Berücksichtigung alternativer Wasserressourcen ansetzen. Für die sozialverträgliche Gestaltung von gebietsbezogenen Maßnahmen zur Verbesserung der Klimagerechtigkeit kann die Öffentlichkeitsbeteiligung eine wichtige Formel sein und mehr Verfahrensgerechtigkeit herstellen. Bei einer Analyse der Gebiete mit mehrfachen und hohen Klimabelastungen liefert die Partizipation der davon unmittelbar betroffenen Bewohnerschaft zusätzliche Erkenntnisse. Frühzeitige Beteiligung der Bevölkerung erlaubt, dass die Betroffenen bei der Entwicklung von Maßnahmenkonzepten ihre eigenen Vorstellungen und Prioritäten einbringen und in den sich anschließenden Planungsprozess eintragen. Außerdem erlauben es Beteiligungsansätze wie das Quartiersmanagement, die im Gebiet lebenden 73 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Menschen bei Initiativen zur Verbesserung ihrer Klimabedingungen zu unterstützen [3]. Eine derartige Befähigung zum aktiven Handeln kann auch dazu beitragen, die Klimavulnerabilität dieser Gruppen zu verringern. Danksagung Die Autor*innen bedanken sich beim Bundesministerium für Bildung und Forschung, durch dessen Förderung von netWORKS 4 (FZK 01UR2022A+B) diese Publikation möglich wurde, sowie bei den Verbundpartner*innen für die gemeinsamen Diskussionen um den möglichen Beitrag von städtischen Infrastrukturen zur kommunalen Klimaanpassung. Informationen zum Forschungsprojekt unter: www.networks-group.de LITERATUR [1] Trapp, J., Schramm, E., Winker, M.: Klimagerechtigkeit. In: Trapp, J., Winker, M. (Hrsg.): Blau-grün-graue Infrastrukturen vernetzt planen und umsetzen. Ein Beitrag zur Klimaanpassung in Kommunen. Berlin: Deutsches Institut für Urbanistik Difu, (2020) S. 26 - 28 [2] Bulkeley, H., Edwards, G.A.S., Fuller, S. (2014): Contesting climate justice in the city: Examining politics and practice in urban climate change experiments. http: / / dx.doi.org/ 10.1016/ j.gloenvcha.2014.01.009 [3] Böhme, C., Preuß, T., Bunzel, A., Reimann, B., Seidel-Schulze, A., Landua, D.: Umweltgerechtigkeit im städtischen Raum - Entwicklung von praxistauglichen Strategien und Maßnahmen zur Minderung sozial ungleich verteilter Umweltbelastungen. Dessau-Roßlau, 2015. https: / / w w w.umweltbundesamt.de/ publikationen/ umweltgerechtigkeit-im-staedtischen-raum [4] Maschewsky, W.: Konzepte für Verteilungs- und Verfahrensgerechtigkeit, in: Bolte, G., Mielck, A. (Hrsg.): Umweltgerechtigkeit. Die soziale Verteilung von Umweltbelastungen. Weinheim/ München, (2004) S.-221 - 230. [5] Brachat-Schwarz, W., Winkelmann, U.: Führt der Klimawandel zu einem Anstieg der „Hitzetoten? Zur Abschätzung der Sterbefälle aufgrund hoher Temperaturen in Baden-Württemberg, Statistisches Monatsheft Baden- Württemberg 8/ 2017: (2017) S.-5 - 12. [6] Umweltbundesamt (Hrsg.): Monitoringbericht 2015 zur Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel. Bericht der Interministeriellen Arbeitsgruppe Anpassungsstrategie der Bundesregierung, Dessau- Roßlau, 2015. [7] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (BMUB): Weißbuch Stadtgrün. Grün in der Stadt - Für eine lebenswerte Zukunft. Berlin, 2017. https: / / www.bmi.bund.de/ SharedDocs/ downloads/ DE/ publikationen/ themen/ bauen/ wohnen/ weissbuch-stadtgruen.html [8] Claßen T., Heiler, A., Brei, B., Hornberg, C.: Stadtgrün und Gesundheit - ein Beitrag zur Debatte um soziale und räumliche Ungleichheit. UMID 2/ 2011: (2011) S.-100 - 104. [9] Brears, R.C.: Blue and green cities. The role of bluegreen infrastructure in managing urban water resources. London, UK, 2018. [10] Europäische Kommission: Green Infrastructure (GI) - Enhancing Europe’s natural capital. Brüssel, 2013. [11] Rösler C., Hasse, J.: Klimagerechte Stadtentwicklung. In: Breckner, I., Göschel, A., Matthiesen, U. (Hrsg.) Stadtsoziologie und Stadtentwicklung: Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos, (2020) S. 709 - 718. Dr. Martina Winker Mitglied der Institutsleitung Forschungsschwerpunkt Wasserinfrastrukturen und Risikoanalysen ISOE - Institut für sozial-ökologische Forschung Kontakt: winker@isoe.de Jan Hendrik Trapp Wissenschaftlicher Mitarbeiter Teamleiter Infrastruktur und Sicherheit Deutsches Institut für Urbanistik (Difu) Kontakt: trapp@difu.de Dr. Engelbert Schramm Wissenschaftler Forschungsschwerpunkt Wasserinfrastrukturen und Risikoanalysen ISOE - Institut für sozial-ökologische Forschung Kontakt: schramm@isoe.de AUTOR*INNEN All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren w 74 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Ausgangssituation Die öffentliche Wasserversorgung ist nach § 50 Wasserhaushaltsgesetz (WHG, 2009) eine Aufgabe der Daseinsvorsorge. In den Landeswassergesetzen ist geregelt, dass es Aufgabe der Kommunen ist, die Bevölkerung und die öffentlichen und gewerblichen Einrichtungen mit Trink- und Brauchwasser zu versorgen. In den meisten Ländern hat die öffentliche Wasserversorgung Vorrang vor allen anderen Nutzungen des Grundwassers, so nach § 28 des Hessischen Wassergesetzes (HWG, 2010). Dies war bis zur Novelle 2009 übergeordnet im WHG geregelt. Der Begriff „Daseinsvorsorge“ bezieht sich auf die staatliche Aufgabe der Grundversorgung mit notwendigen Gütern und Dienstleistungen bzw. auf den Betrieb aller öffentlichen Einrichtungen. Rechtliche Grundlage ist die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung nach Art. 28 Abs. 2 Grundgesetz. In § 2 Abs. 2 Raumordnungsgesetz ist geregelt, dass in Deutschland „ausgeglichene soziale, infrastrukturelle, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Verhältnisse anzustreben“ sind, wobei „die nachhaltige Daseinsvorsorge zu sichern“ ist. Die Aufgaben der Daseinsvorsorge gehören zum Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung. Sie können auch privatwirtschaftlich organisiert werden, wobei innerhalb des grundsätzlichen rechtlichen Rahmens bestimmte Regeln für die konkrete Ausgestaltung gelten. Die diesbezüglichen Prioritäten haben sich in den letzten Jahrzehnten mehrfach verschoben. Im internationalen Vergleich sind Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung in Deutschland vorbildlich. In den Berichten der UN zur menschlichen Entwicklung nimmt Deutschland zusammen mit anderen Ländern Europas einen Spitzenplatz ein [1]. Die Ausgangssituation ist in Deutschland und Nord- , Mittel- und Westeuropa im Vergleich zu anderen Ländern und Weltregionen ausgesprochen günstig. Deutschland liegt in einer gemäßigten Klimazone. Die Infrastruktur ist vollständig und hat einen hohen technischen Standard. Der Anschlussgrad an die öffentliche Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung liegt bei jeweils etwa 99 %. Klimawandel und Bevölkerungswachstum Herausforderungen für die Wasserversorgung Klimawandel, Daseinsvorsorge, Wasserversorgung, Wasserhaushalt, Bevölkerungsentwicklung, Wasserbedarf, Integriertes Wasserressourcen-Management Ulrich Roth Die Nationale Wasserstrategie soll angesichts des Klimawandels und der Bevölkerungsentwicklung, der ungleichen Verteilung der Wasservorkommen und deren Schutz vor Einflüssen aus der Flächennutzung die natürlichen Wasserreserven sichern, Vorsorge gegen Wasserknappheit leisten, Nutzungskonflikten vorbeugen sowie den Zustand der Gewässer und die Wasserqualität verbessern. Bild 1 (links): Hochbehälter Höhr der Verbandsgemeindewerke Bad Ems. © Roth Bild 2 (rechts): Quellfassung in der Nähe von Bad Ems. © Roth 75 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Das scheinbar reibungslose Funktionieren des komplexen Anlagenbestandes wird von der Bevölkerung allgemein als selbstverständlich angesehen - kurzzeitige Betriebsstörungen erregen Aufsehen. Der erforderliche technische und organisatorische Aufwand wird kaum wahrgenommen - die meisten Anlagen sind ja unterirdisch oder liegen unauffällig im Gelände (Bilder 1, 2). Die Kosten werden von der Bevölkerung meist falsch eingeschätzt, der Wasserpreis für zu hoch gehalten - oft ohne ihn zu kennen. Klimawandel und Bevölkerungsentwicklung, daneben auch die ungleiche Verteilung der Wasservorkommen und deren Schutz vor Einflüssen aus der Flächennutzung werden die Sicherstellung der Wasserversorgung und die Ressourcenbewirtschaftung in den nächsten Jahren aber vor große Herausforderungen stellen. Dies ist inzwischen nicht nur auf der technischen, sondern auch auf der politischen Agenda angekommen. Deshalb hat das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit eine „Nationale Wasserstrategie“ aufgestellt [2, 3]. Mit der Strategie will das Ministerium „die Natürlichen Wasserreserven sichern, Vorsorge gegen Wasserknappheit leisten, Nutzungskonflikten vorbeugen, sowie den Zustand der Gewässer und die Wasserqualität verbessern.“ Dazu schreibt das Ministerium [4]: „Beim Wasser steht Deutschland vor enormen Herausforderungen. Der Klimawandel stellt alte Gewissheiten zusehends in Frage. Drei Dürrejahre in Folge haben gezeigt, dass Deutschlands Wasserreichtum keine Selbstverständlichkeit mehr ist. […] Wasser soll nicht zum begrenzenden Faktor für die regionale Entwicklung werden. […]“. In Hessen hat das Hessische Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (HMUKLV) ein Leitbild für ein „Integriertes Wasserressourcen-Management Rhein-Main“ veröffentlicht [5]. Zentrale Zielsetzungen des IWRM sind der vorsorgende Schutz der Wasserressourcen, die langfristige Sicherstellung der Wasserversorgung, die umweltverträgliche Ressourcennutzung und eine effiziente Wassernutzung. Für die Rhein-Main-Region (Südhessen) haben die in der Arbeitsgemeinschaft Wasserversorgung Rhein-Main (WRM) zusammenwirkenden Wasserversorgungsunternehmen, Behörden und Institutionen die Problematiken und die sich daraus ergebenden Handlungsbedarfe in der „Situationsanalyse zur Wasserversorgung in der Rhein-Main-Region“ [6] dokumentiert und nach dem Trockenjahr 2018 Gutachten zur aktuellen Versorgungssituation und zu den Auswirkungen des Klimawandels in Auftrag gegeben [7]. Versorgungssituation der Jahre 2018 bis 2020 Die Sommer der Jahre 2018 bis 2020 waren außergewöhnlich heiß und trocken. In solchen Sommern steigt der Wasserbedarf. Er nimmt im Verlauf der Phasen mit schönem Sommerwetter immer weiter zu (Bild 3). Die Maximalwerte am Ende solcher Phasen sind maßgeblich für die Auslegung der Versorgungsanlagen. Das Normenwerk des DVGW enthält hierfür die einschlägigen Vorschriften - das Arbeitsblatt W 410 [8] enthält Kennzahlen für den Wasserbedarf. Das Verhältnis zwischen dem maximalen und dem mittleren Wasserbedarf in einem Versorgungsgebiet ist abhängig von dessen Größe und Struktur. In großen Städten mit gemischter Struktur hat der Tages-Spitzenfaktor f d die Größenordnung 1,5 oder kleiner (Bild 4). In einzelnen Wohngebieten ist der Wasserbedarf an Wochenenden mit heißem Sommerwetter doppelt so hoch wie im Durchschnitt. In Gewerbegebieten kann der Faktor noch deutlich höher sein - vor allem, wenn Betriebe der Getränke- und Lebensmittelbranchen vorhanden sind und aus dem öffentlichen Netz versorgt werden. 0 5 10 15 20 25 30 35 40 0 5 10 15 20 25 30 35 40 Niederschlagshöhe Schulferien Tagesmaximum der Lufttemperatur Niederschlagshöhe in mm/ d Maximale Tagestemperatur in °C Station 1420 - Frankfurt am Main Daten: www.dwd.de Bild 3: Maximale Tagestemperatur, Niederschlag und Schulferien im Trockenjahr 2018. © Roth [7] 0 100.000 200.000 300.000 400.000 500.000 600.000 700.000 800.000 900.000 Summe WRM-Unternehmen Mittelwert: 600.472 m³/ d Kubikmeter pro Tag 6. August 2018: 815.666 m³ Bild 4: Wasseraufkommen der neun in der Arbeitsgemeinschaft Wasserversorgung Rhein-Main (WRM) beteiligten Unternehmen, Tageswerte 2018. © Roth [7] 76 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Das Jahr 2019 war ebenfalls trocken, wenn auch nicht vergleichbar mit 2018. 2020 war dann erneut ein ausgeprägtes Trockenjahr, wobei auch die Corona-Pandemie und die Lockdowns erhebliche Auswirkungen auf den Wasserbedarf der Städte und Gemeinden hatten. Relevant hierfür waren vor allem die Regelungen zu Homeoffice, Distanzunterricht und Kurzarbeit und deren Auswirkungen auf die Pendlerströme. An den Arbeitsplätzen - also überwiegend in den großen Städten - ging der Wasserverbrauch dadurch zurück. Zugleich stieg der Wasserverbrauch in den Wohngebieten. Die entsprechenden Verbrauchsanteile verschoben sich von den Gewerbegebieten und Bürostandorten in die Wohngebiete, also vor allem in die Umlandkommunen. 2020 war die Bewässerung von Gärten und das Befüllen von Swimming-Pools ein besonderes Problem für die Wasserversorgung. Da viele Menschen, die unter normalen Bedingungen zur Arbeit in der Stadt gewesen wären, bei schönem Sommerwetter zu Hause waren, entstanden hierdurch zum Teil extrem hohe Verbrauchsspitzen, die die Wasserversorgung in einigen Fällen an die Grenzen ihrer technischen Möglichkeiten brachten. Der Sommer 2021 war bislang eher wechselhaft - es ist noch nicht klar, wie er rückblickend zu bewerten sein wird. Jedenfalls waren die Jahre 2018 bis 2020 eine Trockenperiode, deren Ende derzeit noch offen ist. In solchen Trockenperioden steigt nicht nur der Wasserbedarf an. Zugleich geht das Wasserdargebot vor allem in oberflächennahen Gewinnungsanlagen zurück, also in Quellfassungen, Schürfungen und Stollen, aber auch in Brunnen in wenig ergiebigen Grundwasserleitern [9]. Dies betrifft vor allem die Mittelgebirge. In Ortschaften, die nur aus Quellfassungen versorgt werden, können in solchen Situationen Wassernotstände auftreten - die Versorgung kann dann nur mit Tankwagen aufrechterhalten werden. Abhilfe könnte der Anschluss an ein Verbundsystem schaffen - je nach Lage und Größe der Ortschaft ist dies jedoch ein teures Unterfangen. Brunnen in ergiebigen und speicherfähigen Grundwasserleitern haben in der Regel ein sicheres Dargebot und können auch zur Abdeckung von Bedarfsschwankungen genutzt werden. Dies gilt auch für Stollen mit Verschlüssen, hinter denen bei niedrigem Wasserverbrauch Wasser gespeichert werden kann (Bild 5). Bei Gewinnung von Uferfiltrat und erst recht bei der Stützung der Grundwasserleiter mit Infiltration von aufbereitetem Flusswasser (Grundwasseranreicherung), wie es beispielsweise im Ruhrgebiet, im Hessischen Ried und im Frankfurter Stadtwald praktiziert wird, ist das Dargebot besonders sicher, auch in Trockenperioden. In Trockenjahren wie 2018 und 2020 zeigen sich die Schwachstellen in den Versorgungssystemen. Es ergeben sich zusätzliche Informationen bzw. Erkenntnisse, die in die weitere Optimierung der Versorgungssysteme einfließen können. Dies betrifft sowohl die kommunale Ebene als auch überörtliche Verbundsysteme. Für die Rhein-Main-Region beispielsweise enthält die Situationsanalyse der Arbeitsgemeinschaft Wasserversorgung Rhein-Main (WRM) [6] einen Katalog von Maßnahmen zur regionalweiten Sicherung der Wasserversorgung gerade in Trockenperioden. 2018 zeigte sich, dass die darin enthaltenen Bewertungen absolut realistisch sind. In Einzelfällen zeigte sich in der Trockenperiode 2018 bis 2020, dass die Kapazität der vorhandenen Anlagen wie Pumpwerken bzw. Druckerhöhungsanlagen nicht ausreicht, um den Spitzenwasserbedarf zu decken. Örtlich wurde auch erkennbar, dass Behälter zu klein sind, oder dass die Steuerung der Anlagen nicht optimal ist. Hier kann die Situation in Trockenjahren genutzt werden, um Optimierungsbedarf zu erkennen und Schwachstellen zu beseitigen. Entwicklung von Witterung und Klima Jahre wie 2018 bis 2020 sind nichts grundsätzlich Neues. Trockenjahre treten immer wieder auf. In der Fachliteratur [10] werden 1953, 1959, 1964 und dann als „Klimaanomalie“ 1976 genannt, danach 1990 und 1991. Die Jahre 2003 bis 2006 bzw. April 2007 waren verbreitet eine Trockenperiode. Mit Einschränkung ist 2015 zu nennen. 2018 bis 2020 war dann wieder eine ausgeprägte Trockenperiode. Die Ereignisse der 1950er bis 1970er Jahre waren ausschlaggebend für die Entwicklung der Wasserversorgungsstrukturen, wie wir sie heute kennen und für selbstverständlich halten. Problematisch für die Wasserversorgung ist einerseits, dass viele der damals gebauten Anlagen - ähnlich wie die Autobahnbrücken aus dieser Zeit - heute an die Grenze ihrer Lebensdauer kommen und saniert oder ersetzt werden müssen. Andererseits treten Trockenjahre wie 2018 und 2020 nur etwa alle 10 bis 15 Jahre auf. In den Jahren dazwischen scheint alles in Ordnung zu sein. Anscheinend gibt es keinen Handlungsbedarf - in den nassen Jahren um 2010 wurden sogar die Vorgaben im Normenwerk des DVGW verbreitet angezweifelt. In der nächsten Trockenperiode - aktuell 2018 bis 2020 - steht man dann wieder vor dem gleichen Problem. Im Gegensatz zu der wechselnden Witterung ist der Klimawandel eine Entwicklung, deren Auswirkungen sich langfristig zeigt. Bereits in den letzten Jahrzehnten ist es wärmer geworden. Der DWD hat jüngst bekannt gegeben, dass die mittlere 77 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Temperatur in Deutschland in den letzten 150 Jahren um etwa 2°C zugenommen hat. Daran ist nicht zu zweifeln. Die unmittelbaren Auswirkungen des Klimawandels sind relativ klar. Es ist damit zu rechnen, dass heiße Sommer häufiger werden. Eine wärmere Atmosphäre enthält mehr Energie, so dass katastrophale Ereignisse zunehmen werden. Da wärmere Luft mehr Wasserdampf aufnehmen kann, werden Starkregenereignisse zunehmen. Seit Jahren zeigt sich ein Trend, dass sich die Niederschläge in den Winter verlagern. Bei Quellen ist im Sommer oft ein Rückgang der Schüttung zu beobachten. Einzelne Ereignisse - zum Beispiel lokale Starkregenereignisse - sind praktisch nicht prognostizierbar. Auffällig waren in den letzten Jahren auch ökologische Auswirkungen, wie das Absterben ganzer Fichtenwälder bzw. generell von Baumarten, die feuchtes und kühles Klima bevorzugen. Schwierig ist die Vorhersage, welche Auswirkungen der Klimawandel auf den Wasserhaushalt in Deutschland haben wird. Die Modelle zeigen hierfür viele verschiedene Szenarien auf. Auch regional bestehen große Unterschiede. Mittelfristig sind eher moderate Entwicklungen zu erwarten. Längerfristig kann es deutliche Veränderungen geben, für die die Modelle erhebliche Bandbreiten aufzeigen. Demnach gibt es für die zukünftige Entwicklung nicht die eine Wahrheit, auf die wir uns einstellen könnten. Das ist zwar unbequem - vor allem auch für die Politik und die öffentliche Diskussion - Tatsache ist aber, dass wir die Zukunft nicht kennen. Bevölkerungsentwicklung Die Bevölkerungsentwicklung in Deutschland ist ausgesprochen unterschiedlich. Während es in dünn besiedelten und strukturschwachen Regionen nach wie vor einen Bevölkerungsrückgang nach dem Muster des Demografischen Wandels gibt, besteht vor allem in den Ballungsräumen ein teils deutliches Bevölkerungswachstum. Neben der internen Zuwanderung aus anderen Teilen Deutschlands und der externen Zuwanderung aus anderen Ländern spielt in den letzten Jahren auch eine steigende Geburtenrate eine Rolle. Bild 6 zeigt exemplarisch die Bevölkerungsprognose für die Rhein-Main-Region (Regierungsbezirk Darmstadt) aus der WRM-Situationsanalyse 2016 [6]. Die neueren Bevölkerungsprognosen schreiben den dargestellten Trend fort. Aus der Landesentwicklungs- und Regionalplanung ergibt sich für die Ballungsräume weiteres Wachstum. Hier spielt vor allem die Ausweisung weiterer Wohn- und Gewerbegebiete eine Rolle. Eine herausgehobene Bedeutung hat in diesem Zusammenhang der „Große Frankfurter Bogen“, mit dem das Hessische Wirtschaftsministerium im Rhein- Main-Raum bezahlbaren Wohnraum schaffen will [11]. Demnach ist vor allem in den Kernräumen mit weiterem Bevölkerungswachstum zu rechnen. Entwicklung des Wasserbedarfs Maßgeblich für den zukünftigen Wasserbedarf ist einerseits die Bevölkerungsentwicklung, andererseits die Entwicklung des Pro-Kopf-Verbrauchs (Bild 7). Der größte Teil des Trinkwasserverbrauchs entfällt auf den unmittelbaren Bedarf der Bevölkerung. Der Anteil gewerblicher und öffentlicher Einrichtungen ist relativ gering - er ist in Mittel- und Oberzentren meist deutlich höher als in kleineren Kommunen. Eigenbedarf und Verluste sind in Deutschland generell niedrig - ihr Anteil am Verbrauch ist in kleinen Kommunen meist höher als in größeren Städten. Bild 5: Portal des Elisabethenstollens in Bad Homburg vor der Höhe. © Roth 3.500.000 3.600.000 3.700.000 3.800.000 3.900.000 4.000.000 4.100.000 4.200.000 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 eurostat (2014 - 2080) Statistisches Landesamt (2014 - 2030) Hessen Agentur (2014 - 2050) Bertelsmann Stiftung (2012 - 2030) BBSR (2012 - 2035) Übernahme: Oberer Wert Mittelwert Übernahme: Unterer Wert Bestandsdaten 1977 - 2011 (HSL/ RP DA) Zensus 2011 (Bestand am 9.5.2011) Bestandsdaten 2011 - 2020 (HSL) Einwohnerzahl +8,4% +1,0% +4,7% Bild 6: Bevölkerungsentwicklung 1977 bis 2020 und Bevölkerungsprognosen für Südhessen. © Roth [6] 78 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Infolge der Umsetzung von Wassersparmaßnahmen - vor allem im Bereich der Toilettenspülung und der Haushaltsgeräte - ist der Pro-Kopf-Verbrauch zwischen etwa 1990 und etwa 2010 deutlich zurückgegangen (Bild 7). Das Potenzial dieser klassischen Wassersparmaßnahmen ist weitgehend ausgeschöpft. In den letzten Jahren war der Pro- Kopf-Verbrauch auf niedrigem Niveau nahezu konstant - abgesehen von höheren Einzelwerten in den Trockenjahren 2003 und 2018. Bei einem innerhalb einer gewissen Schwankungsbreite mehr oder weniger konstanten Pro- Kopf-Verbrauch ist die Bevölkerungsentwicklung der maßgebliche Faktor für die Entwicklung des Wasserbedarfs. Für die Rhein-Main-Region ist demnach mit einer moderaten Zunahme des Wasserbedarfs zu rechnen (Bild 8). Strukturell gegeben ist dabei vor allem die Abhängigkeit der Kernräume von Zulieferungen aus dem Umland. Die Wasservorkommen in den dicht besiedelten und intensiv genutzten Kernräumen reichen oft ohnehin nicht aus - hinzu kommen die Auswirkungen der Flächennutzung auf die Grundwasserqualität und die Nutzbarkeit der Wasservorkommen. Brauchwassernetze bzw. die Nutzung von Wasser unterschiedlicher Herkunft und Qualität für verschiedene Zwecke sind in Deutschland seit langem üblich und machen weit über 50 % der gesamten Wassernutzung aus. Als Kühlwasser wird in der Regel Flusswasser eingesetzt. Industrie und Gewerbe nutzen - wo immer möglich - eigene Ressourcen. Auch für Grün- und Sportanlagen wird bevorzugt Brauchwasser eingesetzt. Die Unterstützung der Grundwassergewinnung durch Infiltration von aufbereitetem Flusswasser ist eine besondere Form der Brauchwassernutzung. Problemstellungen In Trockenperioden wie 2018 bis 2020 zeigen sich die Schwachstellen in bestehenden Versorgungssystemen. Auftretende Probleme sind beispielsweise: Rückgang der Schüttung von Quellen, Schürfungen und Stollen. Rückläufiges Dargebot bei Brunnen in wenig ergiebigen Grundwasserleitern. Reduzierung der zulässigen Entnahmemengen auch bei ergiebigen Grundwasserleitern wegen Erreichen von Grenzgrundwasserständen, Mindestabflussregelungen oder anderer ökologischer Bewirtschaftungsauflagen. Erreichen der Kapazitätsgrenzen technischer Anlagen wie Pumpwerke, Druckerhöhungsanlagen und Wasserbehälter. Höhere Ausfall-Wahrscheinlichkeit bei älteren Anlagen unter hoher Belastung. Die hierdurch verursachten Versorgungssituationen bieten die Möglichkeit, Probleme zu erkennen, zu dokumentieren und Abhilfe zu schaffen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass man die gewonnenen Erkenntnisse auch tatsächlich umsetzt. Sonst besteht die Gefahr, dass man in folgenden Jahren mit weniger schönem Wetter die erforderlichen Maßnahmen nicht mehr für wichtig hält und bis zum nächsten Trockenjahr aufschiebt. Die zum Teil extrem hohen Verbrauchsspitzen waren zum Teil durch intensive Bewässerung von Gärten und durch das Befüllen von Pools verursacht. Vor allem letzteres kann zu extremen Situationen in den Versorgungsleitungen in den Wohngebieten führen, die für eine solche Belastung nicht ausgelegt sind. Das Ausfallen der Regenwassernutzungsanlagen in Neubaugebieten nach längerer Trockenheit und das Befüllen der Zisternen mit Trinkwasser führt ebenfalls zu extrem hohen Verbrauchsspitzen. Hier kann nur an die Vernunft der Menschen appelliert werden - entsprechende Informationskampagnen haben teilweise merklichen Erfolg gezeigt. Infolge des Klimawandels ist zukünftig häufiger mit ausgeprägten Hitzeperioden, Dürren und Stark- 0 50 100 150 200 250 3.000.000 3.250.000 3.500.000 3.750.000 4.000.000 4.250.000 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 Einwohnerzahl Gesamtverbrauch mit Verlusten Wasserabgabe an Verbraucher (ohne Verluste) Haushalte und Kleingewerbe Pro-Kopf-Verbrauch in Liter pro Einwohner und Tag 223 201 164 212 123 149 165 195 164 Haushalte und Kleingewerbe Industrie und Großgewerbe Eigenbedarf und Verluste Einwohnerzahl Bild 7: Pro-Kopf- Verbrauch und Einwohnerzahl in Südhessen 1977 bis 2019. © Roth [6] 0 50 100 150 200 250 300 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015 2020 2025 2030 Gesamtverbrauch mit Verlusten Wasserabgabe an Verbraucher Haushalte und Kleingewerbe Prognose: Max. im Trockenjahr Prognose: Obere Variante Prognose: Mittlerer Trend Prognose: Untere Variante Millionen Kubikmeter pro Jahr 230,4 206,6 255,3 245 223 268,1 241 Bild 8: Wasserverbrauch 1977 bis 2019 und Bedarfsprognose 2030 für Südhessen. © Roth [6] 79 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? regenereignissen zu rechnen. Die Probleme mit Quellfassungen und ähnlichen Anlagen werden sich vermutlich verstärken - dies betrifft vor allem ländliche Räume. Parallel dazu ist infolge des Bevölkerungswachstums vor allem in den Kernräumen und Ballungsgebieten auch bei konstantem oder leicht rückläufigem Pro-Kopf-Verbrauch mit einer Zunahme des Wasserbedarfs zu rechnen. Ein Problem besteht auch darin, dass das reibungslose Funktionieren von Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung in Deutschland verbreitet als selbstverständlich angesehen wird. Dies betrifft nicht nur generell die Bevölkerung, sondern zum Teil auch Planer, die mit der Aufstellung von Bebauungsplänen befasst sind. Der im Bebauungsplan erforderliche Nachweis, dass Wasserversorgung und Abwasserbeseitigung gesichert sind, beschränkt sich dann gerne auf die Feststellung, dass das die Stadtwerke machen. So einfach ist es jedoch leider nicht immer. Lösungsansätze Die Nationale Wasserstrategie [2] enthält im Aktionsprogramm Wasser einen ausführlichen Maßnahmenkatalog zur zukunftssicheren Entwicklung der Wasserinfrastrukturen. Dies bezieht sich auf alle Aspekte einer nachhaltigen Wasserwirtschaft. Aufgeführt werden zunächst Maßnahmen zur Stärkung des Bewusstseins für die Ressource Wasser, zum Beispiel eine zielgruppenorientierte Kommunikationsstrategie für die Bevölkerung und Schulungsprogramme für Politiker. In Bezug auf die Wasserversorgung ist eine ganze Reihe konkreter Maßnahmen benannt, darunter: Weiterentwicklung der Infrastruktur Begrenzung der Risiken durch Stoffeinträge Realisierung einer gewässerverträglichen und klimaangepassten Flächennutzung im urbanen und ländlichen Raum Weiterentwicklung der nachhaltigen Gewässerbewirtschaftung Stärkung der leistungsfähigen Verwaltung, Verbesserung der Datenflüsse, Optimierung des Ordnungsrahmens und Sicherung der Finanzierung Darauf basierend machen die mit der Wasserversorgung befassten Verbände konkrete Maßnahmenvorschläge [12]. 1. Sicherstellung des Vorrangs der öffentlichen Trinkwasserversorgung 2. Stärkung des Vorsorgebzw. Verursacherprinzips und Verbesserung des Schutzes der Trinkwasserressourcen vor Verunreinigungen 3. Vergabe flexibler und ausreichender Wasserrechte, Aufstockung des Klimawandelzuschlags 4. Unterstützung für Investitionen in die wasserwirtschaftliche Infrastruktur 5. Anpassung der Genehmigungsverfahren 6. Maßnahmen und Anreize zur Senkung des Wasserverbrauchs in der Landwirtschaft 7. Stärkung der Versorgungssicherheit durch Kooperation und interkommunale Zusammenarbeit 8. Einsatz von Wasserwiederverwendung in der Industrie 9. Regelungen zu Monitoring-Instrumenten 10. Forschung zu Klimawandel und Resilienz In Bezug auf die Entwicklung der Infrastruktur ist im Einzelnen aufgeführt [2]: Kontinuierliche Instandhaltung und Anpassung der bestehenden Anlagen (Bild 9) Erarbeitung flächendeckender Wasserversorgungskonzepte Vermeidung einer Übernutzung örtlicher Wasserressourcen Überörtliche, regionale und überregionale Vernetzung der Infrastrukturen Entwurf von Rahmenkonzepten und Fördersystemen insbesondere im Hinblick auf die Langfristigkeit der Investitionen Anpassung der gesetzlichen Regelungen Besondere Bedeutung für die nachhaltige Sicherung der Wasserversorgung hat der konsequente Schutz der Wasserressourcen und der Vorrang der öffentlichen Wasserversorgung vor anderen Nutzungen. Dies setzt zwingend voraus, dass die wasserwirtschaftlichen Notwendigkeiten in der Landesentwicklungs- und Regionalplanung angemessen berücksichtigt werden. Auch bei der Aufstellung von Flächennutzungs- und Bebauungsplänen, vor allem bei größeren Baugebieten und bei der Ansiedlung von Betrieben oder Einrichtungen mit hohem Wasserbedarf sind die wasserwirtschaftlichen Belange stärker zu berücksichtigen als dies bisher oft der Fall war. Bild 9: Wasserkammer eines Behälters nach Sanierung. © Roth 80 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Ein wesentlicher Aspekt ist dabei, dass die Lösungen an die jeweilige örtliche Situation angepasst sein müssen. In einem Dorf im Mittelgebirge mit einer Versorgung aus Quellfassungen ist die Problemstellung eine völlig andere als in einer Großstadt mit leistungsfähigen Wasserwerken an der Peripherie und Zulieferungen aus dem Umland. In vielen Ballungsräumen gibt es Verbundsysteme zur regionalweiten Sicherung der Wasserversorgung [6]. Es kann also keine politisch verordneten Patentlösungen geben. Vielmehr kommt es darauf an, an jedem Ort individuell richtige Lösungen zu finden. Bei der Festlegung der Rahmenbedingungen wie auch bei der Findung geeigneter Lösungsansätze kommt es also darauf an, dass sachlich diskutiert und objektiv zielführende Lösungen angestrebt, gefunden und zeitnah umgesetzt werden. Die verstärkte Kommunikation gegenüber Bevölkerung und Politik mit dem Ziel, das Bewusstsein für die wasserwirtschaftlichen Notwendigkeiten zu stärken, bildet hierfür eine wesentliche Grundlage [2]. Die wasserwirtschaftlichen Zusammenhänge sind komplex und umfassen Fragestellungen der Versorgung mit Trinkwasser und Brauchwasser für unterschiedliche Zwecke, Ableitung von Abwasser und Niederschlagswasser, Hochwasserrückhaltung, Schutz von Oberflächenwasser und Grundwasser und Sicherung kritischer Infrastrukturen. Dies führt letztlich zu „Wassermanagementkonzepten“, in denen die verschiedenen Aspekte je nach örtlichen Gegebenheiten und Erfordernissen gebündelt werden. Aus der im Grundgesetz und im Wasserhaushaltsgesetz festgelegten kommunalen Verantwortung für die Daseinsvorsorge ergibt sich für solche Konzepte ein kommunaler bzw. - je nach Struktur - regionaler Ansatz. Beispiel für einen solchen Ansatz ist das Programm des Hessischen Ministeriums für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (HMUKLV), das darauf abzielt, die Wassernutzung in den Städten und Gemeinden auf Grundlage „Kommunaler Wasserkonzepte“ zu optimieren [5]. Dies bezieht sich nicht nur auf Trinkwasser, sondern auf alle Wassernutzungen. Wesentlich dabei ist nicht nur die Zusammenarbeit zwischen Versorgungsunternehmen und Behörden, sondern auch die Einbeziehung der Baubzw. Stadtplanungsämter sowie der Grünflächenämter und der Bauhöfe bzw. generell aller Beteiligter. Es geht um die Erhaltung und zukunftssichere Optimierung der bestehenden Infrastruktur vor dem Hintergrund von Klimawandel und Bevölkerungswachstum, darüber hinaus aber auch um die Entwicklung neuer zukunftsfähiger Konzepte für die dauerhafte Sicherung der Wasserversorgung. LITERATUR [1] Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. (Hrsg.): Bericht über die menschliche Entwicklung 2006: Nicht nur eine Frage der Knappheit: Macht, Armut und die globale Wasserkrise. Berlin, 2006. [2] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit: Nationale Wasserstrategie. Entwurf des Bundesumweltministeriums, Berlin, Juni 2021. [3] Umweltbundesamt (Hrsg.): Ausgewählte Fachinformationen zur Nationalen Wasserstrategie. Abschlussbericht. Dessau, Juni 2021. [4] Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit: Bundesumweltministerin Schulze legt nationale Wasserstrategie vor. Pressemitteilung Nr. 122, Berlin, 8.6.2021. www.bmu.de (Abruf am 23.6.2021). [5] Hessisches Ministerium für Umwelt, Klimaschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz (HMUKLV): Leitbild für ein Integriertes Wasserressourcen-Management Rhein-Main (IWRM Rhein-Main). Wiesbaden, 8. März 2019. [6] Arbeitsgemeinschaft Wasserversorgung Rhein-Main (WRM): Situationsanalyse zur Wasserversorgung in der Rhein-Main-Region - Fortschreibung - Juli 2016. Groß-Gerau, 2016. www.ag-wrm.de. [7] Arbeitsgemeinschaft Wasserversorgung Rhein-Main (WRM): Fachgutachten zum Spitzenbedarf und zum Klimawandel - Zwischenergebnisse. Groß-Gerau, 2019. www.ag-wrm.de. [8] Deutscher Verein des Gas- und Wasserfaches e.V. (DVGW): Arbeitsblatt W 410: Wasserbedarf - Kennwerte und Einflussgrößen. Bonn, 2008. [9] Roth, U.: Situation der Wasserversorgung in heißen Sommern - was können wir aus Trockenperioden lernen? Interview. DVGW-Landesgruppen Hessen und Rheinland-Pfalz: Hessen im Blick / Rheinland-Pfalz im Blick. Ausgabe 2/ 2020. www.dr-roth-badems.de. [10] Glaser, R.: Klimageschichte Mitteleuropas - 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen. Primus-Verlag, Darmstadt, 2001. [11] www.grosser-frankfurter-bogen.de [12] Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V. (BDEW) / Deutscher Verein des Gas- und Wasserfaches e.V. (DVGW) / Verband kommunaler Unternehmen (VKU): Bedarfe der Wasserversorgung in Zeiten des Klimawandels - Maßnahmenvorschläge des BDEW, DVGW und VKU zur Sicherung der Wasserversorgung. Berlin, Juni 2021. AUTOR Prof. Dr.-Ing. Ulrich Roth Beratender Ingenieur Kontakt: dr.roth-badems@t-online.de 81 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Ein Digitalisierungsindex für die Wasserbranche Digitalisierung - kaum ein Begriff wird derzeit so häufig verwendet und gleichzeitig so unterschiedlich interpretiert. Dadurch entsteht für viele Führungskräfte ebenso wie Mitarbeitende der Wasserwirtschaft das diffuse Gefühl, dass nichts bleibt, wie es ist. Als Garant für die Versorgung mit Trinkwasser und die Entsorgung von Abwasser stellt sich der Branche die Frage, welche Versprechen der Digitalisierung wirklich tragfähig und langfristig für die Branche, der als Teil der kritischen Infrastruktur eine besondere Bedeutung zukommt, von Bedeutung sind. Zwar lassen sich bereits zahlreiche Beispiele für erfolgreich umgesetzte Projekte finden. Diese wirken in vielen Fällen jedoch wie einzelne Puzzleteile, denen der gemeinsame Rahmen fehlt. Diese Gemengelage führt nicht selten zu einer großen Verunsicherung und zu vorschnellen Entscheidungen. So entstand die Idee, einen Digitalisierungsindex für die Wasserwirtschaft zu erstellen. Dieser soll Aufschluss darüber geben, wo die Branche steht, wo Die Wasserwirtschaft auf der digitalen Reise Der „1. HRW-Digitalisierungsindex für die deutsche Wasserwirtschaft“ - Ziele, Struktur, Ergebnisse und nächste Schritte Digitalisierungsindex, Wasserwirtschaft, Digitalisierung, KI, Unternehmenskultur, Reifegradmodelle Mark Oelmann, Christoph Czichy, Eva-Maria Inderelst Wohin führt die digitale Reise in der Wasserwirtschaft? Die Unternehmen der Wasserwirtschaft haben einen beachtlichen Weg zurückgelegt und vielfältiges Digitalisierungsengagement gezeigt. In einigen Bereichen besteht gleichwohl Nachholbedarf, um nächste Ziele zu erreichen. Ein neu entwickelter Digitalisierungsindex soll Branchenakteuren helfen, den Stand der Digitalisierung im eigenen Unternehmen zutreffend einzuschätzen und Maßnahmen zur weiteren Entwicklung einzuleiten. THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser? © Julia Schwab auf Pixabay 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 0 1 82 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? die Herausforderungen liegen, welche Trends sich bereits bewährt haben und welche weiteren Aspekte der Digitalisierung die Branche in naher Zukunft besonders umtreiben werden. Entwickelt wurde der Digitalisierungsindex von der Hochschule Ruhr West mit Unterstützung der MOcons GmbH & Co. KG sowie dem IWW Zentrum Wasser und in Partnerschaft mit den Verbänden DVGW, VKU und BDEW. Er ist kostenfrei abrufbar unter: www.digitalisierungsindex-wasserwirtschaft.de Zentrale Ziele des Digitalisierungsindex Im Kern verfolgt der Digitalisierungsindex die folgenden drei zentralen Ziele: Er soll der Branche als Orientierungsmaßstab für die digitale Entwicklung dienen, indem zentrale Elemente der Digitalisierung aufgegriffen und im Kontext betrachtet werden. Durch eine strukturierte Auseinandersetzung mit diesem vielschichtigen Thema soll der Digitalisierungsindex Unternehmen unterstützen und ihnen zugleich die Gelegenheit bieten, sich mit anderen Unternehmen zu vergleichen. Er soll Mut und Lust machen, sich mit dem eigenen Stand der Digitalisierung auseinanderzusetzen und Anknüpfungspunkte zu suchen, wie die weitere Entwicklung sinnhaft und strukturiert gestaltet werden könnte. Vor allem aber soll er als „Schaufenster nach Außen“ fungieren, um die Vielfalt der Ansätze zu dokumentieren, die die Branche verfolgt. Dadurch wird politischen Entscheidungsträgern, Aufsichtsorganen, (Umwelt-)Verbänden und Behörden das Signal vermittelt, dass die Wasserwirtschaft das Potenzial der Digitalisierung erkennt und nutzt, um aktuellen wie künftigen Herausforderungen effizient zu begegnen. Grundsätzliche Methodik Der Digitalisierungsindex basiert auf den Ergebnissen zweier Forschungsprojekte, dem „Reifegradmodell für eine Wasserversorgung 4.0“ sowie dem „Reifegradmodell für eine Abwasserentsorgung- 4.0“, die mit Unterstützung von insgesamt 32-Praxispartnern entwickelt wurden. 1 Beide Modelle umfassen 34 bzw. 36 Kriterien, die vier sogenannten Gestaltungsfeldern (Ressourcen, Informationssysteme, Organisation und Kultur) zugeordnet sind, anhand derer die Bereiche eines Unternehmens untersucht werden. Für jedes Kriterium erfolgt in Abhängigkeit seiner Ausprägung die Einordnung eines Reifegrads zwischen Stufe 1 und 6 (siehe Bild 1). Dies ermöglicht eine sehr gute Einschätzung des untersuchten Bereichs im Hinblick auf das untersuchte Gestaltungsfeld und erlaubt den individuellen Status quo eines Unternehmens nach einem einheitlichen Vorgehen zu bestimmen. Somit setzt diese Vorgehensweise den Fokus auf eine ganzheitliche Transformation und stellt klar heraus, dass Digitalisierung weitaus mehr als nur eine bloße Technologieeinführung ist. 1 Die Reifegradmodelle wurden unter Leitung des IWW Zentrum Wasser zusammen mit der MOcons GmbH & Co. KG sowie dem FIR e. V. für die Wasserversorgung bzw. dem FiW e. V. an der RWTH Aachen für die Abwasserentsorgung entwickelt. Ersteres wurde seitens des DVGW, zweiteres durch die teilnehmenden Abwasserentsorger finanziert sowie von der DWA begleitet. Bild 1: Stufen der Reifegradmodelle Wasserversorgung 4.0 bzw. Abwasserentsorgung 4.0. © Offermann, Martin et al. (2019), S. 8 Bild 2: Geographische Verortung der Interviewteilnehmenden. © HRW-Digitalisierungsindex, S. 29 Ver- und Entsorgung Abwasserentsorgung Wasserversorgung 83 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? In den Reifegradmodell-Projekten wurden sechs zweistündige Vor-Ort-Interviews pro Praxispartner geführt. Da die Idee des Digitalisierungsindex darin bestand, möglichst viele Unternehmen zu befragen und dazu etwa 45-minütige Telefoninterviews durchzuführen, wurde die Anzahl der untersuchten Kriterien aus zeitlichen Gründen von 36 auf nunmehr 15 reduziert. Zudem wurde mit jedem Interviewpartner nur eine Wertschöpfungsstufe (zum Beispiel Wasserproduktion, Wassernetze oder Verwaltung/ Kundenservice) diskutiert, während in den Reifegradmodell-Interviews sechs Hauptprozesse thematisiert wurden. Die 15 Kriterien wurden in einer bestimmten Reihenfolge gestellt, um die Teilnehmenden in dem Telefonat gedanklich auf eine „digitale Reise“ mitzunehmen. In knapp 190 Telefoninterviews mit Wasserver- und Abwasserentsorgern wurden die 15 Kriterien anhand entsprechender Fragen mit den Interviewteilnehmenden für jeweils eine von ihnen gewählte Wertschöpfungsstufe diskutiert. Auf Basis der Antworten erfolgte dann eine Reifegradeinschätzung (Stufen 1 bis 6) für jedes Kriterium. Da es sich bei der Digitalisierung um keinen Selbstzweck handelt, ist zu betonen, dass eine höhere Reifegradstufe nicht für jedes Unternehmen stets das beste Ergebnis darstellt. Ein Abwarten und ein dann reflektiertes Übernehmen bereits etablierter Konzepte und Ansätze mag im Einzelfall rational und effizient sein. Gleichwohl besteht die These, dass die Potenziale der jeweils höchsten Reifegradstufe sich nur voll entfalten können, wenn die verbleibenden Gestaltungsfelder nicht vernachlässigt sind. Im Fokus der ersten Auflage stand die Erhebung des digitalen Status quo der Wasserversorgung, deren Unternehmen auch durch die Unterstützung der Partnerverbände DVGW, BDEW und VKU weitgehend repräsentativ hinsichtlich Verteilung über das Bundesgebiet (siehe Bild 2) sowie Rechtsform vertreten sind. Mit Abwasserentsorgern wurden ebenfalls Telefoninterviews geführt. Aufgrund der geringeren Anzahl an Unternehmen ist jedoch keine umfängliche Repräsentativität gegeben, sodass die Ergebnisse lediglich ersten Vergleichen zwischen Wasserver- und Abwasserentsorgung dienen. In zukünftigen Auflagen des Digitalisierungsindex sollen beide Branchen dann gleichgewichtig befragt werden. Ergebnisse aus den Gestaltungsfeldern Die Auswertung der für den Digitalisierungsindex geführten Telefoninterviews legt dar, dass Unternehmen der Wasserwirtschaft bereits in vielerlei Hinsicht einen beachtlichen Weg auf dem Pfad der Digitalisierung zurückgelegt haben und zeigen ein vielfältiges Digitalisierungsengagement. In einigen Bereichen besteht gleichwohl Nachholbedarf, um die nächsten Etappenziele zu erreichen. Die allgemeinen Ergebnisse des Digitalisierungsindex sind in Bild 3 abgebildet. Die linke Darstellung stellt für jedes der vier Gestaltungsfelder einen Ø-Reifegrad über alle befragten Wasserversorger dar. Die Skala reicht von 1 (niedrigster Reifegrad) bis 6 (höchster Reifegrad). Der höchste Ø-Reifegrad wird mit 3,2 im Gestaltungsfeld Informationssysteme erreicht, der niedrigste im Bereich Organisation mit einem Wert von 2,6. Die Ø-Reifegrade der beiden anderen Gestaltungsfelder liegen mit 2,9 (Kultur) bzw. 3,0 (Ressourcen) nahezu in der Mitte. Es wird deutlich, dass die Unternehmen tendenziell bei den beiden technischen Gestaltungsfeldern Ressourcen und Informationssysteme weiter vorangeschritten sind als bei ihrem organisatorischen bzw. kulturellen Pendant. Auch konnte in der Erstellung des Digitalisierungsindex festgestellt werden, dass die Unternehmen in den technischen Wertschöpfungsstufen Wasserressourcen/ -produktion und Wassernetze/ -verteilung tendenziell besser aufgestellt sind als in der Wertschöpfungsstufe Verwaltung/ Kundenservice. Um zu untersuchen, inwiefern die bisherige Entwicklung bei den einzelnen Unternehmen relativ gleichmäßig über die betrachteten Gestaltungsfelder stattgefunden hat, werden in der rechten Darstellung zusätzlich die Ø-Reifegrade der Top- 10-Unternehmen in den vier Gestaltungsfeldern dargestellt (siehe Bild 3). Eine exakt gleichmäßige Entwicklung in allen Gestaltungsfeldern würde sich dadurch auszeichnen, dass ein einzelnes Unternehmen (repräsentiert durch eine der zehn Farben) als Quadrat dargestellt würde. Tatsächlich zeigt die Auswertung, dass die Top-10-Unternehmen teilweise sehr unterschiedliche Ø-Reifegrade in den einzelnen Gestaltungsfeldern aufweisen, was in Form vieler unterschiedlicher Vierecke zum Ausdruck kommt. Einzelne Unternehmen erreichen 0,0 0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0 3,5 4,0 4,5 5,0 Top 10 Ressourcen Top 10 Organisation Top 10 Informationss. Top 10 Kultur Ø Organisation Ø Kultur Ø Ressourcen Ø Informationss. 6 Bild 3: Digitalisierungsindex über alle Gestaltungsfelder in der Wasserversorgung. © Eigene Darstellung nach: HRW- Digitalisierungsindex, S. 79 f. 84 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? beachtliche Werte in einem Gestaltungsfeld, erzielen gleichzeitig jedoch nur sehr unterdurchschnittliche Werte in einem anderen. Im Hinblick auf den Reifegradmodell-Ansatz ist diese Erkenntnis von besonderem Interesse. Denn obwohl das Modell keinen bestimmten Reifegrad postuliert, da Digitalisierung wie gesagt nicht als Selbstzweck zu verstehen ist, gilt gleichwohl die These, dass die Potenziale des am weitesten entwickelten Gestaltungsfelds nur dann genutzt werden können, wenn die anderen Gestaltungsfelder annähernd gleich ausgeprägt sind. Weitere Erkenntnisse konnten hinsichtlich der Unternehmensgröße gewonnen werden. Tendenziell schneiden relativ größere Unternehmen relativ besser ab. Gleichzeitig ist aber auch festzustellen, dass insbesondere kleine Unternehmen enorme Spannen bei den Reifegradausprägungen aufweisen. Einer ambitionierten Geschäftsführung kann es offenbar gelingen, ihre relativ kleinere Belegschaft sehr viel schneller zu mobilisieren und auf ein gemeinsames Ziel einzuschwören. Auffällig ist daneben, dass Wasserversorger als Teil eines Mehrspartenunternehmens im Gegensatz zu reinen Wasserver- oder integrierten Wasserver- und Abwasserentsorgern nur selten herausstechen - eine Ausnahme bildet das Themenfeld IT-Sicherheit. Entsprechend der analysierten Gestaltungsfelder lassen sich folgende wesentliche Erkenntnisse formulieren: Die Ausstattung mit digitaler Mess- und Steuerungstechnik ist weniger von der Unternehmensgröße als vielmehr von den handelnden Personen abhängig. Kleine Unternehmen weisen dabei die größte Spreizung zwischen Nachzüglern und Vorreitern auf. Die Einbindung in ein Mehrspartenunternehmen ist kein Garant für eine stärker ausgeprägte Vernetzung von Anlagen in der Wasserversorgung. Dies mag entweder daran liegen, dass relative Fortschritte anderer Sparten bei Sensorik und Aktorik geringer ausgeprägt und Synergieeffekte folglich kleiner sind, als zunächst vermutet, oder daran, dass die Wasserversorgung aufgrund der geringeren Wettbewerbsintensität bei Investitionen schlicht weniger bedacht wird als die anderen Sparten. Hinsichtlich der Kapazität der IT-Netzwerke bestehen vielfach Einschränkungen bei der Anbindung entfernt liegender Anlagen. Bei vielen Unternehmen führt eine geringe Übertragungsrate in entlegenere Gebiete dazu, dass die Leitwarte nur in größeren Zeitabständen Daten von dortigen Anlagen erhält und diese deshalb regelmäßig von Mitarbeitenden angefahren werden. Vor- Ort-Einsätze wären bei besserer Übertragungsgeschwindigkeit in geringerem Umfang nötig. Es zeigt sich gleichwohl, dass viele Unternehmen bei schlechter Übertragungsrate eigenständige Lösungen suchen. Die Ansätze unterscheiden sich zwischen ländlichen Regionen (zum Beispiel: eigene Glasfasernetze) und urbanen Räumen (zum Beispiel: Richtfunk). Die Gewährleistung eines medienbruchfreien Datenflusses kristallisierte sich als zentrales Digitalisierungsthema heraus, das alle Unternehmen umtreibt. Die Einbindung neuer Software in bestehende (teilweise sehr alte) IT-Systeme mit oftmals rudimentären oder individuell zu erstellenden Schnittstellen, stellt die Unternehmen regelmäßig vor Herausforderungen. Die Bedeutung der Datenqualität für die digitale Entwicklung ist den Wasserversorgern bewusst, dennoch mangelt es vielfach an organisatorischen und technischen Maßnahmen zur Sicherstellung der Datenqualität. Sehr regelmäßig wird die Datenqualität als zu gut beurteilt. Daten bilden den Ausgangspunkt für den digitalen Fortschritt und das Ergebnis jeglicher Datenanalyse hängt von der Qualität der Eingangsparameter ab. Eine geringe Datenqualität führt dazu, dass Beschäftigte das Vertrauen in IT-Systeme, darin enthaltene Daten und daraus erstellte Datenanalysen im Zeitverlauf verlieren. Dadurch wird aber das Ziel konterkariert, Entscheidungen zunehmend datenbasierter zu treffen. Ein und dasselbe Digitalisierungsprojekt funktioniert in einem Unternehmen, in einem anderen jedoch nicht. Grund ist eine sich unterscheidende Unternehmenskultur im Ausgangszustand. Unternehmen sind deshalb gut beraten, sich zunächst mit ihrer Unternehmenskultur auseinanderzusetzen. Die dabei gemachten Erkenntnisse können helfen, Digitalisierungsprojekte so zu konzipieren, dass sie die Stärken der jeweiligen Kultur bestmöglich nutzen und inhärente Schwächen zu umgehen versuchen. Die Kenntnis der aktuellen Unternehmenskultur kann gleichzeitig auch als Startpunkt dienen, um die eigene Kultur sinnhaft weiterzuentwickeln, um möglicherweise auch einfacher neue, junge und andersdenkende Mitarbeitende nachhaltig zu integrieren. Die vielen Möglichkeiten und die Komplexität der Digitalisierung können Unternehmen lähmen. Die Rückmeldung aus den Interviews zeigt gleichwohl, dass keine Sorge vor den ersten Schritten bestehen sollte - oftmals bringt ein „kleiner Stein“ Großes ins Rollen, weil quick-wins Mut machen und Skeptiker zu überzeugen vermögen. 85 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Zu viel oder zu wenig Wasser ? Nächste Aufgaben in puncto Digitalisierung Es ist festzustellen, dass die Datenqualität häufig nicht so gut ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Bisher werden viele Daten erhoben, eine sinnhafte Plausibilisierung fehlt jedoch häufig. Der Einsatz maschinellen Lernens oder KI zur Entscheidungsunterstützung setzt eine (automatisierte) Datenvalidierung voraus. Die Sicherstellung der Datenqualität hat daher eine hohe Priorität und sollte noch lange, bevor tatsächlich an die Nutzung maschinellen Lernens oder KI gedacht wird, angegangen werden. Digitalisierung kann erst bei durchgängigem Datenfluss an Fahrt gewinnen, deshalb ist die Einrichtung adäquater Schnittstellen eine zentrale Herausforderung - sowohl zwischen IT-Systemen innerhalb einer Abteilung als auch abteilungsübergreifend. Ob Betriebs- und Büro-IT vor dem Hintergrund der zu gewährleistenden IT-Sicherheit miteinander verknüpft werden sollten, wird in diesem Zusammenhang zur Gretchenfrage. Bedeutung wird in der mittleren Frist auch die Verknüpfung mit Externen wie Behörden und Lieferanten/ Anlagenbauern erlangen. Mit ersteren lässt sich insbesondere das Umweltreporting weit effizienter gestalten, auch wenn hier noch „dicke Bretter“ zu bohren sind. Skaleneffekte und beständiges Lernen aus den Analysen von Daten unterschiedlichster Kunden und Einsatzsituationen spricht für die vertiefte Zusammenarbeit mit Lieferanten/ Anlagenbauern. Digitalisierung berührt entsprechend unmittelbar das Selbstverständnis der Wasserversorger, denn es stellt sich immer häufiger die Frage, welche (digitalen) Aufgaben von Dienstleistern übernommen werden sollten und welche nicht. Damit erfordert die digitale Entwicklung für die Mitarbeitenden in mancher Hinsicht die Neudefinition der eigenen Tätigkeit. Dass diese sich hier nicht überfordert fühlen, impliziert Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit von Geschäfts- und Bereichsleitungen. Die anstehende Verrentungswelle bei vielen Wasserwirtschaftsunternehmen sowie das heute viel breitere Wissen, das unter anderem für die Nutzung digitaler Möglichkeiten notwendig ist, hebt das Wissensmanagement und die Förderung einer Wissenskultur aufs Schild. Das Benennen etwa von Key-Usern oder die Einführung von Generationsclubs fördert sinnvollerweise die Kommunikation sowie das Vertrauen zwischen Mitarbeitern. Grundsätzlich aber fehlt es insbesondere beim Wissensmanagement an überzeugenden, weiteren Rezepten. Insgesamt tun sich Wasserversorger schwer, den hohen Gehaltswünschen bereits gut ausgebildeter Bewerber mit Berufserfahrung zu entsprechen, nicht zuletzt auch deshalb, weil Tarifverträge oder gesetzliche Vorgaben ihren Handlungsspielraum einengen (zum Beispiel bei Zweckverbänden). Die Ausbildung sowie die Zusammenarbeit mit Hochschulen beispielsweise im Zusammenhang mit dualem Studium wird insbesondere im Hinblick auf das Ausscheiden vieler aktueller Mitarbeiter an Bedeutung gewinnen. Die Wasserwirtschaft besteht aus techniklastigen Branchen. Dies ist nicht neu, zeigt sich aber wieder im vorliegenden Digitalisierungsindex. Während die technischen Wertschöpfungsstufen tendenziell Möglichkeiten der Digitalisierung vielgestaltig nutzen, fällt der Bereich Verwaltung/ Kundenservice relativ gesehen ab. Es ist zu erwarten, dass digitale Möglichkeiten Verwaltungsabläufe effizienter zu gestalten helfen und sich die Kundenorientierung ausbauen lässt. Neben der Beschreibung der Interviewergebnisse zu den 15 Kriterien wird der Digitalisierungsindex durch Best-Practice-Beispiele sowie Gastbeiträge und einen Ausblick zu zentralen Entwicklungsfeldern der Branche abgerundet. Er kann kostenlos unter www.digitalisierungsindex-wasserwirtschaft.de abgerufen werden. Prof. Dr. Mark Oelmann Sprecher des interdisziplinären Forschungsschwerpunkts der HRW „Wasserökonomik und Wasserwirtschaft“, Beiratsvorsitzender des Kompetenzzentrums Digitale Wasserwirtschaft MOcons GmbH & Co. KG Wirtschaftsinstitut der Hochschule Ruhr West Kontakt: mark.oelmann@hs-ruhrwest.de Christoph Czichy, M.Sc. VWL Geschäftsführender Gesellschafter Wissenschaftlicher Mitarbeiter MOcons GmbH & Co. KG Wirtschaftsinstitut der Hochschule Ruhr West Kontakt: christoph.czichy@mocons.de Eva-Maria Inderelst, M.Sc. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Wirtschaftsinstitut der Hochschule Ruhr West Kontakt: eva-maria.inderelst@hs-ruhrwest.de AUTOR*INNEN 86 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Forschung + Lehre Problematik Die Beziehung der Stadt Berlin und dem Fluss Spree lässt sich wohl als mangelhaft bezeichnen. Genau betrachtet ist es schon bewundernswert, an was sich die Bewohner*innen der Stadt bereits gewöhnt haben und was folglich kaum mehr in Frage gestellt wird. So gilt etwa ein allgemeiner Konsens, dass man in der Spree auf keinen Fall schwimmen gehen könne. Angesichts des Badeschiffs in Berlin Kreuzberg wird dieser Umstand auf ironische Weise sichtbar. Statt der Wasserqualität der Spree zu trauen, badet man lieber in einem Container. Abschreckend wirkt die Spree unter anderem in den Zeiten im Jahr, zu denen sie besonders stark verschmutzt ist. Daran Schuld trägt sommerlicher Starkregen, der die Mischkanalisation in alten Bezirken wie Neukölln, Kreuzberg oder Mitte überlaufen lässt und Abwässer aus Haushalten sowie von Straßen direkt in den Fluss spült. Um dieses Überlaufen zu verhindern, werden derzeit riesige Auffangbecken unter der Stadt gebaut. Hier wird das Wasser in Zukunft bei Starkregen zwischengespeichert und bei Entlastung der Kanalsysteme wieder zu den Klärwerken gepumpt. Negativ fällt ebenfalls auf, wie wenig das Potenzial der Nähe von Stadt zu Fluss wirklich genutzt wird. Viele Bereiche der Spreeufer lassen sich als Nicht-Orte bezeichnen. Diese sind entweder nicht zugänglich, ungepflegt, direkt an einer Straße gelegen oder durch tiefe Kanalschluchten geprägt. Hier könnten Renaturierungsmaßnahmen sowie die Nutzung der Ufer für Radwege oder Erholungsflächen die Lebensqualität deutlich befördern. Betrachtet man die Nutzung der Spree als Wasserstraße, ist der Eindruck ganz ähnlich. Dieselbetriebene, meist gering besetzte Touristendampfer dominieren das Bild. Frage ist, welche gesünderen und nachhaltigeren Nutzungskonzepte hier stattdessen denkbar wären. Ein weiteres prägnantes Problem ist der Sauerstoffmangel im Wasser, besonders in den heißen Sommermonaten. Während langer Hitzeperioden kommt es zu starkem Blaualgenwachstum (Cyanobakterien). Die abfallenden Blüten von Bäumen, die genannten Überläufe aus der Kanalisation, aber auch die sehr geringe Fließgeschwindigkeit der Spree schaffen ideale Wachstumsbedingungen für Bakterien und Keime. Zudem wird die Wasserqualität durch den Eintrag von Düngemitteln und Pestiziden aus der Landwirtschaft, die Ockerschlammbelastung durch den Kohleabbau in der Lausitz, die Flussarchitektur und die Folgen des Klimawandels verschlechtert. Das Zusammenspiel dieser Faktoren kann den Sauerstoffgehalt im Wasser auf ein für Wasserorganismen gefährliches Niveau senken. Sichtbare Folge ist dann in den Sommermonaten häufiger auftretendes Fischsterben. Berlins aktuelle Spreeberlin - die Stimme eines Flusses Stadtökologie, Gewässerqualität, Umweltbewusstsein, Kimawandel Jakob Kukula Das Projekt „Spreeberlin - die Stimme eines Flusses“ entstand im Rahmen einer Abschlussarbeit im Masterstudiengang Produktdesign an der Kunsthochschule Weißensee Berlin. Ziel war es, das Verhältnis zwischen Mensch und Natur am Beispiel der Stadt Berlin und der Spree zu untersuchen. Eine dabei entwickelte WebApp soll Bürger*innen über den Zustand des Flusswassers informieren und dabei helfen, die komplexen Zusammenhänge im Ökosystem besser verständlich zu machen und für den Umgang mit wissenschaftlichen Daten zu sensibilisieren. Beim Hochschulwettbewerb zum Wissenschaftsjahr 2020|21 - Bioökonomie unter dem Motto „Zeigt eure Forschung! “ wurde das Projekt ausgezeichnet und wird seither durch die Initiative „Wissenschaft im Dialog“ des BMBF gefördert. © Kukula 87 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Forschung + Lehre Lösung für das Sauerstoffproblem ist das Boot „Rudolf Kloos“. Dieses wurde in den 90er Jahren gebaut und pumpt seither in warmen Sommernächten Sauerstoff in die Kanäle, um Fischsterben zu verhindern. Allerdings wird auch die „Rudolf Kloos“ mit Diesel betrieben. Konzept Mithilfe einer Sauerstoff pumpenden Messboje macht die „Spreeberlin“ auf die oben beschriebene Problematik aufmerksam. In den heißen Sommermonaten pumpt die Boje Sauerstoff in den Fluss und versorgt die Spree und ihre Lebewesen damit. Der Eintrag von Sauerstoff funktioniert unabhängig davon, ob Menschen mit der Boje interagieren oder nicht. Unter der Wasseroberfläche sorgt die Boje automatisch dafür, einen Teil des Ökosystems zu verbessern. Sobald genügend Pumpen vorhanden sind, könnte auch die Arbeit des Bootes „Rudolf Kloss“ übernommen werden. Über der Wasseroberfläche kommuniziert die Boje auf visuelle und interaktive Weise mit den Bürger*innen Berlins. Mithilfe einer Webanwendung wird der Ist-Zustand des Flusses vermittelt. Ein wichtiges Ziel des Projektes ist es, die Einstellung der Menschen gegenüber ihrer Umgebung zu verändern, die Wertschätzung der Spree und den Willen zur Verbesserung der Situation zu fördern. Auch wenn es in den letzten Jahren bereits Fortschritte gab und die Diskussion über die Wasserqualität eine größere Öffentlichkeit gefunden hat, besteht noch immer viel Raum für Verbesserungen. Die Arbeit an einer gesünderen Spree sollte vor allem die Bürger*innen selbst einbeziehen. Statt nur Ingenieur*innen, Chemiker*innen oder Vertreter*innen der Berliner Wasserbetriebe mit der Aufgabe zu betrauen, kann gezielte Aufklärungsarbeit und Bildung hier ein erfolgreiches Werkzeug sein. Denn wenn die Menschen in der Stadt mehr über das Problem wissen, fühlen sie sich vielleicht auch mehr in der Verantwortung und es entsteht ein stärkerer Wunsch nach Partizipation. Im Zentrum der Vermittlungsarbeit stehen die Wasserqualität, die durch die Leuchtoberfläche der Boje angezeigt wird, zudem werden aber auch spannende geschichtliche und aktuelle Bezüge zum Thema über die Webanwendung kommuniziert. Durch ein Netzwerk aus Bojen bekommt die Spree eine eigene politische Stimme und kann so auf sich aufmerksam machen. Vorbild und Inspiration hierfür sind Länder wie Neuseeland oder Kolumbien, in denen Ökosysteme wie Flüsse oder Berge dieselben Rechte zugesprochen bekommen wie die Menschen, die in diesen Ländern leben. So lässt sich wesentlich einfacher auf einer politischen und juristischen Ebene die unabdingbare Qualitätsverbesserung von Ökosystemen rechtfertigen, notfalls auch einklagen. Die Boje Die Boje ist modular konzipiert. Das heißt, sie kann je nach Bedarf, mit oder ohne Sauerstoffpumpe hergestellt werden. Im aktuellen Entwurf sind die schwimmenden Bots fest an einem Ort verankert, können aber auch mit einem Boot an eine andere Stelle gebracht werden. Das Herzstück der Boje ist die Messtechnik im Mittelteil. Die Schwimmer sind über zwei Ringe miteinander verbunden. Sie sind zweigeteilt und ermöglichen Zugang zur Messtechnik, sodass diese bei Ausfall oder Defekt einfach ausgetauscht werden kann. Unter der Wasseroberfläche befindet sich die Pumpe. Diese saugt Wasser an und drückt es durch ein trichterförmiges Rohr in die Verteilerschläuche. Dadurch wird über die Sauerstoffschläuche Luft aus der Umgebung angesaugt und in das Wasser eingetragen. Modelle mit Sauerstoffpumpe, welche mehr Energie benötigen, werden mit grünem Stadtstrom betrieben. Für die zweite Version mit der einfachen Messfunktion, reicht eine Solarzelle aus. Für ein weiteres Nutzungsszenario eignen sich besondere Uferorte in Bojennähe. An diesen Orten sind Informationen zu dem Objekt und ein QR-Code vorzufinden, welcher direkt weiter zur Webanwendung leitet. Diese Orte können auch mit Sportgeräten ausgestattet werden, die bei der Nutzung Strom erzeugen und dann der Boje zuführen. So entsteht ein wichtiger Moment der Interaktion und der Vermittlung: Jede unserer Aktivitäten löst etwas in unserer Umwelt aus. Design hat hier die Kraft, kluge Systeme zu entwickeln, die unser Handeln positiv auf unsere Umwelt wirken lässt. Jakob Kukula Produktdesigner Kontakt: info@jakobkukula.com AUTOR © Kukula 88 3 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRODUKTE + LÖSUNGEN Infrastruktur Impressum Transforming Cities erscheint im 6. Jahrgang Herausgeber Eberhard Buhl, M.A. Verlag Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22, D-72270 Baiersbronn-Buhlbach Tel. +49 7449 91386.36 · Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de · www.trialog.de Redaktionsleitung Dipl.-Ing. arch. Christine Ziegler VDI (verantwortlich) Tel: +49 7449 91386.43 Fax: +49 7449 91386.37 christine.ziegler@transforming-cities.de Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 6 vom 01.01.2021 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 vertrieb@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist zum Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. Es ist untersagt, die Inhalte digital zu vervielfältigen oder an Dritte weiterzugeben, sofern nicht ausdrücklich vereinbart. Bezugsgebühren JahresAbo Print: gedruckte Ausgabe zum Jahresbezugspreis von EUR 120,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), zzgl. Versandkosten (Inland EUR 11,90, Ausland EUR 25,-) JahresAbo ePaper: elektronische Web-Ausgabe zum Jahresbezugspreis von EUR 115,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), ohne Versandkosten JahresAbo Plus (Print + ePaper): als gedruckte Ausgabe + elektronische Web-Ausgabe + Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 157,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), zzgl. Versandkosten (Inland EUR 11,90 , Ausland EUR 25,-) StudiAbo ePaper: elektronische Web-Ausgabe. Reduzierter Jahresbezugspreis von EUR 76,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.). Eine aktuelle Studienbescheinigung ist Voraussetzung. Einzelheft Print: gedruckte Ausgabe zum Einzelbezugspreis von EUR 35,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), zzgl. Versandkosten (Inland EUR 3,-, Ausland EUR 6,50) Einzelausgabe ePaper: elektronische Web- Ausgabe zum Einzelbezugspreis von EUR 35,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), ohne Versandkosten Campus- und Firmenlizenzen auf Anfrage Organ | Medienpartnerschaft VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld Druck QUBUS media GmbH, Hannover Herstellung Trialog, Baiersbronn-Buhlbach, www.trialog.de Titelbild Person with umbrellas. © Rene Böhmer on unsplash Copyright Vervielfältigungen durch Druck und Schrift sowie auf elektronischem Wege, auch auszugsweise, sind verboten und bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Abbildungen übernimmt der Verlag keine Haftung. Eine Publikation der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, Baiersbronn-Buhlbach ISSN 2366-7281 (print) www.trialog.de/ agb Überflutete Straßen, überschwemmte Grünanlagen und vollgelaufene Keller: Aufgrund des Klimawandels treten Starkregenereignisse deutlich häufiger auf, gefährden Menschen und Tiere und verursachen Milliardenschäden. Die Klimaprognosen lassen in Zukunft eine Steigerung der Intensität und Häufigkeit erwarten. Die Behörden und Gebäudeeigentümer sind zunehmend für die Notwendigkeit von dezentralen Versickerungssystemen sensibilisiert. Immer mehr Kommunen schreiben bei Neubauten oder Nachverdichtungen eine dezentrale Versickerung der Dachentwässerung vor. GRAF, europäischer Anbieter für Regenwassernutzung, hat in den vergangenen Jahren eine erhöhte Nachfrage nach Versickerungsanlagen verzeichnet. Die dezentrale Versickerung reduziert vor allem bei Starkregenereignissen die Überlastung der öffentlichen Entwässerung und hilft vor allem, das Risiko von urbanen Sturzfluten und damit Schäden an Gebäuden, Infrastruktureinrichtungen und Verkehrswegen zu vermeiden. Starkregen ohne Überschwemmung Dezentrale Lösungen reduzieren das Risiko Neben offenen Muldenrigolen entstehen zunehmend unterirdische Versickerungsanlagen. Diese ermöglichen es, dass die darüber liegende Fläche komplett genutzt und nicht abgesichert werden muss. Mit den Rigolenkörpern aus Kunststoff wird ein unterirdischer Speicher für das Regenwasser geschaffen, der das Wasser kontrolliert in das Erdreich abgibt. Das Unternehmen bietet dazu nach eigenen Angaben das größte Sortiment an Lösungen zur dezentralen Versickerung und kombinierte Regenwassernutzungs- und Versickerungsanlagen an. GRAF unterstützt den Handel und Interessierte bei der Beratung mit dem Online-Berater: graf.info/ tankberater/ Zudem wird ein Onlineformular zur kostenfreien und schnellen Bemessung des Versickerungsvolumens angeboten: https: / / versickerung.graf.digital/ Die Eingabeparameter werden durch Texteinblendungen erklärt, und so werden Eingabe- und Bemessungsfehler vermieden. Die Regenwasserexperten erstellen eine individuelle Bemessung. Die Anwendung des Arbeitsblattes DWA-A 138 garantiert eine bedarfsgerechte Bemessung des benötigten Versickerungsvolumens. Der Interessent erhält, in der Regel nach ein bis zwei Werktagen eine individuelle Bemessung und auch direkt ein Angebot zugesendet. Zudem erhalten die Interessenten Empfehlungen zu nahe gelegenen GRAF Fachhändlern. Otto Graf GmbH Kunststofferzeugnisse Teningen E-Mail: mail@graf.info graf-online.de KONTAKT Lebensraum Stadt Am 3. Dezember 2021 erscheint die nächste Ausgabe von Transforming Cities mit dem Themenschwerpunkt Stadtentwicklung im Quartier Straßenraum und Verkehrsflächen Freiflächen und Grünzonen Öffentlicher Raum und urbane Sicherheit Wohnen und Arbeiten Mobil unterwegs in der Stadt