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Städtische Räume und Flächen: Gemeingut oder Wirtschaftsgut? Dritte Orte | Alltagsräume | Stadtbäume | Klimaanpassung | Mobilitätswandel | Transformation Dritte Orte | Alltagsräume | Stadtbäume | Klimaanpassung | Mobilitätswandel | Transformation 4 · 2021 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Lebensraum Stadt 1 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, Wer darf den städtischen Raum eigentlich beanspruchen? Es gibt einerseits kein Grundrecht auf ein Leben in der Stadt, aber andererseits auch keine Mauern mehr, wie um mittelalterliche Städte, die Nichtbürger rigoros ausschließen. Prinzipiell kann sich also jeder in einer Stadt aufhalten, der möchte - sofern genügend Platz vorhanden ist. Doch Platz ist knapp. In Städten rund um den Globus. Urbaner Raum als Ressource wird umso knapper, je mehr Interessensgruppen darum konkurrieren. Dabei sind die Menschen, die einfach in der Stadt leben und arbeiten wollen, nicht unbedingt in der starken Position. Das zeigt sich spätestens bei der Wohnungssuche. Für den längeren Hebel stehen die Besitzverhältnisse an städtischen Flächen und damit verbunden deren Funktion als Gemeingut oder als Wirtschaftsgut. Frage ist also vornehmlich, wem die Stadt als solche eigentlich gehört. Den Bürgern, den Banken oder wem? In Groß- und in Mittelstädten spielen institutionelle Anleger und ausländische Investoren eine immer größere Rolle am Immobilienmarkt. Ihr wenig überraschendes Ziel ist es, stattliche Renditen zu erzielen. In München und Stuttgart sind die Mietpreise innerhalb von zehn Jahren um rund 50 Prozent gestiegen, in Berlin sogar um über 100-Prozent. Urbanes Wohnen wird immer mehr zum Luxus. Das soziale Gefüge ändert sich zusehends, mit schädlichen Auswirkungen auf die Stadtgesellschaft. Soll das einfach so geschehen? Die Kritik an der Schieflage wird lauter. Viele Menschen wollen die radikalen Eingriffe in ihre Stadtviertel nicht länger hinnehmen, wollen nicht aus ihrem Kiez an die Stadtränder verdrängt werden. Zahlreiche Initiativen aus Bewohnern, Planern und Stadtverwaltungen versuchen, den Lebensraum Stadt Stück für Stück zurückzuerobern. Sei es, mit der Aufwertung des öffentlichen Raums und öffentlicher Grünflächen sowie mit nachhaltigen kommunalen Wohnprojekten. Oder indem der Straßenraum neu definiert wird und nicht mehr vorrangig fahrenden und parkenden Autos vorbehalten ist, sondern auch Fußgängern und Radfahrern zur Verfügung steht oder Anwohnern als Freiraum und Kontaktbereich. In der vorliegenden Ausgabe finden sich reichlich gute Beispiele, wie Städte wieder mehr zum Lebensraum für ihre Bewohner werden können - lesen Sie selbst. Ihre Christine Ziegler Redaktionsleitung „Transforming Cities“ Lebensraum Stadt 2 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES INHALT 4 · 2021 FORUM Veranstaltungen 4 Branchentreff in neuem Ambiente 35. Oldenburger Rohrleitungsforum 2022 PRAXIS + PROJEKTE Mobilität 6 Digitales Parkplatzmanagement Smarte Technologien verbessern den Verkehrsfluss in der Stadt Edwin Beerentemfel 8 Brandschutz von Lithium-Ionen- Batterien im urbanen Raum Wassernebel als erprobte Lösung zum Schutz von Energiespeichern, e-Fahrzeugen und Ladestationen Stephan Klüh, Rüdiger Kopp Kommunikation 11 KI-basierte Planung für lebenswertere Städte Håvard Haukeland Stadtraum 14 Nachhaltige Quartiere: von abstrakt zu konkret Christine Lemaitre, Katja Walther 16 DBU-geförderter „Städtedialog Gebäudegrün“ erfolgreich gestartet Mustervorlagen für kommunale Förderinstrumente zur Dach- und Fassadenbegrünung Gunter Mann THEMA Lebensraum Stadt 20 Notwasserwege für die Klimaanpassung Die temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen im Straßenraum Jochen Eckart, Jonas Fesser 24 Klimaoptimierte Neubauquartiere Ein Münchner Beispiel für innovative Planung mit „Grüner Infrastruktur“ Christina Meier-Dotzler, Teresa Zölch, Sabrina Erlwein, Hannes Harter, Farzan Banihashemi, Simone Linke, Andreas Putz, Stephan Pauleit, Werner Lang 30 Straßen im Wandel: Klimafitte Quartiere gemeinsam entwickeln Erfahrungsbericht zu neuen Kooperationsformaten im Rahmen des BMBF- Forschungsprojektes „iResilience“ Christine Linnartz, Luc Knödler, Antje Stokman, Ingo Schwerdorf, Anne Roth, Rick Hölsgens Seite 20 Seite 35 Seite 47 © Chris „CJ “ Johnson auf Pixabay © I. Starke-Ottich © I. Starke-Ottich © Knippschild, IÖR © Knippschild, IÖR Beilage: 3 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES INHALT 4 · 2021 35 Stadtbäume im Stress Fabian Massing, Massimo Recchiuti, Indra Starke-Ottich, Pablo Ellermann, Robert Kreißl, Heinz-Peter Westphal, Georg Zizka 42 Dritte Orte in Krisenzeiten Auswirkungen der COVID- 19-Pandemie auf Orte der Zusammenkunft und Gemeinschaft Lena Greinke 47 Probieren als Entscheidungshilfe bei der Standortwahl Das Projekt „Stadt auf Probe - Wohnen und Arbeiten in Görlitz“ Constanze Zöllter, Stefanie Rößler, Robert Knippschild 52 Transformation des öffentlichen Raums Planungen, Prozesse und Mitwirkungsmöglichkeiten in Stadt(teil)zentren Elisabeth Schaumann, Hannah Bühr, Christina Simon-Philipp 56 Neubewertung von Alltagsräumen Sandra Gleich, Markus Kaltenbach 60 Kooperative Sicherheitsarbeit in neuen Stadträumen Wuppertaler Innenstadt/ Döppersberg (KoSID)“ Tim Lukas, Benjamin Coomann, Saskia Kretschmer 65 Zufrieden pendeln mit dem Rad BMVI-Forschungsprojekt PendlerRatD: Umstieg auf das Fahrrad in automobildominanten Städten Jana Heimel, Benedikt Krams 70 Smart Nudging: auditive Fahrgastlenkung am Bahnsteig Hochschul-Projekt für effizientes Ein- und Aussteigen Sebastian Gröner, Christina Kunz, Fabian Müller, Lucas Schlegel, Pascal Seez, Wolfgang Gruel 74 Die Pandemie als Katalysator für den Mobilitätswandel? Das Reallabor Nordbahnhof in Stuttgart forscht mit Bürgern vor Ort an der Mobilitätswende. Tom Kwakman, Lutz Gaspers 78 Geodaten für mehr Lebensqualität in Städten Wie sich mithilfe von Data und Location Technology städtischer Lebensraum besser verwalten und verteilen lässt Jens Wille PRODUKTE + LÖSUNGEN Mobilität 83 Mobilitätsstationen in der Modellregion Ortenau Benjamin Biddle, Sandra Kristensen-Seethaler 84 Impressum Seite 60 Seite 65 © Jan Darsow Seite 78 © Ubilabs © Krams 4 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie haben auch vor dem Oldenburger Rohrleitungsforum nicht halt gemacht. In ihrer 35. Auflage am 27. und 28. Januar 2022 findet die „Kultveranstaltung“ der Tiefbaubranche erstmals in den größeren Weser- Ems-Hallen Oldenburg statt. Unter dem Leitthema „Rohrleitungen und Kabel für eine nachhaltige Zukunftsgesellschaft“ widmet sich das Forum beim kleinen Jubiläum einem Megatrend der nächsten Jahre: Thematisiert werden soll der Umgang der Menschen mit den natürlichen Ressourcen, mit dem Klimawandel, mit dem Wassermangel, aber auch mit der Energiegewinnung und -verteilung. „Nach gründlicher Diskussion mit allen Beteiligten mussten wir feststellen, dass die Durchführung der Veranstaltung Ende Januar 2022 im gewohnten Rahmen in den Räumen der Jade Hochschule nicht möglich ist“, sagt Prof. Dipl.-Ing. Thomas Wegener, Vorstandsmitglied des Instituts für Rohrleitungsbau an der Fachhochschule Oldenburg e. V. und Geschäftsführer der iro GmbH Oldenburg. Das klingt nach Erdrutsch - dennoch war die Neuausrichtung nach Aussage des Hausherrn ohne wirkliche Alternative: Alles, was den Charme des Veranstaltungsortes „Ofener Straße“ ausgemacht hat - von den kurzen Wegen über die persönliche Betreuung durch die studentischen Hilfskräfte bis hin zu dem sprichwörtlichen Gedränge auf den Gängen - war mit Blick auf die zurzeit geltenden Auflagen nicht darstellbar. Flair soll erhalten bleiben Vor diesem Hintergrund wurde ein neues, tragfähiges Konzept entwickelt. Ziel dabei war es, Bewährtes mit Augenmaß in eine neue Umgebung zu transferieren. „Wir wollen nicht eine x-beliebige Veranstaltung über die Bühne bringen, sondern alles tun, damit sich unsere Gäste wohl fühlen“, macht Wegener deutlich. Unter anderem sollen themenbezogene Areale geschaffen werden, an denen sich Aussteller und Besucher orientieren können. Möglichst viel vom einmaligen Charme der Veranstaltung soll bewahrt werden. So bleibt die Verantwortlichkeit der handelnden Personen bestehen - und damit auch ein Garant für die persönliche und sympathische Note. Konsequent werden auch weiterhin Studentinnen und Studenten den Charakter des Forums mitprägen. Und wie gewohnt sind neben einer feierlichen Eröffnung am Vorabend und einer Fülle von Fachvorträgen auch der traditionelle „Ollnburger Gröönkohlabend“ geplant. Aus der Not eine Tugend gemacht Die Notlösung Weser-Ems-Hallen schafft allerdings auch hervorragende Perspektiven - insbesondere im logistischen und sicherheitstechnischen Bereich. Mehr Fläche, höhere Räume und eine optimierte Luftqualität sowie großzügige Freiflächen vor den Hallen mit ausreichendem Platz für die dringend benötigten Parkplätze und die Exponate der Aussteller werden letztendlich auch den seit Jahren vorhandenen Wünschen von Dauerkunden nach großzügigeren Standflächen gerecht. Die Nachfrage ist nach Aussage von Prof. Wegener jedenfalls gestiegen - erstmals können auch Anfragen von Unternehmen auf der Warteliste berücksichtigt werden. Branchentreff in neuem Ambiente 35. Oldenburger Rohrleitungsforum 2022 Bild 1: Für die iro ist der Veranstaltungsort logistisch und sicherheitstechnisch bestens geeignet. © Weser-Ems Halle Oldenburg GmbH & Co. KG Bild 2: Regenwassermanagement mit zwei Rigolenkörpern im Starnberger Baugebiet „Am Wiesengrund“. © Funke Kunststoffe 5 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen Rahmenprogramm soll möglichst bestehen bleiben Auch 2022 bildet eine feierliche Eröffnung im Sitzungssaal des ehemaligen Landtags am 26. Januar den Auftakt für die Veranstaltung. Der geplante Einführungsvortrag mit dem Titel „Digitalisierung für saubere und bezahlbare Energie in einer nachhaltigen Zukunftsgesellschaft“ soll dabei für ersten Diskussionsstoff sorgen und auf wichtige Themen des 35. Oldenburger Rohrleitungsforums einstimmen. Neben der Frage der Digitalisierung und der Nachhaltigkeit unseres Tuns ist auch die Entwicklung der Energiewende ein Schwerpunktthema der kommenden Veranstaltung. Tut sich da eigentlich noch was, wie ist der Stand der Dinge, bewegen wir uns in die richtige Richtung, erreichen wir die gesteckten Ziele oder verläuft vieles im Sand? „Fragen wie diese werden inhaltlich an vergangene Veranstaltungen anknüpfen und den fachlichen Austausch weiter befruchten“, ist Wegener überzeugt, nach dessen Meinung Politik und Versorger damit begonnen haben, beim Thema Wasserstoff tragfähige Konzepte und Strategien auf den Weg zu bringen. Ökologischer Fußabdruck Das chemische Element mit dem Symbol H und der Ordnungszahl 1 wird nach Einschätzung vieler Experten als Energieträger in der Zukunft eine große Rolle spielen. Wasserstoff hinterlässt beim Verbrennen praktisch keine Abgase. Das macht das Gas zum idealen Substitut für Kohle, Öl und Erdgas in Industrie und Verkehr somit zu einem idealen Medium für die Umsetzung der Energiewende. Die Anwendungsmöglichkeiten scheinen vielfältig: Wasserstoff kann beispielsweise tagsüber mittels Solarenergie erzeugt und gespeichert werden, um in der Nacht elektrische Energie zu liefern. Dass Wasserstoff darüber hinaus den Gasherd befeuern, ein Auto antreiben und vieles mehr kann, macht ihn zu einem der übergeordneten Themen des Forums, welches nicht nur die Gasexperten mit Spannung verfolgen werden. Hinzu kommen Schlagwörter wie Klimawandel, Wassermangel, Energiegewinnung und -verteilung. „Letztendlich geht es um den Umgang der Menschen mit den natürlichen Ressourcen“, macht Wegener deutlich. „Es geht um den ökologischen Fußabdruck, es geht um das, was jeder von uns mit seinem Handeln oder Nichthandeln an Folgen für die Nachwelt hinterlässt. Dabei spielt unter anderem die Stromwirtschaft und damit das Kabel mit dem Kabelleitungsbau eine große Rolle, denn Kabel und Rohre bilden nur gemeinsam eine gute Grundlage für einen Erfolg unserer Anstrengungen.“ Aus der Praxis für die Praxis Vor diesem Hintergrund gibt das Motto „Rohrleitungen und Kabel für eine nachhaltige Zukunftsgesellschaft“ den passenden Rahmen für die in fünf Handlungsstränge eingeteilten Vortragsblöcke. Fachleute der Branche berichten vom Einfluss des Klimawandels auf Wasser- und Abwassernetze. Starkregen, Dürre, Wasserstress oder sinkende Grundwasserspiegel - wie gehen Ver- und Entsorger mit diesen Herausforderungen um, und wie werden die Netze fit für die Zukunft gemacht? Bekannte Protagonisten von Hamburg Wasser, hanseWasser Bremen oder dem im Nordwesten Deutschlands bedeutsamen OOWV Oldenburgisch-Ostfriesischen Wasserverband schildern Ihre Erfahrungen mit dem Regenwassermanagement in der wassersensiblen Stadtentwicklung oder mit dem Dauerthema Instandhaltung von Kanälen. Daneben wird den sogenannten Klassikern wie gewohnt ausreichend Platz eingeräumt. Hersteller von Rohrsystemen aus den bekannten Werkstoffen stellen ihre neusten Entwicklungen vor und kommen genauso zu Wort wie die Anbieter von grabenlosen Verlegetechniken. Digitalisierungsthemen, die Vorstellung außergewöhnlicher Bauprojekte sowie Spezialthemen wie Fernwärme und Schweißtechnik runden das zweitägige Forum inhaltlich ab. www.iro-online.de Bild 3: Mit der Instandhaltung der Kanalisation übernehmen wir Verantwortung für nachfolgende Generationen. © hanseWasser 6 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Verkehrsfluss und Parkplatzfrust Schlechtes Parkraummanagement führt zu Stress. Das belegte unlängst auch eine Multiscope- Studie im Auftrag von Axis Communications. 1 Die deutschen (33 %), österreichischen (38 %) und Schweizer Befragten (39 %) stören sich laut Umfrage am aller- 1 Das niederländische Marktforschungsunternehmen Multiscope befragte im Januar 2021 im Auftrag von Axis Communications insgesamt 4 500 Personen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Benelux-Ländern zu ihrem Sicherheitsempfinden, aber auch zu ihrer Einschätzung der Mobilität in Städten. meisten am schlechten Verkehrsfluss in einer Stadt. Die Schwierigkeiten bei der Suche nach einem Parkplatz landeten auf der zweiten, schlechte Beschilderung auf der dritten Position. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass die ersten beiden Störfaktoren eng zusammenhängen: Sind Fahrzeuge nur im Schritttempo unterwegs, um nach einem freien Platz zu suchen, hat das direkte Auswirkungen auf die Verkehrsbelastung. Statistiken zeigen, dass rund 30 % des innerstädtischen Verkehrs überhaupt erst durch die Parkplatzsuche verursacht wird. Deshalb wenden sich mehr und mehr Städte smarten Parkmanagementsystemen zu. Das Ökosystem aus Videokameras und smarten Parksensoren basiert auf dem IoT und Deep Learning an der Peripherie. Informationen zur Parksituation werden so gesammelt und zu einer zentralisierten Plattform zurückgesendet. Diese Daten werden dann über eine Smartphone-App mit Fahrern geteilt, sodass sie einen freien Parkplatz rasch finden, anfahren und belegen können. Regelmäßige Verkehrsanalysen zeigen, dass in Innenstädten eigentlich genügend Parkplätze vorhanden sind - sie werden von den Autofahrern nur nicht effizient genutzt. Bereits installierte Videosicherheitstechnik smart nutzen Um das Parkraummanagement zu verbessern, müssen Städte aber keine riesigen Summen in neue Technologien investieren: Vorhandene Videosicherheitstechnik kann ebenfalls smart genutzt werden, um Parkprobleme anzugehen. Eine Kombination aus Netzwerk-Kameras und Videoanalyse identifiziert freie Parkplätze und führt die Fahrer, in Verbindung mit einer Navigations-App, effizient dorthin. Solche Lösungen werden bereits in einigen internationalen Ballungsräumen wie in Brasilien oder Australien eingesetzt. Die Softwarelösung ParKam beispielsweise nutzt die in Parkhäusern und Städten installierten Sicherheitskameras von Axis Communications, um zum einen die Verfügbarkeit von Parkplätzen zu erfassen, zum anderen aber auch, um das Verkehrsverhalten zu prognostizieren. Am Flughafen Perth beispielsweise konnten die ParKam-Lösung und Digitales Parkplatzmanagement Smarte Technologien verbessern den Verkehrsfluss in der Stadt Mobilität, Verkehrsbelastung, Parkraum, Parkplatzmanagement, Digitalisierung Edwin Beerentemfel Bei der urbanen Mobilität geht es nicht nur um Fortbewegung. Es geht auch um das Stehenbleiben: Das Parken verursacht sowohl Stadtplanern als auch Bewohnern gleichermaßen große Kopfschmerzen. Auch wenn das Parken in Städten und vor allem in Stadtzentren schon immer ein Problem war, so ist es mit zunehmender Urbanisierung, mit Megacities und Bevölkerungswachstum zu einem echten Reizthema geworden. Schätzungen zufolge wenden Autofahrer in deutschen Städten über 41 Stunden pro Jahr allein für die Parkplatzsuche auf. Ein enormer Zeitverlust, der dank smarter Technologien künftig nicht mehr hingenommen werden muss. Bild 1: Vorhandene Videosicherheitstechnik kann smart genutzt werden. © Axis 7 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität die vorhandenen Überwachungskameras die ständigen Staus in der Kurzparkzone auflösen. Hierfür justierte ParKam die installierten Kameras gemäß den Belegungs- und Kontrollsystemen neu. Mit Echtzeit-Bildverarbeitungsalgorithmen für das Videomaterial stellt die ParKam- Lösung nun fest, welcher Parkplatz frei bleiben wird, bis der Fahrer eintrifft. Durch die Analyse von Echtzeit- und historischen Daten ist es möglich, Spitzenzeiten in bestimmten Bereichen vorherzusagen und Autofahrer rechtzeitig darüber zu informieren, wenn kein Parkplatz verfügbar ist. Mithilfe von künstlicher Intelligenz und maschinellem Lernen können Parkmanagement-Lösungen vor der Ankunft vorhersagen, wo die Chance am größten ist, einen freien Platz zu finden. Auf diese Weise werden die Autos effizienter verteilt. Das senkt den Frust im Stadtverkehr und verbessert den Verkehrsfluss erheblich. Automatische Erfassung von Parkverstößen Widerrechtliches bzw. unbefugtes Parken ist ein weiteres Problem, das im städtischen Raum zu zusätzlichen Staus führt. Eine Videoanalyselösung, die auch nachträglich in bestehende Netzwerk-Kameras integriert werden kann, schafft hier Abhilfe, indem sie Parkverstöße effizient erfasst und automatisch an die entsprechende Ordnungsinstanz meldet. Eine Videoanalyselösung kann mit mehreren Netzwerk-Kameras auf einer Länge von bis zu 100 m die einzelnen Fahrspuren mehrspuriger Straßen abdecken und automatisch ein Signal abgeben, wenn ein Fahrzeug eine Sperrzone blockiert. Die hochskalierbare Lösung lässt sich dabei so einrichten, dass mehrere Kameras eine ganze Allee überblicken. Datenschutz und digitales Parkplatzmanagement Digitales Parkplatzmanagement hat zur logischen Konsequenz, dass eine Reihe von Daten erhoben wird. Gleichzeitig ermöglichen die Technologien aber auch DSGVO-konforme Datenerhebungen. Eine Möglichkeit zum Datenschutz ist das Edge Computing: Diese dezentrale Datenverarbeitung ermöglicht es, DSGVOkonforme Anlagen zu planen, zu errichten und zu betreiben. Denn die personenbezogenen Daten bleiben direkt auf der Kamera, werden dort verarbeitet und nicht weitervermittelt - lediglich die Information über Belegung oder Nichtbelegung wird an die verknüpfte Software inklusive App weitergegeben. Als zweite Option gibt es die sogenannten „3D-Privatzonenmasken“, die von den meisten Dome-Kameras von Axis unterstützt werden. Ausgewählte Bereiche wie private Geschäfte oder Büros können damit für die Anzeige und Aufzeichnung gesperrt und maskiert werden. Die Maske wird auch dann aufrechterhalten, wenn die Kamera schwenkt, sich neigt oder zoomt, da sie sich dem Koordinatensystem der Kamera anpasst. Privatzonenmasken werden im Videostream als nicht transparente Farbflächen oder als verschwommene Bildelemente angezeigt. Den Datenschutz zu jeder Zeit zu gewährleisten ist mit Sicherheit eine der wichtigsten Säulen, um die Öffentlichkeit von den Vorteilen von smarten Videosicherheitslösungen in Städten und Kommunen zu überzeugen. Zuletzt kann digitales Parkplatzmanagement auch rein über Sensoren abgewickelt werden - also ganz ohne Kameras. Die meist im Boden oder an Straßenlaternen installierten Sensoren übermitteln dann lediglich den gesamten Belegungsstand eines Parkplatzes. Bilddaten werden nicht verarbeitet. Auch die Landeshauptstadt Düsseldorf verwendet diese Option in einem neuen Smart City-Projekt. Dort wird auf einem Teilstück des Fürstenwalls, zwischen Neusser- und Elisabethstraße, der Belegungsstand von rund 170 Parkplätzen mit Hilfe von an Laternen befestigten Sensoren erfasst und die Verkehrsdaten in Echtzeit ins Netz übertragen. Autofahrer können so jederzeit per Smartphone überprüfen, wo sich freie Parkplätze befinden. Faktor für Lebensqualität Der innerstädtische Verkehr ist ein entscheidender Faktor für die Lebensqualität einer Stadt: Er hat Auswirkungen auf die Umweltbelastungen des städtischen Raums, insbesondere auf die Luftqualität und den Lärmpegel, aber auch auf die Zeit, die Personen täglich durch Verspätungen im ÖPNV oder durch Staus verlieren. Um die Lebensqualität ihrer Bewohner zu verbessern, können Städte und Kommunen künftig auf Netzwerktechnologien setzen, die beim Verkehrsfluss und bei der Parkplatzsuche unterstützen. Edwin Beerentemfel Manager Global Partners & End Customers Middle Europe Axis Communications Kontakt: edwin.beerentemfel@axis.com AUTOR Bild 2: Parkverstöße können mit Videoanalyselösungen effizient erfasst und automatisch an die entsprechende Ordnungsinstanz gemeldet werden. © Axis 8 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Die Zukunft auf den Straßen scheint elektrisch zu sein, doch es häufen sich zunehmend Fragen, welche Auswirkungen dies auf die Sicherheit der städtischen Infrastruktur, beispielweise Park- und Tiefgaragen, haben wird. Die Dringlichkeit dieser Fragen ist in den letzten Jahren durch Berichte von Unfällen und Bränden von Elektrofahrzeugen sichtbar geworden und so zunehmend in der Öffentlichkeit angekommen. Noch fehlen aussagekräftige Statistiken, um die Wahrscheinlichkeit von solchen Brandereignissen zu bestimmen, aber die Herausforderungen und potenziellen Gefahren für die Einsatzkräfte werden breiter diskutiert. Insbesondere das Löschverhalten von Elektrofahrzeugen steht immer wieder im Fokus der Öffentlichkeit, mit Bildern von Flammen, die aus (scheinbar) gelöschten Fahrzeugen herausschlagen und selbst bei Teilen der Feuerwehr zu Verunsicherungen führten. Solche Nachrichten erregen auch deshalb viel Aufmerksamkeit, weil die Technologie noch relativ neu ist und es keine seit Jahrzehnten erprobten Taktiken bei der Bekämpfung gibt (Bild 1). Währenddessen nimmt im Windschatten der E-Mobilität auch die Verbreitung stationärer Batterieanwendungen im städtischen Raum zu. Immer mehr Energiespeicher aus Batterien werden in Städten installiert: ob als Teil der Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge, in Kombination mit Photovoltaikanlagen oder als Notstrom für kritische Infrastrukturen. Batterien von Elektrofahrzeugen und Energiespeichern zeigen große Ähnlichkeiten, wobei die Kapazität stationärer Anlagen noch deutlich größer werden kann. Dies gilt dementsprechend auch für das Brandrisiko, welches von den Batteriezellen ausgeht, und somit gibt es offene Fragen in Bezug auf Brandschutz. Forschungsprojekt SUVEREN Antworten auf die Fragen zur Sicherheit im Brandfall wurden im Projekt SUVEREN (www. suveren-nec.info; Laufzeit 2017 bis 2020) gesucht. Das Akronym SUVEREN steht für „Sicherheit in unterirdischen städtischen Verkehrsbereichen bei Einsatz neuer Energieträger“. Bearbeitet wurde das Projekt SUVEREN von einem Forschungskonsortium der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM), der Studiengesellschaft für Tunnel und Verkehrsanlagen (STUVA) sowie der Firma FOGTEC, Entwickler Brandschutz von Lithium-Ionen- Batterien im urbanen Raum Wassernebel als erprobte Lösung zum Schutz von Energiespeichern, e-Fahrzeugen und Ladestationen Lithium-Ionen-Batterie, Brandschutz, E-Mobilität, Energiespeicher Stephan Klüh, Rüdiger Kopp Der Bedarf an leistungsfähigen Batterien wächst weltweit und immer größere Anwendungen erobern den Markt sowohl im privaten als auch industriellen Raum. Allein in Europa werden bereits in diesem Jahr mehr als eine Million Neuzulassungen von Fahrzeugen erwartet, von denen die meisten im städtischen Umfeld unterwegs sein werden. Die E-Mobilität erlebt dank zahlreicher politischer Initiativen und Förderungen einen Höhenflug, so dass eine Zukunft, in der ein wesentlicher Anteil der Fahrzeuge elektrisch angetrieben ist, nicht mehr abwegig erscheint. Bild 1: Ladestationen sind für die E-Mobilität unerlässlich, bei deren Installation in Garagen ist jedoch das erhöhte Brandrisiko von Elektrofahrzeugen während des Ladens zu beachten. ©FOGTEC Brandschutz GmbH 9 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität und Hersteller von speziellen Branderkennungs- und Brandbekämpfungssystemen. Im Fokus der Forschung stand die Untersuchung von Bränden bei Elektrofahrzeugen und deren Traktionsbatterien. Dabei wurden die drängendsten offenen Problemstellungen zum Brandverhalten identifiziert und adressiert. Versuche zum Brandverhalten von Elektrofahrzeugen Zu Beginn des Forschungsprojekts lagen nur sehr wenige öffentlich zugängliche Daten und gesichertere Informationen zum Brandverhalten von Batterien vor. Die notwendigen Erkenntnisse und Beobachtungen konnten nur durch Versuche im Realmaßstab mit echten Batterien gewonnen werden; daher wurde ein umfangreiches Versuchsprogramm zu einem zentralen Bestandteil des Forschungsprojekts. Durchgeführt wurden die Versuche in Zusammenarbeit mit dem Institut für angewandte Brandschutzforschung (IFAB) in dessen Brandlabor. Einem Batteriebrand liegt, technisch gesehen, das sogenannte „thermische Durchgehen“ zu Grunde, welches sowohl das Zündals auch das Brandverhalten von Lithium-Ionen-Batterien bestimmt. Dieses kann durch innere und äußere Einflüsse ausgelöst werden [1]. Das Bild eines Batteriebrandes ist geprägt von starkem Gasausstoß, Stichflammen in unterschiedlicher Länge und Dauer sowie deutlich hörbaren explosionsartigen Geräuschen, welche auf das Bersten der einzelnen Batteriezellen zurückzuführen sind. Die Zellen bersten aufgrund des Überdrucks, der in Folge des thermischen Durchgehens und des Verdampfens des Elektrolyten entsteht. Das ausströmende Gasgemisch besteht aus einer Vielzahl toxischer Stoffe, zum Beispiel Fluorwasserstoff (HF), und ist zündfähig [2]. Je nach Batterietyp laufen diese Prozesse sehr heftig und schnell ab. Batteriebrand erfolgreich bekämpfen Aufbauend auf den Erkenntnissen und Erfahrungen zum Brandverhalten wurden Methoden untersucht, mit denen ein solcher Brand effektiv beeinflusst und kontrolliert werden kann. Hierzu müssen zusätzlich zu den offenen Flammen auch die Reaktionen im Inneren der Batteriezellen beachtet werden, denn dort findet das eigentliche thermische Durchgehen statt. Dies kann eine Zelle so sehr aufheizen, dass Zersetzungsreaktionen auch in benachbarten Zellen beginnen und sich das thermische Durchgehen somit weiter ausbreitet. Ein Stoppen dieser Ausbreitung muss das Ziel einer erfolgreichen Brandbekämpfung sein; hierfür ist eine externe Kühlung der Batterie notwendig. Bei Elektrofahrzeugen ist der direkte Zugang zur Batterie meist durch das Fahrzeug blockiert, so dass die Kühlwirkung durch das Abführen der Brand- und Reaktionswärme aus der Umgebung erreicht wird. Für diese Aufgabe ist Wasser das empfohlene und effektivste Löschmittel, da es über herausragende Kühleigenschaften verfügt [3, 4]. Die SUVEREN-Versuche stützen diese grundsätzliche Eignung als Löschmittel. In Brandversuchen konnte die Ausbreitung des thermischen Durchgehens durch Beaufschlagung des Bereiches mit Wassernebel unterbrochen werden. Die Kühlwirkung des Wassers wird bei der Hochdruck- Wassernebel-Technologie durch die Zerstäubung des Wassers in kleinste Tröpfchen und die damit verbundene größere Oberfläche gesteigert. In der Praxis kann die Effektivität durch die Kombination mit geeigneten Brandmeldern oder anderen Technologien zur Branderkennung gesteigert werden. Eine frühe Branderkennung in Kombination mit einem frühen Beginn der Brandbekämpfung ist bei sich schnell entwickelnden Bränden, die bei Batterien in der Regel vorkommen, von großem Vorteil. Im Forschungsprojekt wurden demensprechend auch Methoden zur Branderkennung von Batterien untersucht und getestet. Forschung / Anwendung zum Brandschutz in Tiefgaragen Beim Brandschutz in Tiefgaragen muss nicht nur die Batterie, sondern das Brandverhalten des gesamten Fahrzeugs betrachtet werden. Analysen im Forschungsprojekt zeigten, dass es in Bezug auf die Brandintensität viele Gemeinsamkeiten bei Fahrzeugen mit Elektroantrieb und mit Verbrennungsmotor gibt [5]. Diese Erkenntnis wurde bei der Entwicklung eines repräsentativen Test-Szenarios für Brände in Garagen berücksichtigt, damit sowohl Besonderheiten bei Bränden von E-Fahrzeugen als auch ganz allgemein das Brandverhalten der Fahrzeugklasse PKW berücksichtigt wird. Das Testszenario bestand aus einer simulierten Garage, einer Fahrzeugattrappe und einer Kombination aus Brennstoffen, mit denen ein (Elektro-) Fahrzeug nachgebildet wurde. Das Versuchskonzept wurde im Forschungsprojekt mit dem Ziel entwickelt, die Wirksamkeit einer stationären Brandbekämpfungsanlage beim Brand eines Elektrofahrzeugs beurteilen und nachweisen zu können. Durch die Festlegung reproduzierbarer Bedingungen können so verschiedene Strategien zur Brand- 10 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität bekämpfung in Garagen objektiv auf ihre Wirksamkeit hin überprüft werden. Bild 2 zeigt einen Brandversuch mit der Fahrzeugattrappe, eine detaillierte Beschreibung der Versuchsreihe ist in [6] zu finden. Im Rahmen des SUVEREN- Forschungsprojekts wurde der erste entsprechende Nachweis für eine Brandbekämpfungsanlage mit Hochdruck-Wassernebel erbracht. Das zugrundeliegende Brandszenario umfasst alle für eine Parkgarage typischen Situationen, inklusive denen an Ladestationen, die zunehmend auch innerhalb von Garagen installiert werden dürften. Da während des Ladenvorgangs von einer erhöhten Brandentstehungswahrscheinlichkeit ausgegangen werden kann, ist dies ein bedeutender Aspekt. Das entwickelte Versuchskonzept entspricht den Vorgaben aus Brandschutz-Richtlinien zur schutzzielorientierten Nachweisführung, bei der die Wirksamkeit von Maßnahmen im jeweiligen Anwendungsfall in 1 : 1-Brandversuchen geprüft wird. Behördlich wird der Brandschutz in Tiefgaragen aktuell durch die Garagenverordnungen der Bundesländer geregelt, die bisher keine oder kaum Regelungen bzgl. Elektro-Fahrzeugen enthalten. Mit den vorhandenen Nachweiskonzepten sowie den Erkenntnissen zum Brandbekämpfungsverhalten von Batterien lassen sich zum Teil auch Brandschutzlösungen für verwandte Batterieanwendungen, wie beispielseise Batteriespeicher, ableiten. In diesen Fällen ist bislang kein verbindliches Prüfverfahren bekannt, so dass eine Bewertung von Brandschutzmaßnahmen im Einzelfall erfolgen muss. Die wissenschaftlichen Ergebnisse aus den SUVEREN-Brandversuchen stellen eine Basis dar und können zu einer sachgemäßen Bewertung beigetragen. Fazit In der Praxis wird die Brandbekämpfung bei Batterien durch die Zugänglichkeit des Löschmediums zur Batterieoberfläche und damit durch die Art der Batterieanwendung beeinflusst. Bei einem Elektro-Fahrzeug schirmt das Fahrzeug die Batterie vor der unmittelbaren Wirkung des Löschmittels ab. Im Gegensatz dazu kann das Einbringen des Löschmittels bei stationären Anlagen, wie zum Beispiel bei Energiespeichern, gezielter erfolgen. Wasser bleibt bei Batteriebränden durch seine gute Kühlwirkung besonders effektiv. Je nach Anwendung können allerdings die Nebenwirkungen auf elektronische Geräte eine Rolle spielen - insbesondere beim Einsatz großer Wassermengen. Die im Forschungsprojekt untersuchte Hochdruck-Wassernebel-Technologie kann einen Batteriebrand aufgrund der effektiven Nutzung der Kühlwirkung erfolgreich bekämpfen - mit vergleichsweise geringem Wassereinsatz. Nach den Ergebnissen des Forschungsprojekts SUVEREN ist eine schutzzielorientierte Nachweisführung bei Bränden mit Batterien insbesondere in Tiefgaragen unbedingt empfehlenswert, um auch bei veränderten Rahmenbedingungen ein weiterhin hohes Sicherheitsniveau zu gewährleisten. LITERATUR [1] Ghiji, M., Edmonds, S., Moinuddin, K.: A Review of Experimental and Numerical Studies of Lithium Ion Battery Fires. Applied Sciences, Bd. 11, (2021) p. 3 - 29. [2] Kutschenreuter, M., Klüh, S., Fast, L., Leismann, F., Lakkonen, M., Rothe, R.: Fire Safety of Lithium-Ion Traction Batteries. In International Conference on Fires in vehicles (FIVE), 15.-16.12. 2020. [3] Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e. V. (DGUV): Hinweise für die Brandbekämpfung von Lithium-Ionen-Akkus bei Fahrzeugbränden, Berlin, 2020. [4] Considerations for ESS Fire Safety. DNV GL, New, 2017. [5] Kutschenreuter, M., Klüh, S., Lakkonen, M., Rothe, R., Leismann, F.: Vehicles change the fire safety design in underground structures. In Proceedings from the Ninth International Symposium on Tunnel Safety and Security, Borås, Sweden, 2020. [6] Klüh, S., Leismann, F.: Brandschutz in unterirdischen Verkehrsanlagen bei zunehmender E-Mobilität - Erkenntnisse aus Brandversuchen: Batteriebrände, Schadstofffreisetzung, Löschmittel,“ in STUVA-Tagung 2021, Karlsruhe, 2021. Dipl.-Ing. Stephan Klüh F&E-Ingenieur FOGTEC Brandschutz GmbH stephan.klueh@FOGTEC.com Dipl.-Ing. Rüdiger Kopp Geschäftsführer FOGTEC Brandschutz GmbH ruediger.kopp@FOGTEC.com AUTOREN Bild 2: Brandversuch im realen Maßstab mit der Fahrzeugattrappe und dem Einsatz einer Wassernebel- Anlage. ©FOGTEC Brandschutz GmbH 11 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Viele Bauprojekte sind von enormer Komplexität geprägt. An jedem Tag der Planungsphase muss eine unüberschaubare Anzahl von Entscheidungen getroffen werden, die von unterschiedlichsten Faktoren abhängig sind - zum Beispiel: Kosten, Deadlines, Regulierungen, Risikomanagement sowie die Interessen unterschiedlicher Stakeholder. Hinzu kommt der lauter werdende Wunsch der Bürgern sowie der Politik nach grünen, lebenswerten und nachhaltig gestalteten Gebäuden und Städten, der ganz neue Anforderungen an Architekten und Projektentwickler stellt: Auch Lichtverhältnisse, Lärmpegel, Hitzeentwicklung, bauliche Umgebung, umweltschonende Ressourcennutzung sowie Nachhaltigkeit im Rahmen der Bauvorhaben müssen in die Entscheidungsprozesse einfließen. Auch frühe Planungsphasen brauchen digitale Lösungen Um der zunehmenden Komplexität gerecht zu werden, greifen immer mehr Planer auf vernetzte digitale Tools zurück. So gaben kürzlich 58 % der befragten Ingenieursbüros in einer USP Consulting-Studie im Auftrag von Autodesk an, dass sie verstärkt auf BIM-Technologie zurückgreifen, um die Herausforderungen eines Projekts effektiver lösen zu können. Mit BIM (Building Information Modeling) kann der komplette Lebenszyklus eines Gebäudes vom ersten Konzeptentwurf bis zum täglichen Betrieb digital dargestellt und planbar gemacht werden. Entscheider erhalten dadurch einen umfassenden und datengestützten Überblick über verschiedenste Aspekte des laufenden Bauprojekts. CAD-Software (Computer-Aided Design), die inzwischen auch dazu in der Lage ist, automatisiert 3D-Darstellungen von Gebäudeplänen zu generieren, wird inzwischen in über 90 % der Architekturbüros eingesetzt. Lediglich in frühen Phasen der Planung wie bei der Grundstücksakquise, bei Machbarkeitsstudien sowie der frühen Immobilienprojektent wicklung fehlte es bislang an innovativen technologischen Ansätzen, um Unternehmern eine größere Planungssicherheit zu erlauben. Dabei findet gerade in dieser Phase bis zu 50 % der Wertschöpfung statt. Architekten und Fachingenieure können bereits hier eine robuste Grundlage für die spätere nachhaltige, vorausschauende und kostenschonende Bewirtschaftung des zukünftigen Gebäudes legen - etwa durch ressourcenschonende Boden- und Flächennutzung, die nachhaltige Integration in die bauliche Umgebung und weitere Maßnahmen, die sich auf lange Sicht positiv auf die Gebäudelebenszykluskosten auswirken. Bis zu 80 % der Gebäudekosten können auf KI-basierte Planung für lebenswertere Städte Mikroklimaanalyse, Digitalisierung in der Architektur, frühe Planungsphase, städtische Wärmeinsel, Urban Heat Island Håvard Haukeland Kostengünstig, schnell und effizient, aber auch grün, nachhaltig und resilient - die Baubranche muss sich mit immer mehr Anforderungen arrangieren. Vor allem die frühe Planungsphase ist essenziell, wenn es darum geht, den Grundstein zur Bewältigung dieser Herausforderungen zu legen, jedoch mangelte es bislang an technologischer Unterstützung. Das Autodesk-Unternehmen Spacemaker will das ändern - und macht mit seiner KI-basierten Software auch die Messung von Licht-, Lärm- und Wärmeverhältnissen vom Beginn der Konzeptplanung an möglich. Bild 1: Lärm ist in vielen Städten ein ernstes Thema. Die Spacemaker- Software lässt erkennen, in welchen Szenarien die Lärmbelastung besonders hoch ist. © Spacemaker 12 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Ländlich Vorstadt Stadtrand Vorstadt Agrarland Gewerbegebiet Innenstadt Park Materialien wie Beton und Asphalt absorbieren Hitze (Albedo) Wenig Grünflächen spenden weniger Schatten zur Kühlung Schatten und die Position von Gebäuden verursachen Luftschleusen Dunkle Dächer reflektieren weniger Sonnenlicht und absorbieren die Wärme Entstehung und Effekt von städtischen Wärmeinseln Oberhalb von Städten kann die kann die Temperatur bis zu 13° höher sein einfallende Winde einfallende Winde Bild 2: Sonnenstunden sind nicht gleich Sonnenstunden: Die Dauer des direkten Lichteinfalls variiert je nach Lage und Ausrichtung des betrachteten Objekts. © Spacemaker diese Lebenszykluskosten entfallen, deren Entwicklung sich zu einem späteren Zeitpunkt in der Bauplanung kaum noch beeinflussen lässt. Fundierte Echtzeitanalysen dank KI-Technologie Sof t ware -as-a-Ser vice -Anwendungen wie Spacemaker - ein Unternehmen von Autodesk, das sich vornehmlich an Architekten, Ingenieure und Projektentwickler richtet - nehmen sich dieser frühen Planungsphase an, um auch hier die enormen Potenziale von KI-gestützter Datenanalyse nutzbar zu machen. Spacemaker zielt darauf ab, intelligente Echtzeitanalysen vom ersten Moment der Konzeptplanung an zu ermöglichen und Entscheidern auf diese Weise vom ersten Tag an eine fundierte, datengestützte Grundlage für effiziente und nachhaltige Entscheidungen zur Verfügung zu stellen. Die hochentwickelten KI-Methoden der Software ermöglichen es Planungs- und Designteams, den Nachhaltigkeitsthemen größeren Raum während Entscheidungsfindungsprozessen einzuräumen als bisher. Bislang galten Planungsfaktoren wie Lichtverhältnisse oder Lärmregulierungen als sehr umständlich abzuschätzen. Spacemaker gestaltet hingegen die Evaluierung von Licht-, Lärm- und Wärmeverhältnissen von Baugrundstücken und Konzepten einfach und schnell. In Sekundenschnelle können verschiedene Szenarien ausprobiert, visualisiert und optimiert werden. Diese iterativen Arbeitsprozesse, bei denen durch einfaches Austesten verschiedener Möglichkeiten die idealen Optionen gefunden werden, geben den Planern kreativen Freiraum, um neue Ansätze zu entdecken und fundierte Entscheidungen treffen zu können - ganz ohne dass es zu zusätzlichen Kosten kommt oder unnötig Zeit verloren geht. Im Gegenteil, die wesentlich weiter vorausschauende Planung kann erhebliche Zeit- und Kosteneinsparungen bedeuten. Die Software wurde maßgeblich von Architekten und Planern mitentwickelt, um die Anwendung für Designer, Architekten und Bauplaner möglichst intuitiv zu gestalten. Während Konzepte entwickelt werden, findet gleichzeitig eine detaillierte Analyse des Entwurfs statt - Anwender können ständig zwischen verschiedenen Ansichten hin und her wechseln und ihren Entwurf auf unterschiedliche Faktoren überprüfen, zum Beispiel Lichteinfall oder zu erwartende Lärmemissionen. Kommt es zu Problemen - etwa zu übermäßiger Hitzebelastung in einem Entwurfsbereich - kann die KI passende Alternativen aufzeigen, um das Problem zu beheben. Durch dieses ergebnisorientierte Entwerfen werden bereits in einem frühen Stadium schwerwiegende Fehlentscheidungen vermieden, die sich später nur schwer bis gar nicht rückgängig machen lassen. Mikroklimaanalyse bei städtischen Wärmeinseln Die Mikroklimaanalyse ist das neuste Echtzeit-Analyse-Feature von Spacemaker. Planer und Designer können mit der Anwendung die thermischen Verhältnisse von Außenbereichen bewerten, Problemzonen lokalisieren und alternative Lösungen simulieren. Damit leistet Spacemaker einen Beitrag im Kampf gegen urbane Wärmeinseln, die für viele Städte in den kommenden Jahrzehnten zu einem echten Problem werden können. Durch die Wärmeinseln sind die Temperaturunterschiede zwischen städtischen und um- Bild 3: Das Phänomen der städtischen Wärmeinsel. © Spacemaker liegenden ländlichen Gebieten so groß, dass die Lebensqualität im urbanen Raum vergleichsweise geringer ist. In Berlin konnten in besonders heißen Sommernächten bereits Temperaturunterschiede von bis zu 10 °C zwischen dicht bebauten Gebieten und dem Umland gemessen werden, weil die Flächen aus Beton, Asphalt etc. sehr langsam abkühlen. Die teils bis in die Nacht anhaltenden hohen Temperaturen stellen auf Dauer eine Gesundheitsgefährdung für die Bewohner dar, zumal sich die Hitzetage aufgrund der Klimaerwärmung in den kommenden Jahrzehnten nahezu verdoppeln werden. Leider werden die thermischen Verhältnisse in den meisten Fällen erst dann berücksichtigt, wenn es zu spät ist, wodurch wichtige Bausteine der gesamten Nachhaltigkeitsstrategie einer Stadt unwirksam werden. Planungs- und Designteams sind dann gezwungen, komplexe Probleme in großem Maßstab mit kleinen, aber kostspieligen Renovierungen und Verbesserungen anzugehen. Methoden zur Berechnung von städtischer Wärme gab es zwar auch schon vorher, doch die Analysen haben meistens viel Zeit für die Ausführung oder die Visualisierung der Daten in Anspruch genommen, falls sie überhaupt eine Visualisierung leisten konnten. Zudem waren die Analyseergebnisse aufgrund ihrer hohen Komplexität meist nur Experten zugänglich. Spacemaker löst diese Aufgaben nun deutlich einfacher und für den Nutzer intuitiver: Die in Echtzeit anhand des 3D-Modells vorgenommenen Analysen werden übersichtlich in einer Wärmekarte dargestellt. Diese kann stetig angepasst werden, sodass Planer beispielsweise ausprobieren können, wie einzelne Bereiche auf extreme Wärme an besonders heißen Sommertagen reagieren. Auch können Benutzer der Software etwa festlegen, welche Temperaturen sie zu bestimmten Tageszeiten als angenehm empfinden bzw. im Rahmen der Bauplanung anstreben. Die entsprechende Wärmekarte zeigt dann in wenigen Sekunden, wann und wie lange die angegebenen Temperaturen in den Außenbereichen gelten. Auf dieser Basis können so lange Designoptimierungen vorgenommen werden, bis die gewünschten Temperaturen erreicht sind. Das Problem der städtischen Wärmeinseln ist ein Beleg dafür, dass die Baubranche weiterhin vor fundamentalen Herausforderungen steht: Städte sollen in Zukunft nicht nur grüner, nachhaltiger und lebenswerter werden, sondern auch resilienter gegenüber einer Fülle extremer Wetterbedingungen, die als Folge der Klimaerwärmung in Erscheinung treten können - von großen Hitzewellen bis hin zu Starkregen und Überschwemmungen. Gleichzeitig müssen Planer und Bauunternehmen bei allen Bemühungen um mehr Nachhaltigkeit weiterhin wirtschaftlich arbeiten und wettbewerbsfähig bleiben. Diese Herausforderungen sind dank KI-gestützter Datenanalysen in Echtzeit, wie Spacemaker sie bereitstellt, um einiges leichter zu bewältigen. Ein zukunftsfähiger Lebensraum wird einfacher Realität, wenn man ihn im Voraus umfänglich visualisieren und erfahrbar machen kann. Håvard Haukeland Co-Founder von Spacemaker und Senior Director von Autodesk Kontakt: spacemaker@lhlk.de AUTOR 35. Oldenburger Rohrleitungsfor um über 400 Aussteller ca. 100 Fachvorträge in den Weser-Ems-Hallen Oldenburg Rohrleitungen und Kabel für eine nachhaltige Zukunftsgesellschaft www.iro-online.de 27. + 28. Januar 2022 14 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Was macht ein zukunftsfähiges Quartier aus? „Der Park ist direkt um die Ecke“, „hier wohnen Jung und Alt harmonisch zusammen“, „Einkaufsmöglichkeiten und Spielplatz fußläufig zu erreichen“ - typische Werbesätze für ein neues Quartiers in unserer Gegend - oder Wortfetzen, die man von Bekannten aufschnappt, die zufrieden sind mit ihrem Wohnort. Es scheint einen gewissen Konsens darüber zu geben, was ein lebenswertes Stadtquartier ausmacht. Die Kriterien sind anschaulich und ersichtlich und die Natur spielt eine wesentliche Rolle. Schnell wird solch ein Quartier als nachhaltig deklariert. Aber ist es das wirklich? Zugegeben, es wird viel abstrakter, wenn wir von nicht sichtbaren CO 2 -Emissionen sprechen, die ein Quartier durch Heizen und Lüften im Jahr ausstößt. Oder von den endlichen Ressourcen, die in den Gebäuden verbaut Nachhaltige Quartiere: von abstrakt zu konkret Nachhaltiges Quartier, Klimaquartier, nachhaltiges Bauen, Zertifizierung Christine Lemaitre, Katja Walther Grünflächen, Spielplatz und Einkaufsmöglichkeiten in der Nähe - es scheint einen gewissen Konsens darüber zu geben, was ein lebenswertes Stadtquartier ausmacht. Doch neben den ersichtlichen Kriterien, gibt es eine Reihe abstrakterer Aspekte, die wesentlich sind - für ein nachhaltiges und zukunftsfähiges Quartier. Klimaschutz und -anpassung, Ressourcenschonung, Gesundheit und Wohlbefinden der Bewohner - all dies sind essentielle Aspekte für die Städte von morgen. Doch wie setzt man diese Ziele um? Die Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen setzt sich dafür ein, dass Gebäude im Einklang mit Menschen und Umwelt entstehen. Mit ihrem Zertifizierungssystem lässt sich Nachhaltigkeit systematisch umsetzen. Das Klimaquartier in Esslingen ist hierfür ein Beispiel. Bild 1: Klimaquartier „Neue Weststadt“ in der Stadt Esslingen am Neckar. © Maximilian Kamps, Agentur Blumberg GmbH sind, vom allgemeinen Flächenmangel und der Versiegelung, die zu Überflutungen bei Starkregen führen können. Diese Kriterien sind für Bewohner schwer greifbar, weil nicht ersichtlich. Und doch sind sie essentiell um ein Quartier wirklich zukunftsfähig zu machen. Doch wer kümmert sich darum? Klima- und Ressourcenschutz sind noch nicht in Mark und Bein übergegangen. Sie sind noch keine Voraussetzung für neue 15 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Quartiersentwicklungen oder Renovierungen. Und wenn doch, so fehlt häufig die Referenz: wie viel CO 2 ist denn nun legitim? Ist Holz wirklich besser? Bestand erhalten oder neu bauen? Was hier gebraucht wird, ist eine neue Planungs- und Baukultur, die nicht nur nach Form und Funktion in einem definierten Zeit- und Kostenrahmen fragt, sondern oben genannte Themen nahtlos einfließen lässt. Man müsste wissen, wo man die nötigen Informationen herbekommt und wann die Entscheidungen zu fällen sind. Man brauchte klare Ziele und einen fortlaufenden Abgleich im Verlauf mit diesen Zielen. Damit die Verantwortlichen für Gestaltung, Verwaltung und Erhaltung im städtischen Kontext mit diesen zentralen Zukunftsthemen umgehen können, wurde das DGNB-System entwickelt, das den Planungsprozess begleitet und alle relevanten Kriterien der ökologischen, soziokulturellen und ökonomischen Dimension einfließen lässt. Am Ende des Prozesses ist dies ein Qualitätssicherungsinstrument, das dabei hilft zu verifizieren, dass einmal Geplantes auch wirklich so umgesetzt wurde. Wie damit ein Klimaquartier entstehen kann, zeigt das folgende Beispiel. Neue Weststadt - Entwicklung eines Klimaquartiers Das Klimaquartier „Neue Weststadt“ ist aktuell das bedeutendste Stadtentwicklungsprojekt der Stadt Esslingen am Neckar. Im Rahmen der Eckpunkte „klimaneutraler Betrieb“, „kompakte Stadt“ und „Nutzungsmischung“ entsteht auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs ein urbanes Quartier mit rund 460 Wohneinheiten. Wohnen, Gewerbe, Nahversorgung, direkter Anschluss an den ÖPNV und die Nachbarschaft zum neuen Campus der Hochschule Esslingen kennzeichnen das Klimaquartier, an dessen Entwicklung die Esslinger Bürgerinnen und Bürger von Beginn an beteiligt waren. Von den fünf Blöcken des Klimaquartiers sind derzeit die Blöcke B und C fertiggestellt. Block D befindet sich kurz vor der Fertigstellung, der Wettbewerb für Block A ist abgeschlossen. Neu entstehende Naherholungsflächen wie der Neckaruferpark federn die hohe Nachverdichtung im Quartier ab. Mit weiteren sozialen Begegnungsorten eines Quartiers-, eines Stadtteil- und eines Spielplatzes wird der öffentliche Raum zusätzlich optimiert. Die Familienfreundlichkeit zeigt sich auch an der Gestaltung der Innenhöfe und der Bereitstellung einer KiTa in Block D direkt vor Ort. Alternativen zum motorisierten Individualverkehr bietet die Nähe zum Esslinger Bahnhof und dem ZOB sowie ein E-Car-Sharing direkt vor Ort. Für diese Planung erhielt die Neue Weststadt das DGNB-Zertifikat in Gold; als erste begutachtete Einheit nach Fertigstellung wurde dieses Zertifikat für Block B in der Umsetzung bestätigt. Bereits im städtebaulichen Vertrag zum Quartier wurde der klimaneutrale Betrieb der Gebäude verpflichtend fixiert. Die Vollsolarisierung der Dachflächen und ein ambitioniertes energetisches Konzept, das erstmals in Deutschland die Produktion von grünem Wasserstoff in einem urbanen Quartier integriert, realisieren diesen Anspruch. In einer unterirdischen Energiezentrale werden zwei Elektrolyseur-Einheiten komplett mit erneuerbarer Energie betrieben. Die hierbei entstehende Abwärme wird per Nahwärmenetz innerhalb des Quartiers genutzt. Neben der Unterstützung des klimaneutralen Betriebs der Gebäude wird der Elektrolysevorgang so in seiner Effizienz deutlich gesteigert und wirtschaftlich darstellbar. Diese Kopplung der Sektoren Strom und Wärme wird durch die Einbindung des Oberleitungsbus- Systems des Städtischen ÖPNV ergänzt. Das Klimaquartier Neue Weststadt ist eines der sechs Leuchtturmprojekte innerhalb des 6.- Energieforschungsprogramms im Förderbereich „Energieeffiziente Stadt“ der Bundesministerien für Wirtschaft und Energie sowie Bildung und Forschung. Die weitere Entwicklung in der Neuen Weststadt soll ebenfalls mit dem Anspruch umgesetzt werden, annähernd Klimaneutralität zu erreichen. Die Verstetigung der Elektrolyseurtechnologie ist vorgesehen. Dr. Christine Lemaitre Geschäftsführender Vorstand Deutsche Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen, DGNB e. V. Kontakt: c.lemaitre@dgnb.de Dr. Katja Walther Leitung Sachgebiet Nachhaltigkeit und Klimaschutz Stadtplanungsamt Stadt Esslingen am Neckar katja.walther@esslingen.de AUTORINNEN Bild 2: Brennstoffzellenfahrzeug im Klimaquartier. © Maximilian Kamps, Agentur Blumberg GmbH 16 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Der Bundesverband Gebäude- Grün e. V. (BuGG) hat die Idee und den Projektgedanken des Städtedialogs Gebäudegrün vor über zwei Jahren als Förderprojekt bei der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) eingereicht und letztes Jahr den Zuwendungsbescheid bekommen. Zuvor hatte der BuGG im Herbst 2019 in Berlin einen „Testlauf“ durchgeführt und bei der zweitägigen Veranstaltung erste Erfahrungen gesammelt. Der Städtedialog Gebäudegrün, mit einer Laufzeit von 2,5 Jahren (2021 bis 2023), wird neben der DBU auch vom Deutschen Städtetag und vom Deutschen Städte- und Gemeindebund unterstützt und richtet sich ausschließlich an Städtevertreter*innen. Erfahrungsaustausch und Wissensmodule Die Veranstaltungsreihen (Module) sind charakterisiert durch eine Mischung von Theorie und Praxis, Frontalvorträgen und Workshops. Sie sollen gleichermaßen breites Fachwissen vermitteln, aber auch offene Fragen der Kommunen, Bedenken und Probleme zur Dach- und Fassadenbegrünung diskutieren und beantworten. Innovativ und modellhaft am Projekt ist die vorgenannte Mischung verschiedener Instrumente:  Vorträge (Fachinformationen)  Workshops (Erfahrungsaustausch)  Internetplattform (Ergebnispräsentation): www.gebaeudegruen.info/ staedtedialog  Weitere Aktivitäten (Seminare, Städteumfragen, BuGG- Marktreport Gebäudegrün) Übersicht Projekt-Module Wissensvermittlung und Erfahrungsaustausch des Städtedialogs Gebäudegrün sind in vier Modulen und zwei Zusatz-Modulen aufgeteilt: Modul 1.1 Basis-Wissen Mai 2021: Grundlagenseminar zur Dach- und Fassadenbegrünung zur Vermittlung der wichtigsten Begriffe und Planungsgrundlagen zur Dach- und Fassadenbegrünung, um alle Teilnehmenden auf ein ähnliches fachliches Niveau zu bekommen. Modul 1.2 Direkte Förderung Juni und Juli 2021: Kommunale Förderung durch finanzielle Zuschüsse. Zusatz-Modul 1 Bundeskongress Gebäudegrün 23. - 24. 11. 2021 in Berlin: Der Bundeskongress unter dem Motto „Wo steht Deutschland in Sachen Gebäudebegrünung“ fasst DBU-geförderter „Städtedialog Gebäudegrün“ erfolgreich gestartet Mustervorlagen für kommunale Förderinstrumente zur Dach- und Fassadenbegrünung Gunter Mann Dach- und Fassadenbegrünung sind anerkannte Maßnahmen zur urbanen Klimawandelanpassung. Aufgrund ihres Mehrfachnutzens wächst die Nachfrage nach fachlichen Informationen und Fördermöglichkeiten bei den Städten. Das übergeordnete Ziel des BuGG- Städtedialogs Gebäudegrün ist daher der Aufbau eines Kommunikationsformates für Städte zur Förderung von Gebäudebegrünungen. Dabei stehen der regelmäßige Erfahrungsaustausch zwischen den Städten und die Informationsvermittlung zu kommunalen Förderinstrumenten im Vordergrund. Bild 1: Wie sich Gebäudebegrünungen am besten fördern lassen - das Hauptthema beim „Städtedialog Gebäudegrün“. © Bundesverband GebäudeGrün 17 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum in zwei Tagen mit 40 Referierenden den Stand des Wissens zur Dach- und Fassadenbegrünung zusammen und gibt Anregungen für die Zukunft mit. Im Rahmen der Präsenzveranstaltung ist auch ein Treffen der Teilnehmenden des Städtedialogs Gebäudegrün vorgesehen. Modul 2: Indirekte Förderung November und Dezember 2021: Indirekte kommunale Förderung durch gesplittete Abwassersatzungen, Festsetzung in Bebauungsplänen, Vergabe von Ökopunkten. Zusatz-Modul 2: Weltkongress Gebäudegrün 10. - 12. 05. 2022 in Berlin: Fast 100 Referierende aus aller Welt bieten in zwei Tagen einen Überblick, was in der Welt zur Dach-, Fassaden- und Innenraumbegrünung läuft und am dritten Tag finden Exkursionen zu verschiedenen Objekten in Berlin statt. Modul 3: Bestandserfassung und Potenzialanalyse Herbst 2022: Die Themen des Moduls 3 sind unter anderem Inventarisierung und Bestandsaufnahme, Potenzialkataster und Erfolgskontrolle. Modul 4: Abschlussveranstaltung: März 2023 in Berlin: In einer zweitägigen Veranstaltung sollen die Ergebnisse und Erfahrungen des Städtedialogs Gebäudegrün zusammengefasst, präsentiert und diskutiert werden. Der Städtedialog ist im Mai mit Online-Grundlagenseminaren zur Dach- und Fassadenbegrünung gestartet, um eine fachliche Basis zu schaffen und ging im Juni über zu den Online- Workshops zum Thema „Direkte Förderung (finanzielle Zuschüsse). Bei beiden Modulen konnten Teilnehmende aus etwa 50 Städten verzeichnet werden. Ursprünglich sollten alle Veranstaltungen dezentral in den sechs Städten Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hannover, Leipzig, München und Stuttgart als Präsenzseminare- und workshops durchgeführt werden, was aufgrund der Corona-Pandemie so nicht mehr umsetzbar war. Die Städte wurden so gewählt, dass sie über ihre gute Erreichbarkeit große Einzugsgebiete abdecken und dass die gesamte Bundesrepublik Deutschland nahezu flächendeckend berücksichtigt werden kann. Die bisherigen Erfahrungen und Teilnahmezahlen zeigen, dass auch die Online- Durchführung eine annehmbare Alternative war. Die Zusatz-Module 1 (Bundeskongress) und 2 (Weltkongress) ergänzen als mehrtägige Veranstaltungen in Berlin den Städtedialog Gebäudegrün. Mit dem Modul 4 wird das Projekt in einer zentralen Veranstaltung in Berlin abgeschlossen. Die Referierenden kommen aus Hochschulen der Region, sie sind Städtevertreter*innen und externe Fachleute und vom Bundesverband GebäudeGrün e. V. Die Inhalte der Workshop-Module 1, 2 und 3 sind in den sechs genannten Städten gleich. Die Veranstaltungsreihen sind auf den Erfahrungen des BuGG sowie verschiedener deutscher und europäischer Städte aufgebaut. Dabei werden bewusst sowohl „erfahrene“ und „unerfahrene“ bzw. kleinere und größere Städte als auch verschiedene Entscheidungsebenen zusammengebracht. Verschiedene Teilnahmemöglichkeiten Für alle interessierten Städtevertreter*innen gibt es mehrere Teilnahmemöglichkeiten:  Teilnahme an den Workshop- Modulen, die als Online- Seminare kostenlos und als Präsenzveranstaltungen für 50 Euro für BuGG-Mitglieder und 90 Euro für Nicht-BuGG- Mitglieder (netto, pro Person und Modul) buchbar sind.  Anmeldung zum Newsletter für aktuelle Informationen zum Städtedialog und zum Gebäudegrün-Markt.  Bereitstellung eigener Dokumente (Förderrichtlinien, B- Pläne, Abwassersatzung etc.) zur Sammlung und Auswertung durch den BuGG (an info@ bugg.de, Stichwort „Städtedialog“)  Einreichung offener Fragen und Anregungen  Online-Diskussion über aktuelle Themen im neu eingeführten „Städtedia(B)log“. Der „Städtedia(B)log“, ein Wortspiel aus „Städtedialog“ und „Blog“, soll nicht nur einfach Informationen in einem Blog bereitstellen, sondern darüber hinaus auch Diskussionen, offene Fragen und einen Erfahrungsaustausch ermöglichen. Bild 2: Der „BuGG- Städtedialog Gebäudegrün“ - ein von der DBU gefördertes mehrjähriges Projekt. © Bundesverband GebäudeGrün 18 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Interessierte Städtevertreter*innen können über einen „VIP- Zugang“, der nur für Städte freigeschaltet wird, weitere Informationen erhalten und in die Diskussion und den Erfahrungsaustausch mit anderen Teilnehmenden treten:  Literaturhinweise  Vorträge der Workshop- und Wissensmodule  Mustervorlagen kommunaler Förderinstrumente  Praxisbeispiele kommunaler Förderinstrumente  Städtedia(B)log Aktivitäten zur Ergänzung des Städtedialogs Ergänzt werden vorgenannte Seminare und Informationen durch weitere flankierende Maßnahmen: Aktualisierung des Leitfadens „Dachbegrünung für Kommunen“, der vor einigen Jahren vom BuGG-Vorgänger Verband DDV Deutscher Dachgärtner Verband e. V. erarbeitet wurde. Bundesweit laufende BuGG-Veranstaltungsreihen, Gründach- Forum und Fassadengrün-Forum als halbtägige Präsenzveranstaltungen in Kooperation mit Städten. Förderumfrage an alle Städte über 20 000 Einwohner*innen und jährliche Aktualisierung des BuGG-Marktreports Gebäudegrün. Exkursionen zu ausgewählten Dach- und Fassadenbegrünungsobjekten. E-Mail- Newsletter für teilnehmende Städtevertreter*innen. Fortführung des Erfahrungsaustauschs über die Projektlaufzeit hinaus mit dem jährlich angedachten „BuGG-Städtedialog Gebäudegrün“. Hemmnisse und Hürden bei der Umsetzung von Dach- und Fassadenbegrünungen Im Rahmen des Städtedialogs wurden bei Städten und weiteren Fachleuten der Gebäudegrün- Branche Umfragen durchgeführt, unter anderem zu den derzeitigen Hemmnissen und Hürden, die eine stärkere Verbreitung von Gebäudebegrünung erschweren. Folgende Aspekte wurden identifiziert: Schlechtes Image durch immer noch bestehende Vorurteile Die grundsätzliche Funktionsfähigkeit und Wirksamkeit wird trotz der vielen Praxisbeispiele und Forschungsergebnisse in Frage gestellt. Die „klassischen“ Vorurteile sind Ängste um Schäden an Dach oder Fassade, Tiere im Haushalt und hohe Kosten bei Herstellung und Pflege. Wissensdefizite Obwohl es zahlreiche Veröffentlichungen und Schriften von Hochschulen, Verbänden und Branchenunternehmen gibt, ist die Wissensverbreitung lückenhaft. Daraus resultieren oben angeführten Vorurteile, jedoch auch fehlende Fachplanung mit Fachwissen zu Wirkungsweise, Einsatzbereichen, Bau- und Vegetationstechnik und weitere Fachunternehmen mit dem Wissen zur fachgerechten Ausführung und Pflege. Zudem sind die vorhandenen Förderprogramme zu wenig bekannt und es gibt kaum Personen, die durch den verfügbaren „Förderdschungel“ führen können. Unzureichender stadtpolitischer Wille Bisher haben erst etwa 25 % der Städte über 50 000 Einwohner ein Förderprogramm mit finanziellen Zuschüssen für Dachbzw. Fassadenbegrünung. Unattraktive bzw. keine Anreize Wenig finanzielle Zuschüsse. Anreize, wie beispielsweise die Niederschlagswassergebühr, sind meist zu gering, um finanziell attraktiv zu sein. Lückenhafter institutioneller Rahmen Gesetzesgrundlagen sind zwar vorhanden, doch in „Technischen Regelwerken“ fehlt häufig der Bezug zum Gebäudegrün. Fehlende Fachleute und Fachkräftemangel Planende, Ausführende und Pflegende sind derzeit nur in überschaubarer Anzahl vorhanden. Das führt schon heute immer wieder zu Engpässen. Es fehlen aber auch spezialisierte Fachbetriebe und denen wiederum fehlt Personal auf allen Hierarchie- Ebenen. Fehlender Ausbildungsberuf In absehbarer Zeit ist kein Ausbildungsberuf zum Dach- oder Fassadenbegrünenden vorgesehen. Unzureichende Hochschullehre. Aufgrund des Vorgenannten und des Ausfalls einer etablierten Professorenschaft ist das Thema „Gebäudegrün“ nur in wenigen Fällen fester Bestandteil des Lehrplans und bislang noch kein „Vertiefungsstudium“. Finanzielle Lage in den Kommunen Wegen der oftmals angespannten finanziellen Situationen in den Kommunen werden Förderprogramme erst gar nicht aufgelegt Bild 3: Vorbereitende Veranstaltung „BuGG-Städtedialog Gebäudegrün“ im Herbst 2019 in Berlin. © Bundesverband GebäudeGrün 19 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum DIE IT-TRANS IST ZURÜCK IN KARLSRUHE. TERMIN VORMERKEN. PERSÖNLICH TREFFEN. Unter der Schirmherrschaft der Veranstalter Partner 8. - 10. März 2022 Messe Karlsruhe it-trans.org bzw. wenn sie vorhanden sind, können diese zu wenig publik gemacht werden. Fehlende Verwaltungskostenentschädigungen hindern Kommunen daran, sich an Landes- oder Bundesförderprogramme zu beteiligen. Unvollständige Nutzung bestehender Förderprogramme Aufgrund fehlender Öffentlichkeitsarbeit für schon bestehende Förderprogramme und fehlende Beratung von Bauwilligen, werden vorhandene Förderungen zu wenig in Anspruch genommen. Einige dieser Punkte werden im Städtedialog Gebäudegrün thematisiert, der Bundesverband GebäudeGrün plant zudem in Kooperation mit anderen Verbänden (unter anderem dem Bundesverband Garten-, Landschaft- und Sportplatzbau e. V. BGL, Bund Deutscher Baumschulen e. V. BdB, Zentralverband des Deutschen Dachdeckerhandwerks e. V. ZVDH) für Herbst 2022 mit der Aktionswoche „Gebäudegrün“ eine bundesweite Imagekampagne in möglichst vielen Städten. Zusammenfassung und Ausblick In dem DBU-geförderten Projekt „BuGG-Städtedialog Gebäudegrün 2021 - 2023“ führt der Bundesverband Gebäudegrün e. V. bundesweit Informationsveranstaltungen und Workshops durch und erarbeitet zusammen mit Städten Mustervorlagen für die verschiedenen kommunalen Förderinstrumente (direkte Zuschüsse, Festsetzung in Bebauungspläne, Gesplittete Abwassergebühr, Ökopunkte). Die Seminare werden derzeit digital, sollen jedoch im nächsten Jahr wieder vor Ort in sechs Städten durchgeführt werden. Interessierte Städtevertreter*innen können sich bei der BuGG-Geschäftsstelle melden und weitere Informationen anfordern. www.gebaeudegruen.info/ staedtedialog Dr. Gunter Mann Präsident Bundesverband Gebäude- Grün e. V. (BuGG) Kontakt: gunter.mann@bugg.de AUTOR 20 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Der Bedarf nach einer temporären Rückhaltung von Starkniederschlägen im Straßenraum Als Folge des Klimawandels wird durch Starkregenereignisse in der Zukunft vermehrt der Bemessungsfall der Entwässerungssysteme überschritten. Das Niederschlagswasser kann dann nicht in das Entwässerungssystem eintreten und fließt der Topographie folgend auf der Oberfläche - in Städten häufig auf Straßen - ab und kann dabei Schäden an schutzwürdigen Nutzungen verursachen. Die Vergrößerung der Kapazität der Entwässerungsinfrastruktur ist für viele Kommunen aus ökologischer und ökonomischer Perspektive keine realistische Lösung. Zur Starkregenvorsorge werden bislang hauptsächlich oberirdische oder unterirdische Regenrückhaltebecken verschiedener Bauarten eingesetzt. In der letzten Zeit rückt jedoch auch die multifunktionale Nutzung von Verkehrs- und Freiflächen als Baustein der Starkregenvorsorge in den Fokus. Für eine multifunktionale Nutzung und damit auch zur Rückhaltung von Starkniederschlägen sind verschiedene Flächen möglich: angefangen von Spiel- und Sportplätzen über Grünflächen und Parkanlagen bis hin zu Parkplätzen und Fahrbahnen [1,-2,-3]. Beispiele für die Nutzung von Verkehrsflächen für die Rückhaltung von Starkniederschlägen sind die Notwasserwege im Hochschulstadtteil Lübeck [4], die Notwasserwege in Kopenhagen [5] oder der Klima- Boulevard Bremen [4]. Notwasserwege für die Klimaanpassung Die temporäre Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen im Straßenraum Starkniederschläge, Notwasserwege, Verkehrssicherheit Jochen Eckart, Jonas Fesser Viele Kommunen stehen vor der Herausforderung, ihr Kanalnetz an die durch Klimafolgen gehäuften Starkniederschläge anzupassen. Ein Ansatz sind Notwasserwege für eine schadensarme und kontrollierte Notableitung sowie eine temporäre Rückhaltung von Starkniederschlägen im Straßenraum. Das planmäßige Ableiten von Abflüssen im Straßenraum weckt Bedenken im Hinblick auf die Verkehrssicherheit. Im F+E-Vorhaben BlueGreenStreets wurden die Auswirkungen von Notwasserwegen auf die Verkehrssicherheit untersucht. Die verkehrlichen Rahmenbedingungen werden aufgezeigt, unter denen Notwasserwege vertretbar erscheinen. © Chris „CJ “ Johnson auf Pixabay 21 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Die Strategie der geplanten Mitbenutzung von Verkehrsflächen für eine kontrollierte temporäre Notableitung und Rückhaltung von Starkniederschlägen wird im F+E-Vorhaben BlueGreenStreets [6] analysiert. Im Nachfolgenden werden die verschiedenen Phasen für die Planung von Notwasserwegen von der Identifikation geeigneter Standorte, der Analyse der Verkehrssicherheit, der baulichen und sonstigen Gestaltung und Umsetzung sowie dem Monitoring dargestellt. Identifikation von Standorten für Notwasserwege Notwasserwege sollten dort angelegt werden, wo die topografischen und baulichen Gegebenheiten zu einer Gefährdungslage bei Starkregenereignissen führen. Kommunale Überflutungsrisikokarten geben Aufschluss über solche gefährdeten Flächen. Insbesondere Verkehrsflächen, die an Geländetiefpunkten bzw. Geländesenken sowie entlang der „natürlichen“ Fließwege des Niederschlagswassers liegen, eignen sich dafür. Sie können zum Schutz gefährdeter Nutzungen beitragen und eine schadensarme Ableitung in nahe gelegene Vorfluter oder Freiflächen ermöglichen. Eine gezielte Rückhaltung und Notableitung von Starkniederschlägen im Straßenraum bietet sich besonders in städtischen Gebieten mit einer hohen baulichen Dichte und einem hohen Anteil versiegelter Flächen an. So nehmen Verkehrsflächen in dichten innerstädtischen Quartieren 20 bis 30 % der Gesamtflächen ein und bieten damit ein großes Handlungspotenzial. Dabei sind nicht allein die Überflutungsschwerpunkte selbst, sondern auch die Straßenräume im Einzugsgebiet mit in die Konzeption einzubeziehen, um das Rückhaltevolumen zu vergrößern. Analyse der Verkehrssicherheit von Notwasserwegen Bei der Identifikation der Standorte und der baulichen Gestaltung von Notwasserwegen ist die Verkehrssicherungspflicht zu beachten [1, 7]. Dafür ist in einem ersten Schritt die Verkehrssicherheit des Straßenabschnittes in seiner bisherigen Gestaltung und Nutzung im Normalfall sowie bei Auftreten eines Starkregenereignisses zu analysieren. Im zweiten Schritt werden Varianten für die bauliche Gestaltung und das Management des Straßenabschnittes für eine gezielte temporäre Rückhaltung und Notableitung von Niederschlagswasser bei Starkregenereignissen entworfen und im Hinblick auf die Verkehrssicherheit im Normalfall und bei Auftreten eines Starkregenereignisses bewertet. Notwasserwege kommen in Frage, wenn sich die Verkehrssicherheit durch die ergriffenen Maßnahmen im Normalbetrieb sowie bei Starkregenereignissen verbessert. Durch eine Analyse von Unfällen bei Starkregenereignissen in den Städten Bretten, Karlsruhe, Solingen und Hamburg [8, 9] sowie videobasierten Verkehrskonfliktanalysen [19, 11, 12] wurden Rahmenbedingungen für die sichere Gestaltung von Notwasserwegen identifiziert. Wenn die fahrzeugtechnische Wattiefe von PKW, im Regelfall 30 cm [13], überschritten wird, werden sie durch das Eindringen von Wasser in den Motor fahruntüchtig. Die Verkehrskonfliktanalyse überschwemmter Fahrbahnen zeigt, dass es ab Wassertiefen von über 20 cm (zuzüglich des Wellenschlags der Fahrzeuge), zu einem deutlichen Anstieg solcher Alleinunfälle kommt [10]. Die Gefahr von Unfällen mit Personenschaden steigt ab Wassertiefen von über 40 cm und Strömung von 1,5 m/ s [14]. Bei diesen Bedingungen besteht die Gefahr, dass die Fahrzeuge in tieferes Wasser geschwemmt werden und die Insassen sich nicht mehr befreien können. So sind in Europa 27 % aller Ertrunkenen bei Hochwasser in ihrem Fahrzeug verunglückt; in den USA sind dies sogar 63 % [15, 16, 17]. Ein sicheres Befahren einer überfluteten Fahrbahn ist daher nur bei Wasserständen von 15 bis zu 20 cm möglich. Bei darüber hinaus gehenden Wasserständen sind die Fahrbahnen zu sperren. Es bietet sich eine Information der Verkehrsteilnehmenden an, ob der Wasserstand eine gefahrlose Befahrbarkeit ermöglicht. Die Analyse der gefahrenen Geschwindigkeit von überfluteten Straßenabschnitten zeigt, dass die meisten Verkehrsteilnehmenden maximal 30 km/ h fahren [10]. Die gefahrene Geschwindigkeit geht mit der Höhe der Wasserstände zurück. Die Verkehrsteilnehmer kompensieren damit die widrigen Fahrbahnbedingungen durch eine für die Situation angemessene Senkung der Geschwindigkeit [18]. Die gefahrene Geschwindigkeit beeinflusst den Anhalteweg und die eventuelle Kollisionsgeschwindigkeit und ist damit zentral für die Verkehrssicherheit. Zudem kann es abhängig vom Wasserstand und Reifenprofil ab Fahrgeschwindigkeit von über 60 km/ h zu Aquaplaning [19] kommen. Um diese Gefahren auszuschließen, ist von der temporären Rückhaltung und Notableitung von Niederschlägen in Straßen mit einer zulässigen Höchstgeschwindigkeit von über 50 km/ h abzusehen. Damit die Fahrzeugführenden auf die überflutete Fahrbahn reagieren können, ist ausreichend Sicht zum Halten und Platz für eventuelle Rangiermanöver erforderlich [10, 11]. Enge Unterführungen, welche häufig einen lokalen Tiefpunkt darstellen 22 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt und damit besonders überflutungsgefährdet sind, eignen sich daher häufig nicht als Notwasserwege. Der Straßenabschnitt sollte zudem keine Hindernisse aufweisen, welche bei einem Einstau von Wasser auf der Fahrbahn überdeckt werden und für die Verkehrsteilnehmenden nicht sichtbar sind. Bei der baulichen Gestaltung von Notwasserwegen sind die Anforderungen an die Barrierefreiheit für zu Fuß Gehende zu berücksichtigen [11]. Konflikte können sich ergeben, wenn zur Erhöhung des Rückhaltevolumens hohe Borde eingesetzt werden. An Querungsstellen sind dann erhöhte Schwellen auf der Fahrbahn oder abgesenkte Borde vorzusehen. Zum Schutz von mobilitätseingeschränkten Personen und Kindern sind zudem Fließgeschwindigkeiten des Niederschlagswassers von über 1,5 m/ s zu vermeiden, da diese mit einer erhöhten Sturzgefahr einhergehen [14]. Eine Reduktion der Fließgeschwindigkeit kann beispielsweise durch Schwellen auf der Fahrbahn erfolgen. Die Gestaltung und Umsetzung von Notwasserwegen Unter Berücksichtigung der Hinweise zur Verkehrssicherheit können Konzepte zur Gestaltung von Notwasserwegen entwickelt werden. Dafür reichen meist einfache bautechnische Anpassungen des Straßenprofils aus. Hochborde, großzügig dimensionierte Rinnensysteme oder Schwellen eignen sich, um das oberflächige Niederschlagswasser zu lenken und von schutzwürdigen Nutzungen fernzuhalten. Der Fließquerschnitt und das Rückhaltevolumen eines Notwasserweges wird durch die Höhe der niedrigsten Gehweghinterkante definiert. Das Rückhaltevolumen des Straßenraums kann durch den Einsatz von Mittelrinnen (V-Profil der Fahrbahn) und die Erhöhung der Querneigung vergrößert werden. In Hanglagen kann der Straßenquerschnitt zudem zur Bergseite verkippt werden, um talseitige Bebauung zu schützen. Zudem bieten sich bei Straßenräumen mit Gefälle Fahrbahnschwellen an, um das Niederschlagswasser in mehreren Kaskaden zurückzuhalten. Mulden oder Senken in der Straßengradiente sind hingegen zu vermeiden. Die privaten oder öffentlichen Flächen für den ruhenden Verkehr innerhalb und außerhalb des Straßenraums können ebenfalls gezielt zur Rückhaltung genutzt werden. Zudem ist ein Notüberlauf auf Flächen vorzusehen, wo das Niederschlagswasser keine Schäden verursacht. Monitoring von Notwasserwegen Das neue Konzept Notwasserwege sollte durch ein Monitoring des Verkehrsgeschehens, der Verkehrssicherheit sowie der Überflutungsschäden begleitet werden. Herausforderung ist, dass sowohl Starkniederschlagsereignisse, die eine Rückhaltung und Notableitung auf Verkehrsflächen erfordern, als auch Verkehrsunfälle seltene Ereignisse sind. Ein systematisches Monitoring von einzelnen Standorten mit lokaler Sensorik bietet sich aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit, dass jahrelang keine relevanten Daten erhoben werden können, nicht an. Wenn es zu Überflutungen von Verkehrsflächen kommt, ist es jedoch sehr wahrscheinlich, dass Verkehrsteilnehmende davon Meldungen, Fotos oder Videoaufnahmen machen und diese über verschiedene Soziale Medien teilen. Damit gibt es neben offiziellen Berichten von Einsatzkräften Informationen über solche Überflutungen, die systematisch ausgewertet werden sollten. Zunächst sind die Starkregenereignisse zu identifizieren, bei denen es in den Notwasserwegen zu Überflutungen kam. Für diese Ereignisse ist dann zielgerichtet mehr Material zu recherchieren, um ein möglichst vollständiges Bild zu erstellen. Die für den Verkehrsablauf relevanten Parameter der Überflutungen (Wasserstandshöhe, Dauer, Fließgeschwindigkeit) sind zu ermitteln. Dabei kann die Ermittlung des Wasserstandes durch Referenzgrößen (Bordsteine, Fahrzeugreifen, etc.) und die Fließgeschwindigkeit durch Treibgut auf der Wasseroberfläche erfolgen. Als sicherheitsrelevante Faktoren sind die Geschwindigkeit und das Verhalten der Verkehrsteilnehmenden zu betrachten. So ist zu analysieren, ob die Fahrgeschwindigkeit entsprechend den widrigen Fahrbahnbedingungen angemessen angepasst wurde. Zudem ist mit Hilfe der Verkehrskonflikttechnik zu analysieren, ob es zu Verkehrskonflikten durch die Überflutung kam. Solche Beinahunfälle sind deutlich häufiger zu beobachten als realisierte Unfälle und ermöglichen auch Bild 1: Prinzipskizze Gestaltungselement von Notwasserwegen. © Eckart, Fesser 23 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt bei kurzen Beobachtungszeiten eine Beurteilung der Verkehrssicherheit. Zudem sind die Auswirkungen auf die Funktionsweise der Infrastruktur (Umwege, Komfortbeeinträchtigungen) für verschiedene Verkehrsteilnehmenden zu betrachten. Abschließend sind die Schadenskosten durch Überflutungen an schutzwürdigen Nutzungen sowie eventuell vermiedene Schadenskosten einzubeziehen. Ausblick Die nach dem bisherigen Erkenntnistand geringen Beeinträchtigungen der Verkehrssicherheit durch Notwasserwege sind den Vorteilen für den gesamtstädtischen Überflutungsschutz gegenüber zu stellen. Im Rahmen von Kosten-Nutzen-Betrachtungen ist zu prüfen, ob durch die temporäre Überflutung des Straßenraums weniger Schäden als bei dem unkontrollierten oberirdischen Abfluss von Starkregen entstehen. Weiterhin ist zu berücksichtigen, ob die Kosten für Notwasserwege geringer sind als die Kosten für die Anpassung der Entwässerungsinfrastruktur. Diese Fragen sind im Rahmen von weiteren Pilotvorhaben zu prüfen. Die oben genannten Rahmenbedingungen können helfen, solche Pilotvorhaben zu planen und umzusetzen. LITERATUR [1] Benden, J.: Möglichkeiten und Grenzen einer Mitbenutzung von Verkehrsflächen zum Überflutungsschutz bei Starkregenereignissen. Bericht 57, Bericht des Instituts für Stadtbauwesen und Stadtverkehr der RWTH Aachen, 2014. [2] Valée, D., Benden, J.: Städtebauliche Anpassung an Starkregenereignisse durch multifunktionale Flächennutzung - Beispiele aus den Niederlanden. Schriftenreihe Gewässerschutz - Wasser - Abwasser der RWTH Aachen, Band 220, (2010) S. 6 - 1 bis 6 - 15. ISSN 0342- 6068. [3] Günthert, W., Faltermaier, S.: Studie Niederschlagswasser. Anpassung der quantitativen Niederschlagswasserbeseitigung an den Klimawandel. Urbane Sturzfluten: Hintergründe - Risiken - Vorsorgemaßnahmen, 2016. [4] BBSR: Überflutungs- und Hitzevorsorge durch die Stadtentwicklung. Strategien und Maßnahmen zum Regenwassermanagement gegen urbane Sturzfluten und überhitzte Städte. Ergebnisbericht der fallstudiengestützten Expertise „Klimaanpassungsstrategien zur Überflutungsvorsorge verschiedener Siedlungstypen als kommunale Gemeinschaftsaufgabe“. Bonn, 2015. [5] Klimakvarter: Københavns første klimakvarter: Vision, baggrund og projekter, 2013. [6] BlueGreenStreets (Hrsg.): BlueGreenStreets als multicodierte Strategie zur Klimafolgenanpassung - Wissensstand 2020. Statusbericht im Rahmen der BMBF-Fördermaßnahme „Ressourceneffiziente Stadtquartiere für die Zukunft“ (RES: Z), 2020 [7] König, P.: Verkehrssicherungspflicht. In: Hentschel, P., König, P., Dauer, P.: Straßenverkehrsrecht, München, (2011) S. 925 - 945. [8] Dormann M., Fuchs L., Rasic I., Zehnle N.: Auswertung Unfalldaten im Hinblick auf Starkregenereignisse, Seminararbeit Hochschule Karlsruhe SoSe, 2017. [9] Schwägerl K.: Die Auswirkungen von Starkregenereignissen auf das Fahrverhalten im innerstädtischen Bereich, Masterarbeit Hochschule Karlsruhe, 2021. [10] Mettmann K., Müller M., Wieschhörster J., Lorenz J.: Starkregensensible Straßenräume, Seminararbeit Hochschule Karlsruhe WiSe 2016/ 17 [11] Fesser, J.: Untersuchung der temporären Rückhaltung von Niederschlagswasser bei Starkregenereignissen im Straßenraum aus Sicht der Verkehrssicherheit, Masterarbeit, Hochschule Karlsruhe - Technik und Wirtschaft, 2019. [12] Hölsch, C.: Verhalten von Autofahrern bei überfluteten Straßen nach Starkregenereignissen, Bachelorarbeit an der Hochschule Karlsruhe - Technik und Wirtschaft, 2018. [13] Kramer M., Terheiden K., Wieprecht S.: Safety criteria for the traffic ability of inundated roads in urban floodings, International Journal of Disaster Risk Reduction, 2015. [14] Shu C., Xia J., Falconer, R., Lin, B.: Incipient velocity for partially submerged vehicles in floodwaters, Journal of Hydraulic Research, 49: 6, 2011. [15] Jonkman, S. N., Kelman, I.: An analysis of the causes and circumstances of flood disaster deaths. Disasters, 29(1), (2005) S. 75- 97. [16] Kellar, D. M. M., Schmidlin, T. W.: Vehicle-related flood deaths in the United States, 1995 - 2005; Flood Risk Management 5 (2012) S. 153 - 163. [17] Yale, J. D., Cole, T. B., Garrison, H. G., Runyan, C. W., Riad- Ruback J. K.: Motor Vehicle - Related Drowning Deaths Associated with Inland Flooding After Hurricane Floyd: A Field Investigation, Traffic Injury Prevention, 4: 4, (2003) S. 279 - 284. [18] Kyte, M., Khatib, Z., Shannon, P., Kitchener, F: Effect of Environmental Factors on Free-Flow Speed, 2000. [19] Reed, J. R., Kibler, D. F., Huebner, R. S., Marks, G. W.: Hydrop user ‘s manual: program for predicting hydroplaning potential on road surfaces due to rainfall runoff depths, 1984. Prof. Dr. Jochen Eckart Hochschule Karlsruhe Institut für Verkehr und Infrastruktur Kontakt: jochen.eckart@h-ka.de Jonas Fesser Hochschule Karlsruhe Institut für Verkehr und Infrastruktur Kontakt: jonas.fessert@h-ka.de AUTOREN 24 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Klimaoptimierte Neubauquartiere Ein Münchner Beispiel für innovative Planung mit „Grüner Infrastruktur“ Klimaanpassung, Quartiersentwicklung, Grüne Infrastruktur, Planungsprozesse, Klimaschutz, Lebenszyklusanalyse Christina Meier-Dotzler, Teresa Zölch, Sabrina Erlwein, Hannes Harter, Farzan Banihashemi, Simone Linke, Andreas Putz, Stephan Pauleit, Werner Lang Klimawandel und Bevölkerungszunahmen stellen wachsende Städte vor Herausforderungen. Grüne Infrastruktur ermöglicht sowohl Klimaschutz als auch -anpassung in der Quartiersentwicklung. Am Beispiel eines Münchner Neubauquartiers untersuchte das Projekt „Grüne Stadt der Zukunft“ planerische Umsetzungsmöglichkeiten. Klimamodellierungen, Gebäudesimulationen und Lebenzyklusanalysen für Energie- und Ressourceneffizienz zeigen hierfür Wege zur klimaoptimierten Quartiersentwicklung auf. Bild 1: Zukunftsbild. © IÖW, V. Haese Bild 2: Visualisierung städtebaulicher Vorstudien (G. Rebouskos, LHM) der Neubebauung an der Heltauer Straße, München (links: Blockbebauung; rechts: Zeilenbebauung). © LHM; TUM Einführung Klimawandel als Planungsherausforderung Der Einfluss des Menschen auf den Klimawandel und den CO 2 -Ausstoß verschiedener Sektoren ist klar belegt [1]. Allein der Bausektor ist für 38 % der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich-[2]. Durch den Klimawandel werden die Hitzetage mit durchschnittlich mehr als 30 °C sowie die Starkregenereignisse in Deutschland weiter zunehmen. Vor allem wachsende Städte stehen vor großen Planungsherausforderungen: Wohnraumschaffung bei gleichzeitig reduziertem Flächenverbrauch und 25 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Schaffung klimaresilienter Grünflächen für die Klimaanpassung. Parallel müssen die CO 2 -Emissionen und Ressourcenverbräuche der Gebäude für den Klimaschutz verringert werden. Diese Herausforderungen greift das Forschungsvorhaben „Grüne Stadt der Zukunft - klimaresiliente Quartiere in einer wachsenden Stadt“ auf. Vorstellung Quartier Heltauer Straße Die größtenteils unbebaute, landwirtschaftlich und gewerblich genutzte Fläche an der Heltauer Straße in München ist eines der im Projekt untersuchten Reallabore für eine zukünftige Wohnbebauung. Das Gebiet liegt in einer übergeordneten Grünverbindung und wird von umliegender Wohnbebauung eingerahmt. Direkt im Süden schließt eine Bahntrasse an. Auf Grund einer sehr guten ÖPNV-Anbindung wird eine hohe bauliche Dichte im Planungsgebiet angestrebt. Auf Basis einer städtebaulichen Machbarkeitsstudie der Landeshauptstadt München (LHM) wurden folgende Kriterien des Klimaschutzes und der Klimaanpassung betrachtet:  Sicherung der nächtlichen Durchlüftung  Vermeidung lokaler Hitze-Hotspots  Nutzung lebenszyklusbasierter Energie- und Emissionseinsparpotenziale Bild 2 zeigt zwei 3D-Visualisierungen erster Vorstudien. Der erste Entwurf (links) ähnelt einer Blockbebauung, im zweiten Entwurf (rechts) sollen die geöffneten Zeilenstrukturen einen besseren Luftaustausch gewährleisten. Bild 3: Methodische Ansätze und ihre Verknüpfung auf verschiedenen Betrachtungsebenen. © TUM Methodisches Vorgehen Im Projekt fand ein regelmäßiger Austausch mit dem zuständigen Projektleiter des Neubaugebietes der LHM sowie den Grünplaner*innen statt. Das Referat für Klima- und Umweltschutz der LHM war als Projektpartner beteiligt und nahm auch eine Mittlerrolle zu den städtischen Stellen ein. Der Austausch war maßgebend für die Festlegung der Szenarien und der betrachteten Parameter, die Modellierungsergebnisse dienten wiederum als Informationsgrundlagen für die Planer*innen. Auf Quartiersebene erfolgten eine Analyse der Durchlüftungssituation des Ausgangszustands sowie die beiden Vorstudien. Betrachtet wurden verschiedene Windanströmrichtungen und die Auswirkungen der neuen Lärmschutzwand. Für einen kleineren Gebietsausschnitt wurden der thermische Komfort exemplarisch simuliert und die Kühlwirkung der geplanten grünen Infrastruktur analysiert. Auf Gebäudeebene fanden Untersuchungen zur thermischen Gebäudesimulation sowie eine ökologische und energetische Lebenszyklusanalyse statt (Bild 3). Klimatische Veränderungen auf Quartiers- und Blockebene Nächtliche Durchlüftung Während autochthoner Wetterlagen im Sommer ist in diesem Gebiet die Kaltluftzufuhr aus Süden relevant für die nächtliche Abkühlung. Die Neubebauung reduziert den nächtlichen Luftaustausch von Süden über das Plangebiet in die nördlich angrenzende Wohnbebauung. Die Auswirkungen für Teilbereiche der Bestandsbebauung sind so hoch, dass erhebliche Reduktionen von über 10 % des Kaltluftvolumenstroms um 4 Uhr nachts erreicht werden [3]. 26 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Dies kann zum Teil auch auf die durch die Lage an der Bahntrasse notwendigen Lärmschutzmaßnahmen, die das Planungsgebiet nach Süden hin abschirmen, zurückgeführt werden. Gleichzeitig wird in beiden Planungsvarianten die Bebauungsdichte durch die Neubebauung stark erhöht, so dass die Gebäude Strömungshindernisse, gerade im bodennahen Bereich, darstellen. Die mittlere Lufttemperatur steigt nachts um 1,2 bis 1,4 °C. Die Bebauung einer Freifläche beschränkt also den nächtlichen Luftaustausch. Die Berücksichtigung der übergeordneten Durchlüftungssituation bei der Entwurfsplanung sowie eine strategisch platzierte Grünausstattung außerhalb der wichtigsten Luftaustauschbahnen können aber helfen, die negativen stadtklimatischen Veränderungen zu verringern. Für den klimaoptimierten Entwurf wird statt geschlossener Bauweisen oder Gebäuderiegeln in Durchlüftungsrichtung eine offene Zeilenbebauung empfohlen (Bild 4). Mikroklimatische Untersuchungen Die mikroklimatischen Untersuchungen wurden mit dem Simulationstool ENVI-met durchgeführt. Als Maß für den menschlichen thermischen Komfort im Außenraum diente die Physiologische Äquivalenztemperatur (PET; Einheit °C), die das menschliche Wärmeempfinden abbildet. Werte über 40 °C entsprechen einem heißen Wärmeempfinden [4]. Als Windanströmrichtung wurde neben der Süd- und Ostanströmung zusätzlich eine Südostanströmung angenommen, die sich aus der übergeordneten Durchlüftungssimulation ergeben hatte. Das Teilgebiet umfasst einen Bereich der neuen Bebauung inklusive des Lärmschutzwalls sowie der angrenzenden Bestandsbebauung. Die Ergebnisse um 14 Uhr zeigen einen deutlichen Unterschied zwischen den kühlen Baumstandorten (Bild 5) und den offenen, nicht verschatteten Flächen: Die vorgesehenen Baumpflanzungen reduzieren das Hitzeempfinden spürbar um bis zu 10° C PET. Die Baumalleen verschatten Straßen und Wege, während die Baumgruppen auf den offenen Flächen zur Hitzereduzierung der Innenhöfe beitragen. Kühlere Bereiche befinden sich zudem im Schatten der Gebäude. Für das Teilgebiet zeigen sich nur geringe Unterschiede zwischen der Vorstudie mit Blockbebauung und der klimaoptimierten Bebauung. Um 14 Uhr stuft das Modell den Verschattungseffekt der querliegenden Gebäudeteile höher ein als ihre Reduzierung der Windgeschwindigkeit. Zu anderen Tageszeiten und bei anderen Sonnenständen trifft dies nicht zu. Wichtig ist daher, den Tagesverlauf sowie die Nachsituation zu berücksichtigen. Die Auswertung für 4 Uhr nachts zeigt, dass unabhängig von der Planungsvariante ein Wärmerückhalt unter den Baumkronen stattfindet. Für die nächtliche Abkühlung sind daher offene Freiflächen wichtig. Bild 4: Vergleich der Ist-Situation des nächtlichen Kaltluftvolumenstroms mit den beiden Planungsvarianten bei Südanströmung mit dem FITNAH Modell. © LHM mit Geo-net 27 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Energetische und ökologische Lebenszyklusanalyse auf Gebäudeebene Zur Identifizierung der lebenszyklusbasierten Ressourcenverbräuche und den daraus resultierenden Umweltwirkungen der Bebauung wurde eine energetische und ökologische Lebenszyklusanalyse (LCA) für die Baukonstruktion, die Technische Gebäudeausrüstung (TGA) und den betrieblichen Energieeinsatz durchgeführt. Die maßgebenden Indikatoren zur Bewertung der ökologischen Qualität waren das Treibhausgaspotenzial (GWP; Einheit: kg CO 2 -Äquivalente) sowie der Aufwand nicht-erneuerbarer Primärenergie (PENRT; Einheit: kWh) und der Gesamtaufwand an (erneuerbarer und nicht erneuerbarer) Primärenergie (PET; Einheit: kWh). Mit Hilfe eines eigens entwickelten Tools wurde die vorhandene 3D-Visualisierung in ein semantisches 3D-Stadtmodell (CityGML-Standard) umgewandelt und mit weiteren Informationen, wie dem Energiestandard (Passivhaus) und unterschiedlichen Klimabedingungen angereichert [5]. Die betrieblichen Energiebedarfe für das Heizen und das Kühlen jedes einzelnen Gebäudes im Jahr 2020 und im Jahr 2070 wurden mittels der Software umi berechnet [6]. Zur Einbeziehung von Wärmeinsel- und Vegetationseffekten in die Klimadaten wurde die Software UWG verwendet [7]. Auch der Verschattungseinfluss und die Evapotranspirationsleistung der benachbarten Bäume flossen in die Berechnungen ein. Die Untersuchung zeigte, dass durch die Kühlleistung der Großbäume und weiterer passiver Gebäudemaßnahmen, wie automatisierte Fensterlüftungen, die Kühlenergie signifikant gesenkt und der thermische Innenraumkomfort gesteigert werden können. Auf Basis der Energiebedarfsberechnung wurden das GWP, PENRT und PET des betrieblichen Energieeinsatzes berechnet und die TGA mit dem Ziel eines möglichst effizienten und erneuerbaren Betriebs dimensioniert. Es wurde ein Fernwärmeanschluss mit einer Sole-Wasser-Wärmepumpe verglichen. Kombiniert wurden diese Varianten jeweils mit einer Solarthermieanlage zur Trinkwarmwasserbereitung und einer Fußbodenheizung als Wärmeübergabesystem. Die LCA des betrieblichen Energieeinsatzes und der TGA wurde mit der LCA ausgewählter Bauweisen (Holz- und Massivbauweise) verglichen und es wurde daraus ein Quartiersdurchschnitt errechnet. Wird die Holzbauweise (geringste Umweltwirkungen) gewählt, ergeben sich die in Bild 6 dargestellten Werte je m² Wohnfläche und Jahr in Abhängigkeit der Energieversorgungsvarianten und des gewählten Klimaszenarios für 2070. Trotz Wahl einer ökologischen Holzbauweise nimmt die Baukonstruktion signifikanten Einfluss auf die Umweltwirkungen. Aber auch allein durch die Wahl der Energieversorgung und weiterer TGA- Komponenten können die lebenszyklusbasierten Umweltwirkungen deutlich beeinflusst werden. Es zeigte sich, dass eine LCA auf Basis semantischer 3D-Stadtmodelle eine schnelle und effiziente Berechnung großer Gebäudebestände sowie einen Bild 5: Ergebnisse und Unterschiede der Mikroklimasimulationen zur gefühlten Temperatur für die verschiedenen Planungsvarianten für den ENVI-met Teilausschnitt. © TUM 28 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt anschaulichen Vergleich verschiedener Szenarien und derer Umweltwirkungen ermöglicht. Hieraus resultieren Ergebnisse, die nicht nur auf stadtplanerischer, sondern auch auf politischer Ebene von hohem Interesse sind. Daraus können Konzepte zur Erreichung eines klimaneutralen Gebäudebestandes erarbeitet werden, die in Hinblick auf die Herausforderungen des Klimawandels von höchster gesellschaftspolitischer Relevanz sind. Integration in die Planungspraxis Entscheidend für die Umsetzung der Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt in die Praxis ist, die Integrationsmöglichkeiten („Fenster“) für verschiedene Planungsinstrumente zu identifizieren. Neben den städtebaulich-landschaftsplanerischen Vorstudien, wie sie im Reallabor Heltauer Straße Anwendung finden, wurden unter anderem die Prozessphasen verschiedener informeller Planungsinstrumente, der Bauleitplanung und städtebaulicher Sanierungsmaßnahmen untersucht. Durch die aktive Begleitung der Reallabore und die Erkenntnisse aus Expert*inneninterviews wurde deutlich, dass frühe Planungsphasen mit Grundlagenermittlung, Bestandsanalyse und der gutachterlichen Prüfung möglicher Bebauungsszenarien einen besonderen Stellenwert bei der Implementierung von Klimaanpassungsmaßnahmen einnehmen. Entscheidend ist die Einflussnahme noch bevor Art und Maß der baulichen Nutzung festgelegt werden, da diese mit Dichte, Versiegelungsgrad und Gebäudestellung wesentlich auf das Stadtklima einwirken. Im Idealfall finden zu Beginn einer jeden Planung interdisziplinäre Startgespräche mit verschiedenen Fachstellen (unter anderem Umweltamt, Stadtentwässerung und Grünflächenunterhalt) und Planungsbeteiligten (zum Beispiel: Investor*innen, Quartiersmanagement) statt, die beispielsweise die Ergebnisse aus mikroklimatischen Untersuchungen und Ökobilanzierungen diskutieren und abwägen. Neben der frühzeitigen Berücksichtigung ist auch eine ganzheitliche und konsistente Betrachtung nötig. Ganzheitlich bezieht sich auf das klimaorientierte Bewusstsein und die Expertise aller Akteur*innen im Planungsverlauf (zum Beispiel im Preisgericht bei Wettbewerben) und auf alle Planungsebenen (von übergeordneten Leitlinien über die Flächennutzungsplanung bis hin zur Objektplanung). Eine konsistente Betrachtung bedeutet, dass Klimaorientierung nicht nur zu Beginn, sondern in allen weiteren Planungsphasen mitgedacht wird. Die Klimaorientierung endet auch nicht mit der Fertigstellung der Bebauung: Starkregenereignisse, Grünflächenunterhalt oder auch Energieeffizienzsteigerungen sind in der Zukunft anfallende Arbeiten und Veränderungen, die bereits im Prozess Berücksichtigung finden müssen. Schlussfolgerungen Die Verknüpfung der vorgestellten Methoden ermöglicht, Synergieeffekte zu erkennen und zu nutzen. Wie gezeigt, kann sich etwa der Einsatz grüner Infrastruktur positiv auf den Energiebedarf und den damit verbundenen Emissionsausstoß von Gebäuden auswirken. Mehr Verschattung durch grüne Infrastruktur im Sommer führt zu weniger Überhitzung im Innenraum von Gebäuden. Der Verzicht auf Tiefgaragen ermöglicht wiederum das gesunde Wachstum von Großbäumen mit tiefgreifendem Wurzelwerk. Gleichzeitig reduziert man erheblich den Ressourceneinsatz beim Bau der Gebäude. Durch diese Betrachtung der Synergien ergibt sich eine Argumentations- und Planungsgrundlage für stadtplanerische und politische Entscheidungsprozesse, die bislang in dieser Form nicht eingesetzt werden, aber zukünftig eingesetzt werden müssen. Aus der Anwendung der Methoden auf das Fallbeispiel der Heltauer Straße lassen sich folgende grundsätzliche Aussagen als Handlungsempfehlungen festhalten:  Insbesondere Großbäume leisten durch ihre Verschattungs- und Verdunstungsleistung einen wesentlichen Beitrag, sofern sie nicht in großen Riegeln eine Barriere für den Luftaustausch bilden.  Die Durchlüftung auf Quartiersebene spielt für die nächtliche Abkühlung eine wichtige Rolle.  Mobilitätskonzepte und Anpassungen des Stellplatzschlüssels sind ein wesentlicher Ansatzpunkt, um den Grünanteil zu erhöhen und vitale grüne Infrastruktur umzusetzen. 100% 80% 60% 40% 20% 0% 14,7 18,4 29,6 35,9 43,2 54,0 Fernwärme Wärmepumpe Fernwärme Wärmepumpe Fernwärme Wärmepumpe GWP in kg CO 2 -Äq. PENRT in kWh PET in kWh Anteil TGA je Ausführung (ohne Gutschriften) Minimaler Anteil BauKo in Holzbauweise (ohne Gutschriften) Operativer Anteil (Heizen+Kühlen mit Klimaszenario 2070) Bild 6: Ergebnisse Ökobilanzierung Quartier Heltauer Straße: Verteilung des GWP, PENRT und PET (gesamt je m² Wohnfläche und prozentual) je Komponente. © TUM 29 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt  Die Verwendung von nachwachsenden Rohstoffen leistet einen positiven Beitrag zur Emissionsvermeidung und -reduktion.  Der Einsatz von erneuerbaren Energien trägt zur Steigerung der energieeffizienten Nutzung von Gebäuden bei und sorgt durch die Verwendung von Umweltenergien für eine Emissionsvermeidung und -reduktion.  Klimaschutz und Klimaanpassung müssen frühzeitig, ganzheitlich und konsistent in die Planungsprozesse integriert werden. Das Projekt „Grüne Stadt der Zukunft - klimaresiliente Quartiere in einer wachsenden Stadt“ wurde von 2018 bis 2021 vom BMBF gefördert, weitere Infos und alle Publikationen des Projekts unter: https: / / www3.ls.tum.de/ lapl/ forschung/ gruene-stadt-derzukunft/ LITERATUR [1] IPCC (Hrsg.): Masson-Delmotte, V., Zhai, P., Pirani, A., Connors, S.L., Péan, C., Berger, S., Caud, N., Chen, Y., Goldfarb, L., Gomis, M.I., Huang, M., Leitzell, K., Lonnoy, E., Matthews, J.B.R., Maycock, T.K., Waterfield, T. Yelekçi, O., Yu, R., Zhou, B. (eds.): Summary for Policymakers. In: Climate Change 2021: The Physical Science Basis. Contribution of Working Group I to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge University Press. In Press, 2021. [2] UNEP (Hrsg.).: 2020 Global Status Report for Buildings and Construction: Towards a zero-emission, efficient and resilient buildings and construction sector, Executive Summary, 2020. https: / / globalabc. org / sites/ default / f iles/ inline -f iles/ Building s%20 GSR_Executive_Summary%20FINAL_0.pdf [3] Verein deutscher Ingenieure: Umweltmeteorologie: Lokale Kaltluft, Richtlinie 3787, Blatt 5. (2008). https: / / www.vdi.de/ richtlinien/ details/ vdi-3787-blatt-5-umweltmeteorologie-lokale-kaltluft-1. [4] Holst, J., Mayer, H.: Urban human-biometeorology: Investigations in Freiburg (Germany) on human thermal comfort. In Urban Climate News (38), (2010) pp. 5 - 10. Available online at https: / / www. researchgate.net/ profile/ Helmut _ Mayer/ publication/ 261135196_Urban_humanbiometeorology_. [5] Banihashemi, F., Gadi, H.K., Harter, H., Lang, W.: Gh-urban: A Grasshopper tool for employing CityGML data in dynamical building simulations and the utilization of Energy Application Domain Extension. Proceedings from Building Simulation Conference (IBPSA 2021). Bruges (BE), 1 - 3 September 2021. [6] Reinhart, C., Dogan, T., Jakubiec, J., Rakha, T., Sang, A.: UMI - An urban simulation environment for building energy use, daylighting and walkability. Proceedings from BSO2013: Building Simulation and Optimization Conference. Chambéry (FR), 26 - 28 August 2013. [7] Nakano, A., Bueno, B., Norford, L. K., Reinhart, C.: Urban Weather Generator - A Novel Workflow for integrating urban heat island effect within urban design process. Proceedings from Building Simulation Conference (IBPSA 2015). Hyderabad (IND). 7 - 9 December 2015. Christina Meier-Dotzler, M.Eng. Lehrstuhl für energieeffizientes und nachhaltiges Planen und Bauen Technische Universität München Kontakt: christina.dotzler@tum.de Dr. Teresa Zölch Referat für für Klima- und Umweltschutz Landeshauptstadt München Kontakt: teresa.zoelch@muenchen.de Sabrina Erlwein, M.Sc. Lehrstuhl für Strategie und Management der Landschaftsentwicklung Technische Universität München Kontakt: sabrina.erlwein@tum.de Hannes Harter, M.Sc. Lehrstuhl für energieeffizientes und nachhaltiges Planen und Bauen Technische Universität München Kontakt: hannes.harter@tum.de Farzan Banihashemi, M.Sc. Lehrstuhl für energieeffizientes und nachhaltiges Planen und Bauen Technische Universität München Kontakt: farzan.banihashemi@tum.de Dr. Simone Linke Lehrstuhl für energieeffizientes und nachhaltiges Planen und Bauen Technische Universität München Kontakt: s.linke@tum.de Andreas Putz, M.Sc. Referat für Stadtplanung und Bauordnung Landeshauptstadt München Kontakt: andreas.putz@muenchen.de Prof. Dr. Stephan Pauleit Lehrstuhl für Strategie und Management der Landschaftsentwicklung Technische Universität München Kontakt: pauleit@tum.de Prof. Dr.-Ing. Werner Lang Lehrstuhl für energieeffizientes und nachhaltiges Planen und Bauen Technische Universität München Kontakt: w.lang@tum.de AUTOR*INNEN 30 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Die Straßenräume der Stadtquartiere sind Bestandteil des urbanen Alltags. Neben den öffentlichen und privaten Grün- und Freiflächen sind vor allem Straßen bestimmender Teil der täglichen städtischen Lebenswelt. Dem fließenden, aber vor allem dem ruhenden Verkehr wurde und wird hier, politisch wie planerisch, eine hohe Bedeutung und entsprechend viel Fläche eingeräumt. Dabei ist in den letzten Jahren, gerade mit Blick auf die Herausforderungen des Klimawandels, der Mobilitätswende und der Corona-Pandemie, ein Perspektivenwechsel zu beobachten. Straßen in innerstädtischen Quartieren werden im Rahmen von Forschungs- und Planungsverfahren als graue, blaue, grüne „Multitalente“ aufgefasst: Sie sollen gleichzeitig Verkehrsfläche, Bewegungsraum, Wasserspeicher, sozialer Treffpunkt, kühler Aufenthaltsort, wohnungsnahes „Outdoor-Wohnzimmer“ und vieles mehr sein. Hierdurch wird die Dominanz einer Hauptnutzung aufgegeben und durch eine Verdichtung und Gleichzeitigkeit verschiedener Nutzungs- und Raumansprüche ersetzt. Einen wesentlichen Bestandteil dieser veränderten Sichtweise beschreibt der Begriff der „Multicodierung“ [1] sehr gut. Dieser definiert die Überlagerung unterschiedlicher Raumansprüche nicht als einfache Mehrfachnutzung ein und derselben Fläche für unterschiedliche Zwecke. Vielmehr fokussiert er auch auf die Akteur*innen mit ihren jeweiligen Bedarfen und Wünschen sowie den daraus resultierenden Aushandlungsprozessen. Es geht also einerseits um konkrete Räume und deren Akteur*innen sowie um die Verhandlung von widersprüchlichen Zielsetzungen, Ideen, Regeln und Visionen auf der Suche nach einer gemeinsam entwickelten Lösung. Im Forschungsprojekt „iResilience“, gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), werden diese Einzelaspekte durch Straßen im Wandel: Klimafitte Quartiere gemeinsam entwickeln Erfahrungsbericht zu neuen Kooperationsformaten im Rahmen des BMBF-Forschungsprojektes „iResilience“ Klimaresilienz, Klimaanpassung, Starkregenvorsorge, Multicodierung, kooperative Stadtentwicklung, Reallabor Christine Linnartz, Luc Knödler, Antje Stokman, Ingo Schwerdorf, Anne Roth, Rick Hölsgens Die Folgen des Klimawandels treffen urbane Straßenräume besonders stark. Gleichzeitig konkurrieren Nutzungs- und Raumansprüche. Transformationsprozesse, in denen Straßenräume zu grauen, blauen und grünen „Multitalenten“ werden, sind notwendig. Zentral ist, dass kein Akteur diese Prozesse alleine bewältigen kann. Hier setzt „iResilience” mit neuen Kooperationsformaten an. Anhand des Ko-Planungsprozesses einer „Lokalen Aktionsgruppe“ für einen klimaangepassten Straßenraum in Köln werden Zielsetzung, Ablauf, Akteure und die aus dem Prozess resultierenden Erkenntnisse vorgestellt. Bild 1: Ausschnitt Starkregengefahrenkarte der StEB Köln. © StEB Köln 31 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt den Begriff der Klimaresilienz inhaltlich verknüpft. Klimaresilienz bedeutet: die Steigerung der Widerstandsfähigkeit und Veränderungsfähigkeit gegenüber dem Klimawandel. Der Fokus liegt hierbei auf dem Aktivieren, Vernetzen und Voneinanderlernen der Akteur*innen. Um dieses zu erreichen, entwickelt und erprobt das Forschungsprojekt neue Kooperationsformate. Das Team der Stadtentwässerungsbetriebe Köln (StEB Köln), der Stadt Köln, der Stadt Dortmund und der Stadtentwässerung Dortmund sowie der Sozialforschungsstelle (sfs) und des Instituts für Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft (ie³) der TU Dortmund, des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu), des Forschungsinstituts für Wasser- und Abfallwirtschaft an der RWTH Aachen e. V. (FiW), der Dr. Pecher AG und der HafenCity Universität Hamburg (HCU) agiert im Rahmen von drei „Reallaboren“ in Köln-Deutz, der Dortmunder Nordstadt und in Dortmund-Jungferntal. Zur Initiierung und Begleitung aller neuen Kooperationsformate wurde eine personelle Schnittstelle zwischen Forschung und den Kolleg*innen aus Verwaltung und Stadtentwässerung sowie den Akteur*innen vor Ort etabliert. Diese Projektmitarbeiterin ist jeweils mit einer halben Stelle in die Strukturen der Stadt als auch die der Stadtentwässerungsbetriebe eingebunden. Die neuen Kooperationsformate werden in den Reallaboren auf unterschiedlichen Ebenen und in wechselnden Konstellationen erprobt. Die erste Ebene umfasst räumlich das gesamte Reallabor. In öffentlichen Plenen wird über das gesamte Themenspektrum (Starkregen, Hitze und urbanes Grün) gesprochen. Die Akteur*innen entwickeln gemeinsam einen Fahrplan (Roadmap) mit einer räumlichen Vision (Zukunftsbild) für eine klimaresiliente Zukunft ihres Quartiers. Auf der zweiten Ebene wird das Themenspektrum eingegrenzt. In „Thematischen Arbeitsgruppen“ wird gemeinsam mit allen vertieft an den Einzelthemen wie beispielsweise Starkregen gearbeitet. Hier steht der Abgleich von vorhandenem Wissen der einzelnen Akteur*innen im Vordergrund. Weiterhin sollen räumliche und thematische „Kristallisationspunkte“ (konkrete Räume und klimatische Herausforderungen) gefunden und interessierte Akteur*innen zusammengebracht werden. Auf der dritten Ebene, den „Lokalen Aktionsgruppen“ (LAG), setzen sich betroffene und zuständige Akteur*innen an einen Tisch und „ko-planen“ im direkten Gespräch Maßnahmen für einzelne Kristallisationspunkte. Dabei kann es sich um die Begrünung eines privaten Hinterhofs oder die wassersensible Umgestaltung einer Straße handeln. Auch Präventions- und Vernetzungsmaßnahmen zur Reduzierung von gesundheitlichen Risiken in Hitzeperioden sind denkbar. Im Fokus der LAG-Prozesse stehen damit sowohl räumliche Anpassungsmaßnahmen als auch wissensbasierte Verhaltensänderungen und soziale Innovationen. Am Beispiel der LAG „Kasemattenstraße für morgen“ wird der, durch das Forschungsteam begleitete Ko-Planungsprozess zur klimaresilienten Umgestaltung des Straßenraumes, näher beleuchtet. Im Fokus der folgenden Darstellung stehen einerseits die formulierten Forschungsthesen zum Ko-Planungsformat, der Ablauf der LAG sowie ein erster Abgleich der Thesen mit den Erfahrungen aus den realen LAG-Prozessen. Das Ko-Planungsformat LAG fußt im Projekt „iResilience“ auf folgenden Thesen:  These 1: In einer LAG werden betroffene und zuständige Akteur*innen zusammengebracht. Die LAG ist der zentrale Ort für die gemeinsame Diskussion, den Austausch von Wissen und die Verhandlung möglicher Lösungen für eine lokale Herausforderung.  These 2: Jede LAG hat einen Themenpaten/ eine Themenpatin. Er oder sie agiert als inhaltlicher Treiber des Ko-Planungsprozesses.  These 3: Die Akteur*innen der LAG kommen durch gemeinsam erarbeitetes Wissen (System-, Ziel- und Transformationswissen) [2] ins kooperative Handeln auf Augenhöhe.  These 4: Der LAG-Prozess ist in seinem Verlauf offen für neue Akteur*innen und Ideen. Ziel ist es nicht, die eine gute Lösung zu entwickeln, sondern immer wieder neues Wissen prozessbegleitend zu generieren und zu vernetzen.  These 5: Durch den kooperativen Arbeitsprozess der LAG wird ein Verlassen der angestammten Rolle der Akteur*innen angestoßen. Bild 2: Klimaanalyse im Rahmen von „iResilience“ mit simulierter Hitzebelastung. © GEO-NET Umweltconsulting 32 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Bei der Kasemattenstraße handelt es sich um eine Straße in Köln-Deutz. Typisch für den innerstädtischen Stadtteil ist seine sehr heterogene und dichte Bebauungsstruktur. Er weist einen hohen Versiegelungsgrad auf und ist sowohl von Starkregen (siehe Gefahrenkarte StEB Köln) als auch von Hitze (siehe kleinräumige Klimaanalyse „iResilience”) stark betroffen. Die Kasemattenstraße bildet hier keine Ausnahme. Themenpatin und initiale Treiberin des Prozesses war die StEB Köln. Sie hatte ein Interesse, gemeinsam mit betroffenen Akteur*innen, Ideen für eine klimaangepasste Straße zu entwickeln. Angesprochene Vertreter*innen der Fachämter der Stadt Köln zeigten Interesse, sich in die LAG „Kasemattenstraße für morgen“ einzubringen. Die Aktivierung der Zivilgesellschaft war eine Herausforderung für das Projektteam. Diese wurde mit Postern, Flyern, in persönlichen Gesprächen und Aktionen im Straßenraum über die lokalen Herausforderungen in ihrer Straße informiert und eingeladen, an der LAG teilzunehmen. Die LAG zur Kasemattenstraße basierte auf fünf Arbeitstreffen, die durch das Forschungsprojekt konzeptionell, inhaltlich und organisatorisch umfassend vor- und nachbereitet wurden. Der Arbeitsprozess wurde durch eine fachplanerische Beratung zu den Themen Starkregen und urbanes Grün unterstützt, indem die diskutierten Varianten räumlich, funktional visualisiert für jedes Treffen aufbereitet wurden. Start der LAG war im Sommer 2020 - während der Corona-Pandemie. Das erste Arbeitstreffen fand vor Ort mit einer Gruppe aus Anwohnenden, StEB und Vertreter*innen der Fachämter der Stadt Köln statt. Ein erster Schritt in der Zusammenarbeit war die gemeinsame Annäherung an den Ort, an die bestehenden Herausforderungen sowie das Sammeln von möglichen Ansatzpunkten. So entstanden Ideenskizzen, die das Forschungsteam im Nachgang der LAG zu Varianten thematisch gruppierte und dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausstellte. Die visualisierten Ideen wurden den Akteur*innen beim zweiten Arbeitstreffen vorgestellt. Auch hier traf man sich wieder am Ort des Geschehens. Die Analyse der ersten Vorschläge zeigte dem Projektteam, dass Fachwissen zur Starkregenvorsorge fehlt. Die Fachleute erklärten, dass sauberes Niederschlagswasser zwischengespeichert werden kann, verschmutztes jedoch nicht. Dieses Wissen wurde in die weiteren Überlegungen miteinbezogen, daraus wurden Rückschlüsse zu Stärken und Schwächen der bestehenden Varianten gezogen. Beim dritten Arbeitstreffen vereinbarten die teilnehmenden Akteur*innen, dass der Prozess nur eine einzige präferierte Lösung haben sollte, um diese dann möglicherweise in die politischen Gremien einzubringen. Deshalb wurden Fragen zur Umsetzbarkeit der Varianten (Integration in den Bestand) gesammelt. Das fehlende Wissen wurden von Mitarbeitenden der Stadt Köln bereitgestellt und vom Forschungsteam in die ausgewählten Varianten eingearbeitet. Der vierte Termin fand Corona-bedingt als Videokonferenz statt. Alle Entwürfe wurden detailliert besprochen und alle Teilnehmenden gebeten, ihre Einschätzung (Pro/ Contra) zu den Entwürfe zu nennen und sich für einen Favoriten zu entscheiden. Dadurch wurde eine klare Präferenz deutlich, die ins Quartier rückgekoppelt werden sollte. Eine Online- Umfrage hat die Präferenzen bisher Unbeteiligter abgefragt. Bild 3: Aktuelle Situation an der Kasemattenstraße. © HafenCity Universität Hamburg 33 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Im fünften und letzten LAG-Treffen wurde das Ergebnis der Umfrage sowie das weitere Vorgehen besprochen. Für eine Umsetzung der Vorzugsvariante wird ein politischer Beschluss benötigt. Hier äußerten insbesondere die Bürger*innen Interesse, mitzuwirken. Im Nachgang wurde für die ausgewählte Idee von einem Fachamt der Stadt Köln und der StEB Köln ein Förderantrag zu einem Bundesprogramm gestellt. Aktuell ist das Projekt „iResilience“ in der Endphase und die unterschiedlichen LAGs, die im Rahmen des Projektes initiiert wurden, werden evaluiert. Die nachfolgenden Erkenntnisse zu den Kernthesen sind damit vorläufiger Natur und beziehen sich auf die Beobachtungen im Rahmen der LAG „Kasemattenstraße für morgen“:  Beobachtungen zu These 1: Die Gruppe der Teilnehmenden war heterogen; die Menschen haben sich in mehreren Treffen gemeinsam ausgetauscht, vernetzt und zusammengearbeitet. Die Akteur*innen haben eine gemeinsame Wissensgrundlage geschaffen, neues Wissen in Arbeitstreffen reflektiert und am Ende eine abgestimmte Lösung erarbeitet.  Beobachtungen zu These 2: Bei dieser LAG hat das Forschungsprojekt die Patenschaft übernommen. Zwar war die StEB Köln Ideengeber*in, dennoch hat das Projektteam sowohl als inhaltlicher wie organisatorischer Treiber fungiert. Ansprache und Vernetzung in die jeweiligen Fachämter wurden, statt durch das Forschungsteam, von der StEB Köln übernommen.  Beobachtungen zu These 3: Das Sammeln von Systemwissen zum Ort, als gemeinsame Problembeschreibung und ergänzendes Nebeneinander von „Experten- und Alltagswissen“, bildete die Basis für den LAG-Prozess. Festgehalten werden kann, dass die Herausforderungen durch den Klimawandel im Allgemeinen sowie durch Starkregenereignisse im Speziellen insbesondere für die Anwohnenden abstrakt bleiben. Dadurch gab es unterschiedliches Zielwissen: Die StEB Köln hatte die Entschärfung eines Starkregen-Hotspots im Fokus, den Anwohnenden ging es um die Aufwertung des öffentlichen Raums. Als Kompromiss wurden die Aspekte Starkregenvorsorge und Aufwertung im Zielwissen vereint. Beiläufig wurde den Teilnehmenden ein umfassendes Wissen über klimaangepasste Gestaltung und die „Funktionsweise der Stadt Köln“ vermittelt. Das Transformationswissen konzentrierte sich vor allem auf das gegenseitige Verständnis der Akteur*innen und ihrer Sichtweisen. Hierdurch konnten erste Netzwerke aufgebaut werden. Sie bieten Potenziale und Anknüpfungspunkte für die Verstetigung der Zusammenarbeit von Verwaltung und Zivilgesellschaft bei zukünftigen Transformationsprozessen in der Kasemattenstraße und im Stadtteil.  Beobachtungen zu These 4: Insbesondere durch die sichtbaren Arbeitstreffen vor Ort kamen immer wieder neue Menschen, Ideen und Wissen zum Prozess dazu. Einerseits wurden so bereichernde neue Aspekte eingebracht, andererseits wurden Diskussionen mehrfach geführt, da die Wissensstände unterschiedlich waren. Um eine permanente Augenhöhe aller Beteiligten zu erreichen, wurde das bestehende Ziel- und Systemwissen immer wieder vermittelt, neue Akteur*innen wurden eingebunden. Hier war besonders das Forschungsprojekt als intermediärer Akteur gefragt.  Beobachtungen zu These 5: Die Bürger*innen hatten im Verlauf des LAG-Prozesses wechselnde Rollen. Sie waren zunächst Ideen-Geber*innen, später haben ihre Anmerkungen maßgeblich zur Weiterentwicklung der Maßnahmen beigetragen. Dadurch war ihre Rolle weitaus vielschichtiger, da sie nicht nur informiert wurden, sondern ihr System- und Zielwissen einbringen konnten. Die Vertreter*innen der Fachämter der Stadt Köln und der StEB Köln haben die Ideen der Bürger*innen beratend ergänzt und kommentiert, fachliche Grundlagen bereitgestellt und die Umsetzbarkeit der Varianten eingeschätzt. Sie waren sehr aufgeschlossen und engagiert. Die Möglichkeiten einer weiterführenden Zusammenarbeit mit neuer Verantwortungs- und Aufgabenteilung wurde bisher von den Akteur*innen noch nicht aufgegriffen (These 3). Hierzu könnte zum Beispiel der gemeinsame Unterhalt (Patenschaftsmodell) der umgestalteten Kasemattenstraße gehören. Bild 4: Entwickelter Entwurf der L AG „Kasemattenstraße für morgen“. © HafenCity Universität Hamburg 34 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Christine Linnartz Wissenschaftliche Mitarbeiterin Stadtentwässerungsbetriebe Köln (StEB Köln) und Umwelt- und Verbraucherschutzamt, Stadt Köln Kontakt: christine.linnartz@steb-koeln.de Dipl. -Ing. Luc Knödler Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fachgebiet Architektur + Landschaft HafenCity Universität Hamburg (HCU) Kontakt: luc.knoedler@hcu-hamburg.de Prof. Dipl.-Ing. Antje Stokman Professorin Fachgebiet Architektur + Landschaft HafenCity Universität Hamburg (HCU) Kontakt: antje.stokman@hcu-hamburg.de Ingo Schwerdorf Abteilungsleiter Stadtentwässerungsbetriebe Köln (StEB Köln) Kontakt: ingo.schwerdorf@steb-koeln.de Anne Roth Wissenschaftliche Mitarbeiterin Deutsches Institut für Urbanistik, Fachbereich Umwelt Kontakt: roth@difu.de Dr. Rick Hölsgens Wissenschaftlicher Mitarbeiter Sozialforschungsstelle der Technischen Universität Dortmund Kontakt: henricus.hoelsgens@tu-dortmund.de Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass das Format der LAG an der Kasemattenstraße durch den konstruktiven Prozess zu einem abgestimmten Entwurf geführt hat. Das transdisziplinäre Forschungsteam konnte durch seine personellen Ressourcen die Teilnehmenden, insbesondere die Bürger*innen, zunächst motivieren und die Gruppe durch den Prozess moderieren. In Verbindung mit ihrer fachlichen Beratung konnten in kurzer Zeit realistische Entwürfe als abgestimmte Grundlage für die weitere Umsetzung erarbeitet werden. Die Akteur*innen konnten in den Treffen voneinander lernen und kamen so ins kooperative Handeln. Durch das frühzeitige Zusammentragen unterschiedlicher Wissensbestände wurde eine andere Art der Zusammenarbeit angestoßen. Offen bleibt, wie eine Verstetigung der transdisziplinären Zusammenarbeit und die intermediäre Rolle des Forschungsprojektes in die bestehenden Prozesse aussehen kann. Ebenso die Frage, inwieweit das Format der LAG einen Beitrag zu beiden Ebenen der Klimaresilienz leisten konnte. Dazu werden aktuell vertiefende Akteursinterviews geführt. LITERATUR [1] Becker, C.: Zehn Jahre Multicodierung. In: Garten + Landschaft, Nr. 5 (2020), S. 20 - 23. [2] Schäpke, N., Stelzer, F., Bergmann, M., Singer-Brodowski, M., Wanner, M., Caniglia, G., Lang, D.J.: Reallabore im Kontext transformativer Forschung. Ansatzpunkte zur Konzeption und Einbettung in den internationalen Forschungsstand. No. 1 (2017) Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Ethik und Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung. WEITERE INFOS • http: / / iresilience-klima.de/ • https: / / www.instagram.com/ iresilience_klima/ Das Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) unter dem Förderkennzeichen 01LR1701 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt beim Autor/ bei den Autoren. AUTOR*INNEN All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren w 35 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Stadtbäume wachsen an urbanen Standorten wie Parks, Straßen, Fußgängerzonen, Parkplätzen und vor öffentlichen Gebäuden [1] und sind in der Regel dort gepflanzt (Bild 1). Nicht unter diesen Begriff fallen hier die Bäume von Wäldern und Waldinseln im Stadtgebiet. Aufgrund ihrer ökologischen Leistungen finden Stadtbäume in den letzten Jahren verstärkt Interesse bei Stadtplanung und Öffentlichkeit. Im Vordergrund steht ihre Bedeutung für die Verbesserung des Stadtklimas, ihre „Ökosystemleistungen“ sind aber vielfältig. Dazu gehören positive Auswirkungen auf die Biodiversität (Nahrungsquelle und/ oder Lebensraum für zahlreiche Tierarten, Flechten, Pilze etc.), kulturelle, ästhetische sowie psychologische Effekte (Verbundenheit, beruhigende Wirkung etc.). Städte sind Wärmeinseln, deren bebaute Bereiche sich tagsüber stark aufheizen und nachts nur langsam abkühlen. Die bisher beobachteten Veränderungen, vor allem die zunehmenden Hitzeperioden, führen zu der Frage, wie die Bürger*innen in Zukunft besser vor Überwärmung geschützt werden können. An Stadtbäume werden diesbezüglich besondere Hoffnungen geknüpft. Durch Beschattung (Bild 2) und Transpiration bewirken sie eine Veränderung des Lokalklimas, insbesondere eine Absenkung der Temperatur. Hinzu kommt ihre luftreinigende Wirkung. Eingriffe in den Baumbestand sind daher heute kaum noch ohne Proteste aus der Bürgerschaft möglich, und das Pflanzen zusätzlicher Stadtbäume wird auch von politischer Seite gefordert. Dabei wird häufig vernachlässigt, dass Stadtbäume kein Allheilmittel gegen Überwärmung sind, und vor allem, dass die Bäume selbst unter der Überwärmung und weiteren Stressfaktoren des Stadtlebens leiden. Sollen Stadtbäume einen möglichst großen positiven Beitrag zum Stadtklima leisten und nicht in kurzen Abständen ausgetauscht werden, ist die Kenntnis der Stressfaktoren und des Vitalitätszustandes der Bäume unverzichtbar. Dies ist keinesfalls nur eine Frage der Kosten, denn große alte Bäume leisten wesentlich mehr für das städtische Stadtbäume im Stress Klimawandel, Städte, Ökosystemleistungen, Bäume, Stadtplanung Fabian Massing, Massimo Recchiuti, Indra Starke-Ottich, Pablo Ellermann, Robert Kreißl, Heinz-Peter Westphal, Georg Zizka Stadtbäume mit ihren Ökosystemleistungen sollen helfen, die Folgen des Klimawandels für die Stadtbevölkerung zu verringern. Am Beispiel Frankfurt am Main wurde untersucht, welchen Stressfaktoren Stadtbäume ausgesetzt und wie vital sie sind. Viele Bäume befanden sich in einem Zustand, in dem sie die Ökosystemleistungen nicht mehr erbringen können. Als problematisch erwiesen sich mangelnder Schutz vor Betreten und Befahren, Streusalz, Luftschadstoffe, Überwärmung sowie zu kleine Baumscheiben. Der Flächenbedarf für Stadtbäume wird von der Stadtplanung noch nicht hinreichend berücksichtigt. Bild 1: Stadtbäume prägen den öffentlichen Raum. © I. Starke-Ottich 36 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Ökosystem als kleine, neu gepflanzte. Im Rahmen einer Master-Arbeit wurde die Situation der Stadtbäume in Alt- und Innenstadt von Frankfurt am Main näher untersucht [2]. Daran schloss sich eine studentische Arbeit an, um eine Priorisierung von notwendigen Sanierungsmaßnahmen für Baumstandorte im Innenstadtbereich vorzunehmen und zu begründen. Frankfurt am Main bietet gute Voraussetzungen für diese Untersuchungen. Dort machen sich klimatische Veränderungen bereits deutlich bemerkbar. Die durchschnittliche Zahl der heißen Tage (>30 °C) pro Jahr stieg von 8,7 im Zeitraum 1961 - 1990 auf 16,3 im Zeitraum 1990 - 2019. Sowohl die heißen Tage als auch die besonders belastenden Tropennächte (Temperatur sinkt nachts nicht unter 20 °C) werden nach den Klimamodellierungen bis 2050 deutlich zunehmen [3]. Außerdem sind die Frankfurter Stadtbäume sehr gut durch ein öffentliches Baumkataster dokumentiert, in dem rund 164 000 Einzelbäume an Straßen und in Grünanlagen erfasst sind [4]. Alle Bäume sind mit einer kleinen Plakette mit einer Nummer versehen. Darüber können Bürger*innen im Baumkataster Informationen über den Baum recherchieren, zum Beispiel zu Baumart und Pflanzjahr. Im internen Bereich dient das Baumkataster außerdem zur Organisation und Beauftragung der Baumkontrolle und -pflege. Unter anderem aufgrund des Katasters wurde Frankfurt am Main als „European City of Trees 2014“ ausgezeichnet. Die im Folgenden beschriebenen Stressfaktoren und Probleme für Stadtbäume sind jedoch charakteristisch für viele Großstädte [5, 6]. Stressfaktoren In die Untersuchung der Stressfaktoren gingen 3685 Bäume mit ein, darunter 1656 Straßenbäume und 2029 Bäume in Grünanlagen. Als Standortfaktoren wurden Standortklima, Streusalzexposition und Luftverschmutzung betrachtet. Ein weiteres wichtiges Thema für Stadtbäume ist die Wasserverfügbarkeit. Viele Stadtbäume sind von den natürlichen Grundwasserreserven abgeschnitten, etwa durch U-Bahn-Tunnel oder den insgesamt im Stadtgebiet stark abgesenkten Grundwasserspiegel. Leider lagen keine ausreichend detaillierten Daten zu diesem Faktor vor, so dass er nicht in die Bewertung einbezogen werden konnte. Zur Bewertung des Standortklimas wurde die Klimafunktionskarte des Klimaplanatlasses [7] herangezogen. Diese basiert auf einem städtischen Klimamodell mit einer Rasterweite von 15 m. Das Modell unterscheidet 30 Klimastufen in sechs sogenannten Klimatopen von der Kaltluftentstehungszone bis zum Überwärmungsgebiet. Ab Stufe 19 werden die Bereiche als Überwärmungsgebiete bezeichnet und im Rahmen dieser Studie als „stärker belastet“ bewertet. Die Streusalzexposition wurde anhand der Entfernung des Baumes zu Straßen und Plätzen, bei denen im Winter salzbasierte Auftaumittel eingesetzt werden, ermittelt. Die Grenze zwischen „exponierten“ und „wenig exponierten“ Standorten wurde bei 2-m gezogen [8]. Die Luftverschmutzung konnte nur eingeschränkt einbezogen werden, da in Frankfurt kein Bild 2: Stadtbäume erfüllen viele wichtige Ökosystemfunktionen, zum Beispiel als Schattenspender für Sitzmöglichkeiten. © P. Ellermann. Bild 3: Parkbäume haben deutlich bessere Standortbedingungen als Straßenbäume. © I. Starke-Ottich. 37 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt ausreichend dichtes Netz an Messstellen zur Verfügung stand. Für Stickstoffdioxid lag jedoch eine Studie vor [9], in der stationäre Messungen mit mobilen Messungen per Fahrrad verknüpft sind. Aus diesen wurde eine Rasterkarte extrapoliert, die mit den Baumstandorten verglichen werden konnte. Wie gestresst sind Frankfurts Bäume? Die Daten des Klimaplanatlas zeigen, dass 1919 Bäume an überwärmten Standorten stehen, 1512 von ihnen Straßenbäume. Stadtbäume, die das Glück haben, in einer Grünanlage zu stehen, haben es in Hinblick auf Überwärmung deutlich besser (Bild 3). Die Straßenbäume stehen oft einzeln, relativ weit entfernt vom nächsten Baum, und sind von Häuserfassaden, Straßen- und Gehsteigbelägen umgeben, die sich aufheizen und Wärme abstrahlen. Die Bäume in Grünanlagen dagegen stehen häufiger in Gruppen, in der Regel von zusätzlichem Grün (Rasenflächen, Rabatten) umgeben. Auch beim Faktor Streusalz sind erwartungsgemäß die Straßenbäume besonders betroffen. Bei 1590 Straßenbäumen wird der empfohlene Mindestabstand zu den gestreuten Bereichen nicht eingehalten, lediglich bei 66 Straßenbäumen ist der Abstand so groß, dass sie vermutlich kaum durch Streusalz beeinflusst werden. Den Bäumen in Grünanlagen geht es deutlich besser, lediglich 232 Bäume sind dort dem negativen Einfluss der Taumittel stärker ausgesetzt. In Hinblick auf Luftverschmutzung ergab sich dagegen kein Unterschied. Empfohlene Grenzwerte wurden für alle untersuchten Bäume weit überschritten, teilweise um das Dreifache. Um zu verdeutlichen, wie gestresst die Bäume sind, wurden alle untersuchten Faktoren miteinander verknüpft (Bild 4). Es zeigt sich deutlich, dass insbesondere die Bäume entlang der großen Straßen und der öffentlichen Plätze von allen untersuchten Stressfaktoren betroffen sind. Aber gerade dort sind die Bäume für die Stadtbevölkerung besonders wichtig! Ausbaustandards für Baumscheiben Von zentraler Bedeutung für die Lebensbedingungen der Stadtbäume ist die Ausgestaltung des Standortes, besonders die Größe von Pflanzgrube und Baumscheibe. Sie ist entscheidend dafür, ob grundsätzlich geeignete Baumarten und -sorten an den extremen urbanen Standorten langfristig überleben können. Als Baumscheibe wird der unversiegelte Bereich an der Stammbasis bezeichnet. Als Hobbygärtner lernt man, dass der Bereich, den die Baumwurzeln einnehmen, in etwa dem der Krone entspricht. Davon sind die meisten Stadtbäume weit entfernt. Die Stadt Frankfurt hat für die Ausgestaltung der Baumscheiben Standards festgelegt [10]. Demnach sollen sie aus Bewässerungs- und Belüftungsgründen mindestens 6 m² groß sein. Mit Rechteckbügeln oder anderen Maßnahmen sollen sie vor dem Befahren geschützt werden, weil dies zu Bodenverdichtung und schlimmstenfalls zu direkter Beschädigung der Bäume führt (Bild 5). Ideal ist eine Gestaltung, die auch ein Begehen durch Passanten und Hunde Bild 4: Kombinierte Standortbedingungen der Stadtbäume. Aufsummierung von Grenzwertüberschreitungen in den Kategorien Klima, Salzexposition und Luftschadstoffexposition (Massing 2017). Blau = 0, Grün = 1, Gelb = 2, Rot = 3 Grenzwertüberschreitungen. Bild 5: In der Frankfurter Goethestraße dienen Bäume als Trennelemente zwischen parkenden Fahrzeugen. Aufgrund fehlender Schutzvorrichtungen sind am Stamm bereits mechanische Verletzungen entstanden. © M. Recchiuti 38 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt verhindert, um Verdichtung und Schadstoffeinträge (zum Beispiel Hundeurin) zu reduzieren (Bild 6). Wo Befahren und Begehen nicht verhindert werden können, sind sogenannte Baumroste und eine Lavalit-Schicht aufzubringen, um die Funktionsfähigkeit der Baumscheibe (Gasaustausch, Wasseraufnahme) bestmöglich zu gewährleisten. Untersucht wurden 1656 Straßenbäume. Diese waren überwiegend gut vor Befahren geschützt, lediglich 74 Bäume (4,5 %) wiesen keinen entsprechenden Schutz auf. 416 Baumstandorte (25 %) waren nicht ausreichend vor Betreten durch Passanten und Hunde geschützt, die meisten Straßenbäume (71,5 %) sind also in dieser Hinsicht gut gesichert. Anders fielen dagegen die Ergebnisse in Hinblick auf die Größe der Baumscheiben aus. Die Mindestgröße von 6 m² wurde bei 1177 Baumstandorten (71-%) unterschritten (Bild 7)! Zudem war auffällig, dass sich in den Spalten der verwendeten Baumroste oft Zigarettenkippen ansammeln (Bild 5). In den Filtern und Zigarettenresten befindet sich eine große Zahl teilweise stark toxischer Substanzen. Man muss davon ausgehen, dass bei Regen Schadstoffe ausgewaschen werden und in den Boden gelangen, die Auswirkungen auf das Bodenleben und eventuell auch auf die Stadtbäume selbst haben. Hilfe für Stadtbäume Die Ergebnisse zeigen, dass dringender Bedarf besteht, die vorhandenen Baumstandorte zu sanieren, um die Bäume „fit für den Klimawandel“ zu machen. Dies ist im Bestand, gerade in der Alt- und Innenstadt, oft nicht leicht. Bei Neuanlagen in Frankfurter Neubaugebieten wurden einige Erkenntnisse bereits umgesetzt. So sind dort tendenziell größere Baumscheiben zu finden und es gibt Beispiele für Doppelalleen, in denen sich die Bäume gegenseitig kühlen können (Bild 8). Auch in Hinblick auf eine sinnvolle Ausgestaltung der Baumscheiben gibt es positive Beispiele. Allerdings besteht auch bei neuen Standorten noch viel Verbesserungspotenzial. So sind verdichtete Böden, ungeeignetes Substrat oder mangelnder Schutz vor Befahren noch immer häufig zu beobachten. Wie kann den vorhandenen Bäumen der Frankfurter Innenstadt am besten geholfen werden? Es müssten Baumscheiben vergrößert und besser geschützt werden, was bauliche Maßnahmen sind, teilweise wären auch Methoden der Bodenaufbereitung nötig, etwa das Auflockern mit Hilfe von Druckluft. Diese Maßnahmen sind kosten- und personalintensiv und können daher nicht gleichzeitig für alle Bäume durchgeführt werden. Für eine Priorisierung wurde im Frühjahr 2021 eine exemplarische Vitalitätsuntersuchung von 293 Stadtbäumen durchgeführt. Die Bewertung erfolgte nach Roloff [11] in vier Stufen (0 - 3). Die Stadt Frankfurt hat aus baumkontrolltechnischen Gründen eine Stufe 4 implementiert:  VS 0 - Exploration: Neue Triebe eines gesunden Laubbaums befinden sich in der Explorationsphase. Aus Knospen der Seiten- und Wipfeltriebe entstehen netzartige Langtriebe, durch welche die Krone geschlossen und kompakt erscheint. Bei Astbeschneidung werden Lücken schnell durch neue Triebe geschlossen. Bild 6: Die Kombination aus Schutzbügeln aus Metall und Unterpflanzung schützt die Baumscheibe dieses Straßenbaums vor dem Betreten und Befahren. © I. Starke-Ottich Bild 7: In der Frankfurter Innenstadt sind viele Baumscheiben zu klein und werden dazu noch als Stellfläche genutzt. © P. Ellermann 39 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt  VS 1 - Degeneration: Die Degenerationsphase ist vor allem bei den Trieben von bereits leicht gestressten Bäumen zu beobachten. Hier ragen durch die Kurztriebbildung aus den Seitenknospen nur noch spießartige Äste aus der Krone, um welche die Blätter dicht angeordnet sind. Die Krone besitzt eine weniger harmonische Form.  VS 2 - Stagnation: Bei Ästen mit Krähenfuß- oder pinselartigem Wachstum ist die Stagnationsphase eingetreten. Diese entsteht durch das Abbrechen von bereits älteren, geschwächten Ästen, woraufhin nur junge Triebe an den Wipfeln überleben. Durch die Krone tritt viel Sonnenlicht, welches nicht durch Laubblätter aufgenommen wird.  VS 3 - Resignation: Absterbende Bäume, bei denen kein Wachstum mehr stattfindet. Selbst die jüngsten Zweige zeigen wenig bis keine Belaubung. Die Krone ist nur noch skelettartig und sehr fragmentiert ausgebildet.  VS 4 - Bereits abgestorbene Bäume: Keine lebenden Bereiche vorhanden. Zusätzlich wurden die Zwischenschritte x,4 und x,6 zwischen den ganzen Zahlen hinzugefügt, um eine feinere Abstufung zu erreichen, wobei x,4 eine Tendenz zur niedrigeren und x,6 eine Tendenz zur höheren Ziffer der Bewertungsskala bedeutet. Auch die Ausgestaltung und Größe der Baumscheiben wurde nochmals im Detail betrachtet. Die durchschnittliche Vitalität aller untersuchten Bäume betrug 1,7, sie stehen in der Degenerationsphase, nahe an der Stagnationsphase. Nicht alle Bäume besitzen eine Baumscheibe, einige sind in die flächige Gestaltung von öffentlichen Plätzen eingebettet, zum Beispiel mit neuartigen Sickerbelägen (Bild 9). Diese sollen zwar Gasaustausch und Wasseraufnahme gewährleisten, allerdings fehlen Erfahrungswerte, ob sich die Beläge durch Schmutz und Feinstaub zusetzen und dann nicht mehr funktional sind. 209 der untersuchten Bäume verfügten über eine Baumscheibe, welche im Durchschnitt eine Fläche von nur 3,2 m² umfasste, also weit unter dem vorgesehenen Ausbaustandard (Bild 7). Da häufig Plätze oder Straßenzüge mit derselben Baumart bepflanzt werden, zeigen diese dort oft eine ähnliche Vitalität, so dass die Betrachtung zur Priorisierung auf dieser räumlichen Basis erfolgen kann. Ein Beispiel mit besonders hoher Priorität für standortverbessernde Maßnahmen ist die Frankfurter Goethestraße. Die Bäume hier weisen im Mittel eine Vitalität von 2,4 auf, sind also bereits in der Stagnationsphase mit aufgelichteten Kronen. Es handelt sich um 39 sogenannte Stadtbirnen (Pyrus calleryana) und zwei Hybrid-Platanen (Platanus-x hispanica), wobei den Platanen die Vitalitätsstufe 1,6 zugeordnet wurde. Die Stadtbirnen sind alle direkt an der Straße platziert und dienen als Trennelemente zwischen parkenden Fahrzeugen (Bild 10). Acht der 39 Stadtbirnen besitzen keinen Baumschutzbügel oder sonstige Schutzvorrichtungen, um diese vor Beschädigungen durch Kraftfahrzeuge zu schützen, weswegen an manchen dieser Exemplare mechanische Verletzungen am Stamm zu beobachten sind (Bild 5). Die Baumscheiben der Stadtbirnen besitzen eine Fläche von circa 4 m² und sind bei 39 der 41 Bäume mit Gitterrosten bedeckt. Es sind häufig Zigarettenreste und andere Verschmutzungen zwischen den Gitterrosten vorhanden, zudem werden diese häufig als Parkflächen für Fahrräder und Elektro-Roller benutzt. Stadtbirnen werden grundsätzlich für die Pflanzung in Städten empfohlen, allerdings scheint auch diese Art unter extremen Bedingungen an ihre Gren- Bild 8: Doppelalleen mit Grünstreifen in Frankfurter Neubaugebieten, in denen die Bedingungen für Straßenbäume deutlich verbessert wurden. © I. Starke-Ottich Bild 9: Sind neuartige Sickerbeläge für eine befestigte Oberfläche im Bereich der Baumscheibe auf Dauer eine gute Lösung? © P. Ellermann 40 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt zen zu kommen. Am Standort Frankfurt-Roßmarkt ist der Zustand dieser Baumart noch schlechter, dort wurde für diese Art im Mittel die Vitalitätsstufe 2,9 vergeben, sie stehen also am Beginn der Resignationsphase, das heißt, es findet kein Wachstum mehr statt und die Bäume beginnen abzusterben. Zwar können abgängige Bäume bei Neupflanzungen durch andere Baumarten ersetzt werden, jedoch gibt es keine „Wunderbäume“, die völlig ohne Platz und Wasser leben könnten. Zudem erbringen nachgepflanzte junge Bäume nur einen Teil der positiven lokalklimatischen und ökologischen Wirkung. Der häufige Einsatz von einzelnen Baumarten kann auch zu Problemen führen, wenn sich Schädlinge oder Krankheiten ausbreiten, für die die durch Stress geschwächten Bäume häufig besonders anfällig sind. Schon jetzt hat Frankfurt in der Innenstadt beispielsweise einen sehr hohen Anteil an Platanen (42,3 % der 2017 untersuchten Straßenbäume [2]). Die Stadtbirnen der Goethestraße weisen stark geschädigte Kronen auf. Damit können sie ihre Ökosystemleistungen nur noch eingeschränkt erbringen. Es besteht dringender Handlungsbedarf. Wenn es dort langfristig Bäume geben soll, müssen die Baumscheiben vergrößert und besser geschützt werden, auch wenn dies nur auf Kosten von Parkplätzen in dieser Straße, die als Luxus-Einkaufsstraße gilt, zu erreichen ist. Zudem sind eine Auflockerung des Bodens, zum Beispiel mit Druckluft, und eventuell weitere bodenverbessernde Maßnahmen notwendig. Im untersuchten Abschnitt der Kaiserstraße befinden sich acht Bäume der sogenannten Stadt-Linde (Tilia cordata ‚Greenspire‘ ) mit einer durchschnittlichen Vitalitätsstufe von 2,5. Im Gegensatz zur Goethestraße stehen die Bäume hier auf dem Gehsteig, Beschädigungen durch Fahrzeuge sind unwahrscheinlich. Die Größe der Baumscheiben variiert zwischen 0 und circa 3 m². Der Boden der Baumscheiben ist stark verdichtet. Einige Bäume haben auf diesen Stressfaktor mit an der Oberfläche verlaufenden Wurzeln reagiert. Müll, insbesondere Zigarettenstummel, sowie abgestellte Fahrräder und E-Roller prägen das Bild der Baumscheiben. Im Gegensatz zur engen Goethestraße wäre es hier deutlich leichter, ausreichend große Baumscheiben oder sogar einen durchgehenden Grünstreifen anzulegen, ohne Fahrbahn, Parkplatzangebot und Gehweg zu beeinträchtigen. Eine Unterpflanzung mit Sträuchern könnte das Betreten und die damit verbundene Verdichtung sowie den Eintrag von Schadstoffen, zum Beispiel Hundeurin und Zigarettenstummel, minimieren. Hier ließe sich eine attraktive Anlage gestalten, eventuell mit Unterbrechungen des Grünstreifens für querende Fußgänger oder ausgewiesenen Fahrrad-Stellplätzen. Fazit Stadtbäume erfüllen zahlreiche wichtige Funktionen im „Ökosystem Stadt“. Durch den Klimawandel und häufigere Extremwetterlagen ist ihre Bedeutung nochmals gestiegen - aber auch die auf sie wirkenden Stressfaktoren haben sich verstärkt. Erfreulicherweise finden Bedeutung und ökosystemare Leistungen der Stadtbäume bei Stadtplanern und Öffentlichkeit immer größeres Interesse. Weit verbreitete, jahrzehntelang bewährte Arten zeigen aber in den letzten Jahren vermehrt Anfälligkeit für Stress und Krankheiten. Damit Stadtbäume die an sie gerichteten Erwartungen im Hinblick auf lokalklimatische Effekte und andere Ökosystemleistungen erfüllen können, muss dafür Sorge getragen werden, dass sie auch geeignete Lebensbedingungen am Standort vorfinden. Dies ist, wie die beispielhaften Untersuchungen aus Frankfurt zeigen, bisher oft nicht der Fall. Ein großer Teil der untersuchten Bäume ist so vielen Stressfaktoren ausgesetzt, dass ihre Vitalität und Lebensdauer stark eingeschränkt bzw. verkürzt sind und sie ihre ökologischen und sozialen Funktionen nicht mehr vollumfänglich erfüllen können. Viele Bäume weisen bereits deutliche Schäden auf. Die beiden hier gezeigten Ansätze, das heißt, die Verschneidung von verschiedenen Datensätzen (Klimaplan, Schadstoffmessungen etc.) zur Bild 10: In der Frankfurter Goethestraße besteht großer Handlungsbedarf, um die Situation der Stadtbäume zu verbessern. © M. Recchiuti 41 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Fabian Massing, M.Sc. Capital Project Delivery ERM GmbH Kontakt: fabian.massing@erm.com Massimo Recchiuti, B.Sc. Studierender Goethe-Universität Frankfurt am Main Kontakt: massimorecchiuti@gmail.com Dr. Indra Starke-Ottich Arbeitsgruppe Biotopkartierung Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum Kontakt: indra.starke-ottich@senckenberg.de Pablo Ellermann, B. Sc. Sachgebiet Baummanagement Grünflächenamt der Stadt Frankfurt am Main Kontakt: pablo.ellermann@stadt-frankfurt.de Robert Kreißl Sachgebiet Baummanagement Grünflächenamt der Stadt Frankfurt am Main Kontakt: robert.kreissl@stadt-frankfurt.de Dipl.-Ing. (FH) Heinz-Peter Westphal Abteilung Grünflächenmanagement Grünflächenamt der Stadt Frankfurt am Main Kontakt: heinz-peter.westphal@stadt-frankfurt.de Prof. Dr. Georg Zizka Abteilung Botanik und Molekuare Evolutionsforschung Senckenberg Forschungsinstitut und Naturmuseum und Goethe-Universität Frankfurt am Main Kontakt: georg.zizka@senckenberg.de Bewertung der Baumstandorte sowie die Vitalitätseinschätzung nach Roloff [11] sind geeignet, geschädigte Stadtbäume und Baumstandorte mit besonders hohem Handlungsbedarf zu identifizieren. Damit können vorhandene Mittel gezielt eingesetzt werden, um den Bestand von Stadtbäumen zu sichern und zu fördern. Im Zentrum steht die optimale Gestaltung des Baumstandortes, insbesondere bezüglich Größe der Pflanzgrube und Größe und Schutz der Baumscheibe. In der immer stärker werdenden Flächenkonkurrenz in wachsenden Großstädten hat dieser Bedarf an unversiegelter Fläche bisher nicht die ausreichende Priorität. LITERATUR [1] Moser, A., Rötzer, T., Pauleit, S., Pretzsch, H.: Stadtbäume: Wachstum, Funktionen und Leistungen-Risiken und Forschungsperspektiven. Allg Forst-u J-Ztg, 188 (5/ 6), (2018) S. 94 - 111. [2] Massing, F.: Untersuchungen zu Standortbedingungen, Standortausbau und Zukunftstauglichkeit von Stadtbäumen zum Zweck der Entwicklung eines Konzeptes zur Standortverbesserung. 65 S., Masterarbeit, Goethe Universität, Frankfurt am Main, 2017. [3] Früh, B., Koßmann, M., Roos, M.: Frankfurt am Main im Klimawandel - Eine Untersuchung zur städtischen Wärmebelastung. Berichte des Deutschen Wetterdienstes 237: (2011) S. 1 - 68. [4] Stadt Frankfurt am Main: Geoportal Frankfurt. Baumkataster, 2021. URL: https: / / geoportal.frankfurt.de/ karte/ ? layerIds=55037,55033,55035,118,28& visibility=true,true,true,true,true&transparency=0,0 ,0,0,0&center=477500,5551000&zoomLevel=4 Zugriff 22.10.2021. [5] Dickhaut, W., Eschenbach, A. (Hrsg.): Entwicklungskonzept Stadtbäume. HafenCity Universität Hamburg, Hamburg, 2018. [6] Saha, S.: Stadtbäume im Stress. Earth System Knowledge Platform, 2019 [www.eskp.de], 6. doi: 10.2312/ eskp.019. Zugriff. 1.9.2021 [7] Stadt Frankfurt am Main: Klimaplanatlas 2016 für Frankfurt, 2016. URL: https: / / frankfurt.de/ themen/ klima-und-energie/ stadtklima/ klimaplanatlas Zugriff 22.10.2021 [8] Pedersen, L.B., Randrup, T. B., Ingerslev, M.: Effects of road distance and protective measures on deicing NaCl deposition and soil solution chemistry in planted median strips. Journal of Arcoriculture 26 (5): (2000) S. 238 - 245. [9] Bigge, K., Pöhler, D., Horbanski, M., Lampel, J. De Aguinaga, A., Platt, U.: Stickstoffdioxid-Messungen in 12 Städten 15.02.-17.03.2016. Abschlussbericht. 150 S., Greenpeace Deutschland, Hamburg, 2016. [10] Stadt Frankfurt am Main: Ausbaustandards für öffentliche Grünflächen und Straßenbegleitgrün. 7 S., 2000. Unveröffentlichtes Dokument. [11] Roloff, A.: Baumkronen. Verständnis und praktische Bedeutung eines komplexen Naturphänomens, 2001. 181 S. AUTOR*INNEN 42 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Dritte Orte, auch „third places“ oder „great good places“, sind Orte der Zusammenkunft oder Gemeinschaftsorte, in denen ein Ausgleich zu Familie und Arbeit gesucht wird. Der aus den Sozial- und Kulturwissenschaften entstammende Begriff des Dritten Ortes geht auf die Konzepte von thirdspace und third space nach Bhabha [1] und Soja [2] zurück [3]. Dritte Orte sind Räume, in denen sich außerhalb von privaten und beruflichen Kontexten offen begegnet werden kann [3]. Laut des Stadtsoziologen Ray Oldenburg handelt es sich dabei um Orte der Öffentlichkeit, die außerhalb des firstplaces der Familie, also dem Zuhause, sowie dem secondplace der Arbeit und Ausbildung liegen [4 in 3]. Das Thema der Dritten Orte ist en vogue. Mittlerweile gibt es bereits Förderprogramme, die die Konzeptentwicklung und -umsetzung solcher Räume, insbesondere in ländlichen Räumen, fördern. So zum Beispiel das Programm „Dritte Orte - Häuser für Kultur und Begegnung im ländlichen Raum“ des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen [5]. Gekennzeichnet sind Dritte Orte durch einen niedrigschwelligen Zugang, der es allen Menschen - auch Fremden - ermöglicht zusammen zu treffen, zu kommunizieren, sich auszutauschen und zusammenzuarbeiten sowie gegebenenfalls zu konsumieren [4 in 3; 6]. Diese Orte laden zum regelmäßigen Verweilen ein, sind zwanglos und informell, wodurch sie eine angenehme Atmosphäre für den Austausch schaffen [5]. Merkmale der thirdplaces sind unter anderem:  eine gute Erreichbarkeit durch eine zentrale Lage (zum Beispiel am Marktplatz),  ihre Dauerhaftigkeit als möglichst physischer Ort mit nachhaltigen Verantwortungsstrukturen,  der barrierearme und kostenlose Zugang,  geeignete Öffnungszeiten für viele Nutzer*innengruppen,  einladende Gestaltung und Atmosphäre, die unterschiedliche Nutzungen zulassen  Vernetzung verschiedener Nutzungen, um Kooperationen zu fördern und  die Einbindung in die Stadt-/ Dorfbzw. Regionalentwicklung [7]. Zu Orten der Begegnung in urbanen und ländlich geprägten Gebieten können unterschiedliche Räume zählen. Es sind nicht nur Orte, in denen sich Menschen begegnen, sondern auch Begegnungen mit Literatur, Technik und neuen Medien stattfinden können [3]. Zu Dritten Orten zählen somit zum Beispiel auch Öffentliche Bibliotheken [3], Parkanlagen, Museen, Musikschulen [6], Kulturzentren, Kirchen oder Kioske sowie viele weitere Räume. Diese Orte ermöglichen Partizipation, bringen Menschen Dritte Orte in Krisenzeiten Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf Orte der Zusammenkunft und Gemeinschaft Dritte Orte, Third Places, Great Good Places, COVID-19, Gemeinschaft, Region Hannover Lena Greinke Sogenannte Dritte Orte sind Orte der Zusammenkunft, in denen ein Ausgleich zu Familie und Arbeit gesucht wird. Bereits seit den 1990er Jahren wurde die Bedeutung dieser Treffpunkte untersucht und ihre Wichtigkeit verdeutlicht. In Zeiten der COVID-19-Pandemie leiden vor allem freundschaftliche und nachbarschaftliche Kontakte, weil sie unter anderem durch Kontaktbeschränkungen stark reduziert werden oder vollständig ausbleiben (müssen). Mittels studentischer Beobachtungen und Befragungen der Besucher*innen von Dritten Orten in der Region Hannover im Frühjahr 2021 wird die Bedeutung dieser Räume als Anker und für den dialogischen Austausch anhand von sechs Beispielen untersucht. Ausgewählt wurden die städtischen und ländlichen Dritten Orte Bibliothek, Park, Dorfladen und Kiosk. Hannover Isernhagen Sehnde Springe Bild 1: Ausgewählte Beispiele Dritter Orte in der Region Hannover. (Kartengrundlage verändert nach Open- StreetMap.org) Grafik © Greinke Georgengarten Stadtbibliothek Springe Dorfladen Bolzum Stadtbibliothek Hannover Kiosk Kochstraße Wietzepark © Gemeinde Isernhagen © Gemeinde Isernhagen © Dorfladen Bolzum 43 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt zusammen und schaffen Lebensqualität [8]. Zudem könnten auch digitale Räume wie zum Beispiel Facebook, Twitter, Instagram etc. als Dritte Orte fungieren, jedoch fehlt ihnen die unabdingbare reale und dreidimensionale Begegnung, die thirdplaces ausmachen [6]. Räume der Begegnung sind vielfältig, doch wie verändern sie sich durch die COVID- 19-Pandemie? Welche Rolle spielen Dritte Orte in Krisenzeiten? Welchen Beitrag können sie zum Austausch in der Gemeinschaft leisten? Diese und weitere Fragen werden in diesem Beitrag analysiert. Ziel ist es, aufzuzeigen, inwiefern Dritte Orte für nachbarschaftliche und freundschaftliche Kontakte von Bedeutung sind sowie inwiefern sie wichtig für Städte, ländliche Räume und die Gesellschaft sind. Analyse Dritter Orte am Beispiel der Region Hannover Um die Bedeutung und Wichtigkeit der Dritten Orte für die Gesellschaft sowie für städtisch und ländlich geprägte Räume zu analysieren, werden je drei beispielhaft ausgewählte Dritte Orte in städtischen und ländlichen Räumen in der Region Hannover untersucht. Die im Jahr 2001 aus einem Zusammenschluss des Kommunalverbandes Großraum Hannover und des Landkreises Hannover hervorgegangene Region Hannover besteht aus 21 Städten und Gemeinden und schließt die niedersächsische Landeshauptstadt Hannover ein. In der Region leben circa 1,2- Mio. Menschen [8]. Die Kommunen in der Region sind sehr divers: Sowohl landschaftlich als auch strukturell unterscheiden sie sich voneinander. So gibt es eher ländlich geprägte Kommunen (zum Beispiel die Stadt Springe oder die Gemeinde Uetze) und vornehmlich städtisch geprägte Kommunen (zum Beispiel die Stadt Garbsen oder die Gemeinde Isernhagen) [nach 10, 11]. Sie unterscheiden sich teilräumlich differenziert betrachtet in ihren Charakteristika. Zu den ausgewählten Beispielen Dritter Orte in der Region Hannover gehören der Stadtpark Georgengarten, die Stadtbibliothek und der Kiosk an der Kochstraße in der Stadt Hannover sowie der Landschaftspark Wietzepark zwischen der Stadt Langenhagen und der Gemeinde Isernhagen, die Stadtbibliothek in Springe und der Dorfladen Bolzum in der Stadt Sehnde (Bild 1). Alle Beispiele haben gemein, dass sie als Treffpunkte fungieren und die zentralen Merkmale der thirdplaces erfüllen. Im Juni 2021 befragten Studierende des Bachelorstudiengangs Landschaftsarchitektur und Umweltplanung der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität mittels standardisierter Umfrage 107 Personen, die die ausgewählten Dritten Orte aufsuchten. Für die standardisierte Umfrage wurde ein Fragebogen erstellt, welcher folgende sechs geschlossenen Fragen enthielt: 1. Wofür benutzen Sie persönlich diesen Ort? 2. Wie oft besuchen Sie diesen Ort? 3. Wie schätzen Sie den Zustand des Ortes ein? 4. Gibt es Optimierungsbedarf? Wenn ja, in welchem Bereich? 5. Wie empfinden Sie den Einfluss des Ortes auf Ihr Wohlbefinden? 6. Wie hoch schätzen Sie die Bedeutung des Ortes für den Stadtteil/ das Dorf ein? Die Befragten konnten in Frage eins, zwei und vier aus vorgegebenen Antwortmöglichkeiten auswählen. Die Fragen drei, fünf und sechs wurden von den Befragten mittels Nominalskala von 1 (sehr gering/ schlecht) bis 10 (sehr hoch/ gut) eingeschätzt. Die Antworten wurden gezählt und analysiert. Insgesamt identifizierten sich 57 Personen der Befragten als männlich, 47 Personen als weiblich und eine als divers. Die Befragten waren zwischen 12 und 68 Jahren alt, wobei die Altersgruppe der 19bis 30-Jährigen den größten Anteil mit 34-Personen ausmachte (Bild 2). Bei der Altersverteilung fällt auf, dass in ländlichen Räumen überwiegend ältere Personen befragt wurden, während in urbanen Räumen vermehrt jüngere Befragte teilnahmen. Chancen und Risiken der Dritten Orte in der COVID-19-Pandemie Die untersuchten Dritten Orte wurden auch während der COVID-19-Pandemie im Frühjahr des Jahres 2021 recht regelmäßig aufgesucht. Circa 43 % der Befragten gaben an, den Dritten Ort öfter als einmal in der Woche zu besuchen, rund 23 % suchen die Orte mindestens einmal pro Woche auf und lediglich 14 % der Befragten sind seltener als einmal Bild 2: Alter der Befragten bei der standardisierten Umfrage. © Greinke 44 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt im Monat vor Ort (Bild 3). Dritte Orte sind folglich auch in Krisenzeiten bedeutende Anlaufpunkte, die für den Austausch untereinander genutzt werden (können). Dennoch ist und bleibt eine große Herausforderung in der COVID-19-Pandemie das Social Distancing aufgrund der Hygieneregeln, die dafür sorgen, dass Menschen größere Abstände zueinander einhalten müssen. Zudem führten Lockdowns dazu, dass Dritte Orte phasenweise geschlossen werden mussten oder verwaist blieben. Insbesondere in solchen Situationen fehlt der spontane dialogische Austausch der Gemeinschaften, in dem neue Kontakte und Ideen entstehen können. Thirdplaces, die zuvor auch Ideenschmiede und Innovationsraum waren, brechen weg und verringern dadurch gegebenenfalls den Gedankenaustausch sowie die Inspiration der Menschen in einer Gemeinschaft. Besonders Parks als Dritte Orte in städtischen und ländlichen Räumen dienen den Menschen - auch in der COVID-19-Pandemie - zur Erholung und zum Entspannen. Die Beobachtungen zeigen, dass die Parks während des Lockdowns im Frühjahr 2021 teilweise weniger frequentiert werden, jedoch sind sie weiterhin Räume, in denen die Menschen entspannen können. Zum Teil werden sie sogar zu neuen Treffpunkten. Allerdings wurden zeitweise auch Parties im Georgengarten gefeiert, die mit Hilfe der Polizei beendet werden mussten. Eine erhöhte Gewaltbereitschaft gegenüber Beamten sei jedoch nicht zu erkennen gewesen. Teilweise wurde sogar über Lösungsansätze in Form von Vermittler*innen oder Nachtbürgermeister*innen diskutiert, die in der Stadt Osnabrück bereits zum Einsatz kamen [12]. Vielerorts - so auch in den zwei untersuchten Parks - wurde das Spazierengehen in der Pandemiezeit neu entdeckt. Zudem trägt vermutlich ein verändertes touristisches Verhalten, weg von Fern- und Auslandreisen hin zu Tagesausflügen zumeist in der näheren Umgebung, zur Nutzung der Parks bei. Als Dritte Orte können sie folglich zu wichtigen Treffpunkten werden, weil sie im Freien liegen und Hygieneregeln eingehalten werden können. Dorfläden und Kioske decken zahlreiche der Merkmale Dritter Orte ab. Sie sind Orte, die spontan aufgesucht werden können und zur Geselligkeit einladen. Zumeist sind sie charakterisiert durch eine entspannte Atmosphäre, die zum Wohlfühlen einlädt. Zwar unterschieden sich die untersuchten Beispiele in ihrer Konzeption und Funktion, dennoch lassen es die Dritten Orte zu, Abstand von den Gedanken zu Arbeit und Familie zu gewinnen. Im untersuchten Dorfladen steht insbesondere die Funktion als Nahversorger in Zeiten der Pandemie im Mittelpunkt. Zwar haben auch im Dorfladen einige Hygienevorschriften die Schließung von (Teil-) Bereichen verursacht, allerdings trägt der Dorfladen durch seinen barrierearmen Zugang zur Daseinsvorsorge bei, weil sich die Menschen vor Ort weiterhin versorgen können. Besonders der untersuchte Kiosk stellte sich als ein wichtiger Treffpunkt für die Menschen heraus, weil dieser frei zugänglich war. Der Verkauf musste zwar auf die Außenflächen verlegt werden bzw. durch ein Fenster erfolgen, jedoch bildete der Dritte Ort nach wie vor eine zwanglose Anlaufstelle und lud zum geselligen Austausch ein. In Krisenzeiten können solche Orte besonders wichtig werden, weil sie den nötigen Ausgleich zum Familienleben mit zum Teil aufwendiger Kinderbetreuung und Homeoffice mit vollen Arbeitstagen schaffen können. Dritte Orte schaffen aber nicht nur Räume für soziale Kontakte zu anderen Menschen, sondern ermöglichen sie im Beispiel der Bibliotheken auch die Interaktion mit unterschiedlichen Medien (zum Beispiel Bücher oder Onlineinformationen) [13]. In Krisenzeiten besteht bei Schließung der Dritten Orte die Gefahr, dass diese Interaktion verringert wird oder gar ausbleibt. Davon sind vor allem Personen betroffen, die außerhalb von Bibliotheken keinen Zugang zu den dort verfügbaren Medien haben. Insofern übernehmen Bibliotheken als Dritte Orte auch eine Verantwortung für Bildung, zum Beispiel durch die Vermittlung von Lese-Recherche und Medienkompetenz [3]. Werden folglich die Dritten Orte (zeitweise) geschlossen, kann das für die Menschen nicht nur den Verlust der sozialen Kontakte, sondern auch der Interaktion mit anderen Medien und den damit verbundenen Chancen bedeuten. Dritte Orte als „Zwischen- und Möglichkeitsräume für informelle und formelle Kommunikation“ [14] sind bereits vor der COVID-19-Pandemie wichtige Treffpunkte für die Menschen gewesen. Jedoch wird ihre Bedeutung in Zeiten der Pandemie umso deutlicher. Insgesamt knapp 52 % der Befragten gaben an, dass der Stellenwert der Dritten Orte für sie sehr hoch ist (Bild 4). Auffällig ist, dass nie- Bild 3: Häufigkeit der Besuche der Dritten Orte. © Greinke 45 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt mand den Orten einen sehr geringen oder geringen Stellenwert zuordnet. Somit sind die ausgewählten Beispiele wichtige Orte der Zusammenkunft, die insbesondere auch in Krisenzeiten ein Bezugs- oder Treffpunkt sowie Anker sein können. Zwar mussten die meisten Orte während der Lockdowns schließen, jedoch gab es größtenteils immer noch eingeschränkte Angebote (zum Beispiel reduzierte Öffnungszeiten oder Fensterverkauf), sodass der Zugang weiterhin möglich war und unterschiedliche soziale Gruppen aufeinandertreffen konnten [15]. Dadurch war es Menschen aus der Nachbarschaft in der Pandemie möglich, wenigstens zeitweise sowie in geringem Umfang und Ausmaß mit anderen Menschen in Kontakt zu treten. Besonders in Zeiten, in denen durch Hygieneregeln der Abstand zu den Mitmenschen größer sein muss, können Dritte Orte den Besuchenden Halt geben und als Anlaufstelle zugleich Hoffnung schenken. An oder in den Dritten Orten war es zumindest eingeschränkt möglich, sich zu treffen und auszutauschen, um einen Ausgleich zu Familien- und Berufsleben zu erlangen sowie soziale Beziehungen zu pflegen [15]. Dritte Orte können zudem eine Chance sein, sich hierarchielos und ungezwungen aus alltäglichen Rollen zurückzuziehen [15] und das Wohlbefinden der Besuchenden positiv zu beeinflussen. Die Befragung zeigt, dass sie einen gesellschaftlichen Mehrwert leisten [15]. Rund 93 % der Befragten gaben an, dass der besuchte Ditte Ort ihr Wohlbefinden stark bis sehr stark beeinflusst (Bild- 5). Dabei fällt auf, dass sowohl städtisch als auch ländlich geprägte Dritte Orte einen positiven Einfluss haben können: Dritte Orte sind eine Chance für die Menschen sich bei einladender Atmosphäre zu vernetzen. Der Kontakt zur Nachbarschaft und den Besuchenden der thirdplaces ermöglicht eine positive Stimmung, die insbesondere in Krisenzeiten bedeutsam sein kann. In Zeiten von Homeoffice und -schooling sind solche Treffpunkte besonders wertvoll für die Gemeinschaft. Dritte Orte können ein gutes Miteinander schaffen, welches sich vorteilhaft auf die Menschen auswirkt. Die Gesellschaft braucht diese zugänglichen und nicht-kommerziellen Begegnungsorte [8]. Dritte Orte erhalten und stärken Dritte Orte, an denen spontane Interaktionen, zum Beispiel auch gemeinsames Lachen und Streiten möglich sind und sogar gefördert werden, gilt es zukünftig zu erhalten und weiterzuentwickeln. In der Schnelllebigkeit des 21. Jahrhunderts sind es diese thirdplaces, die ein Miteinander aufbauen und erhalten können. Eine der wichtigen Funktionen der Dritten Orte, das Pflegen einer Gemeinschaft, sollte insbesondere in Krisenzeiten nicht außer Acht gelassen werden. Durch die COVID-19-Pandemie, die soziale Distanz fördert, besteht die Gefahr, dass nachbarschaftliche Kontakte reduziert werden und Dritte Orte an Bedeutung verlieren. So haben auch die Untersuchungen gezeigt, dass sowohl in ländlichen als auch in städtisch geprägten Räumen thirdplaces wichtige analoge Treffpunkte und Begegnungsorte sind, die es zu erhalten gilt. Die mittlerweile recht etablierten Formate des digitalen Austausches (zum Beispiel Telefonie oder Videokonferenzen) können zwar phasenweise fehlende Kontakte und Interaktionen mit anderen Menschen und Medien abfangen, jedoch ist es nicht möglich, mit ihnen reale Begegnungen und damit auch physische Orte zu ersetzen. Insbesondere „Bürgerdialoge oder Nachbarschaftsinitiativen funktionieren nicht im virtuellen Raum, sondern brauchen die lokale Anbindung für ihre Identität und Glaubwürdigkeit“ [8]. Verringerter Zugang zu öffentlichen Dritten Orten sollte deshalb zukünftig (weiter oder wieder) reduziert werden, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Gemeinschaften und Nachbarschaften zu stärken und lebendige, reale (Dritte) Orte zu erhalten. Die analysierten Beispiele Dritter Orte in städtischen und ländlichen Räumen können allesamt als wichtige Räume für die Menschen charakterisiert Bild 4: Stellenwert der Dritten Orte für die Besuchenden. © Greinke Bild 5: Einfluss der Dritten Orte auf das Wohlbefinden der Besuchenden. © Greinke 46 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt werden - sowohl vor, während und vermutlich auch nach der COVID-19-Pandemie. Die Merkmale der Beispiele unterscheiden sich zum Teil von einander: Während Parks eher zur Erholung und zum Entspannen dienen, leisten Bibliotheken einen Beitrag zur Bildung und bieten Möglichkeiten zu Interaktionen mit Medien. Kioske und Dorfläden hingegen laden zur Geselligkeit und Versorgung der Menschen ein. Jedoch muss beachtet werden, dass die Merkmale Dritter Orte sehr individuell ausdefiniert werden können: Für einige Menschen ist es gemütlich, im Park spazieren zu gehen, wohingegen andere sich im Gespräch am Kiosk besser entspannen. Kritisch zu betrachten ist zudem der mögliche Ausschluss von Menschen durch eingeschränkte Öffnungszeiten, begrenzte Zugänglichkeit oder finanzielle Belastungen zum Beispiel durch Eintrittsgelder, die Dritte Orte auslösen können. Gemein haben alle untersuchten thirdplaces, dass sie einladend sind und sich positiv auf die Stimmung der Besucher auswirken. Unterschiedlich ausgeprägt sind jedoch die freie Zugänglichkeit und die Anregung zur Kommunikation. Zukünftig sollte die Bedeutung der thirdplaces für soziale Kontakte sowie die Stadt- und Kommunalentwicklung weiter untersucht werden. Damit alle Menschen ihre Dritten Orte als „Great Good Places“ [4] finden können, gilt es, viele unterschiedliche Räume zu erhalten und zu entwickeln. Dritte Orte sind eine Chance und sollten auch zukünftig bedeutsam für Städte, Kommunen und die Gesellschaft sein. LITERATUR [1] Bhabha, H. K.: The location of culture. London, New York: Routledge, 1994. [2] Soja, E. W.: Thirdspace: Journeys to Loss Angeles and other Real-and-imagined Places. Cambridge, Oxford: Blackwell, 2007. [3] Thiele, K., Klagge, B.: Öffentliche Bibliotheken als dritte Orte und Bildungsgerechtigkeit in Zeiten von Covid-19. S. 552-559, in: BIBLIOTHEK - Forschung und Praxis 2020; 44 (3) (2020). [4] Oldenburg, R.: The Great Good Place. Cafés, Coffee Shops, Bookstores, Bars, Hair Salons, and other Hangouts at the Heart Community. New York: Paragon House, 1989. [5] Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen: Dritte Orte, 2021. URL: https: / / www.mkw.nrw/ kultur/ foerderungen/ dritte-orte [6] Bangert, H.: Soziokultur und >>Dritte Orte<<. S. 373 - 378 in: Sievers, N.; Blumenreich, U.; Dengel, S.; Wingert, C. (Hrsg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2019/ 20. Bielefeld, 2020: transcript Verlag. https: / / doi.org/ 10.14361/ 9783839444917-052 [7] Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (2020): Merkmale eines Dritten Ortes. URL: https: / / www.mkw.nrw/ sites/ default/ files/ documents/ 2019-01/ mkw_nrw_kultur_dritteorte_merkmale_0.pdf [8] Haist, K., Kutz, S.: Viele Corona-Begegnungsorte während und nach der Pandemie: Wiedereröffnet, aber nicht offen. In: Alternative Kommunalpolitik 5/ 2020 (2020) S. 20 - 21. [9] Region Hannover: Die Region Hannover Stellt sich vor, 2021. URL: https: / / www.hannover.de/ Leben-inder-Region-Hannover/ Ver waltungen-Kommunen/ Die-Verwaltung-der-Region-Hannover/ Stellt-sich-vor [10] Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung: Raumabgrenzungen. Übersicht Raumabgrenzungen. Raumtypen 2010: Besiedelung und Lage. 2021. URL: https: / / www.bbsr.bund.de/ BBSR/ DE/ forschung/ raumbeobachtung/ Raumabgrenzungen/ deut s chland/ gemeinden/ R aumt y pen2010 _v bg / raumTypenBesiedlLage_ 2019.csv; jsessionid=3B94 A 577D366C 769BC 2FB12 A635E 7D37.live21302? _ _ blob=publicationFile&v=5 [11] Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung: Raumabgrenzungen. Übersicht Raumabgrenzungen. 2021. URL: https: / / www.bbsr.bund.de/ BBSR/ DE/ forschung/ raumbeobachtung/ downloads/ downloadreferenzen.html? nn=2544954 [12] Norddeutscher Rundfunk: Vermehrt Party-Ärger: Hannover erwägt Nachtbürgermeister. 2021. URL: https: / / w w w.ndr.de/ nachrichten/ niedersachsen/ hannover_weser-leinegebiet/ Vermehrt-Party-Aerger-Hannover-erwaegt-Nachtbuergermeister,nachtb uergermeister104.html [13] Houghton, K., Foth, M., Miller, E.: The continuing relevance of the library as a third place for users and non-users of IT: The case of Canada Bay. Aust Libr J 62(1) (2013) S. 27 - 39. [14] Bingel, K.: Dritte Orte kreativ-urbaner Milieus. Eine gendersensible Betrachtung am Beispiel Braunschweig. Transcript Verlag, 2019. [15] Schmidt, S.: Open Creative Labs - Treffpunkte für Kreative? . Standort 44 (2020) S. 67 - 72. https: / / doi. org/ 10.1007/ s00548-020-00638-x Meinen Dank möchte ich den Studierenden der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover aussprechen, die die Erhebungen durchgeführt haben: Lara Adenbeck, Ole Christiansen, Charlotte Felmberg, Mitja Hecht, Johanna Hefekerl, Jakob Lück, Greta Meinke, Julius Röber, Liv Scheil, Lucia Stiebler, Catharina von Cölln und Lisa Wiegmann. Dr. Lena Greinke Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschung und Lehre Institut für Umweltplanung Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover Kontakt: greinke@umwelt.uni-hannover.de AUTORIN 47 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Informelle Ansätze für eine zukunftsfähige Stadtentwicklung Mit dem Projekt „Stadt auf Probe - Wohnen und Arbeiten in Görlitz“ wurde ein Ansatz entwickelt, wie Städte im demografischen und ökonomischen Strukturwandel ihre Potenziale besser nutzen, fördern und damit Gegenentwürfe zu Abwanderung, Leerstand sowie einem weiteren Bedeutungsverlust etablieren können. Interessierte Personen bekamen die Möglichkeit, den Wohn- und Arbeitsstandort Görlitz für vier Wochen auszuprobieren und vorhandene Netzwerke und Institutionen kennenzulernen. Ein solch experimenteller Ansatz des „Ausprobierens“ kann zum einen Hürden und Unsicherheiten auf Seiten potenzieller Zuzügler abbauen. Zum anderen ermöglicht es Städten, einen Blick von außen auf die lokalen Gegebenheiten zu bekommen. Die (wenn auch nur zeitweilige) Nutzung und Bespielung vorhandener Raumangebote schafft Aufmerksamkeit in der Stadtgesellschaft und ermöglicht das Probieren als Entscheidungshilfe bei der Standortwahl Das Projekt „Stadt auf Probe - Wohnen und Arbeiten in Görlitz“ Experimentelle Ansätze in der Stadtentwicklung, Erprobung, Mittelstadt, peripherer Raum Constanze Zöllter, Stefanie Rößler, Robert Knippschild Klein- und Mittelstädte im demografischen und ökonomischen Strukturwandel brauchen neue Ansätze, um ihre Potenziale zu fördern und damit der Abwanderung, Leerständen sowie weiterem Bedeutungsverlust entgegenzuwirken. In der Stadt Görlitz wird seit einigen Jahren ein experimenteller Ansatz erprobt, durch den interessierte Personen den Standort für eine begrenzte Zeit ausprobieren und mit ihren Bewertungen und Erfahrungen neue Sichtweisen auf eine zukunftsorientierte Stadtentwicklung erlauben. 48 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Ausprobieren von Aktivitäten und Angeboten. Im Sinne eines Reallabors liegt auch eine wesentliche Chance in der transdisziplinären Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft, um neue Fragestellungen zu erörtern, aber auch gemeinsam neues Wissen zu generieren und methodische Herangehensweisen stetig zu reflektieren [1, 2]. Projektansatz „Stadt auf Probe - Wohnen und Arbeiten in Görlitz“ Mit dem im Rahmen der „Nationalen Stadtentwicklungspolitik“ vom Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI) / Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Rahmen einer Ko-Finanzierung geförderten Projekt wurden ein seit 2008 etablierter Probe-Ansatz erweitert [3, 4]. Ausführlicher wurde dazu bereits in dieser Zeitschrift berichtet [5]. Aufbauend auf den Erkenntnissen der Vorgängerprojekte zielte das Projekt „Stadt auf Probe - Wohnen und Arbeiten in Görlitz“ nun auf Personen, die ortsungebunden, zum Beispiel freiberuflich und eventuell in der Kreativwirtschaft arbeiten und die sich für die Stadt Görlitz als Wohn- und Arbeitsort interessieren (zu den Rahmenbedingungen der Stadt siehe [5]). Dafür wurden ihnen für den Zeitraum von vier Wochen jeweils ein Wohnsowie ein Arbeitsraum zur Verfügung gestellt, damit sie ihre Erwerbstätigkeit nach Görlitz mitbringen und den Alltag in der Stadt ausprobieren konnten. Neben der Stadt Görlitz und der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft KommWohnen Service GmbH, die drei möblierte Wohnungen bereit hielt, wirkten lokale Initiativen mit, die Arbeitsräume und Anknüpfungspunkte für Netzwerke anboten. Der Verein KoLABORacja e. V. stellte einen Arbeitsplatz in einem CoWorking-Space zur Verfügung (Bild 1), der Kühlhaus Görlitz e. V. verschiedene Werkstätten (Bild 2) und der Verein Wildwuchs e. V. einen Ausstellungsraum (Bild 3). Nach einem offenen Teilnahmeaufruf gingen insgesamt Bewerbungen von 149 Personen bzw. Haushalten ein. Zusammen mit den Begleitpersonen haben sich 223 Personen für das Projekt interessiert, darunter 12 Familien mit insgesamt 17 Kindern. Mehr als zwei Drittel der Bewerber*innen lebten zum Zeitpunkt der Bewerbung in einer Großstadt mit mehr als 100 000 Einwohner*innen (Bild 4). Als Motivation zur Teilnahme gaben die Bewerber*innen Interesse an der Stadt Görlitz an (90 %) sowie die Suche nach einem neuen Wohnort (62 %) und nach neuen Netzwerken (61 %) an. Die Bewerber*innen arbeiteten in einem breiten Spektrum im künstlerisch-kreativen, aber auch Dienstleistungsbereich. Die Auswahl der Teilnehmenden erfolgte nach Kriterien, die sich aus der Zielstellung des Projektes ableiteten. Zunächst wurde anhand der Herkunft, des Familienstandes, der Motivation zur Projektteilnahme und der Beziehung zur Stadt Görlitz eingeschätzt, wie glaubhaft die Auseinandersetzung mit einem neuen Wohn- und Arbeitsstandort ist. Die endgültige Auswahl der Teilnehmenden erfolgte anhand der dargestellten Motivationen und Tätigkeitsfelder. Aufgrund der Corona-Pandemie konnten nur 15 der ursprünglich geplanten 18 Durchläufe mit jeweils drei Haushalten, die parallel in der Stadt zur Probe wohnten, stattfinden. In dieser Zeit konnten im Rahmen von Fragebögen und Interviews Daten von 47 Teilnehmenden erhoben und wissenschaftlich ausgewertet werden (zu den Altersgruppen vgl. Bild 5; zur Umzugsmotivation vgl. Bild 6). Bild 1 (links): Arbeitsraum im KoL ABOR. © Paul Glaser Bild 2 (Mitte): Kreativwerkstatt im Kühlhaus. © Juliane Wedlich Bild 3 (rechts): Ausstellungsraum des Wildwuchs-e. V. © Sascha Röhricht 69% 13% 9% 9% Herkunftsorte der Bewerber*innen Großstadt (mehr als 100.000 Einwohner*innen) Mittelstadt (20.000 - 100.000 Einwohner*innen) Kleinstadt (5.000 - 20.000 Einwohner*innen) größerer Ort oder Landgemeinde (unter 5.000 Einwohner*innen) N= 149 Bild 4: Herkunftsorte der Bewerber*innen im Projekt „Stadt auf Probe“. © Zöllter et al. 49 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Projektergebnisse Die Teilnehmenden im Projekt „Stadt auf Probe“ machten in einem umfangreichen Online-Fragebogen vor ihrer Ankunft in Görlitz Angaben zu ihrem aktuellen Wohn- und Arbeits(stand)ort sowie zu Wünschen und Bedarfen für einen potenziellen neuen Standort. Nach verschiedenen Gruppengesprächen während des Aufenthaltes wurde an dessen Ende ein leitfadengestütztes Interview mit den Teilnehmenden insbesondere zu ihren Erfahrungen vor Ort in Görlitz durchgeführt. Die gewonnenen Erkenntnisse werden im Folgenden zusammengefasst. Lebensphase und Leidensdruck Es wurde deutlich, dass Standortentscheidungen durchaus auch emotionale und persönliche Entscheidungen sind, die nicht ausschließlich auf das Vorhandensein spezifischer (Standort-)Faktoren zurückzuführen sind und in der Regel sehr bewusst und überdacht getroffen werden. Die Bewerbungen zum Projekt zeigten, dass vor allem Personen in der Familiengründungsphase - nach Abschluss einer Ausbildungsphase oder nach der ersten Etablierung im Erwerbsleben - über einen Standortwechsel nachdachten. Standörtliche Veränderungen kamen auch für Menschen in Frage, die in ihrem Erwerbsleben bereits erfolgreich waren und, häufig nach Auszug der Kinder, noch einmal über eine berufliche und räumliche Neuorientierung nachdachten. Bereits bei den Bewerbungen zur Projektteilnahme wurde die Annahme bestätigt, dass sich Personen, die zunehmend unter den Überlastungserscheinungen vieler Großstädte leiden, aktiv nach einem alternativen Wohnstandort umsehen. Häufig wurde eine Unzufriedenheit mit dem Angebot und den Mietpreisen auf dem lokalen Wohnungsmarkt, den Möglichkeiten zum Eigentumserwerb sowie auch mit der hohen Verkehrs- und Lärmbelastung am Wohnstandort angegeben. Weitere Motivationen waren die Mietpreise für Arbeitsräume sowie deren Ausstattung und der Wunsch, Wohnen und Arbeiten räumlich zu trennen. Probieren als Entscheidungshilfe und Türöffner Die Möglichkeit des Ausprobierens nutzen viele Personen auch als persönliches Experiment, um sich über ihre Wohnbedürfnisse und Anforderungen an einen Standort mehr Klarheit zu verschaffen. So zogen einige Teilnehmende am Ende ihres Aufenthaltes das allgemeine Fazit, dass ihnen die Ruhe und Entschleunigung einer kleineren Stadt gefiel. Gleichzeitig sind die häufig in der Kultur- und Kreativwirtschaft Tätigen zum einen an mehreren Standorten präsent, zum anderen aber auch bezogen auf ihren Beruf einer gewissen Unsicherheit ausgesetzt. Häufiger wurden daher auch die Möglichkeiten eines vorübergehenden Aufenthaltes in solch einer Stadt angesprochen oder auch das Potenzial als Zweitwohnsitz. Qualität, Quantität und Zugänge auf dem Wohnungsmarkt Die vielen leer stehenden Wohnungen und Gewerberäume und die vergleichsweise günstigen Mieten zogen das Interesse vieler Teilnehmender auf sich und wurden von diesen auch als wesentliches Potenzial der Stadt Görlitz bewertet. Die Zahlungsbereitschaft der Teilnehmenden lag etwas über dem Durchschnitt des lokalen Wohnungsmarktes. Allerdings wurden auch Ansprüche formuliert, die auf dem Wohnungsmarkt in Görlitz offenbar nur bedingt abgedeckt sind. Gerade bezüglich angebotener Altbauwohnungen in einer Stadt mit einem solch großen historischen Gebäudebestand wurden mehr Wohnungen mit individueller Gestaltung, hochwertiger Sanierung und historischen Elementen erwartet. Neben bereits fertig sanierten wurden außerdem unsanierte Wohnungen nachgefragt, die 15% 41% 17% 19% 4% 4% Altersgruppen der Teilnehmenden 18-29 Jahre 30-39 Jahre 40-49 Jahre 50-59 Jahre 60 Jahre und älter keine Angabe gemacht N= 47 17% 53% 28% 2% Haben Sie vor nach Görlitz zu ziehen? Ja, das plane ich. Ich kann es mir vorstellen, hängt aber noch von verschiedenen Dingen ab. Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. keine Aussage N = 47 Bild 5: Altersgruppen der Teilnehmenden im Projekt „Stadt auf Probe“. © Zöllter et al. Bild 6: Umzugsmotivation der Teilnehmenden im Projekt „Stadt auf Probe“. © Zöllter et al. 50 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt individuell gestaltet werden können. Ebenso wurde ein Bedarf an flexibel nutzbaren Räumen, die beispielsweise auch eine Kombination von Wohnen und Arbeiten ermöglichen, oder auch neuen „Wohnmodellen“ deutlich, wie Gemeinschaftswohnmodelle oder Baugemeinschaften. Aufgrund der sehr kleinteiligen Anbieterstruktur innerhalb der Stadt empfanden es viele Teilnehmenden schwer, sich einen Gesamtüberblick über den Immobilienmarkt zu verschaffen. Mittelstädte als Ort der Entschleunigung und Inspiration Charakteristische Eigenschaften einer Mittelstadt wie die Übersichtlichkeit, die kurzen Wege innerhalb der Stadt und die damit häufig verbundene Entschleunigung des Alltages, aber auch die wenigen Ablenkungen wurden positiv eingeschätzt, um etwa konzentriert an einem Projekt zu arbeiten. Die Möglichkeit einer intensiven Schaffensphase konnte teilweise auch die fehlenden Anregungen der gewohnten großstädtischen Umgebung aufwiegen. Je nach Tätigkeit konnte das besondere städtebauliche Umfeld, das „Unperfekte“ oder „Unfertige“, aber auch zu neuen Ideen und zur Inspiration beitragen. Die räumlichen, aber auch gedanklichen Freiräume, denen die Teilnehmenden begegneten, sowie die Offenheit und Toleranz gegenüber ihren ausgeübten Tätigkeiten, trugen wesentlich zur Wahrnehmung der Stadt Görlitz als einem geeigneten Standort für kreativ Tätige bei. Mittelstädte als ökonomisch tragfähige Orte für die Kultur- und Kreativwirtschaft Die Eignung von Görlitz als ökonomisch tragfähiger Arbeitsstandort für freiberufliche Kreative ist abhängig von der ausgeübten Tätigkeit. Für diejenigen, die vorwiegend online arbeiten oder keinen lokalen Absatzmarkt benötigen, war die Stadt aufgrund ihrer bereits genannten Potenziale eine reelle Option als Wohnstandort. Bei Tätigkeiten, die auch auf einen lokalen Absatzmarkt angewiesen waren, hing die Eignung davon ab, wie die Potenziale des Standortes tatsächlich genutzt werden konnten, um neue Märkte zu erschließen, neue Geschäftsideen zu entwickeln und die eigene Erwerbstätigkeit auszubauen. Stellenweise beschrieben die Teilnehmenden auch eine fehlende Bereitschaft von Personen außerhalb ihrer Netzwerke, die Arbeit von Kultur- und Kreativwirtschaft wertzuschätzen und entsprechend zu fördern und zu unterstützen. Gleichzeitig schwang bei den Teilnehmenden immer die Besorgnis mit, bei einer Professionalisierung und damit einhergehenden Kommerzialisierung der Aktivitäten vor allem im Kultur- und Kreativbereich ähnliche Prozesse wie in vielen Großstädten, mit oft auch negativen Auswirkungen, in Gang zu setzen und damit die Potenziale und Anziehungsfaktoren der Stadt auf längere Sicht zu verlieren. Verkehrsanbindung von Mittelstädten Viele Teilnehmende waren vor allem für die Ausübung ihrer Tätigkeit auf eine gute Anbindung der Stadt an andere - vornehmlich - deutsche Großstädte und Metropolregionen angewiesen. Dabei stand vor allem die Bahnverbindung im Vordergrund. Hierzu gab es unterschiedliche Bewertungen, inwiefern das Streckennetz und die Taktung vor allem in die Städte Dresden und Berlin bereits ausreichend seien. Die Ausdünnung der Verbindungen an den Tagesrandlagen wurde kritisch gesehen und die fehlende Fernverkehrs-Anbindung der Stadt Görlitz wurde immer wieder thematisiert und von den Teilnehmenden größtenteils gefordert. Neben den rein praktischen Vorzügen einer qualitätsvollen Zuganbindung auf Fernverkehrsniveau, spielte durchaus auch die damit verbundene Wahrnehmung einer gut und komfortabel erreichbaren Stadt eine Rolle. Nähe als Potenzial und Last von Mittelstädten Bereits vorhandene Netzwerke, Initiativen, Vereine und die vielen engagierten Menschen in der Stadt Görlitz überraschten die Teilnehmenden positiv. Dies ermöglicht zugezogenen Personen ein schnelles Ankommen in der Stadt und ein leichtes Knüpfen von Kontakten und Netzwerken. Diese sicherlich Bild 7: Leerstehendes Eckgebäude in der Görlitzer Altstadt © C. Zöllter/ IÖR-Media 51 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt auch auf die Größe der Stadt zurückzuführende Eigenschaft der sozialen Nähe sorgte für positive, aber auch eher ungewohnte Gefühle bei den Teilnehmenden. So wurde vielen sehr schnell klar, dass sie die gewohnte Anonymität der Großstadt in Görlitz nicht vorfinden würden, was sowohl positiv als auch eher negativ empfunden wurde. Auch nahmen die Teilnehmenden wahr, dass sich polarisierende Diskussionen viel schneller und intensiver in der Stadtgesellschaft und im alltäglichen Leben durchschlagen. Fazit und Ausblick Es ist davon auszugehen, dass die spezifischen Befunde und Hinweise für eine zukunftsfähige Entwicklung der Stadt Görlitz auch auf andere Städte mit ähnlichen Rahmenbedingungen übertragen werden können. Das Projekt hat gezeigt, dass Experimente geeignet sein können, sowohl auf Seiten der Bewohnerschaft als auch auf Seite der Stadtverantwortlichen, etablierte Pfade zu verlassen, um Spielräume für neue Erfahrungen und einen Austausch zu ermöglichen. Dafür müssen sich alle Beteiligten selbstbestimmt auf das Experiment einlassen, was durchaus Mut und Offenheit bei allen erfordert. Entsprechende Ansätze sollten im Rahmen der Stadtentwicklungspolitik weiter befördert werden und hinsichtlich ihres Mehrwerts, aber auch der Herausforderungen (für beide Seiten) offen diskutiert werden. Die Stadt Görlitz hat sich aktuell das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2030 klimaneutral zu werden. Dies haben die Projektpartner zum Anlass genommen, die Idee des „Ausprobierens eines Standortes“ weiterzuentwickeln, und so startete Ende des Jahres 2020 das Projekt „Stadt der Zukunft auf Probe - Ein Wohn- und Arbeitsexperiment für ein klimaneutrales Görlitz“. Es soll wiederum Aufmerksamkeit auf den Wohn- und Arbeitsstandort Görlitz lenken und zugleich die Chancen eines gezielten Zuzugs für die Umsetzung einer nachhaltigen Stadtentwicklung ermitteln. Die Teilnehmenden nutzen den Aufenthalt, um sich im Rahmen ihrer Erwerbstätigkeit mit der Thematik Klimaneutralität und nachhaltige Stadtentwicklung auseinanderzusetzen und ihr Wissen in die Stadt zu tragen. Dazu sind verschiedene Arbeitsmodelle angedacht: Praktika in Unternehmen, wissenschaftliche Gastaufenthalte, Start-Up-Aktivitäten bis hin zu Aufenthalten von freischaffenden Künstler*innen in Zusammenarbeit mit lokalen Institutionen und Unternehmen. Die Begleitforschung umfasst dabei sowohl den Blick der Gäste auf die Stadt und ihre Potenziale und Grenzen hinsichtlich eines nachhaltigen Lebensstils als auch die Erfahrungen der aufnehmenden Stadtgesellschaft mit den Impulsen von außen. Die ersten Teilnehmenden kamen im Herbst 2021 in die Stadt und es werden weitere Aufenthalte bis zum Frühjahr 2023 folgen. LITERATUR [1] Beecroft, R., Parodi, O.: Reallabore als Orte der Nachhaltigkeitsforschung und Transformation - Einführung in den Schwerpunkt. Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Institut für Technikfolgeabschätzung und Systemanalyse (ITAS) (Hrsg.): Reallabore als Orte der Nachhaltigkeitsforschung und Transformation, (2016) S. 4 - 8. [2] Schneidewind, U.: Urbane Reallabore - ein Blick in die aktuelle Forschungswerkstatt. In: pnd online (3), (2014) S. 1 - 7. [3] Pfeil, A.: Leerstand nutzen - Perspektivenwechsel im Umgang mit dem strukturellen Wohnungsleerstand in ostdeutschen Grenzgebieten. Berlin: Rhombos- Verlag, IÖR-Schriften, Band 64, (2014). [4] Zöllter, C., Rößler, S., Knippschild, R.: Probewohnen Görlitz-Altstadt. Berlin: Rhombos-Verlag, IÖR-Schriften, Band 75, (2017). [5] Zöllter, C., Rößler, S., Knippschild, R., Hauck, S.: Stadt auf Probe - Wohnen und Arbeiten in Görlitz. Eine Mittelstadt in peripherer Lage als zukunftsfähiger Wohn- und Arbeitsstandort. In: Transforming Cities 1 (2019) S. 48 - 53. Dipl.-Geogr. Constanze Zöllter Wissenschaftliche Mitarbeiterin Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), Dresden; Interdisziplinäres Zentrum für transformativen Stadtumbau (IZS), Görlitz Kontakt: c.zoellter@ioer.de Dr.-Ing. Stefanie Rößler Dipl.-Ing. Landschaftsarchitektur Seniorwissenschaftlerin Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), Dresden; Interdisziplinäres Zentrum für transformativen Stadtumbau (IZS), Görlitz Kontakt: S.Roessler@ioer.de Prof. Dr.-Ing. Robert Knippschild Dipl.-Ing. Raumplaner Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), Dresden, und Technische Universität Dresden Kontakt: R.Knippschild@ioer.de AUTOR*INNEN 52 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Das Forschungsvorhaben TransZ - Transformation urbaner Zentren 1 beschäftigt sich mit den vielfältigen funktionalen und räumlichen Transformationsprozessen urbaner Stadt(teil)zentren. Zentren und Stadtteilzentren verändern sich in einem zunehmend dynamischen Prozess; sie sind vom Strukturwandel betroffen und in ihrer Funktion als kommunikative Mitten bedroht [1]. 1 TransZ wird vom BMBF gefördert und ist ein Verbundprojekt der vier Hochschulen HCU Hamburg, HAW Hamburg, HAWK Hildesheim/ Holzminden/ Göttingen und der HFT Stuttgart mit jeweils zugehörigen kommunalen Praxispartnern. Insbesondere der öffentliche Raum hat als Treffpunkt für die Stadtgesellschaft und als Identitätsstifter in Stadt(teil)zentren eine große Bedeutung. Durch eine passende Gestaltung können öffentliche Räume den sozialen Zusammenhalt sowie die Transformation der gesamten Stadt positiv unterstützen-[2]. Die Grundannahme des Forschungsprojekts ist, dass eine nachhaltige Transformation von Zentren nur gelingen kann, wenn lokale Akteur*innen vor Ort den Prozess tragen. Aus diesem Grund müssen Transformation des öffentlichen Raums Planungen, Prozesse und Mitwirkungsmöglichkeiten in Stadt(teil)zentren Öffentlicher Raum, Transformation, Kooperation, gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung Elisabeth Schaumann, Hannah Bühr, Christina Simon-Philipp Der öffentliche Raum hat als Treffpunkt und Identitätsstifter in Stadt(teil)zentren eine große Bedeutung. Planungen für eine bedarfsgerechte Gestaltung des öffentlichen Raums gehen nicht mehr allein von Kommunen aus, auch weitere Akteur*innen setzen entsprechende Impulse und fordern Mitgestaltungsmöglichkeiten ein. Verschiedene partizipative und kreative Formate der Zentrenentwicklung werden mit dem Ziel untersucht, bestehende Planungsprozesse und -instrumente durch Mitwirkungsmöglichkeiten verschiedener Akteur*innen zu ergänzen und das bestehende Planungsinstrumentarium so zu bereichern. Bild 1: TransZ - Bauwerkstatt in Stuttgart Wangen. © Johannes Eitelbuß 53 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt sie ihre eigenen Potenziale und Ressourcen erkennen, mobilisieren und organisieren, um zukunftsweisende und tragfähige Entwicklungsperspektiven initiieren zu können. Im Rahmen des Projekts wurden verschiedene partizipative und kreative Formate der Zentrenentwicklung hinsichtlich der Mitwirkungsmöglichkeiten unterschiedlicher Akteur*innen näher untersucht. Ziel der Untersuchung war es, bestehende Planungsprozesse und -instrumente diesbezüglich zu ergänzen und damit eine Bereicherung der aktuellen Planungsinstrumente zu ermöglichen. Zudem sollten Möglichkeiten aufgezeigt werden, wie der öffentliche Raum in Stadtteilzentren vor Ort kollaborativ gestaltet werden kann. Gestaltung des öffentlichen Raums Öffentliche Räume sollten so gestaltet sein, dass sie den diversen Ansprüchen der vielfältigen Nutzer*innen gerecht werden [2]. Dabei setzt nicht mehr allein die Kommune Impulse für neue Prozesse und Planung, immer häufiger fordern Bewohner*innen Teilhabe- und Mitgestaltungsmöglichkeiten ein. Umfangreiche Partizipationsverfahren, kreative Formate und auch soziokulturelle Projekte haben stark an Bedeutung gewonnen [3, 4]. Im Rahmen des Forschungsprojekts wurden mehr als 20 verschiedene (in)formelle Planungsprozesse, zivilgesellschaftlich initiierte Projekte und besondere Kooperationsformen untersucht, die eine (Neu-) Gestaltung des öffentlichen Raums zum Ziel haben. Kooperieren und Beteiligen Viele der untersuchten Projekte sind durch die Kooperation von Kommune, Bewohner*innen und weiteren Akteur*innen entstanden. Dabei setzt die Zusammenarbeit zum Teil bereits bei der Initiierung des jeweiligen Prozesses an, in anderen Fällen erst während der Planung oder der Durchführung der Prozesse. Im Rahmen von TransZ wurde in Stuttgart-Wangen gemeinsam von Hochschule, Bewohner*innen und Bezirksamt eine Bauwerkstatt initiiert. Anwohner*innen bauten hier eigenständig ein neues Stadtmöbel für den Bezirk. Eine solche gemeinschaftliche Initiierung von Projekten ist selten, was darauf zurückzuführen ist, dass potenzielle Kooperationspartner*innen meist erst nach der Initiierung auf das Projekt aufmerksam werden und zueinander finden. Häufiger findet daher eine Kooperation während der Planung des entsprechenden Gestaltungsprozesses statt, beispielsweise im Fall der Passage 56 in Paris. Dort wurde 2006 ein ehemaliger Durchgang zwischen zwei Gebäuden mit kreislaufgerecht bewirtschafteten Urban-Gardening- und Aufenthaltsflächen neugestaltet [5]. Der Planungsimpuls kam von der Delegation für Stadtpolitik und Integration in Paris; diese hat dem Kollektiv Atelier d’architecture anboten, das Potenzial des Gebiets zu untersuchen. Nach ausführlichen Analysen der überlassenen Brachfläche und deren Umgebung startete die Entwicklung eines gemeinsamen Prozesses mit Anrainer*innen und lokalen Organisationen [6]. Durch diese frühzeitige Teilhabe am Prozess und die dadurch erfahrene Selbstwirksamkeit der lokalen Bevölkerung konnte eine starke Identifikation mit dem Projekt ermöglicht werden. 2009 wurde die Fläche schrittweise an eine Gruppe Anwohner*innen des dichten und diversen Viertels im Osten von Paris übergeben. Seither wird die Fläche kollektiv verwaltet und kontinuierlich weiterentwickelt. So entstand ein neues kulturelles Quartierszentrum, an dem das ökologische Bewusstsein der Bevölkerung ganz nebenbei gestärkt werden kann [7]. Das Beispiel Haus der Statistik (Berlin) zeigt, wie die gemeinsame Planung und Durchführung eines Prozesses geschehen kann. Das Gebäude sollte 2015 nach zehn Jahren Leerstand an Investor*innen verkauft und abgerissen werden. Die Allianz bedrohter Berliner Atelierhäuser brachte ein offiziell wirkendes Bauschild mit dem Schriftzug „Hier entsteht für Berlin: Räume für Kultur, Bildung und Soziales“ am Gebäude an und eröffnete somit die öffentliche Diskussion um die Zukunft des Gebäudes. Seither sind verschiedene soziale und kulturelle Einrichtungen und Verbände, Künstler*innen, Architekt*innen, Stiftungen und Vereine aktiv, um die gemeinwohlorientierte Entwicklung des Gebäudes zu ermöglichen. Bild 2: Passage 56. © Sichting Tussentuin 54 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Die Bezirksverordnetenversammlung von Berlin- Mitte unterstützte das Projekt von Beginn an. 2016 wurde im Koalitionsvertrag der rot-rot-grünen Regierung eine Rekommunalisierung des gesamten Areals festgehalten, 2017 erwarb das Land Berlin das Gebäude von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Die Initiative arbeitet seit 2018 unter dem Namen Koop5 mit Senatsverwaltung, Bezirksamt Berlin-Mitte und den landeseigenen Gesellschaften WBM und BIM an einer gemeinwohlorientierten Entwicklung des Hauses der Statistik [8, 9]. Solch eine vorbildliche Kooperation der Akteur*innen bedarf viel Arbeit, Energie und Geduld. Das Beispiel zeigt zudem die potenziell große Wirkung von künstlerischem Protest sowie den immensen Einfluss der Politik. Eine intensive Zusammenarbeit macht allerdings nicht automatisch einen guten und gemeinwohlorientierten Prozess aus. Nicht jede/ r kann sich in einem groß angelegten kooperativen Konstrukt wie zum Beispiel Koop5 zurechtfinden oder hat die zeitlichen Ressourcen. Daher sind begleitende zielgruppenorientierte Beteiligungen wichtig, um möglichst viele Menschen teilhaben zu lassen. Frühzeitige Beteiligung In Bezug auf die untersuchten Prozesse ist festzuhalten, dass eine frühzeitige Beteiligung von großer Bedeutung ist. Die Mitwirkungsmöglichkeiten an einer Planung können noch so umfangreich sein, wenn sie zu einem Zeitpunkt einsetzen, an dem die grundlegenden Entscheidungen schon getroffen sind, können die eingebrachten Ideen das Ergebnis nur noch wenig beeinflussen. Im Sanierungsgebiet Karlsruhe-Mühlburg (Förderprogramm Soziale Stadt) stand die Aufwertung des Zentrums im Fokus, die Bevölkerung wurde bereits in die Erstellung der vorbereitenden Untersuchungen einbezogen und während des Städtebauförderprozesses stetig und intensiv eingebunden. Jugendliche wurden gezielt über Film und digitale Angebote dazu motiviert, sich mit der Entwicklung des Gebiets auseinanderzusetzen. Diese Bemühungen haben eine Identifikation der Bevölkerung mit den angestoßenen Maßnahmen begünstigt und dazu geführt, dass die Bereitschaft zur Gründung von zwei Vereinen bestand und Prozesse so verstetigt werden konnten [10]. Mut zum Experimentieren Neben den klassischen Planungsprozessen kommen auch temporären Entwicklungen und experimentellen, ergebnisoffenen Prozessen große Bedeutung zu. Der Straßenraum der Osterstraße in HH-Eimsbüttel wurde 2017 erneuert, die Aufwertung des öffentlichen Raums und die Förderung von Fuß- und Radverkehr waren beonders wichtig. Bei der Entwicklung der Erneuerungsmaßnahme konnte auf bereits bestehende Beteiligungsergebnisse zurückgegriffen werden, zudem wurden Passant*innen vor Ort nach ihren Ideen und Meinungen gefragt. Bei einer im Anschluss an die Maßnahmen durchgeführten Evaluation zeigte sich jedoch, dass die Zufriedenheit eher gering war - knapp ein Drittel der Teilnehmenden gab an, dass die Situation nach der Sanierung gleich geblieben ist oder sich sogar etwas verschlechtert hat [11, 12]. Das Beispiel zeigt, dass die theoretisch erhobenen Meinungen oft nur auf dem Papier funktionieren. Die Ergebnisse aus der Beteiligung geben wichtige Informationen wieder - in einem zweiten Schritt hätten diese grundlegenden Ergebnisse vor Ort ausprobiert werden können, zum Beispiel durch Verkehrsexperimente oder temporäre Nutzungsänderungen. Probleme hätten so erkannt und in der weiteren Planung und tatsächlichen Umsetzung berücksichtigt werden können. Ein solch experimentelles Vorgehen fand beispielsweise in Riga statt. Ein Team von Aktivist*innen hat durch eine temporäre flächige farbliche Markierung auf dem Boden die Fahrbahnbreite zugunsten des Fuß- und Radverkehrs verändert, um die Auswirkungen auf die lokale Situation zu untersuchen. Bereits nach kurzer Zeit war eine intuitive Aneignung des Straßenraums durch die veränderte Mobilitätsstruktur erkennbar. Die Planer*innen standen während der Aktion für Gespräche mit der Bevölkerung vor Ort zur Verfügung. Trotz der auf Dauer unveränderten Situation vor Ort gingen die Bilder und das produzierte Video um die Welt, bekamen enorm viel internationalen Zuspruch und können so als Inspirationsquelle für neue Projekte dienen [13]. Bild 3: Intervention in Riga. © Fine Young Urbanists 55 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Handlungsempfehlungen Die dargestellten Projekte verdeutlichen exemplarisch den großen Zugewinn, den die verschiedenen Impulse, Prozesse und Planungen für den öffentlichen Raum in Stadt(teil)zentren bedeuten. Bottom-Up-Prozesse gilt es daher weiterhin stärker zu fördern und diese auch vermehrt in bestehende Top-Down-Prozesse zu integrieren. Wenn die strukturellen Vorgaben formeller Planungsprozesse die Mitwirkungsmöglichkeiten lokaler Akteur*innen insbesondere im Vergleich zu zivilgesellschaftlich initiierten Prozessen zunächst einzuschränken scheinen, konnten die untersuchten Fallbeispiele aufzeigen, dass das bestehende Planungsinstrumentarium den Kommunen durchaus ermöglicht, den lokalen Akteur*innen umfangreiche Mitsprache bei Konzeption und Planung einzuräumen. Das Problem liegt eher darin, dass diese Möglichkeiten oftmals nicht, beziehungsweise nur zu einem Minimum ausgeschöpft werden. Die Gründe hierfür sind vielfältig und sicherlich nicht einfach zu lösen. Was jedoch nicht passieren darf, ist ein Verzicht auf lokales Wissen aufgrund von vermeintlich ausreichendem verwaltungsinternem Detailwissen. Durch die Kombination von lokalem Wissen aus der Bevölkerung und dem Fachwissen kann die Entwicklung eines langfristig funktionierenden öffentlichen Raums ermöglicht werden. Eine Ausweitung des bestehenden Instrumentariums erscheint in Bezug auf die grundsätzlichen Mitwirkungsmöglichkeiten nicht nötig. Vielmehr bedarf es Geboten und dem Willen zur stärkeren, gezielteren und frühzeitigen Einbeziehung des lokalen Wissens sowie dem Mut zu Experimenten und Unfertigem. Die Erweiterung von Planungsprozessen um eine Phase 0 wäre eine erste Möglichkeit, zu einem frühen Zeitpunkt mit Interessierten ins Gespräch zu kommen und deren Sichtweisen und Ideen mit in die Planungen einfließen zu lassen. Auch sollten mehr Experimentierräume ermöglicht werden. Im Rahmen der Städtebauförderung sind diese zwar bereits erwähnt, finden sich in der Umsetzung jedoch zu selten wieder. Ein Ausprobieren und Testen der geplanten Veränderungen sollte, wann immer möglich, Teil von Planungsprozessen werden. So könnten bedarfsgerechtere Räume gestaltet und zudem Kosten für potenzielle nachträgliche Umbauten gespart werden. In Bezug auf all diese Punkte scheint es empfehlenswert zu sein, entsprechende Handreichungen, Weiterbildungen, Konferenzen oder andere Formate zum Wissensaustausch für die verantwortlichen und ausführenden Stellen zur Verfügung zu stellen. LITERATUR [1] Schaumann, E., Simon-Philipp, C.: Urbane Interventionen im öffentlichen Raum. Transformationspotenziale in Stadtteilzentren. In: Forum Stadt 3 (2018), S. 247 - 258. [2] Lüscher, R.: Transforming Cities. In: Feireiss, K. Hamm, O.G. in co-operation with the Senate Department for Urban Development and the Environment (Hrsg.): Transforming Cities. Urban Interventions in Public Space. Berlin, jovis, (2015) S. 22 - 31. [3] Humann, M., Polinna, C.: Planungsprozesse, in: BBSR (Hrsg.), Glossar zur Gemeinwohlorientierten Stadtentwicklung, Bonn (2020), S. 109. [4] Schröteler-von Brandt, H., Schmitt, G.: Stadterneuerung. Eine Einführung. Wiesbaden, 2016, S. 93, S. 108. [5] ht tp s : / / w w w.publi c sp a ce.or g / wor k s / -/ proje c t / f 250 -passage -56 cultural-andecological-space, 01.04.2021. [6] https: / / www.urbantactics.org/ projets/ passage56/ , 29.09.2021. [7] https: / / designinfrastructuresinclusion.wordpress. com/ tlp-database/ passage-56-paris/ , 01.04.2021. [8] https: / / hausderstatistik.org/ initiative/ , 03.03.2021. [9] ZUsammenKUNFT Berlin eG 2019: Modellprojekt Haus der Statistik, Band 1, Das Modellprojekt: Initiative und Vision, 2019, Berlin. [10] Ministerium für Finanzen und Wirtschaft Baden- Württemberg 2015: Stadt Bürger Dialog, Städtebauförderung 2004 - 2014, Broschüre, Stuttgart. [11] Stadt Hamburg: Ergebnisse der Vorher - Nachher- Untersuchung, Evaluation Osterstraße, Stadtraumerneuerung Osterstrasse, Präsentation am 04.12.2019, Hamburg. [12] https: / / www.hamburg.de/ eimsbuettel/ osterstrasse/ 4510182/ mediathek/ , 08.03.2021. [13] https: / / www.publicspace.org/ works/ -/ project/ j235mierigi, 28.09.2021. Elisabeth Schaumann Wissenschaftliche Mitarbeiterin Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: elisabeth.schaumann@hft-stuttgart.de Hannah Bühr Wissenschaftliche Hilfskraft Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: 01buha1msp@hft-stuttgart.de Prof. Christina Simon-Philipp Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: christina.simon@hft-stuttgart.de AUTORINNEN 56 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Berufsbedingte Multilokalität - Strategie der Lebensbewältigung Dass sich Menschen an mehreren Orten gleichzeitig niederlassen, um dort wiederkehrend oder nur einmalig auf begrenzte Zeit zu leben, kann als Reaktion auf die Veränderungen der Arbeitswelt gesehen werden, genauso aber auch ein Indiz des sozialen Wandels sein [1]. Globalisierungs- und Flexibilisierungstendenzen sowie die zunehmende Technologisierung führen zu Veränderungen, die sich in vielen Bereichen der produktionsnahen und wissensbasierten Arbeitsformen unter anderem in einer Zunahme hochmobiler und auch multilokaler Lebensumstände niederschlagen. Es ist ein soziales Phänomen, das in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist und sich nicht mehr nur als Merkmal prestige- oder statusträchtiger Tätigkeiten im politischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bereich zeigt. Vielmehr ist multilokales Leben Ausdruck und zugleich Begleiterscheinung des Strukturwandels hin zu einer postmodernen Wissensgesellschaft. Dabei zeigen sich am Beispiel der berufsinduzierten Multilokalität besonders eindrücklich die zunehmenden Ambivalenzen und Widersprüche der gesellschaftlichen und technologischen Transformationen. Als Wohn- und zugleich Mobilitätspraxis überwindet berufsinduzierte Multilokalität tradierte „Raumzeitstrukturen“ [2], wodurch sich einerseits erweiterte individuelle Handlungsspielräume mit neuen Freiheitsgraden ergeben, andererseits aber auch andersartige Limitierungen von Alltagshandeln emergieren. Zeit, die am einen Wohnbzw. Arbeitsort verbracht wird, steht am anderen Ort nicht mehr zur Verfügung. Umziehen oder Pendeln? Die Entscheidung für ein Leben an mehreren Orten leitet sich in letzter und trivialster Instanz immer aus der Fragestellung „Umziehen oder Pendeln? “ ab. Hiernach entsteht der Eindruck, Multilokalität könne entweder nur Wohnform oder Mobilitätsform sein. Multilokalität umfasst aber beides, als zwei komplementäre Praktiken. Weder wird der ursprüngliche Wohnstandort durch Aufnahme eines neuen aufgegeben, noch führt der Rückweg einer Reise notwendigerweise wieder zum Ausgangspunkt, also zum (Erst-)Wohnsitz, zurück. Gleichzeitig bleibt ein mehr oder weniger regelmäßiges Pendeln bestehen, jedoch auch wieder unter Einbezug der zusätzlichen Unterkunft sowie erweitert durch periodische und individuelle Wechsel zwischen den Wohnstandorten. In der Folge verändern sich die Gestalt des Aktionsraumes und alle damit verbundenen räumlichen Verflechtungsstrukturen. Ein neues Verständnis von Raum und Zeit Der Aktionsraum umfasst die räumlichen Verflechtungsstrukturen jener Orte, über welche sich der Alltag von multilokalen Akteuren in weitgehend regelmäßiger Wiederkehr erstreckt. Aufgrund der vielfältigen und individuellen multilokalen Lebensarrangements kann der Aktionsraum unterschiedlich viele Orte enthalten. Nicht selten wechseln die aufgesuchten Orte auch öfters im Lebensverlauf. Trotz dessen gibt es Orte, die über die individuellen Fallbeispiele hinweg eine Konstanz und andauernde Relevanz aufweisen. Hierzu zählen der ursprüngliche und der neu hinzukommende Wohnsitz am Arbeitsort, der Arbeitsort selbst und die jeweils dazugehörigen Umgebungen. Diese Orte werden Neubewertung von Alltagsräumen Stadt- und Verkehrsplanung, Stadtentwicklung, Qualitäten von Orten, Wohn- und Lebenspraktiken, Zeit als Planungsparamter, wissensbasiertes Arbeiten, (berufsbedingte) Multilokalität Sandra Gleich, Markus Kaltenbach Die zunehmende Bedeutung multilokaler Lebenspraktiken trägt auch für die zukünftige Stadtentwicklung in der Verknüpfung von räumlichen und zeitlichen Planungsparametern Gewicht. Anspruch dieses Beitrags ist es, für die Integration zeitbezogener Planungskriterien zu sensibilisieren und Handlungssowie Planungsdesiderata herauszuarbeiten. Anhand berufsinduzierter Multilokalität wird aufgezeigt, dass sich die Neubewertung von Alltagsorten aus einem andersartigen Verständnis von Raum und Zeit ableiten lässt: Alltagsorte bilden Zeitinseln und müssen Möglichkeiten der individuellen Umkodierung bieten. 57 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt durch Zwischenräume und für die Akteure zentralen Transitorte, im Folgenden als „Mobilitätsorte“ [3] bezeichnet, komplementiert. Die genannten Orte stehen unweigerlich in einem engen Abhängigkeitsverhältnis. Ihre Standortofferten [4] ergänzen sich wechselseitig und können daher nicht losgelöst voneinander betrachtet oder verstanden werden. Handlungs- und Planungsdesiderata Durch die Erweiterung des Aktionsraumes infolge eines zusätzlichen Wohnortes wird das Erleben von Raum, Distanz und Zeit in erheblichem Maße beeinflusst. Ständiges Synchronisieren und Koordinieren von Aktivitäten an den verschiedenen Orten des multilokalen Settings, aber auch die Organisation des Pendelns münden in enormen Zeitmangel und Zeitdruck. Und so werden die Orte des multilokalen Settings hinsichtlich ihres Nutzens reflektiert und neu bewertet. Ein tradiertes lineares Zeitverständnis genügt dieser Neubewertung allerdings nicht, wodurch sich allmählich ein Zeitkonstrukt etabliert, das von Zeitinseln ausgeht. Zeitinseln schaffen mehr selbstbestimme Zeitverwendung [5]. Zeit ist ein knappes Gut. Zeit zu haben, wird essenziell. Zeit und Raum werden zu komplementären Dimensionen. Die Annahme von Zeitinseln ist allerdings nicht gleichzusetzen mit möglichst dichtem Zeiterleben, das heißt einer dichten Abfolge von oder gar simultan stattfindenden Aktivitäten. Vielmehr impliziert es die innere Abkehr von Simultanität und Verdichtung und eine Hinwendung zu hingebungsvollem und fokussiertem Zeiterleben: Im multilokalen Alltag sind routinisierte Abläufe des Ankommens an den jeweiligen Wohnorten oder Routinen des Pendelns nicht nur eine Strategie zur Vereinfachung des multilokalen Alltags, sondern genauso auch Mittel zur Steigerung der qualitativen Zeiterfahrung [5]. Dieses Verständnis von Raumzeit bildet die Grundlage für die Überprüfung und Neubzw. Umkodierung von Alltagsorten. Ihm folgend können Orte entweder beschleunigend oder entschleunigend wirken [6]. Orte, welchen eine bestimmte Nutzung zugeschrieben wird, darunter auch die Transitorte, sind oftmals beschleunigende Orte. Im Gegensatz dazu gibt es Rückzugsorte, die im multilokalen Alltag enorm an Bedeutung tragen [5]. Sie wirken entschleunigend. Eine Wertung ist dieser Unterscheidung jedoch keinesfalls implizit. Es wird vielmehr deutlich, dass die Orte immer in Korrelation zueinander stehen und gedeutet werden. Verschiedene Aspekte hinsichtlich einer Neubewertung von Alltagsorten lassen sich unter dem Begriff der Offenheit und individuellen Umkodierung subsumieren [7]. Bei einer zunehmenden Diversifizierung von Lebenspraktiken dürfen tradierte Lebensmuster nicht mehr als Schablone für eine räumliche Planung dienen. Gerade der öffentliche Raum und vermeintlich funktionale Alltagsräume sollten für die individuelle Nutzbarmachung und Umdeutung einen größtmöglichen Spielraum aufweisen. Je vielfältiger ein Raum sich nutzen lässt, umso höher ist der Grad seiner Offenheit zu bewerten. Hierzu muss sich die Planungspraxis allerdings lösen von einem Verständnis, das Räume allein anhand ihrer Funktionen kategorisiert [6]. Arbeits-, als auch Transitorten kommt in dieser Neubewertung eine besondere Rolle zu, da hier die größten und schnellsten Veränderungen zu beobachten sind. Handlungs- und Planungsdesiderata für die verschiedenen Orte, die sich daraus ergeben, sind: Der Arbeitsort Auslöser der multilokalen Lebensweise sind berufliche Erfordernisse, sodass die Art und Weise, wie Arbeit (zeitlich) gestaltet wird, zuallererst reflektiert wird. Denn auch wenn sich starre Arbeitszeitregime zusehends auflösen und weniger auf Präsenz am Arbeitsplatz gesetzt wird, so ist und wird es zukünftig auch weiterhin die Arbeitszeit sein, die den Ablauf des (multilokalen) Alltags in bedeutendem Maße vorgibt. Klar strukturierte und starre Zeitregime erschweren die individuelle multilokale Alltagsgestaltung. Wissensbasierte Tätigkeit basiert auf problemidentifizierenden, problemlösenden und Vermittlungsabläufen. Sie erfordert daher Eigenverantwortung bei der Arbeitsausführung und muss stärker als bislang an der Qualität ihrer Ergebnisse bemessen werden. Die Orientierung an festen Arbeitszeiten, Terminen und Fristen ist daher grundsätzlich in Frage zu stellen. Nicht selten geht Multilokalität schon heute und in der Zukunft vermutlich weiter zunehmend mit einem Mindestmaß an ortsunabhängigem und/ oder mobilen Arbeiten einher. Das heißt die Arbeitnehmer*innen folgen in der Regel nicht einer klassischen 5-Tage-Woche und ihre Anwesenheit am Arbeitsplatz beschränkt sich auf bestimmte Zeiträume. Dies geht einher mit einer Komprimierung von Arbeitszeit in den Zeiten der physischen Anwesenheit, weit über die klassischen acht Arbeitsstunden hinaus. Diese Komprimierung wirft weitreichende Fragen der Naherholung im unmittelbaren Arbeitsumfeld auf; insbesondere in klassischen Gewerbe- und monofunktionalen Bürogebieten. Um dem beruflichen Alltag im Kontext berufsbedingter Multilokalität gerecht zu werden, bedarf es gerade in gewöhnlichen Gewerbegebieten 58 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt einem neuen Maß an öffentlichem Raum. Öffentliche Räume am Arbeitsplatz müssen engmaschige unkommerzielle Pausen- und Verweilangebote umfassen, um den insgesamt länger werdenden, weil flexibleren Arbeitstagen Rechnung zu tragen. Diesen Orten kommt zudem eine gesteigerte soziale Bedeutung zu, da sich gerade im Kontext berufsbedingter Multilokalität die sozialen Kontakte am Ort der Arbeit häufig auf das kollegiale Umfeld beschränken. Bei der Planung und Neukonzeption von Büro- und Gewerbestandorten wäre es daher in Zukunft äußert wünschenswert und wertvoll, die multilokale Nutzer*innenperspektive in die Planung mit einzubeziehen, um zukunftsfähige und resiliente Arbeitsorte zu gestalten. Orte des Transits Nicht allein der Zeitaufwand für Mobilität wird zukünftig eine Rolle spielen, sondern genauso auch die Art der Fortbewegung und die Qualität von Transiträumen. Zeit- und ortsunabhängiges Arbeiten wird zur Gewohnheit werden. Der Aufenthalt im Transit wird demzufolge eine neue Bedeutung erlangen. Wenn beispielsweise Mobilitätszeit oder Wartezeiten an Transitorten für ein mobiles Arbeiten nutzbar gemacht werden, so begünstigt diese Möglichkeit der Umkodierung eine weitere Beschleunigung des ohnehin häufig rasanten multilokalen Alltags. Umkodierungsmöglichkeiten, die entschleunigend wirken, kommt daher eine ebenso große Bedeutung zu. Ein Beispiel ist hierfür eine Überlagerung von funktionalen Orten wie die der Nahversorgung mit Aufenthalts- und Verweilqualitäten. Orte des Transits sollten immer einer ähnlichen Logik folgen und einen hohen Wiedererkennungswert aufweisen, damit eine Neuorientierung auch an unbekannten Stationen leichtfällt (Stichwort Routine). Somit sind Transitorte nicht mehr nur Orte des Durchgangs, sondern Aufenthaltsorte. Für eine adäquate Versorgung außerhalb gewöhnlicher Öffnungszeiten sollten zukünftig Orte des Transits wie Flughäfen und Bahnhöfe stärker fungieren. Angepasst an die komplexen Arbeits- und Mobilitätsformen würden sie gleich mehreren Nutzungsansprüchen gerecht werden, wenn sie als Smart Places angelegt und dadurch ihre Nutzungsqualitäten gesteigert würden. Sie werden zukünftig gleichfalls für alle pendelnden Berufstätigen bzw. Reisenden mehr als nur Durchgangsort sein. Transiträume werden so mehr und mehr in Abhängigkeit zur Produktivität oder beinhalteten Aktivität bewertet. Ein rasanter Alltag erlaubt selten das gezielte Aufsuchen von Erholungsräumen. Die Erholungsräume sollten folglich näher an diejenigen Orte gerückt werden, die aus funktionalen Gründen aufgesucht werden. Das Wohnumfeld am Arbeitsort Nicht nur Arbeit bemisst sich mehr an der Qualität und weniger an der dafür aufgewendeten Zeit, auch die Wertigkeit des Privatlebens (im Verhältnis zum Arbeitsleben) richtet sich vor dem Hintergrund von Ephemeralität, Entgrenzung und Verdichtung (aufgrund des mehrörtigen Alltags) nicht mehr allein am Zeitfaktor aus, sondern am qualitativen Zeiterleben. Mit der berufsbedingten Multilokalität gehen in der Regel weitreichende zeitliche Restriktionen einher, was zu einer Bedeutungszunahme von Alltagsorten führt, die über die reine Funktion hinaus hinsichtlich ihrer Nutzung bewertet werden. Die Untersuchungen haben ergeben, dass beispielsweise kleine isolierte nachbarschaftliche Grünflächen im Wohnumfeld des beruflichen (Neben-)Wohnsitzes in ihrer aktiven Nutzung nahezu bedeutungslos sind. Aufgrund der Zeitknappheit sind es vielmehr Orte der Nahversorgung oder der Mobilität, welche von multilokalen Akteuren im Wohnumfeld aufgesucht werden. Angereichert durch Aufenthaltsqualitäten und Bild 1: Zukunftsfähige und resiliente Arbeitsorte. © Kaltenbach Bild 2: Orte des Transits. © Kaltenbach 59 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt niederschwellige Verweilangebote haben gerade diese Orte das Potenzial zu Interaktionsorten und Schnittstellen von mobiler und sesshafter Bewohnerschaft zu werden, sodass hierauf ein besonderes Augenmerk der Planung gelegt werden sollte. Damit öffentliche Räume eine Inklusion und Akzeptanz von multilokalen Akteuren erreichen, ist nicht zuletzt ein möglichst öffentlicher Charakter anzustreben. Bei Orten, welche sich dezidiert an eine spezifische Nachbarschaft richten, besteht die Gefahr, dass sich Multilokale als Fremde fühlen und sich nicht als Teil der gewollten Zielgruppe verstehen. Fazit Auch wenn berufsbedingte Multilokalität als spezifische Wohn- und Lebenspraxis quantitativ an Bedeutung gewinnt [8], so wird sie nicht als allgemeiner Trend verstanden. Sie ist jedoch in besonderem Maße von globalen Veränderungsprozessen beeinflusst, sodass sie als Brennglas für eine sich stetig verändernde Gesellschaft verstanden werden kann. Der Beitrag soll deutlich machen, dass die spezifische Praxis berufsbedingter Multilokalität als eine der sich diversifizierenden Wohn- und Lebenspraktiken verstanden werden kann, anhand derer sich die Ambivalenz des gesellschaftlichen und technologischen Wandels besonders gut nachvollziehen lässt. Aus dieser Perspektive macht es Sinn, die raumzeitlichen Bedürfnisse und die Neubewertung von Alltagsräumen multilokaler Akteure zu untersuchen, um aus deren Raumnutzungsmuster verallgemeinerbare Planungsparameter für eine sich stetig wandelnde Gesellschaft abzuleiten. Eine Stadtplanung, die entsprechende Bedarfe berücksichtigt, stellt dabei einen Mehrwert weit über die eigentliche Zielgruppe der multilokalen Akteure hinaus dar. Berufsbedingte Multilokalität nimmt dahingehend einen Trend vorweg, der durch das mobile und ortsflexible Arbeiten zunehmend auch weite Teile der monolokalen Arbeitnehmer*innen im wissensbasierten Sektor erfasst. Aufgrund der räumlichen Distanz von Wohn- und Arbeitsort sind gerade berufsbedingt Multilokale bestrebt, alternative und individuelle Arbeitsmuster zu etablieren. Dieser Trend zu flexibleren und ortsunabhängigeren Arbeiten erfuhr in jüngster Zeit nicht zuletzt durch die COVID-19-Pandemie einen erheblichen Auftrieb. Noch ist ungewiss, wie stark sich die aktuelle Situation nach Abklingen der Pandemie verstetigen wird. Aktuelle Untersuchungen in den USA prognostizieren einen Anteil von mobilem Arbeiten bzw. Homeoffice nach der Pandemie von rund 20- % [9]. Dies würde einem Zuwachs von 300-% im Vergleich zum Stand vor der Pandemie entsprechen [9]. LITERATUR [1] Hesse, M., Scheiner, J.: Räumliche Mobilität im Kontext des sozialen Wandels: eine Typologie multilokalen Wohnens. In: Geographische Zeitschrift, 95, 3 (2007), S. 138 - 154. [2] Henckel, D.: Raumzeitstrukturen. In: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.): Handwörterbuch der Stadt- und Raumentwicklung. Hannover, 2018. [3] Kaltenbach, M.: Die räumliche Dimension residenzieller Multilokalität - Eine Untersuchung beruflich induzierter städtischer Nebenwohnsitze und ihrer städtebaulichen Relevanz. Dissertation am Karlsruher Institut für Technologie, 2020. DOI: 10.5445/ IR/ 1000122543. [4] Weichhart, P.: Multilokalität - Konzepte, Theoriebezüge und Forschungsfragen. In: Bundesinstitut für Bau- , Stadt- und Raumforschung (BBSR) (Hrsg.): Multilokales Wohnen. Informationen zur Raumentwicklung (IzR), Bonn, 1 - 2, (2009) S. 1 - 14. [5] Gleich, S.: Berufsinduziertes Leben an mehreren Orten: Herstellung von raum-zeitlicher Souveränität unter Bedingungen multilokalen Lebens. Dissertation am Karlsruher Institut für Technologie (KIT), 2020. DOI: 10.5445/ IR/ 1000127131. [6] Henckel, D., Harmel, E., Koziol, M., Simonides, S., Thomaier, S. (Hrsg.): Die zeitgerechte Stadt: Dimensionen von Zeitgerechtigkeit in der räumlichen Planung. Berlin und Cottbus, 2013. [7] Kaltenbach, M.: Die räumliche Relevanz berufsbedingter Multilokalität - Empfehlungen für die Transformation des ehemaligen Postareals in Karlsruhe. Forschungsbericht am Karlsruher Institut für Technologie, 2021. DOI: 10.5445/ IR/ 1000129664. [8] Dittrich-Wesbuer, A., Kramer, C., Duchêne-Lacroix, C., Rumpolt, P. A.: Multi-local Living Arrangements: Approaches to Quantification in German Language Official Statistics and Surveys. In Royal Dutch Geographical Society KNAG (Hrsg.), Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie, Vol. 106, No. 4, (2015) p. 409 - 424. [9] Barrero, J. M., Bloom, N., Davis, S. J.: Why Working From Home Will Stick. Abgerufen am 15.05.2021 von h t t p s : / / b f i . u c h i c a g o . e d u / w p c o n t e n t / u p loads/ 2020/ 12/ BFI_WP_2020174.pdf. Dr. rer. nat. Sandra Gleich Referentin Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg Kontakt: san.gleich@gmail.com Dr. Ing. Markus Kaltenbach Architekt und Stadtplaner Kontakt: mk@urban-world.de AUTOR*INNEN 60 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Bahnhofsviertel im Wandel Die einstmals mit einem eher zweifelhaften Ruf markierten Bahnhofsviertel durchlaufen gegenwärtig vielerorts einen Transformationsprozess, in dem sie zu Visitenkarten der Städte aufgewertet werden sollen. Wo Brachflächen und marode Gebäude lange Zeit an die Blüte des Güterverkehrs auf der Schiene erinnerten, entfaltet sich heutzutage eine Dynamik, in deren Folge neue innenstadtnahe Wohngebiete, Geschäftszentren und Bürokomplexe entstehen. Besonders in den Großstädten bildet das Umfeld der Hauptbahnhöfe nunmehr einen maßgeblichen Fokus der Innenstadtentwicklung [1]. Dabei erwachsen in zentralen Lagen gänzlich neue Stadträume, die neue Nutzungen und einen attraktiven Zugang in die Innenstädte ermöglichen sollen. Rückzugsorte der marginalisierten Straßenszenen verschwinden infolgedessen ebenso wie die sogenannten Angsträume, deren Entstehen insbesondere in den Innenstadtlagen verhindert werden soll. Kriminalpräventive Aspekte des Städtebaus werden deshalb bereits in der Planung berücksichtigt [2], um Kriminalität und Unsicherheit von vornherein gering zu halten. In der Ausführung jedoch müssen sich die neuen Stadträume erst als das erweisen, als das sie geplant wurden. Wie können dabei Sicherheit und Ordnung gewährleistet werden, wenn ein Präventionskonzept für den neuen Stadtraum noch nicht vorliegt? In Wuppertal stellt der sogenannte Döppersberg den zentralen Verkehrsknotenpunkt und Übergang vom Hauptbahnhof in die Innenstadt dar. Im Angstraumkonzept der Stadt Wuppertal [3] führte der Döppersberg lange Zeit die Liste der als „deutlich angstbesetzten“ Orte im Stadtgebiet an. Der Aufenthalt von Drogenkonsumierenden und Jugendgruppen sowie das Erscheinungsbild einer Unterführung, die im Volksmund nicht ohne Grund als „Harnröhre“ apostrophiert wurde, führten zu regelmäßigen Beschwerden seitens der Bevölkerung (Bilder 1 und 2). Aus städtebaulicher Perspektive wurden vorrangig eine schlechte Beleuchtungssituation, die Verunreinigung des öffentlichen Freiraums und fehlende Einsichts- und Ausweichmöglichkeiten festgestellt. Mangelnde soziale Kontrolle ermöglichte Gewalt-, Eigentums- und BtM-Delikte, die in der polizeilichen Einschätzung zur Ausbildung eines Hot Spots der registrierten Kriminalität führten. Der alte Döppersberg war ein Ort, der von der Aufenthaltsbevölkerung zumeist nur als notweniges Übel auf dem Weg zwischen Innenstadt und Hauptbahnhof durchquert wurde. Die Neugestaltung des Döppersbergs stellt nun eine Zäsur und einen Neubeginn in der Wahrnehmung dieses zentralen Stadtraums dar. Heute bietet sich mit dem nahezu abgeschlossenen Umbau die Gelegenheit, den einstigen Eindruck vergessen Kooperative Sicherheitsarbeit in neuen Stadträumen Die Wuppertaler „Kooperation Sicherheit Innenstadt/ Döppersberg (KoSID)“ Urbane Sicherheit, Sicherheitswahrnehmung, Sicherheitskooperation, Stadtentwicklung, öffentlicher Raum, Bahnhofsviertel Tim Lukas, Benjamin Coomann, Saskia Kretschmer Mit der Umgestaltung öffentlicher Räume im Bahnhofsumfeld bietet sich in vielen Kommunen die Gelegenheit, ein attraktives Entrée in die Innenstädte zu erzeugen, das von der Bevölkerung jedoch nur angenommen wird, wenn auch das Sicherheitsgefühl dazu einlädt. Am Wuppertaler Hauptbahnhof wurde ein Kooperationsprojekt verschiedener Akteure initiiert, mit dem Sicherheitsverantwortlichkeiten geteilt und Maßnahmen gemeinsam entwickelt werden. Der Beitrag verortet die wissenschaftliche Begleitforschung im Kontext kooperativer Sicherheitsarbeit als einer zielführenden Strategie der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung in neuen Stadträumen. 61 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt und den „Neuen Döppersberg“ als einen sicheren und vielfältig nutzbaren Ort erlebbar zu machen. Mit den umfassenden Baumaßnahmen wurde ein Bahnhofsumfeld geschaffen, das Mobilitäts- und Konsumfunktionen miteinander verbindet. Von Beginn an waren die Erwartungen von Stadtgesellschaft und Politik darauf ausgerichtet, ein ansehnliches Stadtbild zu erzielen, das den Aufwand der städtebaulichen Umgestaltung rechtfertigt. Grünflächen und großzügige öffentliche Plätze sollten zu Verweilzonen werden, die jedoch nur dann von den Bürgerinnen und Bürgern angeeignet werden, wenn auch das Sicherheitsgefühl dazu einlädt. Erklärtes Ziel der Neugestaltung war daher die Schaffung einer direkten und attraktiven „Anbindung des Bahnhofs an die Innenstadt - ohne Angsträume“ [4]. Im Ergebnis bietet der „Neue Döppersberg“ nun einen aufgeräumten und offen gestalteten Eingang in die Innenstadt (Bilder 3 und 4), bei dessen Planung auch die Interessen und Bedarfe der Menschen mit Lebensmittelpunkt Straße berücksichtigt und mit einer Anlaufstelle für drogenkonsumierende und wohnungslose Menschen umgesetzt wurden. Sicherheitsgewährleistung durch geteilte Verantwortung: Das Projekt KoSID Die Einrichtung eines Tagestreffs der Wuppertaler Drogenhilfe an derart zentraler Stelle war stadtpolitisch nicht unumstritten, folgt jedoch den Prinzipien gerechter Stadtentwicklung, wonach Sicherheit allen Menschen zusteht und auch Menschen mit Lebensmittelpunkt Straße ein Recht darauf haben, nicht als Sicherheitsrisiko betrachtet zu werden [5]. Vor diesem Hintergrund integriert die „Kooperation Sicherheit Innenstadt/ Döppersberg (KoSID)“ seit April 2019 verschiedene Akteure aus den Bereichen der Sozial- und Stadtplanung, der Verkehrsbetriebe, der Wirtschaft wie auch der Ordnungs- und Sicherheitsbehörden. Aufbauend auf einer geteilten und im Projekt verabredeten Sicherheitsverantwortung [6] werden von den Projektbeteiligten Vorschläge erarbeitet und erprobt, die dabei helfen sollen, Ordnung und Sicherheit am „Neuen Döppersberg“ zu gewährleisten, ohne die spezifischen Charakteristika des urbanen Umfelds einzuschränken. Das Ziel des Projekts ist es, durch wissenschaftliche Begleitung festzustellen, mit welchen abgestimmten Bild 1 und 2: Die Unterführung am alten Döppersberg. © Jan Darsow Bild 3 und 4: Der „Neue Döppersberg“ als Eingang in die Innenstadt. © Saskia Kretschmer 62 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Maßnahmen in einem neu gestalteten urbanen Raum zielgerichtet agiert werden kann. Die Projektbeteiligten entwickeln dabei gemeinsam Maßnahmen zum Erhalt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung und zur Stärkung des subjektiven Sicherheitsempfindens aller Nutzerinnen und Nutzer. Die Maßnahmenentwicklung wird begleitet von der Bergischen Universität Wuppertal, die den Entwicklungsprozess koordiniert und die umgesetzten Maßnahmen hinsichtlich ihrer Wirkungen auf die Sicherheitswahrnehmung der Bevölkerung untersucht. Wissenschaftliche Neutralität ermöglicht in dem von Interessenskonflikten geprägten Handlungsfeld Ordnung und Sicherheit die Zusammenführung unterschiedlicher Akteure, deren Beteiligung für den Erfolg des Projekts jedoch als wesentlich erachtet wird. Schließlich gilt kooperative Sicherheitsarbeit als zeitgemäße Antwort auf die aktuellen Herausforderungen der lokalen Sicherheitsgewährung in einer sich wandelnden Sicherheitsarchitektur und -kultur, „da mit diesem Ansatz die Verschiedenartigkeiten von Sicherheit berücksichtigt, die unterschiedlichen Kompetenzen der Akteure eines erweiterten Sicherheitsfeldes kombiniert und heterogene Erwartungshaltungen der Bürgerschaft bedient werden können“ [7]. Insofern bietet die Wuppertaler Sicherheitskooperation den verschiedenen Akteursgruppen praxisnahes Wissen und anwendungsbezogene Hinweise für die Umsetzung von Präventions- und Sicherheitsstrategien, die nicht nur Sicherheit und Ordnung gewährleisten, sondern auch das subjektive Sicherheitsgefühl aller Nutzenden des neuen Stadtraums stärken sollen. Methodisch wird im Rahmen des Projekts fortlaufend die objektive Sicherheitslage im Untersuchungsgebiet des Döppersbergs und der Wuppertaler Innenstadt analysiert. Die kleinräumige Auswertung polizeilicher Kriminalitätsstatistiken und kommunaler Daten zu registrierten Ordnungswidrigkeiten wird dabei ergänzt durch strukturierte Begehungen, bei denen für einzelne Orte im Projektgebiet zugleich gemeinsame Lösungsmöglichkeiten mit den Projektbeteiligten entwickelt werden. Um das Sicherheitsempfinden am Döppersberg und in der Wuppertaler Innenstadt einschätzen zu können, wurde im März 2021 eine stadtweite schriftlichpostalische Bevölkerungsbefragung durchgeführt (n = 1 762), die ein hohes Ausmaß wahrgenommener Sicherheit im neuen Stadtraum offenbart. Für den Döppersberg geben 87 % bzw. 43 % der Befragten an, sich tagsüber bzw. bei Dunkelheit eher oder sehr sicher zu fühlen. Retrospektiv lassen leitfadengestützte Interviews mit Expertinnen und Experten Veränderungen in der Einschätzung des Sicherheitsempfindens erkennen, das vor der Umgestaltung erheblich gestört war und heutzutage als äußerst positiv wahrgenommen wird: „Ich fühle mich da sogar sehr sicher. Ich weiß, wie unsicher ich mich an dem alten Döppersberg gefühlt habe, den fand ich wirklich beängstigend und bedrohlich. Und irgendwo fand ich es ganz unangenehm, da drüber zu laufen oder durch die Unterführung zu gehen“ (Interview Verwaltung; 00: 03: 59). Einen Eindruck vom Image des neuen Stadtraums vermittelt die im Projekt wiederholt realisierte Schaufensterbefragung, die öffentlichkeitswirksam die Wahrnehmung spezifischer Charakteristika des Döppersbergs untersucht. Passantinnen und Passanten sind dabei dazu aufgefordert, ihre Eindrücke mittels roter Klebepunkte auf einer präparierten Schaufensterscheibe festzuhalten (Bild 6). Der Döppersberg erscheint demnach überwiegend als sauber, großzügig, hell und attraktiv. Allerdings wird er von einigen Teilnehmenden auch als laut und schmutzig beschrieben. Für die Wuppertaler Laufzeit: 04/ 2019 bis 03/ 2022 Projektziel: Im Projekt KoSID wurde eine geteilte Sicherheitsverantwortlichkeit zwischen den Projektpartnern verabredet. Auf dieser Grundlage werden Vorschläge erarbeitet und erprobt, die dabei helfen sollen, Sicherheit und Ordnung am Neuen Döppersberg nachhaltig zu gewährleisten. Homepage: www.kosid.de Bild 5: Projekt KoSID. © Lukas et al. Bild 6: Schaufensterbefragung zum Image des „Neuen Döppersberg“. © Moritz Quel großzügig laut sauber unübersichtlich unsicher hell attraktiv belebt unbehaglich kleinräumig ruhig schmutzig übersichtlich sicher dunkel unattraktiv verlassen einladend sehr ziemlich eher weder noch eher ziemlich sehr PROJEKTPARTNER FÖRDERER 63 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Entsorgungsbetriebe erwachsen daraus Hinweise, welche Orte im neuen Stadtraum künftig einer noch stärkeren Berücksichtigung bedürfen. Kooperative Sicherheitsarbeit am „Neuen Döppersberg“ Vergleichbar mit den kriminalpräventiven Gremien in zahlreichen anderen deutschen Großstädten [8] verfügt die Stadt Wuppertal über „Soziale Ordnungspartnerschaften“, die schon im Jahr 1998 verschiedene Institutionen, Ressorts, Ämter und Behörden vereinen, um sicherheitsrelevante Probleme auf öffentlichen Straßen und Plätzen gemeinschaftlich zu lösen. Zwar stehen verschiedene Netzwerkpartner auf diese Weise bereits in einem Austausch, dennoch stellt der Grad der intensivierten Kooperation im Rahmen der Sicherheitspartnerschaft KoSID ein Novum dar. Räumlich begrenzt auf das neue Bahnhofsumfeld und die angrenzende Innenstadt agiert der Projektverbund als Zusammenschluss unterschiedlicher Akteursgruppen, um den neuen Stadtraum auf vielfältige Weise weiterzuentwickeln: „Das ist das allererste Mal, dass wir bei so einem großen Projekt gemeinsam mit den Wuppertaler Stadtwerken, den Sicherheits- und Ordnungsbehörden, den sozialen Trägern und dem Sozialamt, zentrale Themen in einem neuen Stadtraum angehen. Das gab es vorher noch nicht. (...) Das mit dem Projekt KoSID alle Partner zum Wohle der Menschen in der Stadt zusammenarbeiten, um auch sicherzustellen, dass die Bedarfe aller in den Blick genommen werden“ (Interview Soziale Einrichtung; 00: 41: 19). Die Netzwerkstruktur ermöglicht eine Sicherheitskooperation, die mit einem ganzheitlichen Ansatz die Herstellung und Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung nicht nur für die Nutzerinnen und Nutzer der Mehrheitsgesellschaft, sondern auch für Angehörige der marginalisierten Straßenszenen aus Suchtkranken, Wohnungs- und Obdachlosen fördert [9]. Die wissenschaftliche Begleitforschung stellt neben der vielfältigen Akteurslandschaft eine Stärke des Projektverbunds dar, die auch eine differenzierte Analyse der Kriminalitätsbelastung und der Sicherheitswahrnehmung unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen ermöglicht: „Das macht ja das KoSID-Projekt auch so wertvoll, weil es einfach im Hinblick auf die Frage der Sicherheit und auch der Sicherheitswahrnehmung abgesicherte Erkenntnisse liefert. Und man über so ein wissenschaftliches Projekt auch nochmals über die Vielfalt der Nutzer*innen und Nutzergruppen diskutieren kann“ (Interview Politik; 00: 17: 49). Als zentraler „Kristallisationskern“ liefert die wissenschaftliche Begleitforschung Anregungen und Maßnahmenvorschläge, für deren Umsetzung auf den im Projekt „Sicherheit im Bahnhofsviertel (SiBa)“ entwickelten „Werkzeugkasten der (Kriminal-)Prävention“ [10] zurückgegriffen wird. Neben einer geteilten Sicherheitsverantwortung sind auch die Erkenntnisse aus der Perspektive der Wuppertaler Bevölkerung hilfreich, um die gesamte Vielfalt der Bedarfe zu berücksichtigen. Bild 7 zeigt das Befragungsergebnis zur Bedeutung einzelner Akteursgruppen, die neben Polizei und Ordnungsamt für die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung zuständig sein können. Das Ergebnis verdeutlicht die Diversität der Verantwortlichkeiten im Handlungsfeld Ordnung und Sicherheit, denen die Projektpartner auch durch ihre Beteiligung im Projektkontext gerecht werden. Fazit Umfangreiche Baumaßnahmen haben das Bahnhofsumfeld in Wuppertal neu gegliedert und damit einen Stadtraum erschaffen, der mit einer Verbindung aus Mobilitäts-, Konsum- und Verweilfunktionen ein gesteigertes Maß an Aufenthaltsqualität und Nutzungsvielfalt bietet. Neben der baulichen Neugliederung soll der Erhalt von Sicherheit und Ordnung am „Neuen Döppersberg“ durch frühzeitig „Das macht ja das KoSID-Projekt so wertvoll, weil es im Hinblick auf die Frage nach der Sicherheit und auch der Sicherheitswahrnehmung abgesicherte Erkenntnisse liefert. Und man über so ein wissenschaftliches Projekt nochmals über die Vielfalt der Nutzer*innen und Nutzungsgruppen diskutieren kann.“ (Interview Politik; 00: 17: 49) „Und dieses Nachvornegucken, das ist das, was KoSID kann. […] Man braucht einen Kristallisationskern, irgendwas Aktives, der wieder den Stein ins Wasser schmeißt, damit die Wellen wiederkommen.“ (Interview Wirtschaft; 01: 21: 24) Bild 7: Akteursgruppen, die zur Sicherheitswahrnehmung beitragen können (Bevölkerungsbefragung Wuppertal, n=1.762). © Lukas et al. Neben der Polizei und dem Ordnungsdienst könnten auch noch andere Institutionen oder Akteure für Sicherheit und Ordnung verantwortlich sein. Wer kann Ihrer Meinung nach zu mehr Sicherheit und Ordnung in Wuppertal beitragen? Straßensozialarbeit Bürgerinnen und Bürger Deutsche Bahn Wuppertaler Verkehrsbetriebe Wuppertaler Abfallwirtschaftsgesellschaft private Sicherheitsdienste Einzelhandel keine/ r dieser Institutionen / Akteure 64 % 53 % 39 % 37 % 30 % 29 % 17 % 10 % 64 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt entwickelte und durch das Projekt KoSID als Netzwerkgremium getragene Sicherheitsstrategien nachhaltig gefördert werden. Dabei erweist sich kooperative Sicherheitsarbeit als ein zielführendes Instrument zur Herstellung und Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung, das auch andernorts in neuen Stadträumen unterschiedliche Sicherheitserwartungen moderieren und integrieren kann. Der Zusammenschluss aus verschiedenen Akteuren entwickelt praxisnahe Maßnahmen in enger Begleitung, um Interessenskonflikten und lokalen Herausforderungen mit wissenschaftlicher Neutralität begegnen zu können. Grundlegend kann auf diese Weise ein agiles Akteursnetzwerk entstehen, dass sich an lokalen Bedarfen orientiert und mit abgestimmten Maßnahmen zeitnah auf Entwicklungen in neuen Stadträumen reagieren kann. LITERATUR [1] Graf, K., Reichle, N. (Hrsg.): Hinter den Gleisen. Die Entwicklung der Bahnhofsquartiere in Schweizer Städten. Zürich: Seismo, 2018. [2] Gundlach, J., Verhovnik, M.: Sicherheit und Vielfalt berücksichtigen und planen. Die Bedeutung polizeilichen Wissens für die Stadtentwicklung - das Projekt DIVERCITY. Transforming Cities, 2, (2019), S. 50 - 55. [3] Stadt Wuppertal: Angstraumkonzept. Wuppertal: Geschäftsbereich Soziales, Jugend & Integration, 2012. [4] Stadt Wuppertal: Häufige Fragen zum Umbau Döppersberg, o. J. Online verfügbar unter: https: / / www. wuppertal.de/ microsite/ doeppersberg/ service/ fragen/ FAQ.php, Zugriff am 21.10.2021. [5] Ammicht Quinn, R., Bescherer, P., Gabel, F., Krahmer, A.: Leitlinien für eine gerechte Verteilung von Sicherheit in der Stadt. Tübingen: Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, 2016. [6] Terizakis, G., Sell, S., Hamm, C. (Hrsg.): Innere Sicherheit als geteilte Verantwortung. Kommunale und polizeiliche Herausforderungen. Baden-Baden: Nomos, 2020. [7] Frevel, B.: Plural Policing - Sicherheitsarbeit durch Kooperation. In: Stierle, J., Wehe, D., Siller, H. (Hrsg.): Handbuch Polizeimanagement. Polizeipolitik - Polizeiwissenschaft - Polizeipraxis, (2017) S. 1073 - 1093. Wiesbaden: Springer Gabler. Dr. Tim Lukas Akademischer Rat Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit Bergische Universität Wuppertal Kontakt: lukas@uni-wuppertal.de Benjamin Coomann, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit Bergische Universität Wuppertal Kontakt: coomann@uni-wuppertal.de Saskia Kretschmer, M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit Bergische Universität Wuppertal Kontakt: kretschmer@uni-wuppertal.de AUTOR*INNEN [8] Schreiber, V., Münch, L.: Kommunale Kriminalprävention in Deutschland. Ergebnisse der Gesamterhebung lokaler Präventionsarbeit 2017/ 2018. Forum Kriminalprävention, 3, (2018), S. 3 - 7. [9] Hauprich, K., Lukas, T.: Angsträume obdachloser Menschen. BAG W - wohnungslos, 4, (2018), S. 132 - 135. [10] Projektverbund SiBa: Werkzeugkasten der (Kriminal-)Prävention. Tübingen: Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement, 2020. URL: https: / / uni-tuebingen.de/ fakultaeten/ juristische-fakultaet/ lehrstuehle-und-personen/ lehrstuehle/ lehrstuehle-strafrecht/ stiftungsprofessur/ haverkamp-rita/ projekte/ siba/ , Zugriff am 21.10.2021. All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren w 65 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Ausgangslage In Deutschland nutzen durchschnittlich etwa 34 % der Bevölkerung das Fahrrad regelmäßig als Verkehrsmittel [1]. Einer Untersuchung des Statistischen Bundesamts zufolge pendeln nur etwa 10 % der Beschäftigten regelmäßig mit dem Fahrrad zur Arbeit [2]. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie beispielsweise den Niederlanden mit etwa 24 % ist damit der Radverkehrsanteil unter den regelmäßig Pendelnden in Deutschland relativ gering [3]. Für Baden-Württemberg und die Stadt Stuttgart lag der Anteil der Fahrradpendler im Jahr 2017 bei je 15 % [4, 5]. Studienergebnisse des Projekts PendlerRatD weisen mit 13 % einen ähnlichen Anteil aus [6]. Zufrieden pendeln mit dem Rad Ergebnisse und Lösungsansätze des BMVI-Forschungsprojekts „PendlerRatD“ für den Umstieg auf das Fahrrad in automobil-dominanten Städten Anreize, Auto, Fahrrad, Mobilität, Pendeln, Umsteigen Jana Heimel, Benedikt Krams Das Forschungsprojekt „PendlerRatD“ hat sich zum Ziel gesetzt, autofahrende Berufspendler zum Umstieg auf das Fahrrad zu motivieren. Um den Umstieg zu forcieren, wurde eine Plattform programmiert, die Pendler bei dem gesamten Pendelprozess begleitet. In dem Beitrag werden ausgewählte Studienergebnisse sowie zwei Kernmodule der PendlerRatD-Plattform, das Bonussystem und der Umstiegsrechner, vorgestellt. © Krams 66 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Die Corona-Pandemie hat zum Beispiel für Baden- Württemberg zu einer Zunahme des Radverkehrs geführt; 19 % der Befragten des Mobilitätsreports Baden-Württemberg von 2020 gaben etwa an, das Fahrrad anstelle des ÖPNV genutzt zu haben [7]. Nebst Corona birgt auch der technologische Fortschritt Potenzial in topographisch herausfordernden Lagen wie Stuttgart, den Umstieg auf das Rad zu forcieren. Durch Pedelecs können sowohl (mehr und leichter) Höhenmeter als auch längere Distanzen überwunden werden. Allerdings hat Stuttgart, als Beispiel einer automobildominanten Stadt, im ADFC Fahrradklimatest 2020 die Schulnote 4,2 erreicht, ohne eine nennenswerte Verbesserung in vier vorausgegangenen Fahrradklimatests aufweisen zu können. Mangelnde Radweginfrastruktur wurde als besondere Schwäche ausgewiesen [8]. Wie überzeugte Autofahrer - auch in Städten mit mangelhafter Infrastruktur - am besten erreicht, ihre Hemmnisse abgebaut und sie zum Umstieg auf das Fahrrad motiviert werden können, zeigt der vorliegende Beitrag. Über das Projekt „PendlerRatD“ Das Projekt PendlerRatD wird durch das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI) und Partnern aus der Wirtschaft (Dieter- Schwarz-Stiftung, Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), Bosch eBike Systems und AOK Heilbronn- Franken) im Zuge des Nationalen Radverkehrsplans 2020 gefördert und von über 30 Organisationen aus den Regionen Stuttgart und Heilbronn aktiv begleitet. PendlerRatD zielt darauf ab, motorisierte Berufspendler zum Wechsel vom Vehikel mit Verbrennungsmotor auf nachhaltige Mobilitätsangebote zu bewegen und über eine App für mobile Endgeräte beim Pendeln zu begleiten. Durch Pendler- RatD werden gezielt Arbeitnehmer angesprochen und motiviert, das Fahrrad zum Pendeln zu nutzen. PendlerRatD umfasst eine forschungs- und technologiebasierte Informations-/ Kommunikations-Kampagne zur Verbesserung der Verkehrsverhältnisse und Sicherung nachhaltiger Mobilität. Studienergebnisse der Pilotphase 1 Um die einstigen Autofahrenden zum Fahrradfahren zu motivieren, haben im Jahr 2019 278 Testpersonen in einer Pilotphase 1 an einmonatigen Testphasen teilgenommen, in denen sie ein Pedelec zur Nutzung bereitgestellt bekamen. Schon nach dieser einmonatigen Testphase zeigte sich, dass die abgefragten persönlichen Einschätzungen zu Fitnesslevel, Kostenbewusstsein, Arbeitsmotivation, Zeitbewusstsein und Zufriedenheit sich bei den Testpersonen im Vergleich zu dem Zeitraum vor der Testphase verbessert haben. Ausgewählt wurden die Teilnehmenden auf Basis einer Befragung bei der ersten PendlerRatD-Studie. Die Studie wurde 2019 mit 2785 Personen in den Regionen Stuttgart und Heilbronn durchgeführt. Durch die Zusammenarbeit mit großen Firmen in der Region konnten viele Arbeitnehmer erreicht und motiviert werden. Die Studie fand im Befragungszeitraum Februar 2019 bis Juni 2019 statt und wurde mittels Onlinebefragung durchgeführt. Bild 1: Bevorzugtes Verkehrsmittel nach Hauptverkehrsmittel 2019 (N = 2483). © Heimel, Krams Fahrrad ÖPNV Auto Kombination 0 % 20 % 40 % 60 % 80 % 100 % Fahrrad Zu Fuß ÖPNV Sonstiges Auto Motorrad Fernbahn 91 % 4 % 49 % 13 % 25 % 9 % 51 -% 10 % 15 % 16 % 52 % 7 % 19 % 7 % 7 % & 67 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Im Fokus der PendlerRatD-Studie 2019 stand die aktuelle Pendelsituation, Einstellungen zum sowie Erfahrungen beim Pendeln, die mittels verschiedener Befragungsdesigns operationalisiert wurden. Darüber hinaus wurde die Bereitschaft zur Teilnahme am Testradeln abgefragt, um so weitere Projektpartner für die Pilotphasen zu gewinnen. Die Umfrageergebnisse zeigen deutlich, dass gerade Fahrradpendler besonders zufrieden mit ihrer Pendelsituation sind und ein gutes Gefühl hinsichtlich der eigenen Gesundheit und der Umwelt haben. Auch in puncto Kosten und Flexibilität sind sie überdurchschnittlich zufrieden und insgesamt zufriedener als Pendler mit anderen Verkehrsmitteln. Autofahrende hingegen schätzen den Komfort und die Flexibilität, die von ÖPNV-Nutzern als eher bescheiden eingestuft werden. Nachteile des Autos sehen die Befragten in folgenden Punkten: Es wird als teuer, wenig umweltfreundlich und gesundheitsschädlich angesehen. Überrascht haben die Antworten auf die Frage, mit welchem Verkehrsmittel die Befragten am liebsten pendeln wollen (Bild 1): Die größte Vorliebe gilt eindeutig dem Fahrrad, auch unter den Autofahrenden. 51 % der Befragten 2019, die mit dem Auto zur Arbeit pendeln, möchten am liebsten mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren. Danach folgt mit großem Abstand der ÖPNV, den immerhin noch rund 15 % der Autofahrer vorziehen würden. Als Hauptgründe, nicht auf das Rad umzusteigen, werden die folgenden genannt: die berufliche Notwendigkeit des Autos, fehlende Streckenkenntnisse, mangelndes Sicherheitsgefühl, körperliche Anstrengung und eine schlechte Infrastruktur für Fahrräder (Bild 2). Hier setzt PendlerRatD an, indem einstigen (überzeugten) Autofahrenden diese Hemmnisse genommen wurden und das „Aufsatteln“ durch entsprechende Pilotphasen erleichtert wurde. Ergebnisse der Pilotphase 2 In einer anschließenden über sieben Monate dauernden Pilotphase 2 im Jahr 2020 wurden 123 Testpersonen Pedelecs samt Zusatzausstattung für den Zeitraum von Mai 2020 bis November 2020 zur Verfügung gestellt. In Pilotphase 2 konnten die Testradelnden mittels der PendlerRatD-App unter anderem ihre Pendelfahrten tracken und die so gesammelten Fahrten, zurückgelegten Kilometer und überwundenen Höhenmeter in Boni der Arbeitgeber und Sponsoren einlösen. Im Unterschied zu wenigen anderen Bonussystemen, die explizit radfahrende Pendler adressieren und zumeist nur Rabatte für einen „Mehrkonsum“ beim Kauf von gesponserten Produkten versprechen, bieten bei der PendlerRatD-App Arbeitgeber und Sponsoren „bedingungslose“ Boni und Gutscheine an. Die Radler erhalten folglich „echte“ (Sach-)Preise, ohne selbst monetär einen zusätzlichen Beitrag leisten zu müssen. Die LBBW bietet eine Salatbowl für 15 Pendelfahrten mit dem Fahrrad, die Hochschule Heilbronn vergibt Fahrradzubehör in Form von Helmen und Satteltaschen für 20 bzw. 40 Pendelfahrten. Als Best Practice-Beispiel kann der Projektpartner Kreissparkasse Esslingen- Nürtingen genannt werden: Sie schenkt ihren Mitarbeitern 500 Euro bei 100 Pendelfahrten im Jahr. Bild 2: Hinderungsgründe für das Pendeln mit dem Fahrrad 2019 (N = 1 959). © Heimel, Krams ... das Auto für meinen Beruf wichtig ist. ... ich in Bus und Bahn arbeiten kann. ... ich keine Lust habe. ... ich den (optimalen) Weg nicht kenne. ... es mir zu anstrengend ist. ... es mir zu gefährlich ist. ... weil es keinen Fahrradweg gibt. Sonstige Gründe ... es mir zu bergig ist. ... es mir zu lange dauert. ... der Weg zu weit ist. ... wegen Kälte, Wind und Regen. 0% 25% 50% 75% 100% Insgesamt (mit %) 96 % 94 % 86 % 83 % 77 % 77 % 74 % 70 % 69 % 56 % 48 % 44 % 68 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Wie erfolgsversprechend etwaige Maßnahmen sind, zeigte die Abschlussbefragung am Ende der Pilotphase 2. Ein für alle Beteiligten sehr überraschendes Ergebnis hinsichtlich der Umstiegsbereitschaft ist, dass über 80 % der Testradler die Rückmeldung gaben, auch nach der Pilotphase weiterhin regelmäßig mit dem Rad zur Arbeit pendeln zu wollen. Ein Drittel der Testradler hatten sich sogar während der Projektphase 2 eigene Pedelecs gekauft. Die PendlerRatD-Plattform als Anreizmechanismus für den Umstieg Die PendlerRatD-Plattform, eine webbasierte App, wurde, agil der SCRUM-Methode folgend, mit einem Multi-Stakeholder-Ansatz und, das Paradigma der Co-Creation integrierend, entwickelt [9]. Die App umfasst acht Module (Bild 3), welche einen (Rad-)Pendelnden beim gesamten Pendelprozess begleiten: Die von den Teilnehmern im Projekt geradelten Pendelstrecken werden durch die Outdoor-App Komoot oder durch handelsübliche GPS-Geräte erfasst. Die Informationen der aufgezeichneten Strecken fließen anschließend in das Herzstück der App, das Bonus- und Monitoring-Modul, mit ein (Bild 4). Das Bonus-Modul ermöglicht es, den Arbeitgebern Boni für fahrradfahrende Arbeitnehmer zur Verfügung zu stellen. Neben den bereits geschilderten Boni für einzelne Arbeitnehmer wurden auch sogenannte Crowd-Boni und Teamchallenges implementiert: Crowd-Boni ermöglichen es den Arbeitgebern, die fleißigsten Radler bzw. die fleißigsten Teams zu belohnen. Team-Challenges ermöglichen eine individuelle Zubuchung der geradelten Kilometer auf eine durch die Arbeitgeber oder die Pendelnden initiierten Team-Challenge, beispielsweise zur Installation von Umkleiden beim Arbeitgeber. Sobald die notwendigen Kilometer durch die Pendelnden erbracht werden, wird die Belohnung für alle bereitgestellt. Die Crowd-Boni wurden von den Testradelnden selbst vorgeschlagen und stellen ein wesentliches Innovationsmerkmal von PendlerRatD dar, welches insbesondere für die Optimierung bzw. den Ausbau der Infrastruktur beim Arbeitgeber genutzt werden kann. Das Monitoring-Modul bietet zwei Funktionalitäten: erstens die PendlerRatD-Bilanz, ein Monitoring, das registrierten Pendelnden individuelle Auswertungen ermöglicht, und zweitens den Umstiegsrechner, der auch nicht registrierten Nutzern zur Verfügung steht und Vergleiche von Verkehrsmitteln für den eigenen Arbeitsweg erlaubt. Mit der PendlerRatD-Bilanz können durch individuelle Eingaben der Pendler zum ehemals und zum aktuell genutzten Verkehrsmittel (wie zum Beispiel Distanz der Pendelstrecke in Kilometern, der Pendelzeit und ähnliches) die sogenannten Fit-, Grün- und Kostenindizes berechnet werden.  Der Fit-Index gibt an, um wieviel Prozent der Gesundheitseffekt pro Pendeltag des aktuellen Verkehrsmittels gegenüber dem ehemaligen Verkehrsmittel höher oder niedriger ist. Er wird etwa durch den Kalorienverbrauch bestimmt.  Der Grün-Index vergleicht den Emissionseffekt pro Pendeltag. Dieser Index wird unter anderem durch Kohlenstoffdioxid-, Stickoxid- und Feinstaubemissionen errechnet.  Der Kosten-Index weist einen Kosteneffekt pro Pendeltag in Euro sowie die Nettopendelzeit aus. Der Umstiegsrechner weist, ähnlich wie das Monitoring, drei Kennzahlen zu Fitness, Umwelt und Kosten aus. Diese basieren auf dem Vergleich der Angaben zu dem ehemals und dem aktuell genutzten Verkehrsmittel. Der Nutzende erhält im Anschluss Aussagen zu einem höheren oder niedrigeren Kalorienverbrauch, zur Erhöhung oder Reduktion von Emissionen sowie zu Einsparpotenzialen. Beide Features sorgen für Transparenz durch den Ausweis von Vor- und Nachteilen der Nutzung eines jeweiligen Verkehrsmittels. Diese Transparenz kann wiederum motivieren, sich für das (nachhaltige) Verkehrsmittel zu entscheiden. Informieren und kommunizieren (IuK) Routenplanung Navigation Monitoring Gaming Meldezentrale Bonus Motivieren Planen Radeln Melden Belohnen Information & Kommunikation Tracking Melde Bild 3: Module der PendlerRatD-App. © Heimel, Krams Bild 4: Screenshots der PendlerRatD-App mit Bonus-Modul, Team-Challenge und Fit-Index des Monitoring- Moduls. © Heimel, Krams 69 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Fazit und weiterer Forschungsbedarf Der Beitrag hat das Projekt PendlerRatD mit den PendlerRatD-Studien und der PendlerRatD-App als die wesentlichen Bestandteile vorgestellt. Die in den Jahren 2019 und 2020 durchgeführten PendlerRatD- Studien zu der Pendelsituation der Teilnehmenden haben gezeigt, dass über die Hälfte der Befragten, die mit dem Auto zur Arbeit pendeln, am liebsten mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren möchten. Die den Teilnehmenden der Pilotphasen 1 und 2 bereitgestellte PendlerRatD-App hat einen erheblichen Beitrag zur Belohnung des Pendelns geboten. Mittels der aufgezeichneten Wegstrecken bietet die App die Möglichkeit, diese Wege für die Einlösung in (Crowd-)Boni und Team-Challenges zu nutzen. Kritisch zu würdigen ist, dass die hier geschilderten Testradelnden überwiegend als „Friendly User“ bezeichnet werden können. Bei vielen Testradlern handelte es sich um Pendelnde, die einer umweltfreundlicheren und gesünderen Mobilität grundsätzlich aufgeschlossen sind. Beispielsweise haben Befragungen mit den Testradlern am Ende der Pilotphase 2 gezeigt, dass es „Überzeugungstäter“ gab, die angaben, dass die Boni keinen entscheidenden Einfluss auf die Häufigkeit des Pendelns mit dem Rad hatten. Eine weitere Limitierung ergibt sich durch das Panel: Die Studienteilnehmer und insbesondere die Testradelnden entstammen einer Gruppe von Unternehmen, in der einige Unternehmen hinsichtlich der Teilnehmeranzahl dominierten. Daher sind die Ergebnisse nicht zwangsläufig repräsentativ. Hier setzen die Autoren mit ihrer Forschung an. Mittels weiterer PendlerRatD-Studien, vergleichend im Sinne von Zeitreihenanalysen zu den Studien aus 2019 und 2020, sollen auch Unternehmen bzw. deren Beschäftigte in anderen Regionen Deutschlands befragt und für die Nutzung der PendlerRatD-App motiviert werden. Die PendlerRatD-App soll künftig auch ein Ticketing-Modul für die Vereinfachung des intermodalen Pendelns umfassen. Auch wird das Meldesystem weiterentwickelt und unter anderem mit bestehenden kommunalen IT-Systemen verknüpft, um so durch Push- und Pull-Meldungen den Ausbau von Infrastruktur in Kommunen aber auch bei Arbeitgebern (Duschen, Umkleidekabinen, Abstellanlagen oder Ähnliches) zu ermöglichen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Umstieg vom Auto auf das Fahrrad zum Pendeln dann funktioniert, wenn der Umstieg so leicht wie möglich gemacht wird und Hemmnisse abgebaut werden. Das Vorgehen in PendlerRatD, bei dem den Beschäftigten über die Arbeitgeber der kostenlose Zugriff auf Pedelecs ermöglicht wurde, somit Lust auf das Fahrradfahren gemacht und mittels der in der App bereitgestellten Anreize belohnt wurde, hat sich als zielführend erwiesen. LITERATUR [1] SINUS-Institut: Fahrrad-Monitor Deutschland 2019, https: / / www.sinus-institut.de/ media-center/ studien/ fahrradmonitor, Stand 31.10.2021. [2] DESTATIS: Genutzte Verkehrsmittel von Berufspendlern in Deutschland im Jahr 2020, https: / / de.statista. com/ statistik/ daten/ studie/ 70408/ umfrage/ pendlerfuer-arbeits weg-benut z te -verkehrsmittel-20 08/ , Stand 31.10.2021. [3] Ministry of Infrastructure and Water Management, Netherlands Institute for Transport Policy Analysis (KiM) (Hrsg.): Cycling Facts, The Hague, 2018. [4] infas: Mobilität in Deutschland, Tabellarische Grundauswertung, Baden-Württemberg, 2018. [5] infas: Mobilität in Deutschland, Tabellarische Grundauswertung, Stadt Stuttgart, 2018. [6] Heimel, J.: PendlerRatD-Studie 2020, Ergebnisbericht, https: / / pendlerratd.com/ studienergebnisse-2020/ , Stand: 31.10.2021. [7] infas, WZB (Hrsg.): Mobilitätsreport Baden-Württemberg 01, Bonn 2020. [8] Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club e. V. (Hrsg.): Fahrradklimatest 2020, https: / / fahrradklima-test. adfc.de/ ergebnisse, Stand 31.10.2021. [9] Heimel, J., Ringel, C., Krams, B., Rieckers, T.: Vom Projekt zum Produkt: Co-Creation in der Mobilitätsbranche, in: Helferich, A., Henzel, R., Herzwurm, G., Mikusz, M. (Hrsg.): Software Management in Zeiten digitalisierter und vernetzter Produkte, Tagungsband Fachtagung Software Management 2021, Bonn 2021. Prof. Dr. Jana Heimel Forschungsprofessur Fakultät für International Business Hochschule Heilbronn Kontakt: jana.heimel@hs-heilbronn.de Dr. Benedikt Krams Wissenschaftlicher Mitarbeiter Hochschule Heilbronn Kontakt: benedikt.krams@hs-heilbronn.de AUTOR*INNEN 70 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Nudging und damit verbundene Potenziale Viele der aktuellen Herausforderungen im öffentlichen Verkehr stehen in direkter oder indirekter Abhängigkeit zu dem Verhalten von Fahrgästen. Unfälle, Barrierefreiheit, Menschenansammlungen, Überfüllung und Verspätungen sind nur einige der momentanen Schwierigkeiten. Dabei fällt auf: Regeln und Verbote führen nur bedingt zu gewünschten Verhaltensänderungen. Ein Ansatz zur Lösung des Problems, der in vielen Bereichen hohes Potenzial aufweist, steckt in der Nudging-Theorie. Nudges haben das Ziel, das Verhalten von Menschen auf vorhersehbare Weise zu beeinflussen, ohne dabei auf Verbote, Gebote oder ökonomische Anreize zurückzugreifen. Ein Nudge ist eine kleine Hilfe oder Intervention, die eine Architektur der Wahl kreiert und Personen ohne Zwang ermutigt, virtuoses Verhalten anzunehmen. [1] Experiment an einer Stuttgarter U-Bahn- Haltestelle Ziel des Forschungsprojektes Smart Nudging ist ein effektiver Lösungsansatz für ein schnelleres und vorhersehbares Ein- und Aussteigen der Fahrgäste, um somit die Aufenthaltszeit der Bahnen an den Haltestellen auf ein Optimum zu reduzieren. Entscheidend ist dabei die gleichmäßige Verteilung der Fahrgäste am Bahnsteig. Getestet wird dies anhand des Einsatzes auditiver Nudges an der Stuttgarter U-Bahn-Haltestelle Schlossplatz. Dort ist die ungleiche Verteilung besonders sichtbar, wie der Kooperationspartner, die Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB), berichtet. Die Untersuchungen in Zusammenarbeit mit der SSB beruhen auf den folgenden Thesen:  Der Ein- und Ausstiegsprozess an Bahnhaltestellen in Stuttgart kann durch eine gleichmäßigere Verteilung der wartenden Fahrgäste am Bahngleis effizienter verteilt werden.  Auditive Nudges können Menschen dazu bringen, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen bzw. sich von einer Stelle, an der sie ohne auditiven Nudge stehen bleiben würden, wegzubewegen. Insgesamt wurden bereits drei Versuche durchgeführt. Dabei wurden jeweils die Anzahl und Bewegung der wartenden Fahrgäste in einem definierten Abschnitt erhoben. Ziel ist es, anhand der erhobenen Daten und Beobachtungen Handlungsempfehlungen für eine optimiertes People-Flow-Management an Haltestellen mittels Audio-Nudges geben zu können. Die auditiven Nudges wurden auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu den Wirkungen von Frequenzen und Klangfarben gewählt. Zu den negativ konnotierten Nudges gehören daher eine Verstärkung von Hintergrundgeräuschen des Bahnsteiges, weißes Rauschen sowie Frequenzen von Smart Nudging: auditive Fahrgastlenkung am Bahnsteig Hochschul-Projekt für effizientes Ein- und Aussteigen ÖPNV, Mobilität, öffentlicher Raum, Haltestellen, Nudging Sebastian Gröner, Christina Kunz, Fabian Müller, Lucas Schlegel, Pascal Seez, Wolfgang Gruel Musik und Töne am Bahngleis: Können Audio-Nudges das Verhalten der Fahrgäste am Bahnsteig beeinflussen? Mit dieser Frage befasst sich ein Forschungsteam der Hochschule der Medien. Öffentliche Transportmittel sind nicht mehr nur eine Möglichkeit, um von A nach B zu kommen. Sie sind ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft und machen, besonders in Städten, einen wesentlichen Teil im Alltag vieler Menschen aus. Umso wichtiger ist es, aktuelle Herausforderungen mit effektiven Lösungen anzugehen. Im Fokus der Smart-Nudging-Forschung stehen daher Lösungsansätze für unbewusste Verhaltensänderung der Fahrgäste. Welches Potenzial die Nudging-Methode birgt, zeigen Experimente im ÖPNV in Stuttgart. 71 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt 15 000 Hertz. Diese werden im ersten Bahnhalteabschnitt eingesetzt und sollen die Fahrgäste dazu anregen, sich vom Treppenzugang der Haltestelle weg zu bewegen. Bei den positiv konnotierten Nudges handelt es sich um klassische Musik sowie beruhigende Frequenzen von 432 Hertz, die im mittleren bis hinteren Abschnitt des Bahnsteiges eingesetzt werden. Hier sollen sich die Fahrgäste hinbewegen und sich bis zum Zustieg in die Bahn aufhalten. Neue Erkenntnisse im Bereich Audio Nudges Die noch recht junge Forschung zu Audio-Nudges im Bereich des öffentlichen Verkehrs ist vor allem Anstoß für die Exploration neuer Potenziale. Daher beschäftigt sich die Smart-Nudging-Forschung aktuell vor allem mit Beobachtungen und Befragungen. Zu beobachten war bei bisherigen Experimenten mehrfach, wie Fahrgäste, die positive Töne wahrgenommen hatten, ihre Kopfhörer abnahmen, die eigene Musik ausschalteten, mitwippten und sogar am Gleis tanzten. Aber auch die negativen Töne erzielten einige außergewöhnliche Reaktionen. So wurden zum Beispiel Verbindungen zu Baustellenlärm, Terrorismus, Instabilität der Decke oder Rohrarbeiten in der Decke vermutet, die teilweise zu Angst und Verunsicherung führten. Das gibt nicht nur Hinweise auf Verhaltensänderungen, sondern liefert wichtige Informationen für die Aufenthaltsqualität und die kundenzentrierte Gestaltung von Haltestellen. Eine weitere Erkenntnis ist, dass verschiedene Einflüsse Auswirkungen auf auditive Nudges haben: So spielen etwa Wartezeit, Umgebungsgeräusche, Bestimmtheit der Fahrgäste oder auch andere Mitmenschen am Gleis eine wesentliche Rolle bei der Verteilung und dem Verhalten der Fahrgäste. Verteilung von Fahrgästen Die Daten der neutralen Messung ohne installierte mobile Lautsprecher (n = 411) bestätigen die These, dass sich die Menschen am Bahnsteig ungleich verteilen. Bei Einfahrt eines 80-Meter-Zuges, der die ganze Länge des Gleises einnimmt, hielten sich über 36 % der wartenden Fahrgäste im ersten Viertel und etwa 24 % im zweiten Viertel des Gleises auf. Bei Einfahrt eines 40-Meter-Zuges, das bereits im vorderen Bereich des Gleises hält, wurde gemessen, dass sich allein vor Tür zwei 32 % der Personen befinden, während an Tür vier nur noch 15 % der Fahrgäste einsteigen. Im zweiten Versuch (n = 488) mit Einsatz von Audio-Nudges ist anhand der Messwerte erkennbar, dass sich prozentual mehr Fahrgäste - im Vergleich zur neutralen Messung, auf die mittleren Türen drei, vier und fünf verteilen. Auf die hinteren Türen sechs, sieben und acht verteilten sich jedoch ebenfalls weniger Menschen. Im Versuch drei (n = 409), mit Einsatz von weiteren Audio-Nudges, ist Ähnliches festzustellen: Weniger Fahrgäste platzierten sich vor Bild 1: Untersuchungsaufbau der Sound-Installationen an der U-Bahn Haltestelle Schlossplatz. © Smart-Nudging 72 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Tür zwei, wo die unangenehme Frequenz abgespielt wurde, dafür mehr an Tür drei. Einen deutlichen Anstieg gab es an Tür vier, wo bereits die angenehme Musik wahrzunehmen war und auch an der letzten Tür acht gab es einen marginalen Anstieg. Diesen bisher erhobenen Daten fehlt es jedoch an Signifikanz, um sie im Forschungskontext eindeutig den zu untersuchenden Maßnahmen - den verschiedenen Audio-Nudges - zuzuordnen. Die Beobachtungen und Definition von relevanten Rahmenbedingungen sind jedoch ein neuer Grundstein für die Untersuchung von Audio-Nudges im öffentlichen Verkehr. Gibt es eine Zukunft für Nudges im öffentlichen Verkehr? In Sachen Innovation an den deutschen Haltestellen gibt es Aufholbedarf. Die aktuellen Herausforderungen zeigen: Es braucht mehr Innovation und Forschung. Die Themen Nudges sowie Fahrgastlenkung sind sehr komplex. Durch die Untersuchungen der Forschungsgruppe von Smart Nudging wird der Bedarf nach weiterer Forschung besonders deutlich. Aus anderen Projekten mit ähnlichen Use Cases, wie etwa in Tokyo oder Stockholm, geht hervor, dass der Einsatz von Nudges durchaus sehr effektiv ist. Das Projekt Smart Nudging ist Anstoß für ein neues Ein- und Aussteige-Erlebnis für Fahrgäste. Es öffnet die Türen zu neuen innovativen Ansätzen im People-Flow-Management für lokale und nationale Anwendungsfälle, die umsetzbar und skalierbar sind. Dabei zeigt sich schon jetzt: Die kostengünstige unkomplizierte Umsetzung von Audio-Nudges an Haltestellen in Stuttgart ist möglich und Reaktionen der Fahrgäste sind vorhanden. Einige Fragen sind allerdings noch nicht geklärt. Neben der fehlenden Signifikanz und Zuordnung von gewünschter Verhaltensänderung der Fahrgäste zu den Audio-Nudges, stellen sich Fragen wie: Welchen Einfluss haben beispielsweise die „Last- Minute-Sprinter“? Wie viele Personen tragen Kopfhörer am Gleis? Wie gut kennen sich Fahrgäste im ÖPNV-Netz der Stadt aus? Des Weiteren können die Einflüsse der zuvor genannten Rahmenbedingungen genauer geprüft werden: Welche Hürde stellen allgemeine Umgebungsgeräusche, Auslastung am Bahnsteig oder die Dauer der Wartezeit von Fahrgästen dar? Hier ist das Fehlen von spezifischen Studien im Bereich der Wirkung von auditiven Nudges auffällig. Nudges, die aktuell im Einsatz sind, beruhen auf Wirkungen, die in allgemeinen Studien festgestellt wurden. Die spezielle Untersuchung der Wirkung von auditiven Nudges im Umfeld Bahnsteig kann dabei helfen, die richtigen Nudges für eine gewünschte Reaktion zu wählen. Als Weiterführung der Forschung von Smart Nudging sollte auch das komplexere Ziel von effektiver Fahrgastverteilung am Bahnsteig betrachtet werden. Wie sich die Fahrgäste am besten am Bahnsteig Bild 2: Übersicht zur Messung der Fahrgastverteilung ohne (grau) und mit Sound- Installationen (blau und orange) an der U-Bahn Haltestelle Schlossplatz. © Smart-Nudging 73 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt verteilen sollen, hängt auch von den Informationen aus den Zügen ab. Ist ein Zug an einer Stelle besonders voll, könnten diese erfassten Daten in Echtzeit an den Bahnsteig gesendet werden, damit der Nudge entsprechend der gewünschten Verteilung der Personen automatisch angepasst werden kann. Mit weiteren Technologien wie LiDAR-Sensoren, welche datenschutzkonform Personenanzahl und -bewegung erfassen und verarbeiten können, besteht die Möglichkeit dies in zukünftigen Forschungen weiter zu untersuchen. Lucas Schlegel Medienmanagement M.A. Hochschule der Medien Stuttgart Kontakt: ls197@hdm-stuttgart.de Pascal Seez Medienmanagement M.A. Hochschule der Medien Stuttgart Kontakt: ts208@hdm-stuttgart.de Prof. Dr. Wolfgang Gruel Professor und Mobility Researcher Hochschule der Medien Stuttgart Kontakt: gruel@hdm-stuttgart.de Sebastian Gröner Medienmanagement M.A. Hochschule der Medien Stuttgart Kontakt: sg185@hdm-stuttgart.de Christina Kunz Medienmanagement M.A. Hochschule der Medien Stuttgart Kontakt: ck189@hdm-stuttgart.de Fabian Müller Medienmanagement M.A. Hochschule der Medien Stuttgart Kontakt: fm088@hdm-stuttgart.de AUTOR*INNEN Klar ist: Nudging birgt viele Potenziale, die sich nicht nur auf die effektive Verteilung von Fahrgästen am Bahnhof beschränken muss. Die Möglichkeiten, Nudges als Lösung für aktuelle Mobilitätsprobleme zu erforschen und einzusetzen, sind vielfältig und es gilt, diese nun anzugehen. Alle weiteren Infos unter www.smart-nudging.de. LITERATUR [1] Thaler, R. H., Sunstein, C. R.: Nudge: Improving decisions about health, wealth, and happiness, 2008. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN WISSEN WAS MORGEN BEWEGT www.internationales-verkehrswesen.de 74 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Im Jahr 2020 wurden unsere Realitäten durch die Ausbreitung des Corona-Virus und den damit einhergehenden Beschränkungen deutlich verrückt und neu definiert. Neben den sehr schmerzlichen Folgen hatte die Pandemie auch weitreichende Auswirkungen auf den öffentlichen Raum und unser Mobilitätsverhalten. Unsere Straßen wurden leerer, die Luftqualität besser und man lernte seine Nachbarschaft neu kennen und schätzen. Homeoffice wurde zur Normalität und im öffentlichen Verkehr fuhren leere Busse und Straßenbahnen. Aber konnte die Pandemie unsere Mobilitätsroutinen nachhaltig verändern? Wenn ja, inwiefern? Denn der Mobilitätswandel oder die Verkehrswende ist letztlich unabdingbar: Im Gegensatz zu Branchen wie Energie (- 45 %) oder Industrie (- 34 %) hat der Verkehrssektor (- 0,2 %) seit 1990 kaum CO 2 -Emissionen eingespart [1]. Die Effizienzstrategie von Verbrennern hinzu Elektromobilen führt zwar zur Reduzierung von Treibhausgasen, findet aber keine Antwort auf den Flächenverbrauch in unseren Städten. Ein Tesla Model S benötigt pro Bewohner die 20-fache Fläche im Vergleich zur Tram. Im Vergleich zum fahrenden Fahrrad sogar die 28-fache Fläche [1]. Das Neuverhandeln des öffentlichen Raums ist eine der großen Herausforderungen der Mobilitätswende, und das hat sich das Reallabor Nordbahnhof der Hochschule für Technik zum Thema gemacht. Durch ein Reallabor wird partizipativ an realweltlichen Problemen geforscht - nicht nur, um Einblicke in soziale Dynamiken der Gesellschaft zu erhalten - sondern auch, um konkrete Lösungen für dringende Herausforderungen unserer Zeit zu finden. Ein Beispiel im Bereich Mobilität ist das Future City Lab-Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur in Stuttgart, welches über fünf Jahre (bis 2020) mit Interventionen und transdisziplinären Lehrformaten versuchte, Zukunftsvisionen zu erzeugen und neue Formen der Zusammenarbeit von Verwaltung, Forschung sowie Kunst und Kultur auszuloten. Aktuell erforscht das Reallabor Hamburg die digitale Mobilität in zehn Realexperimenten, beispielsweise an einer Mobilitätsplattform, autonomen Shuttles oder der Erprobung eines Mobilitätsbudgets. Auch hier ist es Ziel, konkretes Wissen und Handlungsempfehlungen partizipativ zu erarbeiten. Das Reallabor Nordbahnhof entstand als Projekt des M4_LAB (Metropolregion 4.0) der Hochschule für Technik Stuttgart. Forscher*innen aus den Bereichen Mobilität, Partizipation, Akustik und Wasser/ Grünflächen fanden mit Geoinformatikern zusammen und entwickelten ein zweijähriges Projekt, um aktiv mit den Anwohnern die Stadt von morgen zu gestalten. Das Nordbahnhofviertel „Auf der Prag“ ist geprägt durch eine Insellage zwischen Gleisanlagen, Labor Nordbahnhof Sie wollen das Nordbahnhofviertel mitgestalten? Einfach QR-Code scannen und an unserer Umfrage teilnehmen. Als kleines Dankeschön verlosen wir fünf Wertgutscheine. Mehr Infos unter: labor-nordbahnhof.de Umfrage Gefördert durch Ein Projekt der Welche Verkehrsmittel nutzen Sie? Die Pandemie als Katalysator für den Mobilitätswandel? Das Reallabor Nordbahnhof in Stuttgart forscht mit Bürgern vor Ort an der Mobilitätswende. Reallabor, Mobilitätswende, Intervention, Verkehrswende, Pandemie, Corona Tom Kwakman, Lutz Gaspers Mit dem Ziel, die Stadt von morgen partizipativ zu gestalten, erforscht das Projekt M4_Lab der Hochschule für Technik Stuttgart mit dem Reallabor Nordbahnhof unter anderem die Mobilitätswende. Eine Befragung mit rund 180 Teilnehmern und ein Realexperiment für alternative Parkplatznutzungen im Viertel ergab, dass sich der Modalsplit und das Mobilitätsbewusstsein pandemiebedingt veränderte. Auch ein internationaler Blick zeigt, dass sich viel in den Verwaltungen als auch den Köpfen der Anwohner bewegt und wichtige Schritte für einen Mobilitätswandel unternommen werden. Bild 1: Flyer zur Online-Umfrage in Stuttgart. © Kwakman 75 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Bundesstraßen und Gewerbegebieten. Dadurch konnte es sich trotz innenstädtischer Lage einen eigenen, dörflichen Charakter erhalten. Aufgrund der baulichen Veränderungen durch das Projekt Stuttgart 21 im angrenzenden Süden, dem geplanten neuen Rosensteinviertel im Westen sowie generellen Mietpreissteigerungen steigt der Veränderungsdruck auf das Quartier. Die vorhandenen Mobilitätsangebote sind vielfältig. Eine Straßenbahnlinie führt durch das Quartier und bindet den Hauptbahnhof in nur zwei Stationen an. Zwei Car Sharing-Stationen, Free Floating-Anbieter und zwei öffentliche Ladesäulen sind vorhanden. Der Motorisierungsgrad ist mit unter 300- Fahrzeugen pro 1000 Einwohner geringer als der Stuttgarter Durchschnitt (368) [2]. Mit diesen Informationen startete das Realabor im Juni 2020 mit einer Onlineumfrage zu den Themen Mobilität, öffentlicher Raum und Partizipation, Akustik und Wasser/ Grünflächen. Mit über 3 000 Flyern für alle Briefkästen und etwa 100 Postern wurde im Quartier auf die Umfrage aufmerksam gemacht. Wichtige Stakeholder im Quartier wurden angeschrieben und ein Instagramkanal sowie eine Internetseite mit aktuellen Informationen eingerichtet (labor-nordbahnhof.de). Auf dem Wochenmarkt wurde ein kleiner Infostand errichtet und zur Wiedererkennung wurde mit einem einheitlichen Design gearbeitet (Bild 1). So konnten über 180 Teilnehmer gewonnen werden. In der Umfrage gaben 57 % der Teilnehmer an, dass ihnen durch die Pandemie Wege entfielen. Die drei Hauptgründe waren Homeoffice-Regelungen (82 %), ein Rückgang der Freizeitaktivitäten (67 %) sowie verstärkte Onlineeinkäufe (39 %). Mehrfachnennungen waren möglich. Der Anteil des MiV am Modalsplit blieb während der Pandemie gleich, während der Öffentliche Verkehr stark nachließ und die aktive Mobilität mit Fahrradfahren und Zufußgehen zunahm (Bild 2). Verglichen mit Daten der Mobilität in Deutschland [3] haben sich die Wegezwecke sowie die Personenkilometer in der Pandemie von Freizeit nach Einkauf verschoben (Bild 3). Die Teilnehmer verbrachten ihre Freizeit also vermehrt im Supermarkt, was bei den damals bestehenden Beschränkungen nicht weiter verwundert. Die Gesamtwegstrecke pro Tag betrug während der Pandemie etwa 19 km, verglichen mit 39 km pro Tag aus dem MiD 2017 für die Landeshauptstadt Stuttgart. Auch die tägliche Wegezahl nahm ab: von 3,2-Wegen auf etwa 1,9 Wege pro Tag. Die Umfrage ergab auch, dass 7 % der Teilnehmer nach den Pandemiebeschränkungen auf ihr Auto verzichten wollen. Diese sehr ermutigende Zahl kann ein erstes Anzeichen für ein Umdenken sein, auch wenn offizielle Zahlen über den Fahrzeugbestand im Quartier für das Jahr 2021 noch fehlen. Was sind die Beweggründe der Teilnehmer, nicht auf ihr Auto verzichten zu wollen? Die Frage wurde als Textfrage gestellt, um ein möglichst breites Bild einzufangen. Sogar geclustert sind die Gründe vielfältig: Flexibilität (24 %), Erledigungen (18 %), Überzeugung (18 %) und unzureichende Infrastruktur (Car- und Bikesharing und ÖPNV, 18 %) wurde am häufigsten angegeben. Private Gründe (15 %), Beruf (6 %) und keine Gründe (1 %) folgten. Die Auswertung zeigt, dass es nicht die eine Stellschraube gibt, mit der sich die Herausforderungen der Mobilitätswende meistern lassen. Mit der Umfrage als Grundlage startete das Reallabor Nordbahnhof mit einer Gruppe von vier Student*innen und der Frage, wie die Mobilitätstransformation im Viertel vorangetrieben werden und vor allem, was getan werden kann, um den motorisierten Individualverkehr (MiV) zu verringern. Das Vorgehen in den ersten Tagen war iterativ. Durch Gespräche mit Bewohnern wurden Ideen und Prototypen niederschwellig getestet. Ergebnis war das „Raumwunder“, ein Parklet, um auf den Flächenverbrauch des MiV und auf alternative Nutzungsmöglichkeiten von Parkplätzen hinzuweisen. Neben der Bewusstseinsbildung und der Intension, dass die Bewohner*innen dadurch anfangen, Routinen zu hinterfragen, war es auch Ziel dieser temporären Aktion, die Wünsche der Bewohner*innen zu ermitteln, um langfristige Lösungen zu finden, welche das Viertel weiter aufwerten können. Dazu wurde auf 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% ÖPNV (Bus/ Bahn) Auto Fahrrad Zu Fuß nutze ich weniger nutze ich unverändert nutze ich mehr 16% 5% 24% 15% 9% 10% 13% 15% 36% 47% 26% 34% 6% 5% 5% 7% 34% 33% 32% 31% 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Pkm Nordbahnhof 2021 Pkm Stuttgart 2017 Wege Nordbahnhof 2021 Wege Stuttgart 2017 Einkauf Erledigung Freizeit Begleitung Arbeit Bild 3: Verschiebung der- Wegezwecke sowie der Personenkilometer in Stuttgart. © Kwakman Bild 2: Veränderungen im Mobilitätsverhalten durch die Pandemie. © Kwakman 76 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt einem Parkplatz im Quartier eine Collage präsentiert, die verschiedene Möglichkeiten der Transformation des öffentlichen Parkraums zeigt. So bekamen die Bewohner*innen eine Vorstellung dessen, was auch in ihrem Umfeld möglich wäre. Um ein Meinungsbild einzufangen, wurden zur Collage kleine Karten mit Piktogrammen ausgelegt, welche die unterschiedlichen Optionen repräsentieren (Bild 4). Diese konnten in eine Wunschbox eingeworfen werden (Bild 5). Des Weiteren wurde abgefragt, welches Verkehrsmittel denn am häufigsten benutzt wird. Ein Wegweiser zeigte den Weg zu den nächstliegenden Bike- und Carsharingstationen (Bild 6). Um die Aufmerksamkeit zu steigern und die Nutzungsmöglichkeiten eines Parkplatzes zu zeigen, wurde ein Grill mit kostenfreien Würstchen und Grillkäse für die Anwohner aufgebaut. So kamen viele, teils auch längere Diskussionen über aktuelle und generelle Themen der Mobilitätswende und der Nutzung des öffentlichen Raums im Quartier zustande. Ein Blick außerhalb Stuttgarts zeigt, dass viele Städte und Akteure der Zivilgesellschaft diesen sehr besonderen Zustand der Welt für den Mobilitätswandel nutzen konnten. Aber warum war das möglich? Eine Antwort findet sich in der Transformationsforschung. Hier wird der MLP-Ansatz (Multi-Level-Perspective) als Strukturierungsrahmen für die Analyse von transformativem Wandel verwendet [4]. Er besteht aus drei Ebenen: Landschaft, Regime und Nischen. Die Landschaft stellt den globalen Rahmen für mögliches menschliches Handeln dar (zum Beispiel: Klimakrise, demografischer Wandel oder Globalisierung) und hat Einfluss auf das dominante soziotechnische, -ökonomische und -politische Regime. Neue Entwicklungen entstehen in Nischen und beeinflussen das Regime. Die Digitalisierung entstand beispielsweise als Nischentechnologie und veränderte das vorhandene Regime, welches nach einiger Zeit auch Einfluss auf die Landschaft hatte. Ein Ereignis wie die Corona-Pandemie kann als Veränderung der Landschaft verstanden werden. Diese Veränderung erzeugt Druck auf das vorhandene Regime, welches von einem dynamisch-stabilen in einen dynamisch-instabilen Zustand wechselt und Raum für Nischeninnovationen öffnet. Dies haben Städte wie Paris, Berlin, Kopenhagen oder Barcelona erkannt und während der Pandemie bereits erprobte Lösungen wie Superblocks oder die Ausweitung des Radnetzes durch PopUp-Radwege realisiert. Vormals radikale Lösungen wie eine metropolweite Tempo-30-Zone in Paris sind nicht bloß temporäre Realitäten, sondern überdauern gerade pandemische Zeiten und werden noch weiter ausgebaut. Die Stadt der kurzen Wege findet im Konzept der 15-Minuten-Stadt in Paris Anklang. Barcelona plant sogar mit neun Minuten und aus Stockholm kommt das Konzept der Ein-Minuten-Stadt [5]. Hier soll jede Straße in Stockholm und letztendlich in ganz Schweden mit den Bewohnern zusammen neu überdacht werden, damit in 2030 jede Straße in ganz Schweden gesund, nachhaltig und lebendig ist. Praktisch ausgeführt sieht das Konzept modular ausgelegte Parklets vor, die sich an die jeweiligen Bedürfnisse der Straße und deren Bewohner anpassen können. Ziel ist es, den Community-Gedanken zu stärken und die Selbstwirksamkeit jedes Einzelnen durch die Gestaltung seiner nächsten Umgebung zu fördern. Eine Gemeinsamkeit der genannten Projekte in den europäischen Metropolen liegt in der Vorbereitung. Viele Pläne lagen bereits in den Schubladen und warteten darauf, bis sich die Chance zur Verwirklichung durch die beschriebene Regimeveränderung ergab. Wie geht es mit dem Reallabor weiter? Bis Ende 2022 wird am Nordbahnhof zusammen mit den Bewohnern weiter an der Zukunft und an der alterna- Bild 4: Collage zur Transformation des öffentlichen Parkraums. © Kwakman Bild 5: Wunschbox für die Anwohner*innen. © Kwakman 77 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt tiven Nutzung des öffentlichen Raumes geforscht. Eine nächste Umfrage ist bereits in der Planung, um zu erfahren, wie sich das Mobilitätsverhalten nach Beendung der Pandemiebeschränkungen entwickelt hat. Wie oft wird das Homeoffice noch genutzt? Wie viele haben ihr Auto wirklich aufgegeben? Haben sich Wegelängen und Wegehäufigkeiten nachhaltig verringert? Auch soll erfahren werden, ob und welchen Impact das Reallabor erzielen konnte. Die Auswertung der Wunschbox zeigte, dass sich Bewohner mehr Grünflächen im Quartier und Platz für kulturelle Orte wie eine Bühne oder eine Leseecke wünschen. Diese Informationen werden im nächsten Jahr vom Reallabor Nordbahnhof zur Weiterentwicklung bedarfsgerechter Parkraumnutzung im Viertel genutzt werden. Für die Stadtverwaltung und die ortsansässige Zivilgesellschaft werden Handlungsempfehlungen und „Lessons Learned“ veröffentlicht, wie eine selbstbestimmte Transformation des öffentlichen Raums und der Mobilität im Nordbahnhofviertel funktionieren und beschleunigt werden kann. Es hat sich gezeigt, dass es sich lohnt, Aufwand in die Rekrutierung größerer Teilnehmerzahlen zu stecken, da auf diese Weise sehr plausible Daten gewonnen werden können, was den Vergleich mit öffentlichen Daten erst ermöglichte. Des Weiteren ist die Vernetzung mit relevanten Stakeholdern essentiell, um Kooperationspartner zu finden, die eine dauerhafte Realisierung beispielsweise eines Parklets niederschwellig und einfach halten können. Die Bezirksbürgermeisterin kam beispielsweise am Aktionstag zu Besuch und zeigte sich offen für eine Unterstützung von Seiten der Verwaltung. Auch mit dem Jugendhaus konnte eine vor Ort wertvolle Institution als Partner für weitere mögliche Projekte gewonnen werden. Die Straßenverkehrsordnung definiert den Begriff Straße in §2 als „…alle für den fließenden und ruhenden Straßenverkehr oder für einzelne Arten des Straßenverkehrs bestimmte Flächen, einschließlich der Plätze, der Sonderwege für Radfahrer, Reiter und Fußgänger und der öffentlichen Parkplätze.“ Die Straße und der Parkraum sind jedoch auch öffentlicher Raum und Orte, an denen Menschen sich treffen, wo die Nachbarschaft durch Austausch gestärkt wird und wo Kultur entsteht. Und in Zeiten, in denen die globalen Krisen immer näher an unsere Türen getragen werden, ist es vielleicht genau der richtige Ort, um anzufangen und selbstbestimmt die Zukunft vor der Haustüre zu gestalten. Das Reallabor Nordbahnhof wurde durch das Projekt M4_LAB des Programms Innovative Hochschule finanziert. LITERATUR [1] Umweltbundesamt: Statistiken, zuletzt geprüft am 21.10.2021. [2] Landeshauptstatt Stuttgart: Statistisches Amt, 2019. [3] Eggs, J.: Mobilität in Deutschland - MiD Kurzreport Europäische Metropolregion Stuttgart. BMVI, infas, DLR, IVT, infas 360. Bonn, Berlin, 2019. [4] Geels, F. W., Schot, J.: Typology of sociotechnical transition pathways. In: Research Policy 36 (3), (2007) S. 399 - 417. DOI: 10.1016/ j.respol.2007.01.003. [5] O´Sullivan, F.: Make Way for the ‚One-Minute City ‘, 2021. Online verfügbar unter https: / / www.bloomberg.com/ news/ features/ 2021- 01- 05/ a-tiny-twiston-street-design-the-one-minute-city, zuletzt aktualisiert am 27.10.2021, zuletzt geprüft am 27.10.2021. Tom Kwakman, MSc. Akademischer Mitarbeiter M4_LAB und Kompetenzzentrum für Mobilität und Verkehr Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: tom.kwakman@hft-stuttgart.de Prof. Dr. Lutz Gaspers Prorektor Lehre und Leiter Kompetenzzentrum Kompetenzzentrum für Mobilität und Verkehr Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: lutz.gaspers@hft-stuttgart.de AUTOREN Bild 6: Wegweiser zu den nächstliegenden Bike- und Carsharingstationen. © Kwakman 78 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Wie sieht die ideale Stadt aus? Grün, sauber, leise - aber gleichzeitig lebendig und mit einem vielfältigen Angebot an Wohnraum, Arbeitsplätzen sowie kulturellen und sozialen Angeboten? Die alle schnell erreichbar sind, ohne hohes Verkehrsaufkommen? Ein Ort für Jung und Alt, der das körperliche und mentale Wohlbefinden seiner Bewohner unterstützt? So oder ähnlich würden wohl die meisten Menschen ihre Traumstadt beschreiben. Leider zeichnet die Realität in Großstädten heute aber ein anderes Bild: Immer mehr Menschen und Verkehr teilen sich immer weniger Platz und Luft zum Atmen. Das Leben in der Stadt ist vielerorts geprägt von Stress und den Folgen verstärkter Umweltbelastung. Metropolen und Städte auf der ganzen Welt sehen sich daher mit denselben Problemen konfrontiert. Wie lassen sich die Lebensqualität und das Zusammenleben auf engem Raum nachhaltig verbessern und langfristig positiv gestalten? In der Vergangenheit entwickelten sich die meisten europäischen Großstädte mehr oder weniger „automatisch“. Aber während sich zu ihrer Gründungszeit zumeist wenige Tausend Einwohner zu Fuß oder mit dem Pferd fortbewegten, muss derselbe Raum heute auf Hunderttausende (oder auch Millionen) Menschen und PKWs verteilt werden. So nahm in Deutschland die PKW-Dichte in den letzten zehn Jahren um 12 % zu, 2020 verfügten 77 % aller Haushalte über mindestens ein Auto. 1 Spätestens mit den Erkenntnissen der Klimaforschung ist klar, dass wir die weitere Entwicklung unserer Lebensräume erheblich aktiver und bewusster gestalten müssen - und für weitreichende Entscheidungen vielleicht nicht mehr viel Zeit bleibt. Insbesondere, da einige der Kriterien für mehr Lebensqualität miteinander konkurrieren bzw. nur schwer gleichzeitig zu erreichen sind. Umso wichtiger sind fundierte Grundlagen, auf deren Basis Faktoren abgewogen und Entscheidungen getroffen werden können. Und genau hier kommt moderne Technologie ins Spiel. Präzise Daten als Basis zukunftsweisender Planung Wenn es darum geht, das Leben in Städten nachhaltig und intelligent zu gestalten, sind präzise Untersuchungen des Status Quo unverzichtbar - idealerweise zusammen mit historischen Daten und prädiktiven Analysen. Die hierfür notwendigen Informationen liegen häufig schon vor - allerdings werden sie noch selten verknüpft und miteinander in Zusammenhang gebracht. Statistiken, künstliche Intelligenz, Sensoren, Kommunikationstools: Sie alle 1 https: / / www.destatis.de/ DE/ Presse/ Pressemitteilungen/ 2020/ 09/ PD20_N055_461.html und https: / / www.umweltbundesamt.de/ daten/ private-haushalte-konsum/ mobilitaet-privater-haushalte - -hoher-motorisierungsgrad Geodaten für mehr Lebensqualität in Städten Wie sich mithilfe von Data und Location Technology städtischer Lebensraum besser verwalten und verteilen lässt Smart City, Mobilität, Lebensraum Stadt, Verkehrsflächen, Klima- und Katastrophenschutz Jens Wille Die Verteilung des vorhandenen Raumes in Großstädten gerät zunehmend zum Konfliktstoff. Wohn- und Geschäftsraum, Freiflächen und Grünzonen stehen in Konkurrenz zu Straßen und Verkehrsflächen. Dazu trägt auch die steigende Mobilität bei - immer mehr Verkehrsteilnehmer konkurrieren um immer weniger freie Flächen. Die knappe Ressource Raum verlangt eine sorgsame Verwaltung. Hierzu kann die Aufbereitung und Analyse von Geodaten einen wichtigen Beitrag leisten. Digitale Technologien unterstützen Stadtverwaltungen und Unternehmen unter anderem dabei, Mobilität effizienter und nachhaltiger zu gestalten. Die Einsatzmöglichkeiten reichen jedoch weit darüber hinaus. 79 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt liefern Daten, aus denen Stadtverwaltungen und Dienstleister die Bedürfnisse der Einwohner*innen ableiten und so besser auf sie eingehen können. Mit einer Art neuronalem Netz, basierend auf einer technologischen Infrastruktur zum Sammeln, Vernetzen und Auswerten von Daten, wird aus einer Stadt eine Smart City. Dabei sollte man jedoch stark unterscheiden, welche Arten von Daten gesammelt werden: Während asiatische Metropolen wie zum Beispiel Singapur oder Songdo anhand von Überwachungskameras, -mikrofonen, Gesichts- oder Kennzeichen-Scannern individuelle Bewegungsprofile erstellen können, steht in Europa die Wahrung der Persönlichkeitsrechte und der Datenschutz an erster Stelle. Hier werden nur anonyme, nicht personenbezogene Daten gesammelt - wie zum Beispiel Geoinformationen oder die Auswertungen eigens angebrachter Sensoren. Diese können zum Beispiel Fragen beantworten wie „Ist der Müllcontainer voll? Ist die Erde zu trocken? Ist der Parkplatz belegt? “ etc. Völlig unabhängig von persönlichen Daten lassen sich damit wichtige Erkenntnisse für die Ressourcen- und Kapazitätsplanung städtischer Einrichtungen und Dienstleistungen gewinnen. Wie sieht der Beitrag von Geodaten auf dem Weg hin zu bedarfsgerechter Raumverteilung, effizienter Mobilität und nachhaltiger Ressourcenschonung aber nun konkret aus? Wie lässt sich anhand von Data und Location Technology mehr Lebensqualität in Städten erreichen? Im Folgenden einige Beispiele aus der Praxis: Mehr Transparenz für mehr Bürgerbeteiligung Bei gesellschaftlich komplexen Themen gibt es oft viele verschiedene Meinungen. Wer Menschen für seine Belange gewinnen und ihr Verhalten beeinflussen möchte, muss mit klaren, verständlich aufbereiteten Inhalten und Fakten überzeugen. Genau an dieser Stelle kommen Datenanalysen ins Spiel, die im Idealfall intuitiv verständlich und interaktiv aufbereitet sind. Im Bereich der ortsbezogenen Daten sind hierfür Karten prädestiniert: Karten bringen die Geoinformationen in einen Kontext, machen sie erlebbar und haben dadurch das Potenzial, Anwender*innen zu begeistern. Sie zeigen Zusammenhänge auf und helfen dabei, fundierte Entscheidungen zu treffen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die interaktive Klimakarte der ARD: Unter www.ard-klimakarte.de wird die Entwicklung von Temperatur und Niederschlag für die vergangenen 60 Jahre sichtbar. Über einen Regler können Prognosen bis ins Jahr 2100 getroffen werden - in zwei Szenarien: ohne Klimaschutz und mit starkem Klimaschutzengagement. Ein ähnliches Ziel verfolgt die Plattform Climate from Space der Europäischen Weltraumorganisation (ESA): Sie basiert auf einer wissenschaftlichen Datenbank, deren Inhalte als Webanwendung für die breite Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Wo früher Daten heruntergeladen und aufwändig verarbeitet werden mussten, können nun Nutzer*innen mit den unterschiedlichsten Vorkenntnissen das Klima erforschen und komplexe Zusammenhänge verstehen: Warum spielt das Meer für die Hitzeregulation auf unserem Planeten eine zentrale Rolle? Was passiert, wenn das Polareis bricht? Wie wirkt sich die Nutzbarmachung von Land auf die CO 2 -Emissionen aus? Für die intuitive Lernplattform wurden enorme Mengen Satellitendaten aufbereitet und leicht verständlich dargestellt. Ähnliche Anwendungen sind auch zum Thema Städteplanung oder Verkehr möglich. Im Rahmen des EU-Projektes smarticipate hat das Fraunhofer- Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD Bild 1: Interaktive Klimakarte der ARD. © Ubilabs Bild 2: Plattform Climate from Space der Europäischen Weltraumorganisation ESA. © Ubilabs 80 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt zum Beispiel eine Plattform entwickelt, mit der Bürger*innen online Ideen für die Gestaltung der eigenen Nachbarschaft einreichen oder sich an politischen Entscheidungen und Planungsprozessen ihrer Stadt beteiligen können. Das Besondere daran: Durch die Anbindung an die Datenquellen der Stadtplanung erhält jede Einreichung eine direkte Rückmeldung zu ihrer tatsächlichen Umsetzbarkeit. So konnten Hamburger*innen beispielsweise Standorte für neue Baumpflanzungen im Stadtgebiet vorschlagen - und bekamen daraufhin umgehend Feedback: Sind neue Bepflanzungen mit der bestehenden Nutzung der vorgeschlagenen Fläche vereinbar? Welche Baumarten können dort gepflanzt werden? Welchen Beitrag liefern sie für die CO 2 -Einsparungsbilanz der Stadt bzw. wirkt sich eine neue Pflanzung evtl. negativ auf das Solarpotenzial benachbarter Häuser aus? Anschauliche 3D-Visualisierungen und leicht bedienbare Feedback-Funktionen versachlichen hier politische Entscheidungen und unterstützen den Dialog in städtebaulichen Planungen. Denn auch Transparenz und Bürgerbeteiligung gehören zu den Kernfaktoren einer lebenswerten Smart City. Intelligentes Verkehrsmanagement Interaktive Webanwendungen und Karten helfen zudem Stadtplanern dabei, einzelne Ökosysteme der Stadt besser zu verstehen oder mit Echtzeitanalysen einen genaueren Überblick der aktuellen Verkehrs-, Emissions- oder Parkraumsituation zu gewinnen. So stattet die Deutsche Telekom seit einem Jahr Parkplätze deutscher Städte und Gemeinden in unterschiedlichen Projekten mit smarten Sensoren aus. In Zusammenarbeit mit Data und Location Technology-Experten geht es darum, Einsichten in die Nutzung des Parkraums zu erhalten und auf dieser Basis den Parksuchverkehr zu reduzieren und die Verteilung des städtischen Raums für alle Anwohner zu verbessern. Anhand kartenbasierter Dashboards können die Anwender*innen Statistiken einsehen oder die Auslastung bestimmter Parkplätze über den Tag verfolgen. Hierzu zählen Anwohner, die wissen möchten, ob ein Parkplatz frei ist, genauso wie Ordnungshüter, die die Einhaltung der Höchstparkdauer überprüfen. In den nächsten Iterationen des Projekts sollen Analysen historischer Daten, Vorhersagen oder auch Tourenplanungen für das Parkraummanagement ergänzt werden. Ebenfalls möglich wäre die Integration zusätzlicher ortsbezogener Daten, die mittelbar das Verkehrsgeschehen beeinflussen: So ließe sich zum Beispiel berücksichtigen, wie sich bestimmte Veranstaltungen oder die aktuelle Wetterlage auf die Parkplatzsituation auswirken. Auch die Einspielung von Live-Daten und die Einrichtung von Alerts bei überschrittenen Höchstparkzeiten ist denkbar. Das Potenzial von Data Analytics und Location Intelligence lässt sich jedoch nicht nur für den Parkverkehr ausschöpfen, sondern insbesondere auch Bild 3: Smarte Sensoren der Deutschen Telekom unterstützen seit einem Jahr das Parkraummanagement in einigen deutschen Städten und Gemeinden. © Ubilabs 81 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt für eine optimierte Routenplanung. Die Visualisierung von Bewegungsdaten und Verkehrsinformationen in Echtzeit und die Annotation mit externen Daten (Höhenprofile, Wetter, Events, etc.) bieten ein valides Fundament für die optimale Auslastung von Flotten und Verkehrsverbindungen. Das erstreckt sich bis hin zur möglichst effizienten Einsatzplanung von Räumfahrzeugen oder Lieferdiensten. Das Ergebnis dieser Bemühungen: Eine intelligente Steuerung des Verkehrs und eine bedarfsgerechte Verteilung von Straßen- und Freiflächen. Ein weiterer Pluspunkt: Die Verbesserung logistischer Abläufe trägt zu einer Reduzierung von CO 2 -Emissionen bei und wirkt sich damit auch auf den Klimaschutz aus. New Mobility - mit Daten die Zukunft bewegen Busse und Bahnen, die auf optimierten Wegen mit minimalem Energieaufwand fahren und sich untereinander abstimmen. Intelligente Mobilitätsdienste, die den Verkehr entlasten. Smarte Lösungen für ressourcenschonende Fracht und Logistik. Car- Sharing und E-Mobilität auf Abruf, genau dort, wo sie gebraucht werden: So das Ideal. Und tatsächlich bieten vernetzte Verkehrsmittel eine Vielzahl von zukunftsweisenden Möglichkeiten für weniger Emissionen, mehr Sicherheit und mehr Verfügbarkeit für alle. Ohne Location Intelligence wäre diese neue Mobilität jedoch nicht realisierbar: Hoch entwickelte Technologien leiten aus einer Vielzahl ortsbezogener Daten verlässliche Analysen und Prognosen ab und geben über sogenannte Mobility Dashboards unter anderem Aufschluss darüber, an welchen Orten Mobilitätsangebote verfügbar sein sollten, wofür sie benötigt werden und wie sie beschaffen sein müssen. Anhand interaktiver Karten lassen sich detaillierte Auswertungen zur Flotten-Auslastung treffen, Hot Spots und typische Verkehrsrouten aufzeigen und miteinander vergleichen. Übersichtlich sortiert nach Uhrzeit, Wochentag oder Jahreszeit. Wo wurden Mobilitätsdienste letzte Woche genutzt? Wie hoch ist der aktuelle Bedarf für verschiedene Angebote? Wo wird die Nachfrage nächste Woche am höchsten sein? Auf der Basis dieser Informationen können Städte und Unternehmen nicht nur kundenfreundlichere und umweltbewusstere Lösungen entwickeln, sondern auch innovativer und kosteneffizienter arbeiten. Das gilt für das Flottenmanagement der Car-, Bike- und Scooter-Sharing-Anbieter genauso wie für die Optimierung des öffentlichen Nahverkehrs. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort Wenn es um die Lebensqualität in Städten geht, dürfen soziale Faktoren, wie die persönliche Sicherheit oder der Schutz Hilfebedürftiger, keinesfalls vergessen werden. Und auch hier kann die Zusammenführung, Analyse und Visualisierung ortsbezogener Informationen einen relevanten Beitrag leisten. Zwei Beispiele: 1. Um herauszufinden, wie (un-)sicher sich Mädchen und junge Frauen in deutschen Städten fühlen, gab die Kinderrechtsorganisation Plan International eine „Safer Cities Map“ in Auftrag, in der Nutzer*innen acht Wochen lang positive und negative Erfahrungen eintragen konnten - selbstverständlich ohne Speicherung personenbezogener Daten. Das Projekt diente auch als Anstoß für positive Veränderungen in den Bereichen Stadtplanung, Architektur oder öffentlicher Nahverkehr. 2. Etwas zu essen, einen Schlafplatz, Beratung oder medizinische Versorgung: Kinder und Jugendliche in schwierigen Lebenssituationen benötigen schnelle, unbürokratische Hilfe. Damit das künftig bundesweit schnell und einfach möglich ist, hat die Hilfsorganisation Karuna gemeinsam mit den Experten von Ubilabs eine App entwickelt, die deutschlandweit alle wichtigen Anlaufstellen für Jugendliche in Notsituationen anzeigt. Über die interaktive Karte werden umliegende Beratungs- und Notschlafstellen, Essensausgaben oder Tageseinrichtungen ganz leicht auffindbar, über jegliche sprachliche oder soziale Barriere hinweg. Digitale Unterstützung in der Pandemiebekämpfung Ähnliche Angebote sind für viele gesellschaftliche, medizinische und soziale Einrichtungen denkbar. Nicht zuletzt zeigt auch die Covid-19-Pandemie die Relevanz strukturierter Datensammlungen: Die Analyse ortsbezogener Informationen bietet ein großes Potenzial, um Infektionsketten zu entdecken und zu unterbrechen. Deshalb entwickelten die Data und Location Experten von Ubilabs in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Hochschule Hannover für das Bundesministerium für Gesundheit die kartenbasierte Dokumentationsplattform Kadoin: Auf Basis von Google Maps können Gesundheitsämter schneller und einfacher nachvollziehen, wer wann mit wem Kontakt hatte. Aber auch infizierte Privatpersonen können ihren Standortverlauf importieren und Daten aus der Zeitleiste auswählen, hochladen und bearbeiten - ein wichtiger Beitrag im Kampf gegen das Virus. Um persönliche Daten umfassend zu schützen, läuft Kadoin als Frontend- Anwendung ausschließlich im Browser. So werden 82 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES THEMA Lebensraum Stadt Daten lediglich temporär bereitgehalten. Ebenfalls im Kampf gegen die Pandemie wurde eine Anwendung zur Impfroutenplanung entwickelt, die dabei hilft, mobile Impfteams deutlich effizienter einzusetzen und so mehr Menschen mit den Impfstoffen zu versorgen. Fundiertes Wissen für präventiven Katastrophenschutz Wirbelstürme, Hochwasser, Dürre, Überflutungen - Stadtplaner müssen sich heute mehr denn je mit präventiven Maßnahmen zum Schutz der Stadtbewohner vor Umweltkatastrophen auseinandersetzen. Auch dies ist nur mit fundiertem Wissen und prädiktiven Analysen möglich. Dank Machine Learning sind wir heute in der Lage, auf der Basis historischer und aktueller Daten Vorhersagen zu treffen. So kann bedrohlichen Entwicklungen frühzeitig mit präventiven Maßnahmen entgegengesteuert - oder im Katastrophenfall zumindest zielgerichtet und schnell reagiert werden. Die Kombination aus Wetterdaten und ortsbezogenen Informationen (zum Beispiel der Anteil versiegelter Bodenfläche einer Stadt, der Baumbestand, die Nähe zu Wasser und Grünflächen) lässt beispielsweise Wahrscheinlichkeitsaussagen für das Eintreten bestimmter Ereignisse wie Überflutungen zu und hilft bei der Suche nach möglichen Schutzmaßnahmen. Einen anderen Weg geht das paneuropäische Projekt INDRIX (Inclusive Disaster Resilience Index). INDRIX verbindet das Fachwissen von NGOs im Katastrophenschutz und im sozialen Bereich. Gemeinsam mit öffentlichen Zivilschutzbehörden und Forschungspartnern wurden bisherige Projektergebnisse gesammelt, geclustert, kartiert und bewertet. In einer einzigartigen Präventionsplattform wurden Informationen aus vielen verschiedenen Quellen und bestehenden Programmen zusammengeführt: Hier finden sich länderspezifische Maßnahmen zur Katastrophenvorsorge im Bereich Küsten- und Hochwasserschutz genauso wie Frühwarnsysteme bei Erdbeben. Neben der Visualisierung und Auswertung von Beispielprojekten lässt sich zudem für jede Region ein sozialer Resilienz-Index ermitteln. So können Regionen in Europa mit einem besonders hohen Bedarf an Präventions- und Katastrophenschutzstrategien identifiziert werden. Die dynamische Visualisierung unterstützt die Evaluation der Ergebnisse. Auf Basis qualitativer und quantitativer Daten wurde eine benutzerfreundliche, interaktive Karte entwickelt und sowohl Organisationen als auch europäischen Bürgern zugänglich gemacht - auch dies ein neuer Weg, um betroffene Menschen als aktive Stakeholder zu erreichen. Smarte Städte von morgen: Digitale Technologien für reale Lebensqualität Bei der aktiven Gestaltung von Lebensraum und der Verbesserung von Lebensqualität in Städten sind möglichen datenbasierten Anwendungen keine Grenzen gesetzt - egal ob es um die Identifikation geeigneter Maßnahmen oder deren Verwaltung, um Meinungsbildung oder Katastrophenprävention geht. Ihnen allen gemeinsam ist ein technologischer Dreiklang aus Data Analytics, Location Intelligence und Cloud Computing. Cloud Computing liefert die technische Infrastruktur, um große Datenmengen vorhalten und verwalten zu können. Data Analytics deckt den kompletten Kreislauf von der Datensammlung und -aufbereitung bis zu deren Analyse und Visualisierung ab. Und mit Location Intelligence kommt schließlich die Fähigkeit hinzu, unter Berücksichtigung räumlicher Zusammenhänge aus Daten anwendbares Wissen abzuleiten - und so mit Hilfe von Standortinformationen Gegebenheiten besser verstehen und zielorientiert beeinflussen zu können. So spielen Data Analytics, Location Intelligence und Cloud Computing äußerst effizient zusammen, um mithilfe von Geodaten der Traumstadt der Zukunft näher zu kommen. Jens Wille Geschäftsführender Gesellschafter Ubilabs GmbH, Hamburg Kontakt: wille@ubilabs.com AUTOR Bild 4: Kartenbasierte Dokumentationsplattform Kadoin zur datenschutzkonformen Kontaktnachverfolgung. © Ubilabs 83 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRODUKTE + LÖSUNGEN Mobilität Was ist eine Mobilitätsstation? Die derzeitigen Trends hinsichtlich der Veränderung des Mobilitätsverhaltens sowie der Mobilitätsangebote sind vielfältig. Seit einigen Jahren ergänzen Fahrradverleihsysteme in immer mehr Städten und mit stetig steigenden Nutzungszahlen das Mobilitätsangebot. Ebenso wird in vielen Kommunen das Carsharing-Angebot weiter ausgebaut. Um im Alltag von A nach B zu kommen, werden immer häufiger verschiedene Mobilitätsangebote kombiniert. Mobilitätsstationen greifen dieses veränderte Mobilitätsverhalten auf und verknüpfen verschiedene Mobilitätsangebote gebündelt an einem Knotenpunkt. Die Größe und das konkrete Mobilitätsangebot variieren von Station zu Station und von Kommune zu Kommune. Typische Ausstattungselemente von Mobilitätsstationen sind Leihfahrräder und Carsharing-Fahrzeuge, sichere und wettergeschützte Fahrradbügel, Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge sowie die Nähe zu einer Haltestelle des öffentlichen Verkehrs. Sie erleichtern somit den Bürgerinnen und Bürgern den Umstieg von einem Verkehrsmittel auf das andere, fördern die umweltfreundliche Fortbewegung und sind damit ein wichtiger Baustein für moderne, zukunftsfähige Mobilität. 1, 2 1 https: / / difu.de/ nachrichten/ was-isteigentlich-mobilitaetsstation 2 https: / / www.mvv-muenchen.de/ mobilitaetsangebote/ mobilitaetsstationen/ index.html Mobilitätsstationen in der Modellregion Ortenau Mobilität, KLimaschutz, Mobilitätsstationen, Parkraumbewirtschaftung, Bürgerbeteiligung Benjamin Biddle, Sandra Kristensen-Seethaler Um die Klimaschutzziele zu erreichen, muss der Verkehr neu gestaltet werden. Hierzu können neue Formen der Mobilität, wie die Errichtung von Mobilitätsstationen, einen wichtigen Beitrag leisten, um den PKW-Verkehr zu reduzieren und öffentliche Fläche umzugestalten. Sieben Kommunen im Südwesten Baden-Württembergs haben sich in der „Modellregion Mobilitätsnetzwerk Ortenau“ zusammengeschlossen, um im Rahmen eines Modellvorhabens des Kompetenznetzes Klima Mobil das regionale Mobilitätsangebot zu erweitern und dabei Parkplätze einzusparen. Bild 1: Mobiltätsstation in Offenburg. © Mathias Kassel, Stadt Offenburg 2021 84 4 · 2021 TR ANSFORMING CITIES PRODUKTE + LÖSUNGEN Mobilität Impressum Transforming Cities erscheint im 6. Jahrgang Herausgeber Eberhard Buhl, M.A. Verlag Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22, D-72270 Baiersbronn-Buhlbach Tel. +49 7449 91386.36 · Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de · www.trialog.de Redaktionsleitung Dipl.-Ing. arch. Christine Ziegler VDI (verantwortlich) Tel: +49 7449 91386.43 Fax: +49 7449 91386.37 christine.ziegler@transforming-cities.de Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 6 vom 01.01.2021 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 vertrieb@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist zum Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. Es ist untersagt, die Inhalte digital zu vervielfältigen oder an Dritte weiterzugeben, sofern nicht ausdrücklich vereinbart. Bezugsgebühren JahresAbo Print: gedruckte Ausgabe zum Jahresbezugspreis von EUR 120,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), zzgl. Versandkosten (Inland EUR 11,90, Ausland EUR 25,-) JahresAbo ePaper: elektronische Web-Ausgabe zum Jahresbezugspreis von EUR 115,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), ohne Versandkosten JahresAbo Plus (Print + ePaper): als gedruckte Ausgabe + elektronische Web-Ausgabe + Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 157,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), zzgl. Versandkosten (Inland EUR 11,90 , Ausland EUR 25,-) StudiAbo ePaper: elektronische Web-Ausgabe. Reduzierter Jahresbezugspreis von EUR 76,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.). Eine aktuelle Studienbescheinigung ist Voraussetzung. Einzelheft Print: gedruckte Ausgabe zum Einzelbezugspreis von EUR 35,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), zzgl. Versandkosten (Inland EUR 3,-, Ausland EUR 6,50) Einzelausgabe ePaper: elektronische Web- Ausgabe zum Einzelbezugspreis von EUR 35,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), ohne Versandkosten Campus- und Firmenlizenzen auf Anfrage Organ | Medienpartnerschaft VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld Druck QUBUS media GmbH, Hannover Herstellung Trialog, Baiersbronn-Buhlbach, www.trialog.de Titelbild Junges Paar sitzt auf einem Fahrrad gegenüber der Stadt. © Clipdealer Copyright Vervielfältigungen durch Druck und Schrift sowie auf elektronischem Wege, auch auszugsweise, sind verboten und bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Abbildungen übernimmt der Verlag keine Haftung. Eine Publikation der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, Baiersbronn-Buhlbach ISSN 2366-7281 (print) www.trialog.de/ agb Modellregion Ortenau In der „Modellregion Mobilitätsnetzwerk Ortenau“ sollen die Mobilitätsstationen, die bereits seit einigen Jahren in der Stadt Offenburg zu finden sind, mit einem Push-Pull-Ansatz in die Region getragen werden. Sieben Kommunen in der Ortenau setzen im Rahmen des Modellvorhabens Mobilitätsstationen um und verbinden dies mit einer Reduktion von öffentlichen KFZ-Stellflächen - denn die Mobilitätsstationen sollen auf vormaligen Parkflächen errichtet werden. Zudem soll im Umfeld einiger Mobilitätsstationen die Parkraumbewirtschaftung ausgebaut, bzw. eingeführt werden. Als Teil des Modellvorhabens wurden hierfür vorbereitende Parkraumerhebungen durchgeführt. Für den Winter 2021 sind zwei Bürgerbeteiligungsveranstaltungen geplant, bei denen Bürgerinnen und Bürger zu den bestehenden Planungen Rückmeldung geben können. Begleitend wurde im Rahmen des Modellvorhabens eine Kommunikationsstrategie ausgearbeitet, auf deren Basis die Mobilitätsstationen ab Frühjahr 2022 öffentlichkeitswirksam beworben werden sollen. Mit der Kombination aus angebotsschaffenden Mobilitätsstationen und dem, in Bezug auf den motorisierten Individualverkehr restriktiv angesetzten Parkraummanagement im Umfeld der Mobilitätsstationen, wird in der Ortenau ein besonders hochwirksamer Ansatz mit einem hohen CO 2 -Einsparungspotenzial umgesetzt. Zudem zeigen die Kommunen mit diesem Modellvorhaben, dass der hochwirksame Push-Pull-Ansatz auch im ländlichen Raum erfolgsversprechend ist. Da Mobilität nicht an der Gemarkungsgrenze endet und klimafreundliche Mobilität vom Start bis zum Ziel gewährleistet werden soll, ist die interkommunale Struktur des Modellvorhabens zudem besonders hervorzuheben. Benjamin Biddle Projektberater kommunale Mobilitätskonzepte Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg mbH benjamin.biddle@nvbw.de Sandra Kristensen- Seethaler Projektberaterin Regierungsbezirk Freiburg Nahverkehrsgesellschaft Baden-Württemberg mbH sandra.kristensen-seethaler@nvbw.de AUTOR*INNEN Bild 2: Für jede Strecke das passende Fahrzeug. © Kerstin Bittner, Stadt Offenburg 2021 Urbane Mobilität Am 7. März 2022 erscheint die nächste Ausgabe von Transforming Cities mit dem Themenschwerpunkt  Neue Mobilitätskonzepte  Öffentlicher Verkehr  Radfahren und Zufußgehen  Elektromobilität und Infrastruktur  Straßenraum, Verkehrsraum, öffentlicher Raum  Urbane Logistik und Lieferdienste  Digitalisierung und Verkehrslenkung  Automatisiertes und vernetztes Fahren