Transforming cities
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Strategien für eine resiliente Stadtentwicklung Strategien für eine resiliente Stadtentwicklung Daseinsvorsorge|Klimaschutz| Digitalisierung|Sozialkapital|Kommunikation|Krisenbewältigung Daseinsvorsorge|Klimaschutz| Digitalisierung|Sozialkapital|Kommunikation|Krisenbewältigung 2 · 2022 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Stresstest für Städte Wir sehen uns auf der Leitmesse der grünen Branche! NÜRNBERG,GERMANY 14.- 17. SEPTEMBER 2022 die Branche stark für GEMEINSAM die Zukunft machen Jetzt Tickets sichern galabau-messe.com/ ticket 1 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, Gute Zeiten - schlechte Zeiten? Sieht so aus, als seien die „guten Zeiten“ tatsächlich erst mal vorbei. Wir müssen uns wohl oder übel auf eine längere „schlechte Phase“ einstellen. Denn die Übergänge zwischen den aktuellen großen Krisen sind fließend, Krisenzeiten werden zunehmend als Dauerzustand wahrgenommen. Mitten in der Corona-Pandemie zeigte die Flutkatastrophe des Jahres 2021, dass die Auswirkungen des Klimawandels auch in Mitteleuropa verheerend sein können. Corona-Auflagen werden nun hierzulande zwar wieder aufgehoben, aber ob die Pandemie damit wirklich schon vorbei ist, bleibt fraglich - besonders mit Blick etwa auf China oder Nordkorea. Und mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wird auf brutale Weise klar, wie schnell vermeintliche Sicherheitskonstrukte sich in Luft auflösen können. Folgen dieser primären Krisen sind weitere Bedrohungen: Lieferketten reißen ab, die globalisierte Wirtschaft und Finanzwelt gerät aus dem Tritt. Die Energieversorgung steht auf dem Spiel und nicht zuletzt die Ernährung der Weltbevölkerung. Und ob dieser Herausforderungen wird ausgerechnet der Kampf gegen die Klimakrise vorläufig vertagt. Das bedeutet: Krisen reihen sich nicht nur aneinander, sie verstärken sich gegenseitig und lassen weitere neue Krisenherde entstehen. Kann diese Abwärtsspirale noch aufgehalten werden - und wenn ja, wie? Zumindest einen Hoffnungsschimmer gibt es, denn endlich wird die Problematik auch in der Breite erkannt: Die geradezu unglaublichen weltweiten Abhängigkeiten und Verflechtungen machen Systeme nicht sicherer, sondern krisenanfälliger. Die Auswirkungen dieser komplexen Zusammenhänge spüren wir selbst jeden Tag in der Apotheke, beim Bäcker oder an der Zapfsäule. Höchste Zeit also, diese Dynamik zu durchbrechen. Es gilt, Krisenherde nicht mehr nur einzeln zu betrachten, sondern im Zusammenhang mit globalen Fehlentwicklungen. Statt neue Nationalismen aufzubauen, müssen auf dem Weg zu wirklicher Nachhaltigkeit Grenzen überwunden werden - reale und vor allem mentale. Mit dieser Erkenntnis lässt sich dann auch vor Ort ganzheitlich an guten Lösungen für bessere Zeiten arbeiten. In der vorliegenden Ausgabe können Sie nachlesen, welche Maßnahmen Städte und Gemeinden bereits ergreifen, um resilienter gegenüber diversen Stressfaktoren zu werden und somit künftige Krisen und Herausforderungen besser meistern zu können. Christine Ziegler Redaktionsleitung „Transforming Cities“ Stresstest für Städte 2 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES INHALT 2 · 2022 FORUM Veranstaltungen 4 Städtebündnis begleitet deutsche G7- Präsidentschaft Advertorial 5 Bürgerbeteiligt zur Zukunftsstadt Transformation analog und digital beschleunigen Norbert Rost PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum 6 Pandemie als Chance für urbanen Fortschritt Gregor Grassl 10 Essbarer Park statt parkende Autos Grønttorvet-Park Kopenhagen, Dänemark Heidrun Eckert Infrastruktur 13 Vom Regen in die Traufe Speichern, bewässern, versickern, verdunsten Klaus W. König 16 Mit innovativer Technik zu besserer Lebensqualität Modernisierung der Straßenbeleuchtung in St. Gallen Fabian Pasimeni Kommunikation 19 „EineStadt“ - wenn Städte digital werden Wie die Stadt Schwabmünchen das Arbeiten im öffentlichen Raum vereinfacht Stefanie Fiedler 22 Resiliente digitale Infrastrukturen Fünf Empfehlungen für resiliente Informations- und Kommunikationstechnologie Svenja Andresen THEMA Stresstest für Städte 26 Vorausschauende Daseinsvorsorgeplanung Oliver Rottmann, Thomas Beukert 32 Future Skills für Zukunftsstädte Agiles Zusammenarbeiten in sektoralen Verwaltungsstrukturen - am Beispiel des ABK in Bochum Marko Siekmann, Ralf Engels, Thorsten Pacha, Andreas Gunkel, Peter Helbig, Sylvia Gredigk-Hoffmann, Karsten Kerres 37 Digitalisierung und Resilienz Welche Potenziale ergeben sich hier für öffentliche Verwaltungen in Deutschland? Rebecca Nell, Fatma Cetin, Ruben Renz 42 Resilienz als Erfolgsfaktor für Zürich Lilian Blaser, Markus Meile Seite 13 Seite 22 Seite 32 © Jäckle © LOEWEZentrum emergenCIT Y © Stadt Bochum © Stadt Bochum 3 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES INHALT 2 · 2022 46 Klimaschutz und -anpassung in Stadtverwaltungen Bedeutung im Verwaltungshandeln und Weiterbildungsbedarfe am Beispiel Dresden und Erfurt Janneke Westermann, Heidi Sinning, Renate Hermann, Alfred Olfert, Guido Spohr, Franziska Reinfried 51 Die Bevölkerung zur Starkregenvorsorge motivieren Individualisierbare Flyer und praxisnahe Empfehlungen unterstützen die kommunale Risikokommunikation Antje Otto, Lisa Dillenardt, Annegret Thieken 56 Community Resilience in Krisen und Katastrophen Sozialkapital-Radar für den sozialraumorientierten Bevölkerungsschutz Bo Tackenberg, Tim Lukas 62 Innovativ durch Krisen Covid-19 als Opportunitätsfenster für Digitalisierung und ökologische Nachhaltigkeit vor Ort Steffen Jähn 66 Nachhaltige und resiliente Infrastrukturlösungen Das informelle Instrument TRAFIS.NB unterstützt die Lösungssuche in frühen Planungsphasen Alfred Olfert, Jörg Walther 70 UNESCO-Welterbe als Strategie für eine resiliente Stadtentwicklung? Auswirkungen urbaner Transformation in der Mittel- und Welterbe-Stadt Quedlinburg Lena Greinke 76 Historische Innenstädte in der Corona-Pandemie Erik Mann, Stefanie Rößler, Robert Knippschild FOKUS Forschung + Lehre 81 Resilienz und Transformation Zum Kontext der Forschungsprojekte an der Fachhochschule Potsdam im Sommersemester 2020 Alexandra Martini, Michael Prytula 84 Impressum Seite 42 Seite 51 © Stadtpolizei Zürich Seite 76 © S. Rößler © S. Rößler © Annegret Thieken, Universität Potsdam 4 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen ICLEI - Local Governments for Sustainability (ein weltweites Netzwerk für nachhaltige Entwicklung auf kommunaler Ebene), der Deutsche Städtetag und das Global Parliament of Mayors (politisches Organ von und für Bürgermeister*innen aller Kontinente) haben sich in einem Bündnis zur Begleitung der deutschen G7-Präsidentschaft zusammengeschlossen. Die Allianz wird das Programm der G7-Präsidentschaft, welches die Nutzung der transformativen Kräfte der Städte hervorhebt, unterstützen. Städte können einen immensen Beitrag zum G7-Ziel „Fortschritt für eine gerechte Welt“ und zu den fünf von der Präsidentschaft definierten Handlungsfeldern leisten. Das Städtebündnis knüpft an den sogenannten „G7-Urban7“- Prozess (U7) an, der von einer Interessengruppe, bestehend aus einigen der größten Städte des Vereinigten Königreichs (Core Cities UK), initiiert wurde. Dieser entwickelt sich nun, wie Frank Cownie, Oberbürgermeister von Des Moines (USA), erklärt, „zu einem systematischeren Beteiligungsmechanismus“. „Die Städte, die sich in der Urban7-Gruppe zusammengeschlossen haben, sind bereit, die G7-Präsidentschaft aktiv zu unterstützen“, betonte Dr. Peter Kurz, Oberbürgermeister von Mannheim (Deutschland). „Wir werden hart daran arbeiten, die städtische Perspektive in die Arbeit der Präsidentschaft einzubringen. Städte bilden eine unabdingbare politische Ebene für die Bewältigung der Herausforderungen unserer Zeit. Sie sind entscheidend für die wirksame Umsetzung der Agenda 2030 der Vereinten Nationen“. Die U7-Gruppe wird vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie von der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt unterstützt. Die Gruppe wird mit allen Bundesministerien, die sich mit städtischen Fragen befassen, zusammenarbeiten. Hierunter fallen insbesondere das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen, das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz sowie das Auswärtige Amt. Zu Beginn des Jahres 2022 legte die deutsche G7-Präsidentschaft ihre fünf Schwerpunkte mit den folgenden Titeln offen: nachhaltiger Planet, wirtschaftliche Stabilität und Transformation, gesundes Leben, Investitionen in eine bessere Zukunft und starkes Miteinander. Das offizielle Dokument zum Programm der deutschen G7-Präsidentschaft, welches diese fünf Handlungsfelder näher erläutert, verweist in einer beispiellosen Art und Weise auf die Bedeutung von Städten und nachhaltiger Urbanisierung. Dies spricht für den großen potenziellen Einfluss, den führende lokale Akteure auf G7-Prozesse haben können. Die U7-Allianz ist daher bereit, die G7-Handlungsfelder und die Arbeit der G7-Präsidentschaft unmittelbar zu unterstützen. Markus Lewe, Oberbürgermeister der Stadt Münster (Deutschland) und Präsident des Deutschen Städtetages, sagte: „Städte stehen an vorderster Front, wenn es um Lösungen für globale Herausforderungen geht. Wir setzen uns für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte ein. Wir bündeln unsere Kräfte in internationalen Netzwerken und Kooperationen zur Umsetzung der Klima- und Nachhaltigkeitsziele. Die deutsche G7-Präsidentschaft hat die transformative Kraft der Städte erkannt. Es ist an der Zeit, dass die urbane Perspektive dauerhaft integriert wird. Die Urban7 sind bereit, ihren Beitrag dazu zu leisten.“ ICLEI und andere Akteure der U7 erkennen, wie wichtig es ist, die Kraft der Städte zu nutzen - um einen dauerhaften ökologischen Wandel zu erzielen, um kreative und wirksame globale Lösungen für die Herausforderugnen unserer Zeit zu entwicklen und, um sinnvolle Dialoge, ausgehend von der lokalen Ebene, zu führen. Diese zentralen Grundsätze werden den Kern der Arbeit der U7-Gemeinschaft ausmachen. Diese umfasst unter anderem ein Treffen der Vertreter*innen der G7-Städte im Rahmen eines Städtegipfels, dem Urban Summit, der im Mai 2022 stattfinden wird und das Mitwirken in G7- Engagementgruppen sowie weiteren Initiativen. Mit Blick auf das World Urban Forum, das in Kattowitz (Polen) stattfinden wird, den Urban20- Prozess, der parallel zum G20- Treffen stattfinden wird und den kommenden COP27-Klimaverhandlungen, ist die U7-Gruppe darüber hinaus darauf vorbereitet, sich in relevante Vorgänge außerhalb des G7-Rahmens einzubringen. Webseite: https: / / g7u7.org/ Starkes Städtebündnis zur Begleitung der deutschen G7-Präsidentschaft gegründet © iStock 5 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Transformation ist nicht verhandelbar. Fossil gewachsene Städte und Regionen müssen im 21. Jahrhundert zu post-fossilen Daseinsformen finden, Innenstädte neu denken und selbst auf Unerwartetes vorbereitet sein. Wohl jener Stadt, die dafür Strategien hat oder entwickelt. Wohl jenen, die breite Partnerschaften zur Stadtentwicklung formen. Transformation by design or by desaster? Die „Zukunftsstadt Dresden“ war und ist (BMBF-gefördert) ein Reallabor, um zu erproben, wie sich Bürger aktiv in die Stadtgestaltung einbinden lassen. Welche Story erzählt man, um zum Mitgestalten der nachhaltigen Zukunftsstadt zu motivieren? Welche Befähigungen brauchen Bürgerinnen und Bürger, um eigenständig Projekte zu planen und umzusetzen und wie organisiert man diese Befähigung? Welche Haltung braucht eine Stadtverwaltung, um Kooperationen leben zu können? Welche Grenzen der Beteiligung erreicht man und wie weitet man sie? Städte, die Transformation nicht nur passiv erfahren, sondern aktiv gestalten wollen, benötigen Strategien. Klimaschutz-, Nachhaltigkeits-, Innenstadt- oder Smart-city-Strategie: Zeithorizont, Ziel-Bild und Entwicklungsschwerpunkte rahmen, wie sich eine Stadt entwickeln soll. Mit klug designten Beteiligungsprozessen ist es innerhalb dieses Rahmens möglich, dass Bürger- und Unternehmerschaft als Kooperationspartner mit eigenen „Bürgerprojekten“ involviert werden. In der „Zukunftsstadt Dresden“ haben wir erprobt, wie Storytelling, Workshops, Arbeitsmaterialien und Verwaltungsschnittstellen aussehen müssen, damit Bürgerprojekte gelingen. In Visionsworkshops visualisierten Teilnehmende eigene Zukunftsbilder, die wir zu einem Gesamtbild zusammenfügten. In Projektwerkstätten fanden sie sich zu Teams, um eigene Projektideen zu präzisieren, zu Projektplänen weiterzuentwickeln und zu verfolgen. Eine Zukunftskonferenz führte 100 Projektteams zusammen. Von 25 umsetzbaren Projektplänen wurden acht mit größter Nachhaltigkeitswirkung, Erkenntnispotenzial und Realisierbarkeit zur Umsetzung ausgewählt. Umgesetzt werden die Projekte durch die soweit befähigten Bürger selbst, die dafür mit über 800 000 € ausgestattet wurden. Als Forschungspartner agierten IÖR und TU Dresden. Von der Forderungskultur zur Beteiligungskultur In einer 560 000-Einwohnerstadt entsprechen 300 Beteiligte einem Anteil von 0,05 % - für die Intensität des Prozesses ist das ganz gut, aber: wie lassen sich solche Beteiligungsverfahren skalieren? Wie lassen sie sich auf andere Städte übertragen? Wir haben ein neues Forschungsprojekt abgeleitet: eine Digitale Projektfabrik als strategieunterstützendes, digitales Beteiligungswerkzeug. Projektideen sammeln, Projektteams formen, Projektpläne ausarbeiten, bis hin zur Antragstellung auf einen kommunalen oder privaten Fördertopf. Ziel: Transformation auf breite Schultern legen und beschleunigen. Nun beginnt die Erprobung der Digitalen Projektfabrik in Dresden und vertiefende (Forschungs-)Fragen tauchen auf: Wie spielen analoge und digitale Tools zusammen? Wie gelingt dauerhaft wirkendes Communitybuilding? Welche sozialen, technischen und formalen Schnittstellen braucht es in die Verwaltung und andere Institutionen? Wie überträgt man erfolgreiche Beteiligungserfahrung in andere Kommunen? Wie müssen kommunalen Strategien designt sein, um von Bürgerprojekten zu profitieren? Wie bitte geht’s zur Zukunftsstadt? Die Transformation der Städte braucht Kreativität und Partnerschaften, Umsetzungs- und Erprobungsprojekte. Der Ansatz des „Reallabors“, in dem ein Stück Zukunft vorweggenommen wird, hilft, um transformative Hebel zu finden und bedienbar zu machen. Transformation ist unvermeidbar. Aber beeinflussbar. Bürgerbeteiligt zur Zukunftsstadt Transformation analog und digital beschleunigen Wirklich smarte Städte kooperieren bei der Umsetzung ihrer Strategien mit der Bürger- und Unternehmerschaft. Lokales Wissen und Gestaltungswillen lassen sich derart in die Stadtentwicklung einbinden, dass die Bürger selbst Projekte visionieren, planen und umsetzen. Norbert Rost Geschäftsführer futureprojects GmbH, ehem. Projektleiter Zukunftsstadt Dresden Kontakt: norbert.rost@futureprojects.de www.projektfabrik.info AUTOR Advertorial © futureprojects GmbH 6 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Innenstädte stehen seit jeher vor großen Herausforderungen: zu viel Verkehr und Versiegelung, nicht genug Grün und immer weniger Bewohner und Läden. Schuld daran ist mitunter eine verfehlte Stadtplanung. Ihre Schwächen wurden während der Pandemie noch augenscheinlicher. Die bisherige Tendenz in der Stadtplanung, Innenstädte zu reinen Eventflächen auszubauen, anstatt sie für Bewohnende zu entwickeln und ganzjährig mit echtem Leben zu füllen, war ein Trugschluss. Bei den Einwohnern sorgte das für Probleme wie Lärm, Parkplatzmangel und Zugangssperren und dies trieb die Entvölkerung der Innenstädte voran. Dazu veraltete Infrastrukturen und anhaltendes Verkehrschaos. Gleichzeitig steigen die innerstädtischen Grundstückpreise durch die enorme Kommerzialisierung. Die pandemiebedingte Materialknappheit trieb die Bau- und Immobilienpreise nur weiter in die Höhe. Die Pandemie gab aber auch Grund zur Hoffnung: In die Geisterstädte zog nämlich die Natur ein und eroberte sich einen Teil des urbanen Raums zurück. Sobald die Touristenströme ausblieben und Kreuzfahrtschiffe in die Zwangs-Pause mussten, klärte sich das Wasser in Venedigs Kanälen. In Japan tauchten Hirsche in sonst überlaufenen Touristengebieten auf. Füchse wurden in deutschen Innenstädten gesichtet und über die Abnahme des Stadtlärms freuten sich auch die Singvögel. Innerhalb kürzester Zeit war eine Entlastung und Regeneration unserer Umwelt möglich. Das erinnert uns daran, dass Städte ein natürlicher Lebensraum sind, den wir durch unsere Lebensweise wie mit einem zu hohen Energie- und Benzinverbrauch negativ beeinflussen. Verkehr, Lärm und Abfälle müssen künftig so geregelt und behandelt werden, dass die Natur in unsere Innenstädte integriert werden kann. In der bisherigen Innenstadtgestaltung wurde darauf kaum wert gelegt. Natur und damit Umweltfreundlichkeit existieren nur am Stadtrand. Nachhaltige Städte sind attraktiver Durch die derzeit klimaschädliche Gestaltung urbaner Räume sind Städte nicht widerstandsfähig gegen die echten Herausforderungen unserer Zeit, wie etwa extreme Klimabedingungen. Dazu zählen Stürme, Schnee, Hagel, Hitzewellen und vor allem Starkregen. Deutlich machten das die Hochwasser- Katastrophen im vergangenen Sommer. Zunehmende Hitzeperioden sowie ein höherer Versiegelungsgrad in Städten begünstigen zudem den sogenannten Wärmeinsel-Effekt, auch Heat Island-Effekt genannt, der höhere Lufttemperaturen von bis zu Pandemie als Chance für urbanen Fortschritt Gregor Grassl Gähnende Leere auf den Straßen Shanghais, Füchse am Berliner Alexanderplatz: Die Auswirkungen der Pandemie waren gerade in den Großstädten spürbar. So sorgte das Virus auf der ganzen Welt für Geisterstädte - und die Natur eroberte zeitweise den urbanen Raum. Diese Entwicklung verdeutlichte, wie viel Einfluss das menschliche Handeln auf die Umwelt hat. Aber auch, dass sie sich erholen kann, wenn wir nur einen freundlicheren Umgang mit ihr finden. Damit ist die Krise eine Chance, die Zukunft besser zu gestalten. Für die Innenstädte bedeutet das: Sie müssen nachhaltiger, durchmischter und smarter werden. Bild 1: Wohnprojekt Moringa in Hamburg. © Visualisierung rendertaxi _Moringa GmbH by Landmarken 7 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum zehn Grad gegenüber dem Umland erzeugt. Das alles sorgt für eine erhöhte Gefahr von Hochwasser durch Starkregen und zunehmenden Hitzestress. Gegen diese katastrophalen Entwicklungen müssen unsere Städte resilient werden. Die offengelegten Schwachstellen deuten aber auch auf die Schalthebel hin, die uns zur Verfügung stehen, um eine echte Transformation anzuregen. Gegen die Folgen von Starkregen erweisen sich zum Beispiel grüne Flächen nicht nur am Boden als wirksam: Gründächer oder begrünte Fassaden wirken den sommerlichen Hitzeinseleffekten entgegen und dienen bei Regen als eine Art Schwamm. Am Wohnprojekt Moringa in Hamburg (Bild- 1) entstehen zum Beispiel mehr begrünte Flächen am Gebäude, als das bebaute Grundstück Quadratmeter hat. Als grüne Lunge produziert der im Jahr 2025 fertiggestellte Wohnkomplex zudem Sauerstoff und reduziert Schadstoffe, das ist gut fürs Mikroklima und die Biodiversität in der Stadt. Moringa ist zudem das erste Wohngebäude hierzulande, das nach dem Cradle to Cradle-Prinzip gebaut wird. So viele Materialien wie eben möglich, sind bei dem Bauvorhaben sortenrein trennbar, rückbaubar, schadstofffrei und in hoher Qualität wiederverwertbar. Hinzu kommt, dass die Planer auf eine modulare Bauweise setzen. Denn was modular gebaut ist und ohne giftige Klebstoffe auskommt, kann auch schneller demontiert und einfacher in die Wertstoffkreisläufe zurückgeführt werden. Städte und Gemeinden profitieren mit der Anpassung an den Klimawandel von einem insgesamt aufgewerteten Lebensraum. Eine innovative Planung verbessert den Hochwasser- und Hitzeschutz, sorgt für eine bessere Luft und Biodiversität und schafft attraktive Aufenthaltsräume. Über die Gebäude hinaus steht besonders der Öffentliche Raum als „Blau-Grüne Infrastruktur“ im Fokus. Wenn wir die EU bis zum Jahr 2050 klimaneutral machen wollen, müssen aber auch digitale Lösungen in Kombination mit innovativen, nachhaltigen Konzepten viel stärker verwirklicht werden. Es gilt, notwendige Lösungen zur CO 2 -Reduktion, ob durch Photovoltaik-Anlagen oder den Ausbau der E-Ladeinfrastruktur, sowie Maßnahmen gegen Hochwasser und Heat Island-Effekte im Stadtentwicklungsprozess zu berücksichtigen. Nur so können wir resiliente und lebenswerte Städte schaffen. Vernetzt in eine enkelfähige Zukunft Eine solche digitale Lösung stellen intelligente Stromnetzte, sogenannte Smart Grids dar. Als zentrale Steuerungseinheit können sie die Energieproduktion und den Energieverbrauch vernetzter Gebäude anhand von Echtzeitdaten optimal aufeinander abstimmen. Damit Gebäude sich klimagerecht mit Energie versorgen können, müssen sie erneuerbare Energien zum Beispiel aus Wind Energieeffiziente Bauweisen, zukunftsweisende Mobilitätskonzepte und eine umfängliche Vernetzung: Im Herzen der Europacity in Berlin entsteht mit dem Quartier Heidestraße das Stadtquartier der Zukunft. Auf einer Grundstücksfläche von 85 000 Quadratmetern werden dort insgesamt sieben Gebäude errichtet, die eine Mischung aus Büro-, Einzelhandels-,Gastronomie- und Hotelflächen sowie insgesamt 944 Mietwohnungen bieten. Mithilfe digitaler Technologien soll das städtische Leben im Quartier Heidestrasse gesünder und ökologischer gestaltet werden. So macht eine Quartiers-App nicht nur den nachbarschaftlichen Austausch möglich, sondern informiert die Bewohner auch über Service-Angebote. Die Nutzung der Bürogebäude wird durch Appbasierte Raumnutzungssysteme unterstützt. Auch in den Wohnungen werden wichtige Haustechnik-Features digital vernetzt: Heizung, Licht, Jalousien etc. lassen sich hier bequem per App steuern - auch aus der Ferne. Zudem werden die Nutzer beispielsweise über ihren Energieverbrauch transparent informiert. Drees & Sommer begleitet das Projekt unter anderem mit Projektmanagement, Digitalisierungsberatung, Generalfachplanung und Energieberatung. QUARTIER HEIDESTRASSE, BERLIN Bild 2: Visualisierung Quartier Heidestraße im Herzen der Europacity in Berlin. © Quartier Heidestraße 8 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum und Sonne nutzen. Derzeit ist es nicht einfach, die Energieproduktion, die Energiespeicherung und den Energieverbrauch optimal aufeinander abzustimmen, ohne dass Stromversorgungsstrukturen an die Grenze der Leistungsfähigkeit kommen. Das liegt daran, dass erneuerbare Energien naturgemäß hohen Schwankungen unterliegen. Smart Grids haben aber auch für dieses Problem eine Lösung: Über intelligente Stromnetze kommunizieren die Anbieter, die Erzeuger erneuerbarer Energie, die Verbraucher und eben auch Gebäude miteinander. Aus dem Smart Grid erfährt das Energiemanagement der Gebäude zum Beispiel, wann es günstig ist, Energie zu beziehen und wann es wiederum das Netz entlasten kann. So könnten in der Bundesrepublik allein durch Smart Grids fünf bis zehn Prozent des Energiebedarfes reduziert werden. Damit diese intelligente Regulierung funktioniert, müssen Gebäude über entsprechende digitale Technologie und Softwareprogramme verfügen. Als Smart Buildings können Immobilien mit Stromnetzen kommunizieren und ihren Verbrauch bei Bedarf anpassen. Die einzelnen Gebäude vernetzen sich somit zu energieoptimierten Quartieren oder - perspektivisch - zu ganzen Städten. Diese Vernetzung ist entscheidend und zwar: weg von der einzelnen Betrachtung der Gebäude hin zum Quartiers- oder Campusgedanken. Nur wenn Immobilien auch im Bestand als Teil eines großen Netzwerks aus Gebäuden, Straßen und grünen Energiequellen funktionieren, lässt sich die Vision von einer klimapositiven Zukunft umsetzen. Der Blue City-Ansatz von Drees & Sommer vernetzt wichtige Handlungsfelder wie den Gebäudesektor, die digitale Infrastruktur, das Energie- und Wassermanagement und die Mobilität. Das Ziel ist, das Quartier mit Hilfe digitaler und nachhaltiger Methoden resilient, grün und enkelfähig zu machen. Smarte Gebäude erkennen darin mit Hilfe integrierter Künstlicher Intelligenz ungenutzte Räumlichkeiten und fahren den Energieverbrauch dort selbständig herunter. Tools wie CityBIM helfen dabei, Energiekonzepte oder Nachhaltigkeitszertifizierungen im Modell zu testen. Plattformen wie der Smart City-Demonstrator von Drees & Sommer vernetzt Akteure einer Smart City und bündelt ihr Wissen. Über Simulationen fürs Mikroklima oder zu Fußgängerbewegungen zeigen diese Werkzeuge Lösungen für die Herausforderungen von Quartieren auf. Denn die Planung und der Betrieb einer Smart City gelingt nur in Zusammenarbeit von Entwicklern aus unterschiedlichen Sektoren. Die Mischung macht mobil Bei der klimafreundlichen Quartiersentwicklung gilt es grundsätzlich, Verkehr weitestgehend zu vermeiden. Das funktioniert in einer „Stadt der kurzen Wege“, auch als 15-Minuten-Stadt bekannt: Dieses Konzept beschreibt ein durchmischtes Quartier, in dem verschiedene Bedürfnisse der Bewohner wie Wohnen, Arbeit, Freizeit und Versorgung abgedeckt sind. Alle Einrichtungen sind innerhalb einer Viertelstunde zu Fuß oder mit dem Fahr- Das neue Drees & Sommer-Bürogebäude OWP 12 für den Eigenbedarf in Stuttgart wurde als Plusenergiehaus und kreislauffähig konzipiert. Es erzeugt mehr Energie, als es im Betrieb verbraucht. Dazu tragen eine neu entwickelte, hochdämmende Fassadenkonstruktion, Photovoltaikanlagen auf dem Dach und an der Südfassade, die Nutzung von Erdwärme über Geothermie-Bohrungen sowie eine Begrünung der Nordfassade bei. Baumaterialien lassen sich weitestgehend nach einem späteren Gebäudeabriss in hoher Qualität wiederverwerten oder in einen biologischen Kreislauf zurückführen. Die verbauten Materialien werden in einem Gebäuderessourcenpass, dem Building Circularity Passport ® der EPEA GmbH - Part of Drees & Sommer, festgehalten. Auf einer Bruttogrundfläche von rund 7 000 Quadratmetern finden sich in dem 20 Meter hohen und 70 Meter langen vierstöckigen Neubau Arbeitsplätze für 200 Mitarbeiter sowie ein großer Konferenzbereich, eine Terrasse, eine Cafeteria und eine Kantine im Erdgeschoss. Auch eine Tiefgarage und überdachte Fahrradstellplätze gehören zum im Dezember 2021 eröffneten Neubau. OWP 12 Bild 3: Außenansicht des Bürogebäudes OWP12 von Drees & Sommer in Stuttgart. © Drees & Sommer 9 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum rad erreichbar - ungeachtet der ÖPNV-Anbindung. Eine solche Nutzungsmischung macht eine Stadt attraktiver, wettbewerbsfähiger und wird den hohen Anforderungen von Bewohnern und Arbeitgebern gerecht. Ein Stadtviertel hat die ideale Größe, um Synergieeffekte zu heben. Andererseits ist es klein genug, um nicht den Überblick zu verlieren. Für die verbleibenden Wege bieten sich nachhaltige Mobilitätsformen mit innovativen technischen Lösungen wie Sharing, E-Mobilität oder urbane Seilbahnen an. Noch spiegelt sich das Leitbild einer autogerechten Stadt aus den 1960er und 1970er- Jahren in unseren Städten wider: Mehrspurige Hauptverkehrsstraßen, fehlende Fahrradspuren, mangelnde Parkplätze und viel zu schmale Fußwege führen fast täglich zum Verkehrschaos. Corona hat einen Vorgeschmack gegeben, wie die Zukunft der Mobilität aussehen könnte: Zwar stieg die Zahl von Autohaltern insgesamt, der Pendelverkehr nahm durch das Homeoffice jedoch ab, viele stiegen auf das Rad um. Europaweit entstanden provisorische Pop-up Bikelanes und bewirkten, dass bis zu 48 Prozent mehr Menschen das Fahrrad nutzten. Man erkannte, dass viele Geschäfts- oder Fernreisen verzichtbar sind. Die positiven Effekte auf die Mobilität werden bleiben und für langfristige Veränderungen im Verhalten sorgen. So ist die „Stadt der kurzen Wege“ beispielsweise im Prinz-Eugen-Park in München die Leitidee und zeigt sich nicht nur in der Mischung der Gebäudearten und -nutzungen. In der quartierseigenen Mobilitätszentrale können die Bewohnerinnen und Bewohner Fahrräder, Pedelecs, Lastenräder und Anhänger mieten. Dezentrale Carsharing- Stationen und eine Plattform für privates Carsharing und Mitfahrgelegenheiten erleichtern den Verzicht auf den eigenen PKW. An E-Ladestationen lassen sich Zwei- und Vierräder laden. Und ein digitales Parkraummanagement steuert die individuelle Belegung der Tiefgaragen. Zeit für Veränderung Vieles wird nicht mehr so sein wie vor Corona. Veränderungen machen Angst, aber sie eröffnen uns die Chance, einen echten Wandel zu bewirken. Während die Stadtplanung bisher auf Baurecht und Verkehrsplanung ausgelegt war, zeigte die Pandemie, dass der Mensch und das Klima in den Fokus rücken müssen. Die Stadt der Zukunft ist eine, die durchmische Nutzungen bietet, sich selbst mit Energie versorgt und in der alle Gebäude miteinander vernetzt sind. Die Handlungsfelder werden durch diverse Maßnahmen verknüpft - und die Städte dadurch resilient. Denn nur dann können sie den Folgen von Klimawandel, digitaler Transformation und ökonomischen Einschnitten wie durch die Corona-Pandemie standhalten. Eine gezielte Digitalisierung und der Weg zur Smart City sind bei einem derart komplexen Großprojekt wie einer Stadt die einzig zeitgemäßen und wirkungsvollen Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit. Nur so leben wir in Zukunft mit statt gegen die Natur. AUTOR M. Eng., Dipl.-Ing. Gregor Grassl Architekt Associate Partner Smart City-Experte Drees & Sommer SE Kontakt: gregor.grassl@dreso.com Auf der Fläche des ehemaligen Flughafens Berlin-Tegel entsteht ein innovativer und nachhaltiger Forschungs- und Industriepark für urbane Technologien: „Berlin TXL - The Urban Tech Republic“. Neben Einrichtungen für Industrie, Gewerbe und Wissenschaft ist dort ein smartes Wohnquartier mit über 5 000 Wohnungen geplant. Anfang 2016 wurde das Vorhaben als erstes Gewerbequartier weltweit mit dem DGNB-Nachhaltigkeits-Vorzertifikat in Platin ausgezeichnet. Die Grundlage dafür war unter anderem das innovative Energiekonzept, das ein Niedrigenergienetz mit Kraft-Wärme-Kopplung, Geothermie und Nutzung intelligenter Steuerungs- und Überwachungssysteme für Energieverbräuche (Smart Grid) berücksichtigt. Auch ein integriertes Mobilitätskonzept, das die Vernetzung verschiedener Mobilitätssysteme vorsieht, hat zum positiven Ergebnis beigetragen. Die Experten von Drees & Sommer entwickelten unter anderem die innovativen Konzepte für Infrastruktur und Energie und führten den Zertifizierungsprozess nach DGNB durch. Der Großteil der Sanierungsmaßnahmen soll 2027 abgeschlossen werden. URBAN TECH REPUBLIC, BERLIN Bild 4: Campus-Arena Berlin T XL - Urban tech Republic. © Atelier Loidl, Tegel Projekt GmbH 10 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Der dänische Begriff „Grønttorvet“ heißt wörtlich übersetzt so viel wie „Grüner Platz“. Sehr treffend damals wie heute. Von 1958 bis 2016 war Grønttorvet im Stadtteil Valby der Marktplatz für Kopenhagens Floristen und Gemüsehändler, welcher täglich von Händlern aus über 2 700 Einzelhandelsgeschäften besucht wurde. Weil dieser Standort zu klein geworden war, findet der Markt seither in Høje Taastrup außerhalb von Kopenhagen statt. Eine bedeutsame Aufgabe war es in der Folge, das frei gewordene Areal in Valby zu revitalisieren. Ein neuer, moderner Wohnbezirk sollte entstehen. Ein erklärtes Ziel dabei war, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Die Neubauwohnungen sollten auch für durchschnittliche Einkommen erschwinglich sein. Das ist hier gelungen mit nunmehr 3 000 Wohnungen in einer Mischung aus Eigentum und Miete sowie Gemeinschafts-, Senioren- und Studentenwohnungen. Elementares Ziel war zugleich eine nachhaltige und lebenswerte Stadtgestaltung. Und dazu gehört in allererster Linie eine grüne Gebäudearchitektur sowie Grünflächen im direkten Wohnumfeld. Daher wurde von der Projekt- Essbarer Park statt parkende Autos Grønttorvet-Park Kopenhagen, Dänemark Heidrun Eckert Am Standort des früheren Großmarktes für Gemüse, Obst und Blumen mit dem Namen Grønttorvet im Stadtteil Valby, Kopenhagen, entsteht bis 2025 ein moderner Wohnbezirk mit rund 3 000 gemischt genutzten Wohnungen, Läden, Cafés und Büroflächen. Grünes Herzstück ist der 23 000 m² große Grønttorvet-Park, unter dem sich eine rund 9 000 m² große Tiefgarage verbirgt. 250 Obstbäume erinnern an die frühere Nutzung und schmecken den Bewohnern im wahrsten Sinne des Wortes, denn sie dürfen von den Parkbesuchern abgeerntet werden. Weitläufige Rasenflächen zum Spielen und Picknicken, Raum für Erholung und Nachbarn treffen - all das ist unschätzbar wertvoll inmitten der sonst dichten Bebauung. In den multifunktionalen ZinCo-Systemaufbau „Dachgarten“ sind übrigens die Betonpfeiler als Relikte der früheren Markthallen integriert und es scheint fast, als wolle das üppige Grün diese irgendwann überwuchern. Bild 1: Urlaubsstimmung vor der Haustüre. © FB Gruppen A / S 11 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum entwicklergruppe FB Gruppen A/ S auch eine begrünte Tiefgaragenlösung favorisiert anstatt Parkhäuser in der Gegend zu bauen. So entstand bei der Transformation des historischen Großmarktes in einen neuen, grünen Wohnbezirk der ganze 23 000 m² große Grønttorvet-Park als zentrales Herzstück und unschätzbar wertvoller Grünraum. Gemeinsame Grünräume Ausgehend vom zentralen Grønttorvet-Park findet sich gemeinschaftliches Grün ebenso in der Bebauung ringsherum: Hier gibt es zum Eigenanbau nutzbare Grünflächen, Hochbeete und Gewächshäuser in Innenhöfen und auf Gebäudedächern sowie grüne Dachterrassen zur freien Nutzung. All diese kleinen Räume und Aktivitätsmöglichkeiten fördern nicht nur gesundes Wohnen, sondern auch die soziale Gemeinschaft der Bewohner aller Altersgruppen. Die Projektentwickler hatten darüber hinaus im Fokus, dass der Wohnbezirk alles Wichtige „direkt um die Ecke“ bietet. Kindertageseinrichtung, Einkaufsmöglichkeiten, Café, Restaurant und Kulturelles sind idealerweise zu Fuß und per Fahrrad erreichbar. Das dortige Verkehrskonzept baut auf öffentlichen Nahverkehr und lässt private PKWs in der Tiefgarage mit 383 Stellplätzen verschwinden. So entsteht sicherer und grüner Freiraum. Sichtbare Erinnerung Die Wohngebäude sind nach Blumen benannt, die hier einst verkauft wurden, wie Hortensien-Haus, Amaryllis-Haus oder Verbenen-Haus. Sichtbarer als diese Namensgebung sind die hohen Betonpfeiler und Streben im Park. Diese Relikte der früheren Markthalle wurden sorgfältig abgetragen und dann neu in die Parklandschaft integriert. An die historische Vergangenheit erinnern aber vor allen Dingen die Pflanzen selbst, all die Blumen, Kräuter, Gemüse, Beeren- und Obstsorten, die in Hochbeeten, Dachgärten, Gewächshäusern und im Grønttorvet-Park wachsen, herrlich duften und schmecken. Das Konzept zu diesem „essbaren Park für alle“ stammt vom kreativen Landschaftsarchitekturbüro 1 : 1 Landskab. Der erfahrene Fachbetrieb Malmos A/ S gestaltete die Umsetzung über einen Zeitraum von rund fünf Monaten. Stabiler Begrünungsaufbau Grundlage für die Begrünung der rund 9 000 m² großen Tiefgaragendachfläche war eine um 1 % geneigte bituminös abgedichtete Betondecke mit 20 mm Gussasphalt. Der ZinCo-Systemaufbau „Dachgarten“ startete darauf mit der mechanisch hoch belastbaren Isolierschutzmatte ISM 50 und den vollflächig verlegten Drän- und Wasserspeicher-Elementen Floradrain FD 60 neo. Die großen Wasserspeichermulden dieser 60 mm hohen Elemente wurden mit dem Tonziegelsubstrat Zincolit Plus verfüllt und damit wurde die gewünschte Druckfestigkeit des Aufbaus erzielt. In den Elementen wird Niederschlagswasser gespeichert und etwaiger Überschuss über das unterseitige Kanalsystem sicher abgeleitet - selbst über große Entwässerungslängen. Damit die Dränfunktion nicht beeinträchtigt wird, folgt im Aufbau das Systemfilter SF als Abdeckung. Dies verhindert, dass Feinteile aus der darüberliegenden Substratschicht eingetragen werden. Interessanterweise ist zu erwähnen, dass für die rund 45 cm Untersubstrat sogar lokal verfügbares Material, nämlich Ziegelreste aus den früheren umliegenden Bild 2: Zum nachhaltigen und gesunden Wohnumfeld gehören in erster Linie grüne Gebäudearchitektur und Parklandschaft. © 1: 1 Landskab Bild 3: Etwa 9 000 m 2 des Grønttorvet-Parks befinden sich über der Tiefgarage. Auf diese Weise entsteht wertvoller Grünraum. © Malmos A / S / ZinCo Bild 4: Stabile Bauweise: Die FD 60 neo Elemente werden mit Zincolit Plus verfüllt und mit dem Systemfilter SF abgedeckt. Darauf folgt die eigentliche Substratschicht für die Bepflanzung. © Malmos A / S / ZinCo Bild 5: Alle Autos verschwinden zum Parken unter dem prachtvollen Grün. © Malmos A / S / ZinCo 12 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Gebäuden, aufbereitet und mitverwendet wurde. Auf dieses folgten weitere rund 45 cm Systemerde „Dachgarten“. Dank des stabilen und daher auch mit schwerem Baugerät befahrbaren Systemaufbaus konnte sämtliches Substrat, insgesamt 4 200 m³, bequem per Radlader aufgebracht und verteilt werden. Einfach mal spazieren gehen und Äpfel pflücken Die Parklandschaft, welche seitlich ebenerdig und völlig unsichtbar in den gewachsenen Boden übergeht, ist durchzogen von einem Netz aus sanft geschwungenen Spazierwegen. Für diese Belagsflächen folgte auf das vorhandene Untersubstrat eine entsprechend hohe Schottertragschicht mit weiteren 3 - 4- cm Splitt. Während auf einem Teil der Wege in diese Bettung Granitpflaster verlegt ist, blieb auf anderen Wegabschnitten der Splitt selbst als Oberflächenbelag in seiner natürlichen Optik bestehen. Neben diesen 1000 m² Belagsfläche sind 8000 m² üppig grün gestaltet. Die weitläufigen Rasenflächen sind mit vorkultiviertem Rollrasen begrünt und in den Bereichen mit Wiesenblumen wurden diese als Samenaussaat ausgebracht. Dazu schafft die Gemeine Hainbuche (Carpinus betulus) als Heckenpflanze gewisse Abgrenzungen. Die eigentlichen Hauptdarsteller im Pflanzkonzept sind stattliche 250 Obstbäume - Äpfel, Birnen, Pflaumen - die von den Bewohnern und Parkbesuchern geerntet werden dürfen und sollen. Wichtig bei deren Pflanzung war ihre sichere Verankerung auf der Dachfläche. Dazu verlegte man entsprechende Stahlgitter auf den Floradrain-Elementen und konnte daran die Wurzelballen mit Spannbändern sichern. Nach erfolgreicher Fertigstellung ist Malmos A/ S auch für die weitere Pflege der gesamten Begrünung zuständig. Aktuell wird der Grønttorvet-Park weiter ausgebaut und soll auch eine Wasserfläche erhalten - für noch mehr Sinneserlebnisse und Abenteuer. Mit Auszeichnung Die Planer haben Grønttorvet auf einzigartige Weise gestaltet und seine historischen Wurzeln bewahrt. Die originelle Idee des essbaren Parks dient dem leiblichen Wohl und natürlich auch dem seelischen Wohlbefinden aller Bewohner - groß und klein - die diesen Grünraum nutzen zum Spielen, Erholen, Picknicken, Treffen und Spaß haben. Für dieses tolle Beispiel, wie grünes Stadtleben aussehen kann, erhielt FB Gruppen A/ S den Developer Award 2020. Diese Auszeichnung ist eine von sieben Auszeichnungen für Unternehmen, die sich für nachhaltiges Bauen einsetzen. Im Rahmen des Building Awards wird sie von der dänischen Bauzeitung „Licitationen“ in Zusammenarbeit mit führenden Akteuren der Bauindustrie vergeben. Heidrun Eckert ZinCo GmbH Kontakt: info@zinco-greenroof.com www.zinco.de www.zinco-greenroof.com AUTORIN Bild 6: Noch sind die Äpfel klein und grün. © Malmos A / S / ZinCo Bild 7: Die Parkbesucher dürfen und sollen das Obst ernten - so die Idee der Landschaftsarchitekten. 13 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Dürre und Starkregen im Wechsel Fehlt der Regen wie im Jahr 2018 im Norden und Osten Deutschlands sogar sechs Monate, fällt das Laub frühzeitig von den Bäumen und bestimmte Pilze sowie Schädlinge nehmen überhand. Saftige Wiesen verwandeln sich in dürre Steppen. Mit dem sinkenden Wasserpegel in Rhein, Main und Neckar sind im Oktober 2018 sogar die Preise für Benzin und Heizöl in Süddeutschland kräftig gestiegen. Damit haben die wenigsten gerechnet - doch in leeren Flüssen können keine vollen Tankschiffe fahren. Es gab also viele Gründe, sich anhaltende Niederschläge herbeizuwünschen. Kommt der ersehnte Regen endlich und fällt dann heftig, setzt sich die Tragödie fort: Der durchgetrocknete Boden kann die Wassermenge kaum aufnehmen. Erst in gut durchfeuchtetem Zustand entspricht die so genannte Infiltrationsrate dem, was beim Bau von Sickermulden geplant und berechnet wurde. Wünschen wir uns also nach einer Trockenperiode drei Tage Nieselregen - selbst wenn der Durst unserer Gärten, Parks und Außenanlagen groß ist. Sonst folgt auf die Dürre gleich das andere Extrem, die Überflutung. Regenwasser braucht Aufenthaltserlaubnis Regenwasser muss künftig länger in der Stadt bleiben und gefahrlos durch die Methoden der Regenwas serbewir t s chaf tung mit den Aspekten Umweltschutz, Lebensqualität, Stadtklima und Überflutungsschutz verknüpft werden. Diese neue Aufgabe beschäftigt mittlerweile Stadt- und Regionalplaner europa- und weltweit. In Deutschland spüren Bauherren die Auswirkungen schon. So sehen sich Haus- und Grundbesitzer zunehmend mit Auflagen und Kosten konfrontiert: Bei Neubau hängt die Baugenehmigung von entsprechenden Regenwasserbewirtschaftungs-Maßnahmen ab. Das erhöht die Baukosten. Bei bestehenden Gebäuden geben ständig steigende Niederschlagsgebühren Anlass, über eine alternative Regenentwässerung nachzudenken. Vom Regen in die Traufe ... ... und weiter in den Speicher, die Bewässerung, die Versickerung und Verdunstung Klaus W. König Die Regenwasserbewirtschaftung kann eine recht trockene Angelegenheit werden, wenn es mal wieder vier bis sechs Wochen nicht regnet, wie in den Jahren 2018-2020 und 2022. Dann sind kleine Regenspeicher leer und extensiv begrünte Dächer trocken. Doch klimaresiliente Stadtquartiere bzw. Siedlungsflächen haben zusätzliche Bausteine. Überflutungsvorsorge bei Starkregen in Verbindung mit Regenrückhaltung und Gebäudebegrünung lassen sich im privaten wie auch im öffentlichen Raum kombinieren. Zu ebener Erde, im Straßenraum, werden Pflanzensysteme als klimatisch ausgleichende Elemente etabliert: Baumalleen mit Gehölzen, die unter den urbanen Bedingungen gedeihen. Grundvoraussetzung ist natürlich wieder ausreichend Wasser, idealerweise Regenwasser. Es kommt von den Fahrbahnen und Gehwegen, wird mit Hilfe von bewachsenen Sickermulden oder technischen Filtern von Schadstoffen befreit und in Rigolen eingeleitet. Diese Rigolen halten Wasser für die Baumwurzeln bereit. Der Überschuss an Niederschlagswasser versickert. Bild 1: Urbane Sturzfluten häufen sich, die Auswirkungen werden immer dramatischer. © Jäckle 14 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Im Zuge von ohnehin fälligen Straßenbauarbeiten bieten sich die besten Möglichkeiten für den Einbau solcher Baumquartiere und Rigolen. Resilienz im Wohnquartier Die Stadt Großsachsenheim im Norden Stuttgarts hat im Untergrund ein Depot mit 75 Kubikmeter Regenwasser. Das wird benötigt für eine im Jahr 2015 erstellte 100 Meter lange und komplett begrünte Lärmschutzwand, die viele Vorzüge gegenüber herkömmlichen Lösungen aus Stahl, Beton oder Glas hat: Das Regenwasser des dahinter liegenden Wohnquartiers wird zur Bewässerung der Lärmschutzwand genutzt. Damit sparen die Bewohner der Siedlung Niederschlagsgebühren. Außerdem absorbiert die Begrünung Schall, statt ihn zu reflektieren, und filtert Feinstaub. Sie ist ein Habitat für Kleintiere, wandelt Kohlendioxid in Sauerstoff um und kühlt im Sommer durch Evapotranspiration. Der Begriff steht für Verdunstung sowohl aus der Pflanze als auch aus dem feuchten Substrat heraus. Die Anerkennung der Naturschutzbehörde als Ausgleichsmaßnahme wegen all dieser Vorzüge soll der Vollständigkeit halber ebenfalls erwähnt werden. Für eine nicht begrünte Konstruktion hätte im Sinne des Bundesnaturschutzgesetzes ein zusätzlicher Ausgleich geschaffen und bezahlt werden müssen. Kühlende Baulücke Nicht der Schallschutz, sondern die Kühlung war in Ludwigsburg im Sommer 2014 das Motiv für eine kleine Oase: Das Grüne Zimmer, die provisorische Nutzung einer Baulücke in der Innenstadt. Auch hier stammt das Wasser aus dem unterirdischen Regenwassertank. Als wissenschaftlich verantwortliche Autorität stand Ferdinand Ludwig im Hintergrund. Er leitete damals noch ein Forschungsinstitut an der Universität Stuttgart, seit 2017 ist er Professor für „Green Technologies in Landscape Architecture“ an der TU München in Weihenstephan. Man kennt ihn als Begründer der so genannten Baubotanik und als geistigen Vater des Stuttgarter Stadtklima-Modellprojekts Parkhaus Züblin. Diese Bauruine soll für diverse Freizeitaktivitäten umgenutzt werden. Dafür erhält der Betonkoloss einen „grünen Mantel“ - eine Fassadenbegrünung aus lebendigen, miteinander verschraubten Gehölzen. Diese werden aus der großen Zisterne mit dem vom Parkhausdach gesammelten Niederschlagswasser versorgt. Und auch hier gibt es durch die Kombination Begrünung/ Regenwassernutzung eine Vielzahl messbarer Vorteile, vergleichbar mit denen der zuvor beschriebenen Lärmschutzwand. Beschattung durch lebendiges Grün und Kühlung durch Verdunstung von Regenwasser - beides hilft, Gebäude und Stadtteile natürlich zu klimatisieren, urbane Hitze zu verringern. Dach- und Fassadenbegrünung sind, wie bei der Lärmschutzwand, dafür ideal geeignet. Aus diesem Grund will Stuttgart mehrere Wohn- und Gewerbequartiere im Nordwesten der City in Bezug auf Stadtklima nachhaltig optimieren. Und Hamburg hat im Frühjahr 2014 eine Gründachstrategie entwickelt. Das Ziel ist, mit finanziellem Zuschuss möglichst alle technisch dafür geeigneten Dachflächen in grüne Niederschlagspuffer zu verwandeln. Lokale Wasserbilanz Vorbild ist die Natur, das Ziel die lokale Wasserbilanz. Gemeint ist damit das ursprüngliche Verhältnis von Versickern, Verdunsten Bild 2: Großsachsenheim im Norden Stuttgarts. Eine 100 Meter lange und komplett begrünte Lärmschutzwand trägt zum besseren Stadtklima bei. © Helix-Pflanzensysteme Bild 3: Besseres Stadtklima durch das „Grüne Zimmer“ in Ludwigsburg. © Helix-Pflanzensysteme Bild 4: Bei flachen Dächern bietet sich die klimawirksame Dachbegrünung an. © König Bild 5: Fahrzeug-Stellplätze in Wohngebieten werden heutzutage wasserdurchlässig befestigt. © braun-steine 15 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur und oberirdisch Ableiten am jeweiligen Ort. Sind beispielsweise vor einer Bebauung 30 % des Niederschlags versickert und 60 % verdunstet, soll das auch nach Fertigstellung von Gebäuden, Grün- und Verkehrsflächen so sein. Und bei ursprünglich 10 % oberflächigem Abfluss in einen Bachlauf soll das auch nach Fertigstellung einer neuen Siedlung wieder vorhanden sein. Wollen wir irgendwann spürbare Fortschritte im Stadtklima, brauchen wir deutlich mehr Verdunstung über Gebäude- und Straßenraumbegrünung. Gleichzeitig gilt es, den natürlichen Wasserkreislauf in der Erde zu unterstützen, sinkende Grundwasserspiegel auszugleichen. Dafür bedarf es auch der Versickerung von Niederschlägen, die auf befestigte Flächen treffen und direkt durch die Fugen und die Bettung des Belags sickern. Solche Flächen sind beispielsweise Terrassen, Gehwege, Fahrzeugstellplätze. Gutachten dazu haben schon vor einem Jahrzehnt bestätigt, dass die anfallende Wassermenge dauerhaft allein über die Fugen des Belags versickern kann, wenn beim Verlegen die Herstellerangaben berücksichtigt werden und der dafür geeignete Splitt verwendet wird. Trotzdem ist es ratsam, solche befestigten Flächen leicht zu neigen, weg von den Gebäuden. Gut zu wissen: An die Reinigung des Niederschlagswassers auf dem Weg Richtung Grundwasser werden bei befestigten Flächen in Wohnsiedlungen in der Regel keine Anforderungen gestellt. Qualität ist viel wert www.kanalbau.com Bild: Berliner Wasserbetriebe, Joachim Donath Gütesicherung Kanalbau RAL-GZ 961 Stadt: Berlin Erich-Weinert-Straße Inbetriebnahme des Kanals: 1900 Dipl.-Ing. Klaus W. König Fachjournalist und Buchautor Schwerpunkt: Veröffentlichungen über kostensparende und umweltschonende Bautechnik Kontakt: kwkoenig@koenig-regenwasser.de AUTOR ZEITGEMÄSSE BAUSTEINE DEZENTRALER REGENWASSERBEWIRTSCHAFTUNG: Verdunstung: Dach- und Fassadenbegrünung und Wasserflächen Verzögerte Ableitung: Gründächer, Regenspeicher, Sickermulden Versickerung: Bepflanzte Mulden, Rohr-, Kies-, Block-Rigolen, Sickerpflaster Reinigung: Bodenpassagen bei Sickermulden, Filter bei Regenspeichern Nutzung: Betriebswassertechnik für Bewässerung, WC, Waschmaschine 16 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Ob ein reduzierter CO 2 -Fußabdruck, eine höhere Sicherheit der Bevölkerung oder die Möglichkeit für einen stressfreieren Lebensraum: Es gibt viele gute Gründe für Städte weltweit, sich zu einer Smart City zu entwickeln. Auf der anderen Seite stehen unterschiedliche Konzepte für den Einstieg in die Digitalisierung der städtischen oder ländlichen Infrastruktur zur Verfügung. Für den Anstoß derartiger Entwicklungen liegen verschiedene Frameworks vor, an denen sich die Planer bei der Erstellung einer digitalen Agenda für die eigene Kommune orientieren können. Klassische Handlungsfelder sind hier zum Beispiel die digitale Verwaltung, das Gesundheits- und Bildungswesen, das Gebäude-, Umwelt- und Energiemanagement sowie die Mobilität. Je nach Perspektive und Schwerpunkt lassen sich diese Felder durchaus feingranular in weitere Teilgebiete aufteilen oder zusammenfassen. Alle Stoßrichtungen fokussieren sich jedoch auf eine nachhaltige Verbesserung der Lebensqualität der Bürger respektive der Gemeinschaft. Planung und Organisation stellen in diesem Fall die Grundlage für einen Trend dar, der allerdings erst durch konkrete Projekte Realität wird. Oftmals werden solche Vorhaben zuerst als Proof-of-Concept-Projekte umgesetzt, damit die technischen Möglichkeiten in einem überschaubaren Rahmen ausgelotet sowie die Risiken minimiert werden. Sensornetzwerke für eine intelligente Stadt Als Hauptort des gleichnamigen Ostschweizer Kantons ist St. Gallen ebenfalls dabei, sich zu einer Smart City zu wandeln, und zwar in großen Schritten. Das 80 000 Einwohner zählende kulturelle und wirtschaftliche Mit innovativer Technik zu besserer Lebensqualität Modernisierung der Straßenbeleuchtung in St. Gallen Fabian Pasimeni Welche Kommune möchte nicht bei gleicher Lebensqualität Ressourcen schonen und gleichzeitig Kosten einsparen. Im Rahmen des Energiekonzepts 2050 hat die Stadt St. Gallen mehr als 150 Maßnahmen formuliert, um diese Ziele zu erreichen. Einer der Ansätze betrifft die Modernisierung der Straßenbeleuchtung. Wohngebiet in St. Gallen, ausgeleuchtet mit LoRaWAN-fähigen LED-Leuchten. © Phoenix Contact Bild 1: Systemtopologie einer LoRaWANbasierten Beleuchtungslösung. © Phoenix Contact 17 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Zentrum der Region gehört hier zu den führenden Städten der Schweiz. Von der Betrachtung neuer Smart-City-Konzepte über unterschiedliche Technologien bis zur Errichtung smarter Quartiere gehen die Verantwortlichen die Digitalisierung in zahlreichen Lebensbereichen an. So hat St.- Gallen schon vor einigen Jahren die Bedeutung von Sensornetzwerken für eine intelligente Stadt erkannt. Verschiedene Funktechnologien wurden evaluiert und letztendlich ein eigenes LoRaWAN-Netzwerk aufgebaut. LoRaWAN zeichnet sich durch die Kombination aus hoher Reichweite der drahtlosen Verbindung mit einem niedrigen Energieverbrauch der im Feld eingesetzten Geräte aus. Mit der Entscheidung für LoRaWAN als Übertragungstechnologie profitiert St. Gallen von weiteren Eigenschaften, etwa der Nutzung eines lizenzfreien ISM-Funkbands sowie einer hohen Datensicherheit, die aus der Verwendung einer 128-Bit-AES- Verschlüsselung im Zusammenspiel mit einer EUI64-Kennung resultiert. Mit diesen Eigenschaften liegen optimale Bedingungen für den Einsatz des Funkstandards im Smart City-Umfeld vor (Bild-1). Neben anderen zukunftsträchtigen Ansätzen wurde auch die städtische Straßenbeleuchtung in Augenschein genommen. Nachdem die Lichtmasten bereits vor einigen Jahren von klassischen Lampen auf moderne, energiesparende LED-Technik umgerüstet worden waren, sollte nun der nächste Schritt getan und die Straßenbeleuchtung ebenfalls mit Funkmodulen ausgestattet werden. Durch die passende Integration einer Softwareanwendung lassen sich auf diese Weise Zustandsinformationen der Straßenbeleuchtung überwachen und die Beleuchtung steuern (Bild 2). Zunächst konnte das LoRaWAN- Netzwerk noch nicht für die Straßenbeleuchtung genutzt werden. Dies, weil sich das gleichzeitige Dimmen mehrerer Straßenleuchten per Gruppenbefehl bisher nicht verwirklichen ließ. St. Gallen war mit seinem Anspruch also der Zeit voraus. Doch etwas später wurden die St. Galler Stadtwerke auf die Lösung von Phoenix Contact aufmerksam, die derartige Gruppenbefehle ermöglicht. Für die Verantwortlichen der Stadtwerke zeigt sich die offene Systemarchitektur der Lösung als wichtig, was allgemein für die Zukunft von intelligenten Städten gilt (Bild 3). Festlegung auf einen Standard Phoenix Contact bietet innovative Lösungen, um ganzheitliche B e l e u c h t u n g s - A p p l i k a t i o n e n zu realisieren. Abgesehen von LoRaWAN-fähigen Luminaire- Controllern und -Gateways für unterschiedliche Standards umfasst das Portfolio verschiedene Dienstleistungen, beispielsweise die Einbindung der Geräte in eine IoT-Plattform sowie das moderne Lichtsteuerungssystem Smart Lighting Service. Diese Anwendung umfasst unter anderem folgende Funktionen: Montage und individuelle Dimmung von Lichtpunkten Zusammenfassung der Lichtpunkte in Gruppen Zuweisung eines Dimmkalenders pro Gruppe, um den Dimmwert der jeweiligen Gruppe zu steuern Regelung der Dimmung von Lichtpunkten durch Events Auslösung eines die Dimmung beeinflussenden Triggers durch externe Geräte Verwaltung sämtlicher verwendeten Objekte über eine grafische Oberfläche. Das Long Range Wide Area Network, kurz LoRaWAN, hat sich als zentrale Funk- und IoT-Technologie etabliert. Veraltete und ineffiziente Beleuchtungssteuerungstechnik lässt sich auf Basis von LoRaWAN wirtschaftlich modernisieren. Phoenix Contact bietet daher LoRaWAN-Steuereinheiten für Leuchten und LED-Treiber an. Das Portfolio reicht von Geräten mit Sockeln zum einfachen Anschluss an Zhaga- und NEMA-Leuchtenköpfe bis zu Universalsteuergeräten, mit denen Bestandsleuchten in ein LoRaWAN- Netz eingebunden werden können. Soll das komplette Netz auf den neuesten Stand gebracht und ganz auf LoRaWAN umgestellt werden, werden Einbaugeräte für den klassischen Beleuchtungs-Schaltschrank eingesetzt. Sie ersetzen die Zeitschaltuhr oder das Rundsteuergerät und steuern so ganze Straßenzüge. Um ein privates Netzwerk auf- oder auszubauen, steht ein offenes LoRaWAN- Gateway zur Verfügung. Das Gateway arbeitet mit einem internen 4G-/ LTE-Modem, kann aber auch über Ethernet mit dem Internet verbunden werden. MODERNISIERUNG VORHANDENER BELEUCHTUNGSSTEUERUNGSTECHNIK Bild 2: Straßenleuchte mit moderner LED-Technik. © Phoenix Contact 18 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur tät sichergestellt werden kann. Zhaga definiert dabei nicht nur die Schnittstellen etwa hinsichtlich der Elektronik oder Kommunikation. Die durch den Zhaga-Sockel umgesetzten mechanischen Verbindungen lassen sich ebenfalls festschreiben. Der Zhaga-Sockel bietet die Möglichkeit, kompatible Geräte direkt mit den LED-Leuchten zu verbinden. Eine Option, mit der die Leuchten smarter gemacht und in die Welt des Internet of Things (IoT) integriert werden können. Doch wie ist eine solche Applikation realisierbar und welche Schritte sind dazu erforderlich (Bild 4)? Steuerung der Lichtintensität Die St. Galler Stadtwerke haben sich dafür ausgesprochen, die Modernisierung weiter voranzutreiben und zunächst ein Proofof-Concept-Projekt durchzuführen. In diesem Zusammenhang waren zehn Straßenleuchten in den Smart Lighting Service einzubinden, wofür der bereits erwähnte Zhaga-Sockel als Schnittstelle genutzt wird. Durch die Installation einer LPWAN Luminaire Controller Unit (LCU) Zhaga 18 von Phoenix Contact kann der Betreiber die Leuchten mit einem Dali-2-Treiber ein- und ausschalten und sogar die Lichtintensität steuern. Die Geräte entsprechen der LoRa-Klasse C. Solange der Controller durch den Leuchtmasten mit Strom versorgt ist, kann er jederzeit sowohl Daten senden als auch empfangen. Hierzu bedarf es der Vernetzung der LCU in einem LoRaWAN-Netzwerk. Die Besonderheit des Schweizer Standorts liegt darin, dass der Telekommunikations-Anbieter Swisscom schon ein Low Power Network (LPN) aufgebaut hat. So lassen sich durch Verwendung des LoRaWAN-Standards rund 97- Prozent der gesamten Schweizer Staatsfläche erreichen. Die Stadt St. Gallen betreibt ein eigenes flächendeckendes LoRaWAN-Netz. Phoenix Contact verwendet jedoch das Netz der Swisscom, um auf einfache Weise das Proof-of-Concept ermöglichen zu können. Bei einem allfälligen Rollout würde das städtische LoRaWAN-Netz verwendet werden. Die eigenen Gateways kommunizieren dann über das LoRaWAN-Protokoll bidirektional mit den im Feld erreichbaren LCUs. Da die Geräte auch über ein integriertes LTE-Modem verfügen, kann das LoRaWAN-Netz einfach erweitert werden, selbst wenn eine Glasfaseranbindung nicht möglich sein sollte. Die Serverstruktur setzt sich in beiden Fällen grundsätzlich aus einem LoRaWAN- und einem Application-Server zusammen (Bild 5). Der LoRaWAN-Server erlaubt die Verwaltung und Überwachung der eingebundenen LoRa- WAN-Geräte sowie die Sammlung von deren Gerätedaten. Die Daten werden in verarbeitbarer Form an einen Application-Server weitergeleitet. Phoenix Contact bietet hier Dienstleistungen zur Integration beider Alternativen an. Im Bereich des Applications- Servers wird den Anwendern der beschriebene Smart Lighting Service als Software zur Verfügung gestellt. Mehr Informationen: https: / / phoe.co/ SmartStreetLighting Mit Weitblick haben sich die Verantwortlichen bei der Installation der LED-Lichtquellen dazu entschieden, sich in puncto Schnittstellen-Spezifikation auf einen Standard festzulegen. Eingesetzt wird hier jetzt der Zhaga- Standard, damit auch in der Zukunft LED-Leuchten herstellerunabhängig ausgewählt und eine garantierte Interoperabili- Fabian Pasimeni MBA & Eng. Manager Infrastructure Applications & Projects Phoenix Contact Electronics GmbH Kontakt: info@phoenixcontact.de AUTOR Bild 3: Standort der St. Galler Stadtwerke. © Phoenix Contact Bild 4: Straßenbeleuchtung mit installiertem Zhaga-LCU-Controller. © Phoenix Contact Bild 5: Zu jeder Zeit, von jedem Ort: Zugang über das Web-Portal. © Phoenix Contact 19 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Der Schritt in Richtung Digitalisierung Schwabmünchen hat sich bereits vor einigen Jahren getraut und verwaltet so gut wie alle Objekte im öffentlichen Raum mittlerweile digital. Dafür nutzt die bayerische Stadt eine App, die den Umstieg denkbar einfach gemacht hat: „EineStadt“ heißt die intuitive und übersichtliche Anwendung, die mit Hilfe kleiner NFC- Chips die Kontrolle von Bäumen und vielen weiteren Objekten im öffentlichen Leben der Stadt ermöglicht. Natürlich funktioniert die Umstellung von analog auf digital nicht von heute auf morgen - und gerade in den älteren Generationen gibt es Sorgen und Zweifel. „Kann ich so ein neues System überhaupt bedienen? “ oder „Kann ich mich jetzt noch umgewöhnen? “ sind Fragen, die EineStadt nicht selten begegnen. Auch in Schwabmünchen war die Skepsis anfangs groß. Doch das Vorgehen war erfolgreich: „Die Mitarbeiter in Schwabmünchen haben sich die App erst einmal von uns zeigen lassen - und bereits nach wenigen Tagen mit dem System angefreundet“, sagt Gründer Michael Lodes stolz. Die App wurde ursprünglich für die digitale Kontrolle und Pflege von Bäumen entwickelt, da die Gründer von EineStadt den Bedarf hier selbst erkannt haben. Seitdem ersetzt der NFC-Chip an Schwabmünchens Bäumen die Nummernplakette und erleichtert Mitarbeitern der Stadt die Baumkontrolle. Da sich das Prinzip der Anwendung allerdings für so gut wie alle kontrollrelevanten Objekte eignet, wurde das Eine- Stadt-System in Schwabmünchen über die letzten Jahre zusätzlich auf Spielgeräte, Straßenlaternen, Hundetoiletten und Mülleimer erweitert. Da die App bei den Mitarbeiten so gut ankam, wurde sie auch auf die Verwaltung von Gebäuden, Grünflächen und Straßen ausgeweitet - und sogar Wasser- und Klärwerke können mit EineStadt ihre Objekte bereits digital verwalten. Mittlerweile arbeiten beispielsweise in Schwabmünchens Wasserwerk alle Zuständigen mit der App - teilweise sogar Mitarbeiter ohne privates Smart- „EineStadt“ - wenn Städte digital werden Wie die Stadt Schwabmünchen das Arbeiten im öffentlichen Raum vereinfacht Stefanie Fiedler Die digitale Erfassung von Daten in Städten und Landkreisen ist nicht neu - doch die bloße Einführung von Excel-Tabellen, digitalen Karten und Dokumenten reicht oft nicht aus, um Abläufe einheitlich und übersichtlich zu gestalten. Eine ganzheitliche Lösung zur smarten Verwaltung des öffentlichen Lebens in einer Stadt ist mittlerweile unerlässlich: Sie digitalisiert tägliche organisatorische Aufgaben, vermeidet unnötige Zettelwirtschaft und vereinfacht dadurch Prozesse. Auch die Stadt Schwabmünchen nutzt so eine Anwendung bereits seit Jahren und weitet „EineStadt” auf immer mehr Bereiche aus. Bild 1. Der NFC-Chip im Schacht kann einfach mit Tablet oder Smartphone eingescannt werden. © EineStadt 20 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation phone. Und es zeigt sich immer wieder: Es ist definitiv keine Voraussetzung, dass man mit Computer, Smartphone oder Tablet umgehen kann. Wie genau funktioniert die Verwaltung mit dem System? In EineStadt wird jedes Spielgerät, jeder Baum oder jedes andere kontrollrelevante Objekt in einem digitalen Kataster erfasst und auf der integrierten Karte später punktgenau verortet. Das weitere System basiert auf Nahfunkkommunikation: Ein kleiner, robuster NFC-Chip wird an den Objekten beispielsweise während einer Routinekontrolle angebracht. Der Chip kann dann einfach von Tablet, Smartphone und Co. eingescannt werden. Sämtliche Infos und Objektkoordinaten sind im EineStadt-System gespeichert und lassen sich über den Chip aufrufen. Auch Dokumentationen können direkt online hinterlegt werden. Durch den NFC-Chip und die hochpräzise Ortung mittels der integrierten Karte ist eine schnelle Identifikation des richtigen Objektes jederzeit gesichert. Seit etlichen Jahren sind schon so gut wie alle mobilen Geräte mit der passenden NFC-Funktion ausgestattet; die Chips haben sich mittlerweile etabliert und sind daher auch großflächig kostengünstig einzusetzen. NFC- Chips zeichnen sich besonders durch ihre Outdoorbeständigkeit und ihre lange Lebensdauer aus. Durch spezielle Beschichtungen sind sie wasserfest und benötigen keine Batterie. Grünflächen oder kontrollrelevante Straßen und Wege werden in der App einfach in eine digitale Karte eingezeichnet, im Hintergrund wird automatisch der Flächeninhalt berechnet. NFC-Chips werden hier nicht benötigt - in der Anwendung können trotzdem wie gewohnt alle Arbeiten an einer Fläche „scheckheftgepflegt“ dokumentiert werden. Möchte der Mitarbeiter in Schwabmünchen Besonderheiten, wie zum Beispiel Müllablagerungen festhalten, so kann er die betroffene Fläche einfach in der Karte öffnen und anschließend im digitalen Eingabeformular dokumentieren. Es reicht aus, dass er das Gerät in der Hosentasche hat: Sobald er in die Nähe einer Grünfläche kommt, um diese zum Beispiel zu mähen, wird das sofort im System quittiert. Verlässt der Mitarbeiter den Grünflächenbereich, wird die Standortaufzeichnung automatisch wieder gestoppt. Welche Vorteile bietet solch eine digitale Lösung einer Stadt? Dass Digitalisierung unabdingbar ist, liegt auf der Hand - ebenso wie die Vorteile, die ein allumfassendes Verwaltungs-Tool auch für Bauhöfe, Grünämter oder den städtischen Friedhof mit sich bringt. Abläufe werden langfristig gesehen stark vereinfacht und auch die rechtliche Absicherung, die durch eine lückenlose Historie gegeben ist, spielt eine immer wichtigere Rolle. Das Öffnen via NFC-Chip macht es möglich, jedes Objekt verwechslungsfrei zu identifizieren. Erfassung und Bearbeitung der Daten erfolgen einfach und konsistent, ohne dabei unübersichtliche Tabellen verwalten zu müssen. Unterschriften können digital gesetzt und Aufträge in Echtzeit von überall aus verteilt und bearbeitet werden - bei Bedarf auch von externen Firmen und Partnern. Details, wie eine Erinnerungsfunktion für anstehende Kontrollen, machen das System unersetzlich und verhindern, dass anstehende Kontrollgänge verpasst werden könnten. „Wartungsprotokolle können wir ganz nach unserem Geschmack Bild 2. Basisdaten zur Baumkontrolle auf dem Smartphone. © EineStadt Bild 3. Digitales Abfallmanagement. © EineStadt 21 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation erweitern“, sagt Thomas B., zuständiger Mitarbeiter für die Spielplatzsicherheit. Berührungsängste mit der „neuen Technologie“ sind nach eigenen Aussagen der Stadt Schwabmünchen unbegründet: Mitarbeiter aus allen Ebenen konnten den Chip immer ohne Probleme selber „programmieren“. Eine Bearbeitung der Daten ist mit jedem handelsüblichen Smartphone vor Ort möglich. Die Bedienung der App ist extrem intuitiv und verständlich, da sie stets in Zusammenarbeit mit den Mitarbeitern in der Praxis entwickelt wurde. Eine App für Homeoffice, Nachhaltigkeit und Nähe zu den Bürgern einer Stadt Das integrierte Bürgermeldesystem hat sich in den Gemeinden, die EineStadt nutzen, etabliert und wird begeistert angenommen. Bürger können ebenfalls mit ihrem Smartphone vor Ort einen Chip berühren und dann sogar ohne extra App-Download etwaige Probleme melden. Fast täglich kommen in Schwabünchen so Meldungen über defekte Straßenlaternen, volle Mülleimer oder beschädigte Spielgeräte über das System an der richtigen Stelle an. All das findet digital, also ohne unnötigen „Papierkram“ und Regale voller Ordner statt. Eine digitale Lösung macht Städte nicht nur smarter, sondern auch nachhaltiger und sorgt so dafür, dass auch ein positiver Aspekt für die Umwelt geleistet wird. Nicht zuletzt ein oft entscheidender Punkt in Zeiten von Corona, Homeoffice und Co.: Mit EineStadt ist eine dezentrale Verwaltung von anstehenden Auf- Stefanie Fiedler EineStadt GbR Kontakt: stefanie.fiedler@einestadt.de www.einestadt.com AUTORIN gaben jederzeit von überall aus möglich. Mitarbeiter können bereits von Zuhause Aufträge einsehen und direkt an die betroffenen Objekte fahren, um ihre Arbeit zu erledigen. Im System kann dann jeder Auftrag dezentral verwaltet und überblickt werden. Die Stadt Schwabmünchen und viele weitere Gemeinden machen es bereits vor und sind begeistert. Und auch weitere Verwaltungen und Unternehmen im Umkreis benutzen das System und haben schon mehrere 10 000 Objekte bechippt. Die Zukunft liegt im digitalen Management! Transport und Mobilität im Wandel: Das neue Unterwegs. Lesen Sie in der neuen Ausgabe 2|2022 von Internationales Verkehrswesen: Mobilitätsmonitor - Fahrgastentwicklung im ÖPNV, Sharing-Angebot in Städten und Umlandgemeinden Verbindung von Transportroboter und Shuttle für eine autonome Transportlösung Fahrerloses Fahren auf der Straße und der Schiene International: Effects of travel time variable message signs on-urban traffic Potenzialanalyse vernetzter multimodaler Mobilität in der Schweiz und vieles mehr … Erschienen am 18. Mai 2022. Jetzt kaufen und lesen: www.internationales-verkehrswesen.de/ einzelheft-bestellen 22 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Vulnerabilität der digitalen Gesellschaft Die Corona-Pandemie, die Hochwasserkatastrophe vor einem Jahr - jüngste Ereignisse zeigen deutlich: Deutschland ist katastrophengefährdet. Die Frage ist, wie den Gefährdungen zukünftig begegnet wird. Wie kann Deutschland sich besser auf Krisen und Katastrophen vorbereiten? Und welche Rolle spielt die Digitalisierung in diesem Zusammenhang? Digitale Technologien finden sich in allen wichtigen Bereichen unserer modernen Gesellschaft: Energie, Ernährung, Wasser, Verkehr, Gesundheit, Finanz- und Versicherungswesen und Verwaltung werden zunehmend durch Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) gesteuert und durch diese vernetzt. Ebenso werden Privathaushalte, Individualverkehr und Wirtschaft verstärkt und mit hoher Innovationsfrequenz von IKT durchdrungen. Effizienz, Komfort und Nachhaltigkeit können so gesteigert werden. Der störungsfreie und nahtlose Betrieb von Infrastruktursystemen repräsentiert das Selbstverständnis und den Zustand der technischen, sozialen und politischen Stabilität hochtechnisierter Gesellschaften. Was aber, wenn dieser ins Wanken gerät? IKT, als „Nervensystem“ der digitalisierten Gesellschaft, vernetzt alle weiteren Infrastrukturen miteinander und ermöglicht die vereinfachte Zirkulation von Personen, Gütern, Stoffen und Informationen. Die fragilen Systeme sind jedoch potenziell anfälliger für Krisen- und Katastrophen. Zudem schaffen gerade Synergie- und Netzwerkeffekte, die im Normalzustand noch die neue Effizienz gewährleisten, Interdependenzen zwischen kritischen Infrastrukturen (KRITIS), durch die im schlimmsten Fall ein kaskadierendes Versagen gleich mehrerer wichtiger Versorgungssysteme eintreten kann. Gleichzeitig hat IKT gerade in Krisen einen hohen Nutzen. Die Möglichkeit, Informationen zu erhalten und auszutauschen, spielt bei der Reaktion auf Krisen und bei ihrer fortdauernden Bewältigung eine entscheidende Rolle. Um auch in Krisen handlungsfähig zu bleiben, muss IKT deshalb, über IT-Sicherheit und Ausfallsicherheit hinaus, in die Lage versetzt werden, mit erheblichen System-Beeinträchtigungen, wie Überlastungen, technischen Fehlern, Cyberangriffen, längeren Stromausfällen oder materiellen Schäden, zurechtzukommen. Auswirkungen von Krisen auf IKT Die Bedeutung von IKT in Krisenszenarien veranschaulicht ein Blick auf die Tsunami-Katastrophe im Jahr 2011 in Japan: Infolge des Tohoku-Seebebens und des darauf folgenden Tsunamis stieg der Kommunikationsverkehr direkt nach dem Schadenseintritt um den Faktor 50 bis 60 an. Gleichzeitig war die Kommunikationsinfras truk tur in den betroffenen Landesteilen großflächig zerstört. Aufgrund des hohen Kommunikationsbedarfs musste die Nutzung für 80 bis 90 % der Festnetztelefone und 70 bis 95 % der Mobiltelefone eingeschränkt werden. Diese Beschränkungen bestanden ins- Resiliente digitale Infrastrukturen Fünf Empfehlungen für resiliente Informations- und Kommunikationstechnologie Resilienz, Funktionsfähigkeit städtischer Infrastrukturen, Urbane Transformation Svenja Andresen Angesichts der steigenden Bedeutung von Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) in allen gesellschaftlichen Bereichen - und insbesondere auch bei der Krisenbewältigung - muss sichergestellt werden, dass diese mit Funktionsstörungen während Krisen umgehen kann. Es bedarf deshalb eines Umdenkens in Politik und Gesellschaft, bezüglich der Konzeption und des Ausbaus von IKT. Fünf Empfehlungen des LOEWE-Forschungszentrums emergenCITY zeigen den Weg auf hin zu resilienter IKT. Bild 1: Forschung an resilienten Informations- und Kommunikationssystemen im LOEWE-Zentrum emergenCIT Y © LOEWE-Zentrum emergenCIT Y 23 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation besondere im Mobilfunknetz in der kritischen Phase nach der Katastrophe, da Mobilkommunikation das Mittel der Wahl für die Bevölkerung war. Paketbasierte Kommunikation wie Kurznachrichten wurden zwar weniger beschränkt, aufgrund der hohen Last allerdings verzögert ausgeliefert. Der aus dem Tsunami resultierende Kollaps fast aller kritischer Infrastrukturen behinderte die Reaktion auf die Krise und verzögerte deren Bewältigung. Bevölkerung, Unternehmen und staatliche Einrichtungen waren hiervon gleichermaßen und über Wochen hinweg betroffen. Fünf Empfehlungen für mehr Resilienz digitaler Städte Angesichts der steigenden Bedeutung von IKT in allen gesellschaftlichen Bereichen - und insbesondere auch bei der Krisenbewältigung - muss sichergestellt werden, dass IKT mit Funktionsstörungen und -beeinträchtigungen während einer Krise umgehen kann. Mit anderen Worten: IKT muss resilient sein. Dies ist der Fall, wenn sie trotz signifikanter Beeinträchtigungen eine akzeptable Mindestbzw. Ersatzfunktionalität aufrechterhalten kann und für die zügige Rückkehr zum Normalbetrieb gerüstet ist. In einem Policy Paper stellt das Forschungszentrum emergenCITY fünf Empfehlungen vor, die darauf abzielen die Krisenresilienz von IKT - auch als Schlüsselfaktor für das Weiterfunktionieren kritischer Infrastrukturen - nachhaltig zu erhöhen. Denn bisher zeigt IKT eine steigende Fragilität und abnehmende Resilienz, verursacht unter anderem durch 1. Effizienz als primäres Optimierungsziel, die aufwändige Resilienzmaßnahmen verhindert, 2. fehlende Diversität in vielen IKT-Systemen, die großflächige, systemweite und anbieterübergreifende Ausfälle begünstigt, 3. fehlende Berücksichtigung eines möglichenen „Notbetriebs“, 4. Fehlen angemessener Governanceprozesse und 5. nicht auf IKT-Resilienz fokussierte Regulierungsmechanismen. Um eine nachhaltige und verlässliche IKT für digitale Städte zu schaffen, gelten deshalb die folgenden Empfehlungen: Resilienz gleichrangig mit Effizienz Die erste Empfehlung betrifft Resilienz im Verhältnis zur Effizienz. Beide müssen als gleichrangige Optimierungsziele gesehen werden. Denn während beispielsweise ein zentral optimierter Betrieb von Kommunikationsnetzen dabei hilft, Effizienzgewinne zu realisieren, wirkt dieser einer Resilienzerhöhung entgegen, da ein Ausfall systemkritischer zentraler Komponenten als „single point of failure“ einen Komplettausfall des Systems nach sich ziehen kann. Effizienzverbesserungen müssen deshalb auch unter Wahrung von Resilienzvorgaben erfolgen. Die Fähigkeit von IKT, auch mit unvorhergesehenen Störungen umgehen zu können, muss eine inhärente Systemeigenschaft werden. Hierzu ist es notwendig, redundante aber gleichzeitig diversifizierte Systeme zu betreiben und Überkapazitäten bereitzuhalten. Energie- und Kommunikationsnetze müssen einen echten Notbetrieb und einen nahtlosen Übergang zurück zum Normalbetrieb unterstützen. Lösungsansätze, die hybride Netzarchitekturen umfassen, also einen schnellen Zerfall in autonome Inselnetze und deren schrittweise Vereinigung zu Verbundnetzen - sowohl für den Kommunikations-, als auch den Energiesektor - ermöglichen, können eine nachhaltige Resilienzsteigerung herbeiführen. Das Prinzip der Gleichrangigkeit von Resilienz und Effizienz stellt eine Herausforderung an bisherige Grundsätze sowohl der ingenieurtechnischen Entwicklung, als auch an Wirtschaftlichkeitserwägungen dar. Hier ist nichts weniger als ein Paradigmenwechsel erforderlich, der allen Akteuren tiefgreifendes Umdenken abverlangt. Redundanz, Diversität und Überkapazität Die zweite Empfehlung besteht folgerichtig darin, IKT-Systeme redundant, divers und für den Krisenfall adäquat dimensioniert Bild 2: emergenCIT Y entwickelt ein Smart Digital Situation Control Center - ein digitales Kontrollzentrum für Krisen, das aus Daten der digitalen Stadt Rettungskräften und Entscheidern einen Überblick über die Situation liefert und bei der Planung von Maßnahmen unterstützt. © LOEWE- Zentrum emergenCIT Y 24 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation zu gestalten. IKT-Systeme folgen häufig gleichartigen Konstruktionsprinzipien und basieren auf identischen Basiskomponenten (zum Beispiel: Prozessoren, Betriebssysteme, Internet-Technologie). Die Systeme der Marktführer sind dabei oftmals geschlossen und proprietär. Um großflächigen, systemweiten und anbieterübergreifenden Ausfällen entgegenzuwirken, ist es notwendig, dass Systeme ein ausreichendes Maß an Redundanz und Diversität besitzen. Für den Bereich der Kommunikationsnetze gilt es, heterogene und redundante Netzzugangstechnologien bereitzustellen (Festnetze, zellulare, aber auch zentrale drahtlose Netze, Satellitennetze etc.), die technisch wie organisatorisch unabhängig voneinander betrieben werden. Redundanz wirkt einzelnen Ausfällen entgegen. Hierbei können insbesondere dezentrale IKT-Ressourcen einen Beitrag zur Resilienzsteigerung leisten, wenn diese im Krisenfall weiter funktionsfähig bleiben. Heterogenität bzw. Diversität verhindert, dass Fehler oder Angriffe alle Systeme gleicher Konstruktionsart beeinträchtigen oder durch die Abhängigkeit von einzelnen Anbietern Lock-in-Effekte bzw. Pfadabhängigkeiten entstehen. Offenen Systemen, wie Open Source Software und Hardware, kommt hierbei eine besondere Rolle zu, da sie die Abhängigkeiten gegenüber marktbeherrschenden Anbietern reduzieren können. Für die zu erwartenden Lastspitzen im Krisenfall muss zudem eine strategische Überkapazität bereitgehalten werden, das heißt, die Systeme müssen nicht für den durchschnittlichen Betriebsfall, sondern für den Krisenfall dimensioniert werden. Wandlungsfähigkeit von IKT Wir wissen im Vorhinein nicht, welche Krisen uns erwarten und welche Herausforderungen sie an uns stellen werden. Um zukunftsfähig zu sein, ist die dritte Empfehlung deshalb die funktionale Wandlungsfähigkeit von IKT- Systemen. Ziel ist es, dass auch derzeit eingesetzte Systeme die zur Bewältigung notwendigen Ersatzfunktionalitäten zur Laufzeit ausbilden können, selbst wenn diese zum Entwurfszeitpunkt nicht geplant und implementiert wurden. In IKT-Systemen kann hierdurch ein Notbetrieb ermöglicht werden. Darüber hinaus können notwendige KRITIS auch im Krisenfall weiter genutzt und somit kaskadierende Fehlerketten vermieden werden. Beispielsweise benötigen Energienetze IKT zur Koordination. Ein geeigneter Notbetrieb von Kommunikationsnetzen ist somit nötig, um die Energieversorgung sicherzustellen und weitere davon abhängige KRITIS zu schützen. Eine Reihe technologischer Ansätze kann hierzu Beiträge leisten: Software-definierte Systeme bieten hohe Adaptivität und Wandlungsfähigkeit, offene Hardware und Software unterstützen die Verständlichkeit und Beherrschbarkeit und ermöglichen im Krisenfall niederschwellig Anpassungsmaßnahmen bzw. Weiterentwicklungen. Auch technologische Souveränität ist daher ein weiterer wichtiger Baustein, um die Wandlungsfähigkeit von IKT im Krisenfall zu ermöglichen. Governance Die Transformation hin zu einer resilienten IKT vor allem durch Resilienzvorgaben wird Probleme des kollektiven Handelns erbringen, denn sie wird gleichzeitig Aufgabe der europäischen, der Bundes-, Landes- und der lokalen Ebene sein und in der Umsetzung nicht ohne Kooperation mit den betroffenen privaten Akteuren auskommen. Diese Herausforderungen werden von der politikwissenschaftlichen Governanceforschung adressiert, welche Interdependenzen in der Problemlösung zwischen unabhängigen Akteuren, hier Staat und privatwirtschaftliche Akteure, auf mehreren Ebenen in den Blick nimmt. Die vierte Empfehlung bezieht sich entsprechend auf die Etablierung von ebenenübergreifenden Prozessen der positiven Koordination. Die kooperative Bearbeitung von Produktions- und Verteilungsproblemen wird mittels positiver Koordination ermöglicht, indem die beteiligten Akteure sich gemeinsam auf Resilienzvorgaben einigen und auf dieser Grundlage dann Verteilungsfragen verhandeln. Positive Koordination beruht auf einer gemeinsamen Problemdefinition, welche den kollektiven Nutzen, bzw. das Gemeinwohl einer Strategie berücksichtigt. Der kooperative Ansatz, der seit einigen Jahren im Hinblick auf den Schutz kritischer Infrastrukturen verfolgt wird und auch im Rahmen der Entwicklung des IT-Sicherheitsgesetzes zum Bild 3: Ausgestattet mit verschiedenen Systemen wie Lidar, Radar, Kamera und Infrarotkamera kann Rettungsroboter emergenCIT Y- Scout ein genaues Lagebild aus Katastrophensituationen liefern. © LOEWE- Zentrum emergenCIT Y 25 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Tragen kam, muss auch in der Netzinfrastrukturpolitik etabliert werden. Resilienzvorgaben durch Regulierung Aufbauend auf Strategien positiver Koordination erfordert umfassende Resilienz eine technikadäquate Regulierung. Marktförmige Mechanismen allein sind nicht geeignet, um Resilienz und Effizienz gleichrangig zu optimieren, da der Anbieter eines effizienten, aber nicht resilienten Systems üblicherweise Wettbewerbsvorteile durch Kostenersparnisse beim Aufbau sowie Betrieb realisieren kann. Die fünfte Empfehlung enthält deshalb regulierende Resilienzvorgaben, unter deren Wahrung eine Effizienzoptimierung nach Marktregeln erfolgen kann. Hierzu gibt es eine Reihe von Ansatzpunkten. Im Verbraucherbereich können entsprechende Resilienzvorgaben im Rahmen von Produktzertifizierungen erfolgen und damit einen Regulierungsrahmen für alle Anbieter schaffen. Für den Bereich der KRITIS gelten bereits verschärfte Regeln im Bereich der IT-Sicherheit, aber nicht für das umfassendere Ziel der Resilienz. Eine weiterführende Empfehlung besteht zudem darin, die Betreiberpflichten um die bisher nur in Teilen betrachteten Systemabhängigkeiten und hieraus hervorgehenden Kaskadeneffekte noch stärker zu berücksichtigen. Dies kann durch rechtliche Transparenzpflichten gestärkt werden, wie etwa der Pflicht gegenseitiger Information über Risiken, Abhängigkeiten sowie Vorfälle. Normative Anforderungen könnten einen wichtigen Beitrag leisten, um Resilienz zu einer verpflichtenden Eigenschaft von IKT-Systemen zu machen. Dieses Potenzial ist bisher noch nicht hinreichend ausgeschöpft. Resilienz für und durch IKT als Chance Resilienz für und durch IKT ist ein Schlüsselfaktor, um die digitale Transformation klug zu nutzen. Wir kennen die nächste Krise nicht. Deshalb bedeutet gute Vorbereitung, flexibel auf beliebige Krisen reagieren zu können. Nur ein resilienz-basierter Ansatz kann dies leisten - und nur resiliente IKT kann im Sinne einer Allgefahrenabwehr sicherstellen, dass unsere Gesellschaft im Krisenfall handlungsfähig bleibt. Es ist deshalb dringend notwendig, die Resilienz bereits vorhandener und künftiger IKT-Infrastrukturen zu erhöhen sowie nachhaltig zu gestalten. Hierfür bedarf es eines Umdenkens in Politik und Gesellschaft. Um dieses Ziel zu realisieren, müssen in den nächsten Jahren noch weitreichende Erneuerungen im Bereich der Digitalisierung erfolgen. Bezüglich der Krisensicherheit unserer digitalen Systeme und kritischen Infrastrukturen liegen hier Herausforderung und Chance zugleich. Denn vorgefertigte Resilienz-Lösungen existieren in weiten Teilen noch nicht und es besteht noch ein hoher Forschungs- und Entwicklungsbedarf, um Resilienz in komplexen und vernetzten IKT-Systemen zu erreichen. Ebenso gilt es auch eine abgestimmte Governance und die verbindliche Festsetzung von Resilienzvorgaben durch Regulierung zu erarbeiten. In diesem Handlungsbedarf liegt jedoch auch großes Potenzial: Denn gerade jetzt haben wir die Chance, die Digitalisierung unserer Städte von Anfang an resilient zu gestalten. LOEWE-Forschungszentrum emergenCITY Ein systematisches Verständnis von der Verwundbarkeit einer von IKT durchdrungenen Gesellschaft und wirksame Maßnahmen zur Erhöhung ihrer Resilienz sind dringend erforderlich. Das LOEWE-Forschungszentrum emergenCITY widmet sich genau dieser Thematik. Seit 2020 werden bei emergenCITY Lösungen für resiliente Infrastrukturen digitaler Städte, die auch Krisen und Katastrophen standhalten, erforscht. An dem interdisziplinären und standortübergreifenden Forschungszentrum sind die Partneruniversitäten Technische Universität Darmstadt, Universität Kassel und Philipps- Universität Marburg beteiligt. Die Wissenschaftler*innen kommen aus den Feldern Informatik, Elektrotechnik und Informationstechnik, Maschinenbau, Bau- und Umweltingenieurwissenschaften, Gesellschafts- und Geschichtswissenschaften, Architektur, Wirtschaftswissenschaften sowie Rechtswissenschaften. Darüber hinaus sind als assoziierte Partner das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) und die Stadt Darmstadt in das Forschungszentrum eingebunden. Dieser Artikel basiert auf dem Policy Paper des LOEWE-Zentrums emergenCITY „Resiliente Informations- und Kommunikationstechnologie für ein krisenfestes Deutschland“ von dem Autor*innenteam: Matthias Hollick, Jens Ivo Engels, Cornelia Fraune, Bernd Freisleben, Gerrit Hornung, Michèle Knodt und Max Mühlhäuser. www.emergencity.de/ s/ pp1 Svenja Andresen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit LOEWE-Zentrum emergenCITY andresen@emergencity.de AUTORIN 26 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Mit Blick auf die vielfältigen demografischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Entwicklungs- und Veränderungsprozesse steigen auch die Herausforderungen im Hinblick auf eine zukunftsfähige und qualitativ hochwertige Daseinsvorsorge. Dies gilt sowohl unter Planungsals auch Finanzierungsbedarfen. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei zunächst das möglichst frühzeitige Erkennen der aus den verschiedenen sozio-ökonomischen Transformationsprozessen resultierenden Entwicklungen sowie der damit verbundenen Chancen und Risiken. Daher gewinnen, im Sinne einer nachhaltig-digitalen Entwicklung der Daseinsvorsorge, auch Instrumente der Raumbeobachtung sowie der strategischen Planung zunehmend an Bedeutung, wobei unter anderem auch die im Zuge der Digitalisierung wachsenden Datenbestände genutzt werden können. Im Rahmen einer solchen vorausschauenden und vorsorgenden Daseinsvorsorgeplanung stellen sich zahlreiche Fragen, wie beispielsweise nach der Bedeutung einer derartigen Planung im Hinblick auf eine nachhaltige und digitale Transformation der Daseinsvorsorge. Zudem, welche Ansatzpunkte sich vor diesem Hintergrund für konkrete Instrumente, Prozesse und Formate der Früherkennung und der strategischen Planung ergeben oder inwiefern derartige Instrumente und Ansätze in die bestehenden Strukturen, Planungs- und Entscheidungsprozesse auf kommunaler bzw. regionaler Ebene integriert werden können. Bedeutung und Potenzial strategischer und vorausschauender Daseinsvorsorge Auf die Entwicklung der Daseinsvorsorge wirken zahlreiche (Makro-)Trends. Hier ist die demographische Entwicklung zu nennen, mit ihren Kernen „Alterung“ und „Schrumpfung“, mit jeweilig substanziellen Herausforderungen auch für die Leistungserbringung und das Angebot in der Daseinsvorsorge. Weiterhin wirken Themen des Klimawandels/ der Dekarbonisierung, in Form von Energiewende und Mobilitätswende, aber auch die Anforderungen und Facetten der Digitalisierung auf die Daseinsvorsorge. So führen die Trends, insbesondere jener der Digitalisierung, dazu, dass Leistungen der Daseinsvorsorge nicht mehr nur sektoral, sondern häufig auch sektorübergreifend gedacht werden müssen. Im technischen Sinne lässt sich beispielhaft die Sektorenkopplung anführen. All diese Trends weisen Implikationen für die Erbringung der Daseinsvorsorge auf. Ferner bildet auch die Finanzsituation der öffentlichen Haushalte einen zentralen Aspekt im Rahmen der Daseinsvorsorge, insbesondere auch auf der kommunalen Ebene. Die kommunale Finanzausstattung ist häufig unzureichend (unzureichende Steuerbasis, Verschuldung, hoher Aufgabenkatalog), so dass sich seit langem die Frage stellt, wie sich die kommunale Finanzlage nachhaltig stärken lässt, damit die Kommunen ihren umfangreichen Aufgaben für die Bürger nachkommen können, nicht zuletzt in der Daseinsvorsorge. Die strukturell ange- Vorausschauende Daseinsvorsorgeplanung Digitale Daseinsvorsorge, Daseinsvorsorgeplanung, Raumbeobachtung, Makrotrends, kommunale Finanzlage, Foresight-Methoden Oliver Rottmann, Thomas Beukert Während in der Daseinsvorsorge in den vergangenen Jahrzehnten vor allem Fragen im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung sowie der Privatisierung und Rekommunalisierung öffentlicher Leistungen (Gesellschafterstrukturveränderung, Aufgabenverzicht etc.) diskutiert wurden, stehen gegenwärtig zunehmend Entwicklungen im Kontext der Digitalisierung, von „Smart City“ oder der Energiebzw. Mobilitätswende im Fokus. Neben den mit dem Klimawandel verbundenen Herausforderungen nimmt dabei vor allem die digitale Transformation eine besonders prägende Rolle für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik ein. Da sich diese mehr oder weniger auf alle Lebensbereiche auswirkt, werden davon auch die „klassischen“ Aufgabenbereiche der Daseinsvorsorge berührt. Gleichzeitig ergeben sich unter dem Begriff der „digitalen Daseinsvorsorge“ auch neue Aufgabenfelder im Rahmen der kommunalen Leistungserbringung. 27 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte spannte fiskalische Lage lässt sich nachhaltig auch kaum mit Bundes- und Landesförderprogrammen lösen, sondern wirft auch Fragen der Steuerverteilung zwischen den föderalen Ebenen auf [1], die allerdings nicht Gegenstand dieses Beitrages sind. Ziele und Aufgaben einer strategischen und vorausschauenden Daseinsvorsorge Um sowohl auf der politischen als auch der unternehmerischen Ebene Entscheidungen treffen zu können, bedarf es umfassender Informationen zum jeweiligen Bewertungsgegenstand sowie den damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten und deren potenziellen Wirkungen. Gleichzeitig sind politische und wirtschaftliche Entscheidungsträger gefordert, in immer kürzer werdenden Zeithorizonten auf zunehmend komplexere Herausforderungen und Problemlagen zu reagieren. [2, S. 420] Angesichts der skizzierten Entwicklungen und Makrotrends könnten diese Prozesse in Zukunft noch einmal zusätzlich an Dynamik gewinnen. Um dabei dennoch aktiv gestalten und im Rahmen möglichst breiter Handlungsspielräume agieren zu können, bedarf es einer vorausschauenden und langfristig an Zielen orientierten Politik bzw. Strategie, die dazu einen gewissen Informationsvorlauf im Sinne eines Frühwarnsystems benötigt, anhand dessen angemessene Reaktionen auf kurzfristige Veränderungen möglich sind. [2, S. 409] Dies gilt gerade auch für die im Rahmen der Daseinsvorsorge zu erbringenden Leistungen, die nach dem allgemeinen Begriffsverständnis die existenziellen Grundvoraussetzungen wesentlicher Lebensbereiche der Bevölkerung und die ökonomische Leistungs- und Entwicklungsfähigkeit einer Region sicherstellen sollen. [3] Gerade auch vor dem Hintergrund der offenen Konzeption [4] bzw. des dynamischen Begriffsverständnisses [5] der Daseinsvorsorge, die insbesondere auch im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen, technischen und ökologischen Wandel [6] zu sehen sind, erscheint ein relativ weit gefasster Blick auf die strukturellen und sozio-ökonomischen Entwicklungsprozesse in den einzelnen Regionen sinnvoll. Neben den fachlichen Anforderungen an die Leistungserbringung in der Daseinsvorsorge sind bei deren Ausgestaltung auch die finanziellen Ressourcen sowie übergeordnete gesellschaftspolitische Zielstellungen wie beispielsweise Fragen der Nachhaltigkeit und ökologische Aspekte von Bedeutung. Daher sollten auch diese Aspekte bei der Konzeption und der Arbeit mit einem Analyseinstrument im Sinne einer vorausschauenden und strategischen Daseinsvorsorge berücksichtigt werden, um damit die (kommunale) Nachhaltigkeits- und Umweltpolitik stärker in den Fokus der Infrastrukturausstattung und Leistungserbringung zu rücken. Zu beachten ist an dieser Stelle auch, dass sich demografische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen, trotz allgemeiner Entwicklungstrends, in den einzelnen Regionen der Bundesrepublik und auch innerhalb der Länder sehr unterschiedlich ausprägen können. Insbesondere zwischen städtischen und ländlichen Räumen waren in der Vergangenheit deutliche Unterschiede zu beobachten. [7] Aber auch innerhalb von Landkreisen oder zwischen einzelnen Stadtteilen sind bei einer entsprechend differenzierten Betrachtung zum Teil deutliche räumliche Disparitäten zu verzeichnen. Insofern kommt der räumlichen Differenzierung eine wesentliche Bedeutung zu, um auch die regionalen und lokalen Ausprägungen und Wirkungen spezifischer Entwicklungen erkennen zu können. Vor diesem Hintergrund können folgende allgemeine Ziele und Aufgaben einer strategischen und vorausschauenden Daseinsvorsorge abgeleitet werden: Kontinuierliche Beobachtung wesentlicher Makrotrends mit Bezug zur Leistungserbringung in der Daseinsvorsorge und deren regionale Ausprägungen (unter anderem technologische Entwicklungen, Klimawandel, Digitalisierung), Identifizierung der damit verbundenen Chancen und Risiken für eine sozial-ökologische Transformation der Daseinsvorsorge, Fortlaufende Beobachtung der allgemeinen demografischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung in der jeweiligen Betrachtungsregion (inklusive Vergleich zu anderen Regionen), Analyse der Entwicklung der künftigen Bedarfe in den einzelnen Nutzergruppen sowohl unter quantitativen als auch unter qualitativen Aspekten (Veränderungen struktureller und sozio-ökonomischer Merkmale) sowie daraus resultierender Anforderungen an die Leistungserbringung, Identifizierung neuer Anforderungen und Aufgabenfelder sowie von Gestaltungspotenzialen im Hinblick auf eine nachhaltig-digitale Weiterentwicklung der Daseinsvorsorge, Betrachtungen weiterer Rahmenbedingungen der Daseinsvorsorge (zum Beispiel Organisationsstrukturen, rechtliche Rahmenbedingungen), Entwicklung der öffentlichen Finanzsituation sowie allgemeine Preisentwicklungen, Praxisorientierte Nutzbarmachung der Ergebnisse für Regional- und Fachplanungen sowie für kommunale Entscheider im Sinne einer strategischen und vorausschauenden Daseinsvorsorge. 28 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Darüber hinaus kann ein datengestütztes Informationssystem prinzipiell auch als Instrument zur strategischen Steuerung im Rahmen von gesellschaftspolitischen Prozessen eingesetzt werden, was eine entsprechende Implementierung in den wesentlichen Entscheidungsstrukturen voraussetzt. Anhand der fortlaufend zu erhebenden und analysierenden Indikatoren können hier gewisse Zielwerte definiert werden, die durch spezifische Maßnahmen erreicht werden sollen. Gleichzeitig dient das Informationssystem dabei als Monitoring- und Controllinginstrument. Dieser Aspekt ist vor allem im Kontext der nachhaltig-digitalen Transformation bzw. auch einer sozial-ökologischen Weiterentwicklung der Daseinsvorsorge relevant. Systemkomponenten Im Hinblick auf ein Informationssystem, das wesentliche Entwicklungen und Perspektiven in einem relativ weit gefassten Feld wie der Daseinsvorsorge abbilden soll, erscheint es sinnvoll, ein möglichst flexibles Instrument zu entwickeln. Dieses sollte einerseits den unterschiedlichen Abgrenzungen und Begriffsauslegungen der Daseinsvorsorge Rechnung tragen und andererseits auch eine spätere Integration weiterer Inhalte zulassen, die möglicherweise zukünftig an Bedeutung gewinnen. In diesem Sinne wird hier ein modularer Ansatz favorisiert, der sowohl aus verschiedenen thematischen als auch methodischen Bausteinen besteht und eine punktuelle oder fortlaufende Erweiterung um weitere Betrachtungsgegenstände ermöglicht. Damit kann auch eine kontinuierliche Anpassung im Hinblick auf neue Anforderungen und Aufgabenfelder im Rahmen einer nachhaltig-digitalen Weiterentwicklung der Daseinsvorsorge erfolgen. Unter inhaltlichen Aspekten könnte ein im Sinne einer vorausschauenden Daseinsvorsorge auszugestaltendes Informationssystem in seiner Grundform die folgenden Komponenten umfassen: Allgemeine Strukturdaten (Demografie, Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Soziales, Finanzsituation von Land und Kommunen), Strukturen und Entwicklungen in den Aufgabenbereichen der Daseinsvorsorge, zum Beispiel: Energieversorgung, Wasserversorgung, Entsorgung/ Kreislaufwirtschaft, Mobilität, Bildung, Kinderbetreuung, Wohnen, Gesundheit/ Pflege, Querschnittsthemen: Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Für die Gewinnung der für die Analyse und die strategische Bewertung erforderlichen Daten und Informationen erscheint ein Mix aus quantitativen und qualitativen Methoden sinnvoll, der eine fundierte Analyse aktueller und sich abzeichnender Entwicklungsprozesse ermöglicht, gleichzeitig jedoch auch im Sinne einer strategischen Vorausschau zur Generierung sinnvoller Erkenntnisse beiträgt. Die zentrale Basis sollte dabei eine umfassende und kontinuierlich zu aktualisierende Datenbank aus Zeitreihen- und Querschnittsdaten bilden, die es erlaubt, Entwicklungsprozesse und Abhängigkeiten anhand verschiedener Indikatoren im Zeitverlauf zu erkennen. Auf Grundlage dessen kann eine fortlaufende Analyse der allgemeinen strukturellen und sozio-ökonomischen Entwicklungen sowie der Entwicklungen in den relevanten Aufgabenfeldern der Daseinsvorsorge erfolgen. Zudem kann die Datenbasis, eventuell unter Hinzuziehung weiterer Datenbestände (punktuell oder laufend) für spezielle Sonderauswertungen im Sinne ergänzender und tiefergehender thematischer und regionaler Analysen genutzt werden. In ihrer Grundstruktur sollte eine Einordnung der Entwicklung der jeweiligen Region im regionalen sowie auch im überregionalen Kontext (Bundesländer, Deutschland, Vergleich mit anderen Regionen) möglich sein. Die grundlegende Datenanalyse sollte zudem ergänzt werden, um Instrumente einer strategischen Vorausschau sowie um weitere methodische Bausteine, um damit generell die Informationsbasis zu verbreitern, die Ergebnisse der statistischen Analyse zu vertiefen sowie vor allem auch zukünftig relevante Entwicklungspfade zu identifizieren, um diese im Sinne einer vorausschauenden Daseinsvorsorge aktiv gestalten zu können. Dabei erscheinen insbesondere sogenannte Foresight-Methoden, wie Trendmonitoring/ Horizon Scanning, Delphi- Befragungen, Zukunftswerkstätten oder Szenarioentwicklungen sinnvoll, die um Befragungen (zum Beispiel standardisierte schriftliche Befragungen, Experteninterviews), Literatur- und Dokumentenrecherchen zu spezifischen Themen, einen regelmäßigen Austausch mit den relevanten Fachplanungen sowie möglicherweise auch Formen der Bürgerbeteiligung ergänzt werden können. Prinzipiell können die einzelnen methodischen Komponenten dabei je nach Fragestellung und Zielausrichtung relativ flexibel eingesetzt werden, wobei hier jedoch auch gerade auf der kommunalen Ebene immer auch die verfügbaren personellen und finanziellen Ressourcen zu beachten sind. Ein allgemeiner Überblick über ein mögliches Informationssystem im Sinne einer vorausschauenden und strategischen Daseinsvorsorge illustriert Bild 1. 29 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Handlungsempfehlungen Der Aufbau eines Instrumentariums für eine mittel- und langfristig orientierte strategische und vorausschauende Daseinsvorsorge erscheint grundsätzlich sinnvoll und prinzipiell auch praktisch umsetzbar. Die Erfordernis dazu resultiert vor allem aus den aktuell zu beobachtenden Makrotrends und der im Zuge dessen stattfindenden Entwicklungsprozesse in der Daseinsvorsorge. Um angesichts dessen auch zukünftig ziel- und lösungsorientierte strategische Entscheidungen aktiv treffen zu können, sollte der Aufbau eines möglichst umfassenden Analyseinstruments forciert werden. Da die Daseinsvorsorge zudem ein relativ weites Themenspektrum umfasst, kommt hier auch dem Aspekt einer zusammenfassenden und stärker ganzheitlich orientierten Betrachtung eine stärkere Rolle zu. Dies gilt gerade auch im Zusammenhang mit einer nachhaltig-digitalen Transformation der Daseinsvorsorge, da ein entsprechend implementiertes Instrumentarium letztendlich auch im Sinne einer strategischen und politischen Steuerung genutzt werden kann. Im Hinblick auf die praktische Umsetzung könnte ein modularer Ansatz favorisiert werden, der Themenfelder Allgemeine strukturelle Entwicklungen (u.a. Demogra e, Wirtscha , Arbeitsmarkt, Soziales, Finanzitua on Land und Kommunen) Aufgabenbereiche Daseinsvorsorge Querschni sthemen Energieversorgung Wasserversorgung Entsorgung Mobilität Bildung Kinderbetreuung Wohnen Gesundheit/ P ege Digitalisierung Nachhal gkeit Betrachtungszeitraum Entwicklung zurückliegende Jahre Zukun sperspek ve Sta s sche Analysen (Basismodul) Methodik Analyse der Wirkungszusammenhänge Befragungen Foresight-Methoden (qualita v, z.B. Trendmonitoring/ Horizo n Scanning, Delphi-Befragungen, Zukun swerkstä en, Szenario -Studien) Literatur- und Dokumentenrecherche Austausch mit Fachplanungen Perspek visch Generierung weiterer Datenbestände Prognosen und Szenarienentwicklung (quan ta v) Bild 1: Übersichtsskizze eines Informationssystems der vorausschauenden und strategischen Daseinsvorsorge. © Rottmann 30 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte sowohl aus verschiedenen thematischen als auch methodischen Bausteinen besteht und eine Erweiterung um zusätzliche Betrachtungsgegenstände zu einem späteren Zeitpunkt zulässt. Ein solches flexibel ausgestaltetes Instrument ermöglicht zum einen verschiedene methodische Zugänge zu den verschiedenen Fragestellungen und erlaubt auch eine ergänzende Bearbeitung von Themen, die erst in Zukunft an Bedeutung gewinnen. Zum anderen lässt ein modularer Ansatz die Integration weiterer Datenbestände zu, die perspektivisch im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung nutzbar gemacht werden können. Beim Aufbau eines derartigen Analyseinstruments sollte zudem beachtet werden, dass mit den unterschiedlichen Systemen der Raumbeobachtung auf den verschiedenen staatlichen Ebenen bereits eine gewisse konzeptionelle und eventuell auch praktische Grundlage vorhanden ist, an der sich eine vorausschauende Daseinsvorsorge orientieren kann oder auf der sich möglicherweise auch aufbauen lässt. Allerdings sind Systeme der Raumbeobachtung derzeit vor allem auf der Bundes- und Landesebene verfügbar, wohingegen für die regionale und kommunale Ebene zu vermuten ist, dass entsprechende Instrumente hier weniger umfassend ausgeprägt sind. Zudem bestehen dahingehend vermutlich auch große Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen. Letztendlich ist hier im Rahmen der praktischen Umsetzung zu klären, ob und eventuell wie bereits bestehende räumliche Analyseinstrumente noch stärker im Sinne einer vorausschauenden und strategischen Daseinsvorsorge genutzt werden können. Für kommunale Entscheider lassen sich daher spezifische Handlungsempfehlungen ableiten, die im Wesentlichen auf eine praktische Umsetzung eines geeigneten Instrumentariums einer mittel- und langfristig orientierten strategischen und vorausschauenden Daseinsvorsorgeplanung abzielen: Entwicklung eines konkreten Indikatorenkonzepts für die Landes- und kommunale Ebene, das auf die Ziele der Daseinsvorsorge im Sinne einer nachhaltig-digitalen Transformation ausgerichtet ist, − Zusammenstellung der bei den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder sowie aus weiteren Institutionen vorhandenen Datenbestände im Kontext einer strategischen Daseinsvorsorgeplanung (inklusive Angaben zur Verfügbarkeit auf den räumlichen Ebenen, Zeitpunkte der jährlichen Veröffentlichung usw.), − Erarbeitung spezifischer Indikatoren zur Darstellung der thematisch relevanten Sachverhalte inkusive einer standardisierten Übersicht zu den wesentlichen Merkmalen jedes Indikators (Definition, Aussagefähigkeit, Einheit, Datenquelle, Berechnungsformel usw.), − Empfehlungen für die Häufigkeit der Datenerhebungen (Datenaktualisierung) und Aussagen zu den Anforderungen an eine fortlaufende Beobachtung und Analyse des Betrachtungsgegenstandes inklusive Ausführungen für eine eventuell dafür zu schaffende Stelle. Prüfung, inwiefern die bereits vorhandenen Instrumente der Raumbeobachtung auf der Landes- und regionalen/ kommunalen Ebene auch für eine eventuell darüber hinausgehende Analyse im Sinne einer strategischen und vorausschauenden Daseinsvorsorge genutzt werden können; dies müsste separat für die einzelnen Bundesländer und Regionen/ Kommunen erfolgen, da hier von großen Unterschieden auszugehen ist, Vertiefende Analyse zum Einsatz von Instrumenten einer strategischen Vorausschau (Foresight- Methoden) auf der regionalen/ kommunalen Ebene (Welche konkreten Ansätze sind auch bei eingeschränkten Ressourcen möglich und sinnvoll? ), Initiierung eines Modellprojekts in einem oder mehreren Bundesländern über einen kooperativen Aufbau eines geeigneten Instrumentariums einer strategischen und vorausschauenden Daseinsvorsorge; sinnvoll erscheint hier eine gemeinsame Initiative des jeweiligen Landes mit einer oder mehreren Regionen (Regionale Planungsgemeinschaft oder Landkreis bzw. Kreisfreie Stadt), Perspektivisch: Erarbeitung einer Konzeption zur Einbeziehung und Nutzung „neuartiger“ Datenbestände, die sich aus der fortschreitenden digitalen Transformation aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche ergeben. Dabei sollten vor allem Fragen der Aussagekraft und Qualität der Daten (vor allem im Hinblick auf eine langfristig orientierte systematische Nutzung), der Datenbereitstellung, des Datenmanagements sowie auch des Datenschutzes thematisiert werden. LITERATUR [1] Rottmann, O., Hesse, M.: Daseinsvorsorge wird vor Ort gemacht, Gastbeitrag in: Frankfurter Rundschau, 15.12.2021. [2] Gatzweiler, H.-P.: Raumbeobachtung - Was soll das? In: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 7/ 8 (2011). 31 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte [3] Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) (Hrsg.): Sicherung der Daseinsvorsorge und Zentrale-Orte-Konzepte - gesellschaftspolitische Ziele und räumliche Organisation in der Diskussion. BMVBS-Online-Publikation, Nr. 12/ 2010. [4] Rottmann, O., Grüttner, A., Gramlich, L.: Zukunftsorientierte Daseinsvorsorge. Zeitgemäße Ausgestaltung statt ideologischer Schranken. In: Wirtschaftsdienst 99, (2019) S. 789 - 794. [5] Gabler Wirtschaftslexikon - Daseinsvorsorge. URL: https: / / wirtschaftslexikon.gabler.de/ definition/ daseinsvorsorge-28469/ version-378857 (20.12.2021). [6] Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) (Hrsg.): Regionale Daseinsvorsorgeplanung. Ein Leitfaden zur Anpassung der öffentlichen Daseinsvorsorge an den demografischen Wandel. Ein Projekt des Forschungsprogramms „Modellvorhaben der Raumordnung (MORO)“ des BMVBS, betreut vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung, Werkstatt: Praxis Heft 64, (2010) Berlin. [7] Beukert, Th.,/ Gramlich, L., Grüttner, A., Rottmann, O.: Delphi-Studie. Zukunftsorientierte Daseinsvorsorge in der kommunalen Infrastrukturversorgung, (2021). Dr. Oliver Rottmann Geschäftsführender Vorstand Kompetenzzentrums Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge e. V. (KOWID) und Kompetenzzentrum für kommunale Infrastruktur Sachsen (KOMKIS), Universität Leipzig Kontakt: rottmann@wifa.uni-leipzig.de Dipl.-Geogr. Thomas Beukert Wissenschaftlicher Mitarbeiter Kompetenzzentrum Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge e. V. Kontakt: beukert@kowid.de AUTOREN Der Beitrag basiert auf einer Studie der Autoren für die CO: DINA-Forschungslinie „Zukunftsfähige Daseinsvorsorge“ Nothilfe Ukraine: jetzt spenden! Es herrscht Krieg mitten in Europa. Millionen Kinder, Frauen und Männer bangen um ihr Leben und ihre Zukunft. Aktion Deutschland Hilft leistet den Menschen Nothilfe. Gemeinsam, schnell und koordiniert. Helfen Sie jetzt - mit Ihrer Spende. Spendenkonto: DE62 3702 0500 0000 1020 30 Spenden unter: www.Aktion-Deutschland-Hilft.de Danke an alle, die helfen! 32 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Veranlassung Politiker*innen und die Verantwortlichen in kommunalen Verwaltungen sehen sich einer zunehmenden Komplexität an Aufgabenstellungen gegenüber und der Notwendigkeit, ihr Handeln effektiver und effizienter zu gestalten. Äußere Treiber wie der Klimawandel, die Digitalisierung oder der Fachkräftemangel in Zusammenhang mit dem demografischen Wandel führen zu einer weiteren Steigerung der Komplexität, auf die die existierenden Strukturen und Prozesse nicht ausgelegt sind. Alles hängt mit allem zusammen, und die Vielzahl von Anforderungen zwingt Kommunen dazu, Anpassungen vorzunehmen. Dazu suchen sie nach geeigneten Vorgehensweisen, wie sie sektoral organisierte Governance-Strukturen anpassen und entwickeln können. Die vorhandenen, jedoch knappen Zeit-, Personal- und Wissensressourcen sollen so möglichst fachbereichs- und städteübergreifend für zukunftsbestimmende Querschnittsaufgaben genutzt werden. Die Stadt Bochum setzt bereits aktiv agile Führungs- und Managementinstrumente im Rahmen der „Bochum-Strategie“ (https: / / www.bochum.de/ die-bochum-strategie) sowie in ihrer Beteiligung an der Zukunftsinitiative „Klima.Werk“ der Kommunen im Emscher- und Lippe-Einzugsgebiet (https: / / www. klima-werk.de) ein. Dieses Vorgehen hat sie auf ein klassisch formales Verwaltungsinstrument - das Abwasserbeseitigungskonzept (ABK) - übertragen und damit einen weiteren Transformationsprozess innerhalb der Verwaltung angestoßen. Im Zuge der Erstellung des ABK wurde erstmals ein rechtlich vorgeschriebener Rahmen zu einem Handlungskonzept mit Hilfe eines agilen Planungs- und Umsetzungsprozesses weiterentwickelt, um die Themen Nachhaltigkeit und Klimafolgenanpassung als zentrale Aufgabenstellung innerhalb der Stadtverwaltung fachbereichsübergreifend zu verankern. Gemeinsam sollten integrale Lösungsansätze für die tägliche Arbeit realisiert und etabliert werden. Dabei wurde die Frage evaluiert, welche Future Skills (soziale Kompetenzen und Fähigkeiten für sektoren- und städteübergreifende Zusammenarbeit) notwendig sind, um sich den Herausforderungen der genannten zukunftsbestimmenden Querschnittsaufgaben stellen und die anstehenden Stresstests als Stadt und als Region bestehen zu können. Fachbereichs- und städteübergreifende Lösungen schaffen Im Rahmen des integralen Stadtentwicklungskonzepts „Bochum-Goldhamme“ sollte ein sozial benachteiligter Stadtteil umgestaltet werden. Für die Neugestaltung des Quartiers waren viele Akteur*innen der verschiedensten Fachbereiche erforderlich, die in einem ersten - noch eher unbewusst agilen - Arbeitsprozess die Quartiersentwicklung ermöglichen sollten. Konkret waren zum Beispiel das Amt für Stadtplanung, das Stadtumbaubüro des Quartiers, das Umwelt- und Grünflächenamt (Freiraumplanung) sowie das Tiefbauamt (Abteilung Straßen und Abteilung Entwässerung) integraler Bestandteil des Teams. Future Skills für Zukunftsstädte Agiles Zusammenarbeiten in sektoralen Verwaltungsstrukturen - am Beispiel des ABK in Bochum Wissensorganisation, Future Skills, Stadthygiene, Klimaresilienz, Sozial-Innovationen, komplexe Aufgaben gemeinsam als (Öko-) System lösen Marko Siekmann, Ralf Engels, Thorsten Pacha, Andreas Gunkel, Peter Helbig, Sylvia Gredigk-Hoffmann, Karsten Kerres Am Beispiel der Erstellung des Abwasserbeseitigungskonzeptes (ABK) in Bochum wird aufgezeigt, wie wichtig fachbereichs- und städteübergreifende Zusammenarbeit ist und wie es gelingen kann, mit agilen Methoden die Transformation von Verwaltung vor dem Hintergrund der Megatrends Klimaanpassung und Wissensorganisation als Sozial- oder Verhaltens-Innovation (Future Skills) zu gestalten. Unterstützt durch die Standards und Spielregeln (Kultur) der Zukunftsinitiative Klima.Werk werden die Prozesse der Zusammenarbeit konzipiert und organisiert. 33 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Bäume in Hochbeeten, deren Palisaden auseinandergebrochen waren, Bäume, die zu nah an den Häusern standen und die Räume verdunkelten und Freiflächen, die in die Jahre gekommen waren, veranlassten die Teammitglieder, das Straßenbild in Goldhamme gemeinsam grundlegend zu überdenken und zu überarbeiten. So wurden die straßenbegleitenden Stadtquartiersflächen neu organisiert sowie die alten Baumstandorte überplant und in Teilen neu angelegt, um die Aufenthaltsqualität im Freien zu erhöhen. In diesem Zug wurde die Verwendung und Nutzung des Oberflächenwassers aufgegriffen. Die Idee, das anfallende Regenwasser den Pflanzstandorten zuzuleiten, sollte in Bochum- Goldhamme erstmalig in Kooperation mit den beteiligten Akteur*innen in die Praxis umgesetzt werden. Dieses neuartige Entwässerungssystem musste den Kollegen*innen aus der Stadtverwaltung durch hinreichende Überzeugungsarbeit nähergebracht werden. Mögliche Bedenken, etwa aus dem Straßenbau (Überflutungsgefahr / Standfestigkeit) und dem Umwelt- und Grünflächenamt (Angst vor Vernässung des Wurzelraums / Wurzelfäule) mussten durch Zugeständnisse wie Neupflanzung bei Abgängigkeit eines Baums oder die Herstellung eines Notüberlaufs innerhalb des Sinkkastens ausgeräumt werden (Bild 1). Durch einen ständigen Austausch und eine offene Umgangsform im Team konnten pilothaft die ersten klimaangepassten Baumstandorte umgesetzt werden (Bild 2). Mittlerweile gehen die beteiligten Fachbereiche bei Stadtumbaumaßnahmen sowie Straßenumgestaltungen aktiv („agil“) aufeinander zu um zu prüfen, ob in ähnlichen Aufgabenstellungen eventuell Baumrigolen bzw. wassersensible Entwässerungselemente in den Planungsprozess eingebunden werden können. Zwischenzeitlich hat man sich darauf verständigt, dass das Regenwasser nicht mehr über Standard-Sinkkästen entwässert, sondern über die Schulter abgeleitet wird, um Bäume mit Oberflächenwasser zu versorgen. Die positiven Erfahrungen aus Goldhamme sowie die Möglichkeit der multifunktionalen Nutzung von Flächen und Infrastruktur sollten auf Seiten der Tiefbauamtsabteilung Entwässerung und Gewässer in einer Institutionalisierung von Klimaanpassungsmaßnahmen als Grundlage des täglichen Handelns münden. Dazu wurde im Rahmen der Erstellung des für das Jahr 2021 fortzuschreibenden Abwasserbeseitigungskonzeptes (ABK) das zentrale Handlungskonzept aller Abwasserbeseitigungspflichtigen erweitert und ergänzt. Kommunen in NRW sind dazu verpflichtet, ein ABK alle sechs Jahre aufzustellen bzw. fortzuschreiben Gießrand, H 30 cm, D = D Ballen Baumscheibenabdeckung, Splitt, Farbe rostrot hier mit: Einfassung aus Cortenstahl Straßenablauf, 500*500mm modifiziert mit Schlammfang 0,00 oberes Baumsubstrat (ca.3m³) auf Löß- / Lava- / Bims- / Sand- Basis, der Körnung 0 - 32 mm Dränrohr DN 100 (vliesummantelt) zur Baumbewässerung als Ring um den Ballenbereich Notüberlauf mit Anschluss an die Kanalisation 45 MN/ m2 Baumscheibe mit Regenwassereinleitung und 2 Baumsubstraten Februar 2018 ab Straßenniveau, Grube ohne Verbau anstehenden Boden auflockern 0,20m Einbau oberes Baumsubstrat bis auf Niveau des seitl. anstehenden Aufbaus unteres Baumsubstrat (ca.9m³): Grobschlag mit Schlämmsubstrat geschlitztes Rohr, DN 100 zur Wasserstandsmessung mit gesicherter Schutzkappe Geotextil als Trennlage zwischen Straßenaufbau und oberem Pflanzsubstrat Aufbau 0,55-0,65m +0,12 cm über OK Fahrbahn Holz-3-Bock mit Doppellattung 2,00m 1,20m Bauherr Planung/ B l i Umwe sowie Datum Index 01.02.2018 f 05.02.2018 g 13.02.2018 h Bild 1: Querschnitt einer Baumrigole zum Regenwasserrückhalt im Straßenraum. © Danielzik, Leuchter+Partner, Landschaftsarchitekten mbB 34 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte und der zuständigen Bezirksregierung zur Genehmigung vorzulegen. In einem ABK werden die für die Abwasser- und Niederschlagswasserbeseitigung relevanten Aufgaben definiert und in Form von zu planenden Maßnahmen für den folgenden Zeitraum aufgestellt. Ziel ist eine gesicherte, schadlose und umweltgerechte Sammlung, Ableitung und Reinigung des im urbanen Raum anfallenden häuslichen und gewerblich-industriellen Abwassers sowie des Niederschlagswassers. Um eine neue Qualität des ABK als Handlungskonzept für eine klimaresiliente, nachhaltige Entwicklung der Stadt zu erreichen, hat Bochum im Sinne einer integralen Entwicklung die Klimafolgenanpassung als zentralen Handlungsbaustein in das ABK aufgenommen. Mit diesem intrinsischen Ansatz wurde ebenfalls die Bewertung des baulichen Zustandes des Entwässerungssystems auf Basis einer Substanzerhaltung neu gedacht und eine einheitliche Bewertung der Dringlichkeit von Maßnahmen geschaffen. Bei der Bildung und Priorisierung dieser Maßnahmen spielen Abhängigkeiten und Wechselwirkungen der einzelnen Informationen untereinander eine immer größere Rolle. Die extrem hohe Komplexität dieser raumzeitlichen Abhängigkeiten machte dieses Projekt zu einem idealen Piloten für den agilen Planungs- und Umsetzungsprozess, an dem bis zu 35 Personen aus unterschiedlichen Fachrichtungen in Teams mitarbeiteten. Der Prozess wurde auf eigenen Wunsch der Beteiligten durch externe Unterstützung begleitet, da das Methoden- und Prozesswissen im Team nicht ausreichend gesichert vorhanden war. Verwaltungshandeln erfolgreich transformieren Gemeinsam Verantwortung für das Ganze übernehmen In einer Auftaktveranstaltung zum ABK-Prozess wurden die Grundlagen für die kooperative Zusammenarbeit geschaffen. Jede*r formulierte aus seiner/ ihrer Zuständigkeit und persönlichen Sicht heraus, was für die Bürger*innen und die Stadt eine zukunftsweisende Lösung ist. Die großen Aufgabenpakete wurden miteinander skizziert und es wurde vereinbart, dass unterschiedliche Meinungen oder sogar Interessenkonflikte zu Inhalten und Vorgehen Schritt für Schritt miteinander gelöst werden. Dazu wurden Sprintteams gebildet, in denen sich Kolleg*innen selbstverantwortlich organisierten und Teilergebnisse produzierten. Das weitere Vorgehen wurde mit agilen Arbeitsmethoden (Kanban-Board, Scrum-Rollen usw.) organisiert. Im Team wurden die Prämissen des „agilen Mindsets“ (Haltung, Verhalten und Methoden) vereinbart. Wesentliche und werteorientierte „Standards und Spielregeln“ waren unter anderem (siehe auch Bild 3): Alle verständigen sich auf die Handlungsrichtung, auch wenn aufgrund bisheriger Erfahrungen und der Entscheidungsspielräume keine Best-Lösungen zu erwarten sind. Jede*r sorgt dafür, dass jede*r erfolgreich sein kann. Die Qualität des Miteinanders ist Grundlage dafür, dass in komplexen Aufgabenstellungen mit vielen Beteiligten eine bestmögliche Gesamtlösung entsteht. Bild 2: Baumrigolen im Straßenraum, Normannenstraße in Bochum. © Stadt Bochum 35 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Aufgaben werden nicht vergeben oder zugeteilt. Jede*r handelt in seinem Rahmen und mit seinem Team, verantwortungsbewusst, indem der eigene (Leistungs-)Beitrag mit Vorgesetzten bzw. mit den Schnittstellen zu anderen Bereichen ausgehandelt und vereinbart wird. Statt auf Anweisungen zu warten, bringen alle im Gegenstromprinzip Vorschläge ein. Fehler sind notwendiger Teil des Prozesses und bieten die Chance für Innovationen und Entwicklungen, an die zu Beginn niemand gedacht hat. Der offene Austausch über wechselseitige Erwartungen sowie darüber, was gut gelungen ist und was sich jede*r als nächsten (Lern- und Arbeits-) Schritt vornimmt, sind Basis für die kooperative Zusammenarbeit und den Teamzusammenhalt. Im Prozess der Umsetzung wird erlebt, welcher Gewinn entsteht, wenn verschiedene Zuständigkeiten als Community Verantwortung für den eigenen Beitrag und für das Gesamt-Ergebnis übernehmen, indem sie Wissen, Erfahrungen und Ressourcen teilen und zusammen das „Werk“ erstellen. Zu einer Wertegemeinschaft gehören Der ABK-Planungsprozess reiht sich nicht nur in den intrinsischen Auftrag zu einer klimaangepassten Stadtentwicklung aus der Bochum-Strategie ein. Er passt gleichsam auch zur Zukunftsinitiative „Klima. Werk“, einem Zusammenschluss von mittlerweile 53-Kommunen in der Emscher-Lippe-Region in NRW, in dem sich die Stadt Bochum intensiv engagiert. Alle Verwaltungsspitzen und die Akteur*innen in der Zukunftsinitiative haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Emscher-Lippe-Region zu einer „Klimaresilienten Region mit internationaler Strahlkraft“ zu transformieren. Der Fokus der Initiative liegt darauf, die urbanen Ballungsräume zu blau-grünen Zukunftsstädten werden zu lassen, in denen Wasser und städtisches Grün zentrale gestalterische Elemente der Stadtentwicklung werden. Im Rahmen der Zukunftsinitiative hat sich eine Kultur der Zusammenarbeit entwickelt, die keine Fachbereichs- und keine Stadtgrenzen kennt, sondern Personen und deren Wissen und Erfahrungen zusammenbringt und so vernetzt, dass für die gesamte Region Good Practice-Lösungen für eine nachhaltige Zukunft entwickelt werden. Gestützt durch die Legitimation zur Entwicklung der Region durch die Stadtspitzen (top-down) findet bottom-up der ABK-Planungsprozess durch die Mitarbeitenden statt. Erfahrungen und Ausblick - Future Skills für Zukunftsstädte Die gemeinsamen Erfahrungen der Stadt Bochum und der Städte entlang der Emscher gemeinsam mit der Emschergenossenschaft in der Zukunftsinitiative Klima.Werk zeigen, dass durch neue Arbeitsformate innovative Lösungen und neue Formen der Zusammenarbeitskultur gefunden werden können. Neben innovativen technischen Lösungen bedürfen neue Lösungen dementsprechend auch neuer Ansätze in der Bearbeitung und in der Arbeitskultur innerhalb von Verwaltungen. Für den Start eines solchen Transformationsprozesses lassen sich aus der ABK-Erstellung in Bochum folgende Erkenntnisse ableiten: Agile Austausch- und Arbeitsformate zusammen mit einem agilen Mindset eignen sich, um agiles Verwaltungshandeln zu ermöglichen und zu entwickeln, wenn sie in die tägliche Arbeitspraxis einbezogen werden. Die Qualität der Zusammenarbeit verbessert sich allein dadurch, dass durch agile Gesprächsformate auch nicht-fachliche Inhalte wie Befindlichkeiten, persönliche Sichtweisen etc. Platz haben, weil sie offen angesprochen werden können. Die umfassende Ziel-, Rollen- und Auftragsklärung ist wesentlicher Erfolgsfaktor und in regelmäßigen Abständen zu bestätigen oder anzupassen. Sprint-Planungen - inklusive Prozessreflexionen und Retrospektiven - sind zusammen so zu verankern, dass sie unverzichtbarer Bestandteil des Vorgehens sind. Sie beschleunigen die Prozesse der Entscheidungsfindung und erlauben paralleles Arbeiten, da für alle Beteiligten Überblick und Orientierung zunehmen. Bild 3: Grundsätze agiler Zusammenarbeit. © Peters & Helbig GmbH 36 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Dr.-Ing. Marko Siekmann Abteilungsleiter Stadt Bochum Tiefbauamt, Abteilung Entwässerung und Gewässer Kontakt: msiekmann@bochum.de Ralf Engels Stadt Bochum Tiefbauamt, Abteilung Entwässerung und Gewässer Kontakt: rengels@bochum.de Thorsten Pacha Stadt Bochum Tiefbauamt, Abteilung Entwässerung und Gewässer Kontakt: tpacha@bochum.de Andreas Gunkel Stadt Bochum Tiefbauamt, Abteilung Entwässerung und Gewässer Kontakt: agunkel@bochum.de Peter Helbig Peters & Helbig GmbH, Essen Kontakt: peter.helbig@peters-helbig.de Sylvia Gredigk-Hoffmann FH Aachen Fachbereich 2 - Bauingenieurwesen, Netzmanagement Kontakt: gredigk@fh-aachen.de Prof. Dr.-Ing. Karsten Kerres FH Aachen Fachbereich 2 - Bauingenieurwesen, Netzmanagement Kontakt: kerres@fh-aachen.de Der Prozess fördert selbstorganisiertes Handeln und trägt so zur Motivation der Mitmachenden ein. Darüber hinaus ergaben sich auch Erkenntnisse, welche die Grenzen und Herausforderungen des Transformationsprozesses verdeutlichen: Nicht alle Mitarbeitenden lassen sich auf diesen Prozess ein und sind bereit, über ihre im klassischen System vordefinierten Aufgaben hinaus zu denken und zu handeln. Nicht alle Prozesse bedürfen einer Transformation und verbessern sich durch den Einsatz der Methoden. Der Fokus muss auf das Gesamtziel sowie auf die Ziele und Anliegen der Menschen gerichtet sein, nicht auf die Veränderung von Arbeitsmethoden. Der Transformationsprozess ist ein kontinuierlicher Prozess, der von den Akteur*innen eine permanente Aufmerksamkeit fordert. Als Teil eines bestehenden Systems, das grundlegend anders ausgerichtet ist (insbesondere streng hierarchisch), besteht bei Mitarbeitenden ständig die Gefahr, dass sie in alte Verhaltensmuster zurückfallen (Ultrastabilität des Bestandssystems). Fazit Zusammenfassend ist festzuhalten, dass ein hochtechnischer und formaler Prozess wie ein Abwasserbeseitigungskonzept (ABK) unter Einbindung von zukunftsbestimmenden Querschnittsaufgaben wie der Klimafolgenanpassung mit agilen Arbeitsformaten und unter Anwendung von Future Skills wirklich (besser) funktionieren kann. Die Verwaltung der Stadt Bochum hat diesen Arbeitsprozess zur Erstellung des ABK erfolgreich organisiert und umgesetzt. Im Ergebnis wurde ein ABK aufgestellt, das den Zukunftsanforderungen gerecht wird und alle zukünftigen Projekte in einem Forecast transparent darstellt. Damit entstand implizit ein wichtiges Kommunikations- und Steuerungsinstrument zwischen Politik, Bürgerschaft, Genehmigungsbehörde und innerhalb der Verwaltung, das zudem als zentrales Element des zukünftigen Projektmanagements und Controllings dienen wird. Diese positiven Erfahrungen trugen dazu bei, dass auch zukünftige Projekte der Stadt Bochum in agilen Umgebungen angegangen werden. AUTOR*INNEN 37 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Was bedeutet Resilienz konkret im Kontext Verwaltung? Resilienz 1 digitaler Verwaltungen beschreibt deren Fähigkeit, mögliche Risiken zu identifizieren, einzuschätzen, präventive Maßnahmen zur Vermeidung und zur Verringerung der Auswirkungen einzuleiten. So sind resiliente Verwaltungen in der Lage, auch unbekannte und unerwartete Auswirkungen von Schadenslagen unter der Prämisse des Funktionserhalts und schnellen Wiederherstellung der Leistungsfähigkeit einer Kommunalverwaltung zu begegnen (vgl. Erkenntnisse aus KIC@bw 2022). Resilienz bedeutet aber nicht ausschließlich, den Status Quo wiederherzustellen, sondern die Entwicklung eines prozessbegleitenden dynamischen Rahmens für Verwaltungen. Dieser sollte alle kommunalen Sektoren umfassen, um Krisensituationen zu erfassen und Herausforderungen beziehungsweise Risiken in einen Gesamtkontext einbetten zu können. [2] Somit hört die Planung einer resilienten Verwaltung nicht mit der Erstellung einer Risikoanalyse und lokalen Baumaßnahmen und -Anpassungen auf. Vielmehr ist es ein fortlaufender Prozess, um aus vergangenen Krisen die richtigen Schlüsse zu ziehen und die betroffenen Strukturen anzupassen mit dem Ziel, für zukünftige Krisenereignisse den Widerstand im urbanen Raum zu erhöhen. [3] Doch wo ist der Anfang bei einem solch ganzheitlichen, allumfassenden Prozess? Im Folgenden wird ein erster Überblick zum Thema resiliente Verwaltung gegeben und an Beispielen aus der kommunalen Praxis aufgezeigt, wie erste Prozessschritte aussehen können. Bausteine einer resilienten Verwaltung Je nach geo-, sozio- oder topografischer Lage sind Kommunen und deren Verwaltung vor ganz unterschiedliche Herausforderungen gestellt. Wie setzt sich die Bevölkerung zusammen? Geht eine Gefahr von möglichen Naturkatastrophen aus? Wie handeln im Krisenfall die betroffenen Akteure? Kommunalverwaltungen agieren innerhalb des Digitalisierung und Resilienz Welche Potenziale ergeben sich hier für öffentliche Verwaltungen in Deutschland? Urbane Transformation, Klimawandel, Digitalisierung, Resilienz, Krisenkommunikation Rebecca Nell, Fatma Cetin, Ruben Renz Um in einer Krise weiterhin als leistungsfähiges soziales System zu agieren, wird ein gewisses Maß an Resilienz benötigt. Anhand zweier Beispiele verdeutlicht der Artikel, wie die Themen Resilienz, Digitalisierung und öffentliche Verwaltung zusammenhängen. Die Erkenntnisse stützen sich auf Forschungsergebnisse aus SMARTilience, dem Kommunalen InnovationsCenter (KIC@bw) und der Begleitforschung Digitale Zukunftskommune@ bw (DZK@bw). © Annie Spratt on unsplash 1 Gunderson und Holling [1] definieren Resilienz als die Fähigkeit eines Systems, Schocks oder Störungen zu absorbieren, bevor Strukturen oder Prozesse sich ändern, die das Verhalten des Systems steuern, das heißt bevor es kollabiert. 38 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Beziehungsdreiecks „Kommunalverwaltung - Kommunalpolitik - Zivilgesellschaft“ und dabei verfolgt jede*r Akteur*in eigene Ziele und Interessen, die durch institutionelle Regeln bestimmt sind, wodurch Entscheidungen und Handlungen mitbestimmt werden [6]. Im Kontext Resilienz ist es für eine Kommunalverwaltung mit ihren Mitarbeitenden notwendig, folgende Bausteine anzunehmen, um für Krisen und Risiken „gewappnet zu sein“ [7]: Kontinuierliche Weiterbildung, offene Arbeitskultur, Überwindung von Silodenken, digitalisierte Prozesse und erfolgreiche Führung. Es zeigt sich, dass eine resiliente Verwaltung aus verschiedenen Bausteinen bestehen kann und dass Kommunikation in allen genannten Arbeitsbereichen eine zentrale Rolle spielt. Hinzu kommt die immense Bedeutung, die Kommunikation bei der Bewältigung einer Schadenslage einnimmt. Beispielsweise wird die Bevölkerung gewarnt, Spontanhelfende können koordiniert und auch im Vorfeld einer Krise kann für Risiken sensibilisiert werden. Je nach Akteur werden bereichsspezifische Handlungslogiken verfolgt [8]. Bausteine: Digitalisierung und (Krisen-)Kommunikation Ebenso wie Resilienz verlangt Digitalisierung eine neue Art der Zusammenarbeit. Für einen solchen Kulturwandel ist transparente Kommunikation ein wesentliches Werkzeug - um den Wissens- und Praxistransfer zu gewährleisten, Akzeptanz, Vertrauen und Motivation innerhalb der eigenen Organisation zu schaffen, aber auch gegenüber den Bürger*innen, die die angebotenen digitalen Services der Kommunen nutzen werden [9]. Schließlich haben sich Kommunikationsformen, aber auch das Informations- und Nutzungsverhalten Krisenkommunikation beschreibt die Kommunikation während einer Krise mit dem Ziel, durch Informations- und Meinungsaustausch den Schaden von Schutzgütern (zum Beispiel Gesundheit der Bevölkerung) zu verhindern oder einzugrenzen [4]. Somit befasst sie sich, im Gegensatz zur Risikokommunikation, mit einem speziellen, bereits eingetretenen Ereignis. Krisenkommunikation ist dem Krisenmanagement zuzuordnen [5]. KRISENKOMMUNIKATION Bild 1: Ausschnitt HAP, Kommunikationskaskaden. © Mannheim, 2021 39 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte der Bevölkerung stark verändert [10]. Viele Menschen verspüren ein Aufklärungsbedürfnis seitens politischer und kommunaler Akteure, teilweise fordern Bürger*innen mehr Teilhabe und nehmen an diversen Partizipationsvorhaben ihrer Städte teil. Öffentliche Verwaltungen haben in diesem Kontext die Aufgabe, entsprechende (digitale) Kanäle zur schnellstmöglichen Information und Beteiligung zu entwickeln und zu nutzen [11]. Daher bieten solche Plattformen, wie auch der Einsatz sozialer Medien als digitales Kommunikationsmedium, eine große Chance für Behörden. Folglich sollten kontinuierlich beteiligte oder betroffene Akteure innerhalb und außerhalb einer öffentlichen Verwaltung über Fortschritte, Meilensteine oder Projekte informiert und auf dem aktuellen Stand gehalten werden [9]. Dies gilt insbesondere vor, nach und während einer Krise. Beispiel I für Digitalisierung und Resilienz: Hitzeaktionsplan Mannheim Hintergrund: Die Folgen des Klimawandels sind auch in Mannheim zunehmend spürbar. Um dem Leitbild 2030, sowie dem Klimafolgenanpassungskonzept der Stadt zu entsprechen, ist in Mannheim im Rahmen des Forschungsprojektes SMARTilience ein Hitzeaktionsplan (HAP) entstanden. Durch konkrete Maßnahmen des HAPs (Bild 1) soll die Bevölkerung und hier vor allem hitzevulnerable, hilflose Gruppen vor negativen hitzebedingten Einflüssen sowohl präventiv als auch aktiv vor und während Hitzeereignissen geschützt werden [12]). Rolle der Verwaltung: Innerhalb des Beziehungsdreiecks Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft ist mit Unterstützung der Wissenschaft und von Unternehmen der Hitzeaktionsplan in Mannheim entstanden. Konkret wurde zur Erstellung eine fachbereichs- und ämterübergreifende Projektbegleitgruppe mit Vertreter*innen der Verwaltung und Politik innerhalb der Stadt Mannheim gegründet und ein breiter Beteiligungsprozess mit Bürger*innen, Multiplikator*innen und Expert*innen angestoßen. Zudem werden institutionelle Komponenten aufgeführt (zum Beispiel: Steuerungskreis), die eine Umsetzung des HAPs unterstützen und dessen Monitoring sowie Verstetigung garantieren sollen [12]). Bezug zu Resilienz und Digitalisierung: Die Maßnahmen des HAPs sollen dazu beitragen, die Bevölkerung sowie auch Verwaltungsmitarbeitende für das Thema Hitze zu sensibilisieren, um damit auch zu einer Steigerung der Resilienz beizutragen. Beispielweise soll die Website der Stadt als Informationsknotenpunkt zum Thema Hitze aufgeführt und durch eine Hitze-App für Mannheim erweitert werden. Neben den digitalisierten Informationen werden auch analoge und persönliche Beratungs- und Informationsformen, wie zum Beispiel Informationsblätter, miteinbezogen [12]. Folglich wird auch Resilienz im Bereich Kommunikation erreicht, indem sowohl digitale wie auch analoge Formen berücksichtigt werden. Beispiel II für Digitalisierung und Resilienz - Digitales Kochbuch Hintergrund: Das „Digital Cook Book“ oder Digitale Kochbuch ist ein praxisnaher Handlungsleitfaden für Verwaltungen zur Erstellung kommunaler Digitalisierungsstrategien. Dieses interaktive Werkzeug basiert auf den Erkenntnissen der DZK@bw (Bild 2) [9]. Das Digital Cook Book enthält Ideen und schlägt innovative Herangehensweisen und digitale Lösungen vor, um den Strategieprozess zu unterstützen. Rolle der Verwaltung: Zuständige Mitarbeitende und Führungskräfte können sich am Leitfaden bedienen und Informationen sowie Methoden für ihre kommunale Strategieentwicklung nutzen [9]. Bezug zu Resilienz und Digitalisierung: Der Handlungsleitfaden bietet Kommunen einen Orientierungsrahmen für Transformationsprozesse. Digitalisierungsstrategie Anrichten Nach dem Strategieprozess Kochen Im Strategieprozess Vorbereitung Vor Projektbeginn Was wollen wir kochen? Der Basischeck Die Digitalisierung oder digitale Transformation einer Verwaltung ist als tiefgreifende, ganzheitliche und fortlaufende Veränderung zu verstehen, welche Kultur, Strukturen und Prozesse des gesamten Organisationssystems erfasst [13]. Dabei steht nicht die Optimierung von Bestehendem im Zentrum, sondern eine organisatorische Innovation mit neuartigen (sozialen) Spielregeln [14]. In diesem Sinne wirkt sich Digitalisierung auf alle Lebensbereiche aus, wie zum Beispiel die kommunale Daseinsvorsorge, soziale Teilhabe oder Stärkung der Chancengleichheit. Aber auch Themenfelder wie der Schutz der Privatsphäre des Einzelnen oder die Sicherstellung der Einhaltung von Grundrechten gehören dazu [15]. DIGITALE TRANSFORMATION Bild 2: Kernelemente des Digitalen Kochbuchs. © Cetin et al., 2021 40 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte So können Verwaltungen nach einer ersten Einschätzung (Fragebogen zum Selbsttest) herauszufinden, wie gut ihre Verwaltung hinsichtlich der Digitalisierung aufgestellt ist und wie sie Veränderungsprozesse, wie beispielsweise die Entwicklung hin zu einer resilienten Verwaltung, weiter vorantreiben können. Daraus können spezifische Handlungsfelder für den Bereich Resilienz oder Bevölkerungsschutz definiert und konkrete digitale Maßnahmen für den Zivilschutz abgeleitet werden, wie zum Beispiel die Implementierung einer Plattform für Krisenkommunikation. Ausblick Eine urbane Transformation ist unabhängig von Krisenzeiten. Aber insbesondere in solchen Phasen ist sie notwendig, damit Verwaltungsmitarbeitende zum einen schnell mit der Bevölkerung kommunizieren können, und damit sie zum anderen auch selbst handlungsfähig bleiben. Extremsituationen können für Digitalisierungsvorhaben als Katalysator wirken. Kommunalverwaltungen können binnen kurzer Zeit Krisenstäbe oder Task Forces implementieren oder schaffen digitale Strukturen für mobiles Arbeiten, um weiterhin als Organisation einsatzfähig zu bleiben [16]. So bringt es schließlich Vorteile, digitale Werkzeuge und Leistungen vor einer Krise aufzubauen, um diese noch schneller und bedarfsgerechter für Bürger*innen einzusetzen. Die (subjektiven) positiven Folgen der Nutzung von Sozialen Medien als Kommunikationstool können zum Beispiel Inklusion, Nähe, zunehmende Accountability, Transparenz sowie Vertrauensgewinn seitens der Bürger*innen sein [17]. Aus eingetretenen Krisen lernen resiliente Verwaltungen, sich besser auf zukünftige Ereignisse einzustellen. Dies umfasst eine technologische und kulturelle Anpassungsfähigkeit aller Akteure. Digitale Technologien können neben der Kommunikation auch zur Identifikation von Risiken und zur Projektion möglicher Auswirkungen herangezogen werden. Resiliente digitale Verwaltungen wissen um die Vorteile digitaler Prozesse und Lösungen, aber auch um deren Abhängigkeit von funktionierender Infrastruktur und sind in der Lage die Risiken präventiv zu steuern (vgl. KIC@bw 2022). Projekte wie SMAR- Tilience, KIC@bw oder DZK@bw unterstützen Kommunalverwaltungen auch während einer Krise zügig mit innovativen Lösungen, Weiterbildungsangeboten, aber geben auch Impulse für interkommunale Zusammenarbeit deutschlandweit. Die genannten Projekte sowie auch aktuelle Krisen, wie die COVID 19-Pandemie oder das Hochwasser in Ahrweiler, verdeutlichen die Notwendigkeit resilienter Verwaltungen, die die Digitalisierung und die Anwendung neuer Technologien zum Schutz der Bevölkerung einsetzen. Solche Forschungsprojekte unterstützen diverse städtische Akteur*innen akute Herausforderungen proaktiv anzugehen, als auch bei der Identifikation der Möglichkeiten und Potenziale digitaler Lösungen in Krisenzeiten, die im Rahmen von Reallaboren, Planspielen oder sonstigen Experimentierräumen getestet werden können LITERATUR [1] Holling, C., Gunderson, L.: Resilience and Adaptive Cycles. In: Holling, C., Gunderson, L. (Hrsg.): Panarchy. Understanding Transformations in Human and Natural Systems. Washington, Covelo, London, 2002. [2] Kegler, H., Hahne, U., Arnd, M.: Resilienz. Strategien & Perspektiven für die widerstandsfähige und lernende Stadt. Gütersloh: Bauverlag; Basel: Birkhäuser, 2014. [3] Jakubowski, P.: Resilienz - eine zusätzliche Denkfigur für gute Stadtentwicklung. In: BBSR im BBR (Hrsg.): Resilienz Heft 4 (2013). Bonn: BBSR. Verfügbar unter: https: / / w w w.bbsr.bund.de/ BBSR / DE/ veroeffentlichungen/ izr/ 2013/ 4/ Inhalt/ DL _ Jakubowski.pdf; jse ssionid=36BC573CE5DA 3907286BFB12CF4 4301B. live21303? _ _blob=publicationFile&v=1 [4] BBK: Bevölkerungsschutz - Psychosoziales Krisenmanagement, 2017. Verfügbar unter: https: / / w w w.bbk .bund.de/ SharedDoc s/ Downloads/ DE / Mediathek / Publik ationen / B SM AG / bsmag _17_1. pdf ? _ _blob=publicationFile&v=4, zugegriffen am 07.04.2022. [5] Höbel, P., Hofmann, T.: Krisenkommunikation. 2., völlig überarbeitete Auflage. Konstanz, München: UVK Verlagsgesellschaft, 2013. [6] Bertelsmannstiftung: Gemeinsam durchstarten - Pilotprojekte mit Kommunen erfolgreich verbreiten, 2014. Verfügbar unter: https: / / www.bertelsmannstiftung.de/ fileadmin/ files/ BSt/ Publikationen/ GrauePublikationen/ GP_Gemeinsam_durchstarten.pdf, zugegriffen am 07.04.2022. [7] Sopra Steria, F.A.Z.-Institut: Resilienz-Studie: Unternehmen reagieren oft nur auf Krisen, statt wirklich aus ihnen zu lernen, 2021. [8] Broer, I., Hasebrink, U., Lampert, C., Schröder, H.-D., Wagner, H.-U., unter Mitarbeit von Endreß, C.: Kommunikation in Krisen, 2021. Verfügbar unter: https: / / w w w. s s o ar.info/ s s o ar/ bit s tream / handle / do c u ment/ 74139/ ssoar-2021-broer_et_al-Kommunikation_in_Krisen.pdf ? sequence=6&isAllowed=y&lnkna me=ssoar-2021-broer_et_al-Kommunikation_in_Krisen.pdf, zugegriffen am 07.04.2022 [9] Cetin, F., Feldwieser, M., Braun, S., Narr, R., Polst, S.: Abschlussbericht für die Begleitforschung zum Landeswettbewerb „Digitale Zukunftskommune@bw“, 2021. Bauer, W., Riedel, O. (Hrsg.); Stuttgart: Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Verfügbar unter: https: / / publica.fraunhofer.de/ eprints/ urn_nbn_de_0011-n-6362539.pdf, zugegriffen am 07.04.2022. [10] Karutz, H., Geier, W., Mitschke, T.: Bevölkerungsschutz: Notfallvorsorge und Krisenmanagement in Theorie und Praxis. Berlin, Heidelberg, 2017: Springer. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-662-44635-5_1 41 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte [11] Janßen, F.: Lokale Demokratie im Zeitalter der Digitalisierung. Entgrenzte Beteiligung? In: DEMO Impulse 67, November 2015 (02). [12] Mannheim 2021: Hitzeaktionsplan. Verfügbar unter: https: / / buergerinfo.mannheim.de/ buergerinfo/ getfile.asp? id=8162889&%3Btype=do, zugegriffen am 15.02.2022. [13] Groß, M., Krellmann, A.: KGSt ® - Denkanstöße zur Digitalen Kommune Nr. 1: Das Ökosystem der Digitalisierung. Köln: KGSt ® , 2017. [14] Schuppan, T.: Internationale Entwicklungen digitaler Verwaltungstransformation, in: Veit, S., Reichard, C., Wewer, G. (Hrsg.): Handbuch zur Verwaltungsreform, 5. Aufl., Wiesbaden: Springer VS, 2019. [15] Hornbostel, L., Nerger, M., Wittpahl, V., Handschuh, A., Salden, J.: Zukunftsradar Digitale Kommune. Ergebnisbericht zur Umfrage 2018, Berlin. [16] Braun, S., Wendt, W., Sebald, C.: Good Practices kommunaler digitaler Anwendungen für Baden-Württemberg in der Corona-Krise. Bauer, W., Riedel, O. (Hrsg.), Stuttgart, 2020: Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO. Verfügbar unter: https: / / www.iao.fraunhofer.de/ images/ iaonews/ good-practices-kommunaler-digitaler-Anwendungen.pdf, zugegriffen am 07.04.2022. [17] Schulz, S. (2019): Social Media: Einsatz in der öffentlichen Verwaltung. In: Veit, S., Reichard, C., Wewer, G. (Hrsg.): Handbuch zur Verwaltungsreform. Wiesbaden: Springer VS, 2019. Rebecca Nell, M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Urban Data & Resilience Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO Kontakt: rebecca.nell@iao.fraunhofer.de Fatma Cetin, M.A. IAT der Universität Stuttgart Kontakt: fatma.cetin@iat.uni-stuttgart.de Ruben Renz Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO Kontakt: ruben.renz@iao.fraunhofer.de AUTOR*INNEN Spuren finden, Beweise sichern, Indizien analysieren: Denkmale sind wichtige Zeitzeugen der Geschichte. In ihnen lassen sich auch mit wissenschaftlichen Methoden die unterschiedlichsten KulturSpuren entdecken. Kommen Sie mit auf Spurensuche: www.denkmalschutz.de/ kulturspur Helfen Sie mit, Denkmale zu erhalten: denkmalschutz.de/ spenden Foto: Deutsche Stiftung Denkmalschutz/ R. Rossner 42 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Zürich ist eine lebendige, kleine Metropole mit hoher Lebensqualität, wie Bevölkerungsbefragungen und internationale Studien immer wieder aufzeigen. Die hohe Qualität der Infrastruktur - vom Entsorgungsmanagement bis zum öffentlichen Verkehr - ist ein Grund für die gute Bewertung. Für das reibungsfreie Funktionieren der Infrastruktursysteme und ihrer Dienstleistungen sorgt eine Vielzahl von städtischen Mitarbeitenden und ihre Partner mit ihrer täglichen Arbeit. Die Stadt Zürich hat den Anspruch, nicht nur im Alltag einen hohen Dienstleistungsstandard sicherzustellen, sondern auch unter widrigen Umständen, bei Krisen, Katastrophen oder Notlagen, bestmöglich zu funktionieren. Aus diesem Grund aktualisiert die städtische Führungsorganisation in regelmäßigen Abständen ihre Gefährdungs- und Risikoanalyse und führt seit sechs Jahren einen aktiven und interdisziplinären Resilienz-Dialog mit städtischen Akteuren, Vertretern des Kantons und des Bundes. Aktuell erarbeitet die Führungsorganisation zudem eine resilienz-basierte, städtische Vorsorgeplanung für den Fall einer Strommangellage. Dazu später. Was bedeutet Resilienz für eine Stadt? Ein resilientes System ist widerstands- und anpassungsfähig. Eine resiliente Stadt besitzt die Fähigkeit, sich über einen langen Zeitraum auf schadhafte Einwirkungen vorzubereiten, sie abzuwehren, sie zu verkraften und ein Mindestmaß an Funktionalität im Sinn einer Grundversorgung zu gewährleisten, sich möglichst schnell zu erholen und sich ihnen immer erfolgreicher anzupassen. Schadhafte Einwirkungen können durch menschliche, technische sowie natürlich verursachte Ereignisse und Entwicklungen entstehen. Bild 2 illustriert die Resilienz eines Systems als „Resilienzkurve“, die den zeitlichen Verlauf der Funktionalität des Systems vor, während und nach einem Ereignis abbildet. Ein System ist umso resilienter, je geringer die Reduktion der Funktionalität ist und je schneller das ursprüngliche Niveau, auch Soll-Versorgung genannt, wieder erreicht ist. Eine Stadt verfügt über ganz unterschiedliche Funktionalitäten wie beispielsweise die Trinkwasserbereitstellung, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit oder das regelmäßige, fachgerechte Entsorgen von Abfall. Im Rahmen der Resilienz-Analysen galt es für diese unterschiedlichen Funktionalitäten die Soll- und Grundversorgung zu diskutieren und wenn möglich festzulegen. Anschließend setzten sich die Fachpersonen damit auseinander, unter welchen Umständen die Grundversorgung nicht mehr gewährleistet werden könnte und welche Ereignisse dazu führen könnten. Gemeinsam identifizierten die städtischen Mitarbeitenden Schwachstellen und sammelten Maßnahmen, um Zürich (noch) resilienter zu machen. In den vergangen sechs Jahren führten EBP und die Verantwortlichen der Stadt 13 Workshops mit insgesamt rund 50 Fachpersonen durch. Dabei wurden die Bereiche Trinkwasser, Mobilität, öffentliche Sicherheit, Abwasser, Entsorgung, Wärmeversorgung und Behörden analysiert. Ein ganz zentrales „Nebenprodukt“ der Resilienz-Analysen ist die Vernetzung, gefördert durch interdisziplinäre Workshops: Das „4-K-Prinzip“ - in Krisen Köpfe und deren Kompetenzen kennen - ist entscheidend Resilienz als Erfolgsfaktor für Zürich Resilienz, Vorsorgeplanung, urbane Sicherheit Lilian Blaser, Markus Meile Seit 2018 beschäftigt sich die Stadt Zürich mit den Fragen: Wie resilient ist die Stadt? Welche Maßnahmen machen Zürich (noch) resilienter? Fachpersonen der städtischen Verwaltung und stadtnaher Betriebe analysierten in interdisziplinären Workshops die Widerstands- und Anpassungsfähigkeit für sieben unterschiedliche Bereiche wie Trinkwasser, öffentliche Sicherheit oder Entsorgung - heute und in Zukunft. Die Stadt und das Beratungsunternehmen EBP ziehen Bilanz und sind sich einig: Resilienz ist für Zürich ein Erfolgsfaktor. Bild 1: Die Stadt setzt auf Elektrifizierung ihrer Fahrzeugflotte. In puncto Resilienz nicht unproblematisch. © Stadtpolizei Zürich 43 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte für ein resilientes Gemeinwesen. Im Folgenden werden die vier Kernaussagen der Resilienz-Analyse zusammengefasst. 1. Redundanzen und Diversität: wichtig für hohe Resilienz - aber zunehmend gefährdet Redundanzen erhöhen die Resilienz. Redundante (Führungs-)Standorte, entkoppelte Wassernetze oder Wärmeverbünde, Ringschaltungen oder vertraglich vereinbarte Ausweichmöglichkeiten für die Abfallverbrennung erhöhen die Resilienz einer Stadt, da sie flexibel auf Ausfälle reagieren kann. Redundanzen helfen somit einer Stadt, Ereignisse abzuwehren, sie zu verkraften, die Grundversorgung zu gewährleisten und sich möglichst schnell wieder zu erholen. Zentral für das Funktionieren einer Stadt ist beispielsweise eine ausreichende und sichere Energieversorgung. Zürich hat es sich zum Ziel gesetzt, den Energieverbrauch auf 2000 Watt Dauerleistung pro Person zu senken, den CO 2 -Ausstoß bis 2050 auf eine Tonne pro Person und Jahr zu senken und ab 2035 auf Kernenergie zu verzichten. In diesem Kontext setzt die Stadt auf die Elektrifizierung ihrer Fahrzeugflotte, sei dies im öffentlichen Verkehr, bei der Abfallentsorgung oder bei der Polizei. Hinsichtlich der Resilienz ist ein Fokus auf wenige (nachhaltige) Energieträger und die Elektrifizierung der Fahrzeugflotte äußerst problematisch. Bei einem länger andauernden Stromausfall sind zahlreiche „vitale Leistungen“ nicht mehr im erforderlichen Umfang gewährleistet und die Grundversorgung nicht mehr sichergestellt. Zwischen ökologischer Nachhaltigkeit oder auch ökonomischen Effizienzüberlegungen und dem Aspekt der Resilienz kann es somit zu Zielkonflikten kommen. Diese gilt es in den (politischen) Entscheidungsprozess einzubeziehen. Die Resilienz einer Stadt wie Zürich hochzuhalten oder gar zu erhöhen, erfordert politischen Willen. Das Aufrechterhalten dezentraler Strukturen (beispielsweise mehrerer Entsorgungslogistik-Standorte) oder das Investieren in redundante Infrastruktur (zum Beispiel: Ringleitungen im Wärmenetz) ist im Vergleich zu zentralisierten, nicht redundanten Lösungen mit höheren Investitionsund/ oder Betriebskosten verbunden. Solche Redundanzen tragen aber maßgeblich zur hohen Resilienz der Stadt bei und sind wertvoll - insbesondere bei Katastrophen und Notlagen. 2. Strom ist Zürichs Achillesferse Die Erkenntnis, dass ohne Strom das (urbane) Leben stillstünde, ist nicht neu. Ob Risikoanalyse, Verbundsübungen 1 oder Resilienzanalyse: Die hohe Abhängigkeit unseres Alltags von Strom zeigt sich immer wieder in aller Deutlichkeit. In allen sieben analysierten Teilbereichen ist ohne Strom nur eine äußerst reduzierte Versorgung möglich - und dies oft nur für beschränkte (kurze) Zeit. So fließt ohne Strom das Wasser in der Stadt Zürich nur noch aus den 87 Notwasserbrunnen (immerhin! ). Ohne Strom funktionieren nur wenige Tankstellen für die Rettungsorganisationen (immerhin! ). Für die Abfallentsorgung fehlen aber beispielsweise die notwendigen Betriebsmittel, Krematorien funktionieren ohne Strom nicht mehr etc. Eine langandauernde 1 In der Schweiz werden regelmäßig sogenannte Sicherheitsverbundsübungen durchgeführt, um die Zusammenarbeit auf Stufe Bund, Kantone und Gemeinden in verschiedenen Szenarien zu üben und weiter zu verbessern. Im Jahr 2019 beschrieb das Szenario eine lang anhaltende terroristische Bedrohung, 2014 beschäftigten sich die Partner des Sicherheitsverbunds Schweiz mit der Kombination einer Grippe-Pandemie und einer Strommangellage. Bild 2: Resilienz als Funktionalität eines Systems über die Zeit. © EBP Schweiz AG 44 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Strommangellage zöge gravierende Auswirkungen nach sich. Obwohl die Abhängigkeit von einer lückenlosen Stromversorgung schon lange bekannt ist und Maßnahmenvorschläge für die Erhöhung der Resilienz vorliegen, wurde die wenigsten bislang umgesetzt. So gilt es beispielsweise noch kritische Infrastrukturen mit Notstromaggregaten auszurüsten, Einsatz- und Lade-Konzepte elektrifizierter Fahrzeuge (Blaulicht, Entsorgung, öffentlicher Verkehr etc.) festzulegen oder beispielsweise ein Meldeläufer-System zu erstellen, damit die Kommunikation zwischen den wichtigsten Akteuren bei einem Stromausfall sichergestellt werden kann. Die Situation hat sich in Europa, insbesondere aber auch in der Schweiz, im letzten Jahr verschärft. Gründe sind die schlechten Beziehungen zu Russland und der Abbruch der bilateralen Verhandlungen zum Stromabkommen zwischen der EU und der Schweiz im Sommer 2021. Für eine resiliente Stadt Zürich ist es essenziell, die identifizierten Maßnahmen jetzt umzusetzen. 3. Bevölkerung trägt viel zur Resilienz bei Die kleinste Einheit der resilienten Stadt ist die resiliente Bürger*in. Die Covid-19-Pandemie und der Krieg in der Ukraine erhöhten bei einem Teil der Bevölkerung das Bewusstsein für die persönliche Krisen-Vorsorge. Dennoch ist davon auszugehen, dass ein Großteil der Bevölkerung - und insbesondere sehr vulnerable Personen - nur ungenügend auf das (Über-)Leben in einer Katastrophe oder auf eine Notlage vorbereitet wäre. Um eine möglichst resiliente Stadt zu sein, muss Zürich seine Bewohner*innen sensibilisieren, wie sie sich und die Stadt resilienter machen können. Dazu gehört beispielsweise das Wissen, wie man sich in einer Katastrophe oder Notlage verhalten soll, wie die Stadt im Ereignisfall informiert und dass jede*r Einzelne mit einer persönlichen Vorsorgeplanung (Notfallplan, Notvorrat etc.) einen wichtigen Beitrag zur resilienten Stadt leisten kann. In der Schweiz verfügen viele Gemeinden über sogenannte „Notfalltreffpunkte“, Anlaufstellen für die Bevölkerung im Ereignisfall. Die Stadt Zürich selbst hat 41 Notfalltreffpunkte definiert, an die sich die Bevölkerung wenden kann, wenn Hilfe benötigt wird oder um sich im Ereignisfall über die Lage informieren zu können. Die Website www.notfalltreffpunkt.ch gibt einen Überblick über alle Standorte und gibt Hinweise, wie man sich bei einer Evakuierung oder einem Stromausfall verhalten soll. Ein weiteres wichtiges Mittel für die Vorsorge, aber auch im Ereignisfall ist AlertSwiss 2 , eine App des Schweizer Bundesamts für Bevölkerungsschutz mit Informationen zur Vorsorge und zu möglichen Schadensereignissen. Eine resiliente Gesellschaft sollte diese Informationskanäle und deren Inhalte kennen, bevor ein Ereignis eintritt. 4. Resilienz ist für Zürich ein Erfolgsfaktor Um künftig bei Katastrophen oder Notlagen handlungsfähig zu bleiben und eine möglichst hohe Lebensqualität auch unter widrigen Umständen sicherzustellen, muss die Stadt Zürich ihre Resilienz als zentralen Erfolgsfaktor sehen. Eine wichtige Grundvoraussetzung für die Erhöhung der Resilienz ist die Auseinandersetzung mit der Grundversorgung. In etlichen Bereichen fehlt eine klare Definition für die Grundversorgung oder ein klarer Grundauftrag. Beispielsweise fehlt dieser im Bereich der Wärmeversorgung und im Themenfeld der Mobilität. Ohne Aussagen zur Erwartung an die Grundversorgung lässt sich auch keine Aussage zur Resilienz der Stadt treffen. Für einen bewussten Umgang mit der Resilienz muss die Politik ihre Erwartungen an die Grundversorgung formulieren - aber auch die Restrisiken bewusst tragen. Die bewusste Auseinandersetzung mit der Grundversorgung im interdisziplinären Fachaustausch war erkenntnisreich. Insgesamt identifizierten die Fachpersonen in Workshops 91 Massnahmenvorschläge, um die Stadt resilienter zu machen. Ganz zentrale Massnahmen sind: Business Continuity Management in allen Dienstabteilungen einführen Zürichs Resilienz systematisch und regelmäßig überprüfen; dabei gilt es, mögliche Trends und Entwicklungen zu antizipieren und ein Controlling der resilienz-steigernden Maßnahmen im Rahmen eines kontinuierlichen Resilienz-Managements durchzuführen. regelmäßige, interdisziplinäre Übungen durchführen, um insbesondere auch die Schnittstellen zu Schlüsselakteuren zu prüfen und optimieren. 2 www.alert.swiss Bild 3: Die Elektro-Busse Zürichs sind auf eine sichere Stromversorgung angewiesen. © Stadt Zürich 45 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Die städtische Verwaltung als resiliente Organisation Eine resiliente Stadt muss zwingend ihre Führungsfähigkeit in Katastrophen und Notlagen sicherstellen. Dazu braucht es eine robuste und gleichzeitig flexible Organisationsstruktur, etablierte Prozesse innerhalb der Organisation und mit den Schlüsselakteuren, ausreichende personelle und materielle Ressourcen sowie geeignete Infrastrukturen. Zürich reflektiert seine Führungsfähigkeit „in besonderen und außerordentlichen Lagen“ regelmäßig, aktuell basierend auf den Erfahrungen der Covid- 19-Pandemiebewältigung und den Herausforderungen durch den großen Andrang Schutzsuchender aus der Ukraine. Zudem finden regelmäßig Schulungen für Schlüsselakteure und deren Partner statt. Die Stadt hat bei der kritischen Überprüfung ihrer Führungsfähigkeit Verbesserungspotenzial identifiziert und wird in einem nächsten Schritt die Infrastruktur des städtischen Führungsorganisation und der Exekutive grundlegend modernisieren. Ganz wichtig dabei: Die Führungsorganisation und die Exekutive müssen auch bei einem (langandauernden) Stromausfall funktionieren. Resilienz ist eine Daueraufgabe: Fokus auf Strommangel als nächster Schritt. Die „Organisation für Stromversorgung in außerordentlichen Lagen (OSTRAL)“ forderte im Herbst 2021 alle Schweizer Strom-Großverbraucher auf, sich auf eine mögliche Strommangellage vorzubereiten. Auch mehrere städtische und stadtnahe Betriebe der Stadt Zürich gehören zu diesen Großverbrauchern und waren aufgefordert, sich Gedanken zu möglichen Priorisierungen und Verzichtsplanungen zu machen. Die städtische Führungsorganisation hat mit Unterstützung durch EBP daher nun einen Prozess initiiert, um 2022 eine stadtübergreifende Priorisierung stromabhängiger, „vitaler Leistungen“ planen zu können und so die Grundversorgung der Stadt auch im Fall einer Strommangellage bestmöglich sicherzustellen. Dazu sind die Optionen zu prüfen, die Zürich hat, um den Stromverbrauch mit Verbrauchseinschränkungen oder einer Kontingentierung zu verringern und das Einsparpotenzial abzuschätzen. Im Zentrum des Projekts steht die Entwicklung von Strategievarianten, die beispielsweise durch den Verzicht gewisser Leistungen im Freizeitbereich so viel Strom einsparen, dass der umfassende Betrieb in anderen Bereichen, zum Beispiel in Krankenhäusern, gewährleistet ist. Resilienz ist eine Daueraufgabe. Zürich führt diese im Rahmen des kontinuierlichen Resilienz-Management-Prozesses auch nach 2022 weiter. So ist geplant, die Resilienz der Bereiche Gesundheit, Information und Kommunikation im Jahr 2023 zu analysieren und anschließend eine umfassende Defizit- und Maßnahmenüberprüfung durchzuführen. Fazit Wir sind überzeugt: Die vertiefte Auseinandersetzung mit der Resilienz und der Anspruch, mit unterschiedlichen, auch bereichsübergreifenden Maßnahmen noch resilienter zu werden, ist ein zentraler Erfolgsfaktor für die Stadt Zürich. Diese Erkenntnis ist in der städtischen Verwaltung mittlerweile stark verankert. Dies zeigt sich auch an der hohen Bereitschaft einer Vielzahl von städtischen Mitarbeitenden vom Werkhofleitenden bis zum Top-Management, an den Resilienz-Workshops teilzunehmen. Das dadurch entstehende Netzwerk ist gerade in Krisen und Katastrophen unersetzlich. Auch der regelmäßige Einbezug der politischen Verantwortungsträger ist zentral. Denn sie sind es, die im Spannungsfeld von betriebswirtschaftlichen, ökologischen und Resilienz-Überlegungen priorisieren müssen. Die (fehlende) Diskussion der Auswirkungen der Elektrifizierung der städtischen Fahrzeugflotte zeigt, dass der Aspekt der Resilienz noch zu wenig in der Politik verankert ist. Dr. Lilian Blaser Leiterin Organisations- und Prozessentwicklung EBP Schweiz AG, Zürich Kontakt: lilian.blaser@ebp.ch Markus Meile Stabschef der städtischen Führungsorganisation Sicherheitsdepartement der Stadt Zürich Kontakt: markus.meile@zuerich.ch AUTOR*INNEN Bild 4: Was gehört zur Grundversorgung der Stadt Zürich? © EBP Schweiz AG 46 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Maßnahmen für eine klimaresiliente Entwicklung werden durch die Vereinten Nationen als dringender bewertet als bisher [1]. Zudem wurde die Notwendigkeit, neben dem Klimaschutz auch Anpassungsmaßnahmen zu verstärken, auf der 26.-Vertragsstaatenkonferenz unterstrichen und die Vertragsparteien wurden aufgefordert, Anpassung stärker in die lokale, nationale und regionale Planung zu integrieren [2]. In Deutschland übernehmen die Kommunen eine zentrale Rolle bei Klimaschutz und -anpassung. Sie berichten von einer über die vergangenen Jahre deutlich gestiegenen Betroffenheit durch Folgen des Klimawandels [3] und schätzen diese für die nahe Zukunft deutlich höher ein, als sie in der Vergangenheit war [4, 5]. Aktuelle Untersuchungen legen nahe, dass kommunale Verwaltungen neben dem Klimaschutz auch der Anpassung an Klimawandelfolgen einen hohen Stellenwert zuweisen [6]. Dennoch ist ein geradliniger Pfad zur Umsetzung effektiver Maßnahmen nicht anzunehmen, da die Integration der Klimaanpassung in das Verwaltungshandeln eine tiefgehende Veränderung der Arbeitsstrukturen, Aufgaben und Kompetenzen erfordert [7]. Die bundesweite Umfrage zur Wirkung der deutschen Anpassungsstrategie aus dem Jahr 2018 zeigt, dass immer mehr Kommunen sich in der Klimaanpassung engagieren, insbesondere, wenn sie selbst von Extremwetterereignissen betroffen waren und Führungskräfte innerhalb der Verwaltung und Politik von der Notwendigkeit des Handelns überzeugt sind. Jedoch bestehen spezifische Weiterbildungsbedarfe, unter anderem für die breite Etablierung von Klimawandelthemen in Verwaltungen und in der Stadtentwicklung sowie zur integrierten Planung und Umsetzung [8]. Im Rahmen des BMBF-geförderten Verbundforschungsprojektes HeatResilientCity II (http: / / heatresilientcity.de/ ) fanden Befragungen in den Stadtverwaltungen Dresden und Erfurt zu den Themen Klimaschutz, -anpassung und Weiterbildungsbedarfe im Kontext Anpassung an Hitze statt. Die Erhebung ergänzt bisherige, meist breit angelegte Untersuchungen auf kommunaler Ebene [3, 5, 6, 9, 10] um eine detaillierte Situationsbeschreibung in den beiden Städten. Methoden und Ergebnisse der Untersuchung werden hier dargestellt sowie Erfordernisse für eine gelingende Integration der Klimaanpassung in das Verwaltungshandeln diskutiert. Methode In den Städten Dresden und Erfurt wurden im zweiten Halbjahr 2021 Online-Befragungen der Mitarbeiter*innen aller Verwaltungseinheiten und -ebenen zu den Themen Klimaschutz und Klimaanpassung durchgeführt. Insgesamt haben daran 901 Mitarbeiter*innen in Dresden (12 %) und Klimaschutz und -anpassung in Stadtverwaltungen Bedeutung im Verwaltungshandeln und Weiterbildungsbedarfe am Beispiel Dresden und Erfurt Hitzeanpassung, Klimawandel, Klimawissen, Kommunalverwaltung, Weiterbildung Janneke Westermann, Heidi Sinning, Renate Hermann, Alfred Olfert, Guido Spohr, Franziska Reinfried Für klimaresiliente Städte sind das Wissen der Mitarbeiter*innen in Stadtverwaltungen und der kommunalpolitische Stellenwert des Klimaschutzes und der -anpassung bedeutsam. Wie gut fühlen sich die Mitarbeiter*innen in Erfurt und Dresden zu Themen des Klimawandels sowie seinen Auswirkungen informiert? Welche Rolle spielen die Folgen des Klimawandels bei ihrer Tätigkeit und wie stark werden aus Sicht der Verwaltungen Klimaschutz und -anpassung in ihrem Handeln berücksichtigt? Diese Fragen erörtert der Beitrag und stellt Weiterbildungsbedarfe, die zu einer stärkeren Berücksichtigung des Themas im Verwaltungshandeln führen sollen, am Beispiel Hitzeanpassung dar. 47 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte 309-Mitarbeiter*innen in Erfurt (9 %) teilgenommen (auswertbare Fragebögen). Die Befragungen basieren auf einem standardisierten Fragebogen mit 22 teils komplexen und mehrteiligen Fragen zu den Themenbereichen Bedeutung der Klimawandelfolgen und der -anpassung im Verwaltungshandeln, kommunale Instrumente und Maßnahmen zur Hitzevorsorge, Verständnis von Aufgaben und Rollen, Weiterbildungsbedarfe sowie allgemeine Informationen. Ergänzend wurden weitere kommunale Umfragen und Publikationen zum Thema recherchiert und ausgewertet. Ergebnisse Über den Klimawandel und dessen Folgen fühlen sich 38 bzw. 34 % der Befragten in der Stadtverwaltung Dresden bzw. Erfurt gut bis eher gut informiert (Bild 1a). Rund die Hälfte der befragten Beschäftigten fühlt sich eher schlecht oder schlecht informiert (DD: 49 %; EF: 51 %). Die größten Anteile der gut bis eher gut Informierten finden sich in Dresden in den Geschäftsbereichen Umwelt und Kommunalwirtschaft (71 %) und Oberbürgermeister (52 %). In Erfurt arbeiten sie in den Dezernaten Sicherheit und Umwelt (46 %), Bau, Verkehr und Sport (41 %) sowie im Dezernat des Oberbürgermeisters (40 %). In der Befragung wird die Rolle ausgewählter Folgen des Klimawandels in der Tätigkeit bei der Stadtverwaltung thematisiert (Bild 1b). Folgen für die menschliche Gesundheit (DD: 66 %; EF: 65 %) sowie für Bildung und Wirtschaft (DD und EF: 59 %) werden dabei als bedeutend oder eher bedeutend für die eigene Tätigkeit benannt. Nur rund ein Drittel der Befragten (DD: 33 %; EF: 30 %) empfindet die Folgen für das Stadtgrün als bedeutend bzw. eher bedeutend in ihrer Verwaltungstätigkeit. In Dresden nehmen über alle Geschäftsbereiche hinweg etwa 60 % der befragten Beschäftigten das Thema Klimawandelfolgen als bedeutend bis eher bedeutend für das Verwaltungshandeln wahr. In Erfurt spielt dieses Thema in den Dezernaten Kultur und Stadtentwicklung sowie im Dezernat Oberbürgermeister für etwa 60 % der Befragten eine bedeutende bis eher bedeutende Rolle. Die anderen Dezernate messen den verschiedenen Klimawandelfolgen mit 45 % bis 50 % eine etwas weniger bedeutende Rolle zu. Tendenziell schätzen Beschäftigte in Führungsposition die Bedeutung der Klimaanpassung etwas höher ein als Angestellte ohne Führungsposition. Nur vergleichsweise wenige Mitarbeiter*innen, die sich selbst als eher schlecht bis schlecht über den Klimawandel informiert einstufen, signalisieren ein explizites Interesse an weiteren Informationen zu diesem Thema (DD: 3 %; EF: 5 %). Die Einschätzungen der Befragten hinsichtlich der Berücksichtigung von Klimaschutz und Klimaanpassung im Verwaltungshandeln zeigen ein stark abweichendes Bild. Nur 15 bzw. 13 % der Befragten in Dresden bzw. Erfurt sind der Meinung, dass der Klimaschutz stark oder eher stark berücksichtigt wird. Mit Bezug auf die Klimaanpassung sind es 12 bzw. 15 % (Bild 1c). Rund 70 % der befragten Mitarbeiter*innen sind der Ansicht, dass der Klimaschutz (DD und EF: 71 %) bzw. die Klimaanpassung (DD: 73 %; EF: 70 %) im Verwaltungshandeln eher schwach oder gar nicht berücksichtigt werden. Die meiste Berücksichtigung (stark bis eher stark) sieht in Dresden der Geschäftsbereich Umwelt und Kommunalwirtschaft, allerdings mit unter einem Viertel der Befragten (22 %). Bei allen anderen Bereichen rangiert diese Einschätzung deutlich unter 20 % bis unter 5 %. In Erfurt sieht das Dezernat für Kultur und Stadtentwicklung die meiste Berücksichtigung der Klimawandelfolgen (27 %), das Dezernat Sicherheit und Umwelt liegt bei 20 %. Bei nahezu allen anderen Dezernaten rangiert diese Einschätzung zwischen 20 % und 10 %. Etwa ein Drittel der Antwortenden meldet grundsätzlich Bedarf an einer Qualifikation zu diesem komplexen Thema an. Viele der befragten Mitarbeiter*innen haben zudem die Möglichkeit genutzt, explizite Weiterbildungsbedarfe zu benennen, die sie in der Verwaltungstätigkeit unterstützen würden. Dabei werden Tages- (DD: - 42 %; EF: -53 %) sowie Halbtagesveranstaltungen (DD: 41 %; EF: - 48 %) in Präsenz mit Beispielen für Lösungen und Prozesse klar bevorzugt. In Dresden wurden von 164- Mitarbeiter*innen insgesamt 309 Themen benannt. Besonders großer Unterstützungsbedarf (43 %) besteht demnach hinsichtlich a) konkreter Beispiele und Lösungsansätze für ein besseres Verwaltungshandeln, b) Kommunikation, verwaltungsintern sowie zu Bürger*innen und Politik, c) Informationen zu konkreten Auswirkungen des Klimawandels, zum Beispiel auf die menschliche Gesundheit, d)- klimaangepasster Bau und Umbau von Gebäuden, e)- klimaangepasste Pflanzenwahl und Gebäudebegrünung oder f) hitzeangepasste Gestaltung des Arbeitsplatzes. In Erfurt besteht Weiterbildungsbedarf (102 Vorschläge von 60 Mitarbeiter*innen) vor allem zu konkreten und umsetzungsorientierten Projekten und Maßnahmen (28 %). Darunter fallen neben allgemeinen Projekten und Maßnahmen, wie Best-Practice-Beispielen, auch Maßnahmen am Arbeitsplatz (zum Beispiel hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit), bautechnische Maßnahmen an Gebäuden, Beispiele zum Prozess- und Projektmanagement sowie zu multifunktionalen Stadträumen. 48 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Der mögliche individuelle Beitrag des Einzelnen spielt dabei immer wieder eine zentrale Rolle (DD und EF). In beiden Städten wurden bereits zahlreiche Wissens- und Planungsgrundlagen für den Umgang mit Klimawandel(-anpassung) und Hitze erarbeitet. So existieren in Dresden beispielsweise eine Klimafunktionskarte, eine Planungshinweiskarte, ein Integriertes Energie- und Klimaschutzkonzept und ein regionales Klimainformationssystem. In Erfurt gibt es unter anderem ein Stadtklimakonzept, einen Maßnahmenkatalog zur Anpassung an den Klimawandel, die Bürgerbefragung „Grünes Erfurt“ und ein Hitzeportal. Diese umfangreichen Wissens- und Planungsgrundlagen werden jedoch nur von sehr wenigen befragten Mitarbeiter*innen genutzt (DD: 5 %; EF: 6 %) und sind der großen Mehrheit (DD: 74 %; EF: 69 %) nicht bekannt. Erfreulicherweise zeigen in Dresden 15 % der Befragten des Geschäftsbereichs Stadtentwicklung, Bau, Verkehr und Liegenschaften sowie 21 % des Bereiches Oberbürgermeister sowie in Erfurt 35 % der Befragten des Dezernates Soziales, Bildung, Jugend und Gesundheit und 32 % des Dezernates Finanzen, Wirtschaft und Digitalisierung Interesse an weiteren Informationen zu den Wissens- und Planungsgrundlagen. Fazit: Erfordernisse für eine gelingende Integration der Klimaanpassung in das Verwaltungshandeln Seit Jahren erfahren die Themen Klimaschutz und Klimaanpassung in der Bevölkerung, der Kommunalpolitik und -verwaltung sowie auf Landes- und Bundesebene einen deutlichen Bedeutungszuwachs [5,- 6,- 10]. Auch die Befragungsergebnisse in Erfurt und Dresden veranschaulichen, dass über alle Bereiche, Positionen und Erfahrungsstufen der Verwaltungen hinweg ein Bewusstsein hierfür ausgeprägt ist. Zudem ist eine deutliche Sensibilisierung für Klimaschutz und -anpassung zu Bild 1: Befragungsergebnisse aus den Stadtverwaltungen Dresden und Erfurt zu den Themen Klimawandel und -folgen sowie Berücksichtigung der Klimaanpassung im Verwaltungshandeln. © IÖR Dresden und ISP der FH Erfurt 2022 31 (10%) 85 (9,4%) 73 (23,6%) 257 (28,5%) 120 (38,8%) 326 (36,2%) 37 (12%) 115 (12,8%) 29 (9,4%) 63 (7,0%) 19 (6,1%) 55 (6,1%) 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Erfurt Dresden A) Wie gut fühlen Sie sich zu Klimawandel und dessen Folgen auf die Stadt Dresden bzw. Erfurt informiert? (DD: n=901; EF: n=309) gut informiert eher gut informiert eher schlecht informiert schlecht informiert gar nicht informiert weiß nicht 214 (26,3%) 64 (22,9%) 132 (16,5%) 37 (13,5%) 282 (35,3%) 74 (27%) 209 (26,6%) 52 (19%) 184 (23,9%) 47 (17,8%) 245 (30,1%) 70 (25,1%) 138 (17,2%) 46 (16,7%) 247 (30,9%) 103 (37,6%) 255 (32,5%) 108 (39,6%) 190 (24,7%) 67 (25,4%) 196 (24,1%) 71 (25,4%) 236 (29,5%) 84 (30,5%) 150 (18,8%) 53 (19,3%) 177 (22,5%) 58 (21,2%) 204 (26,5%) 76 (28,8%) 158 (19,4%) 74 (26,5%) 295 (36,8%) 108 (39,3%) 120 (15,0%) 44 (16,1%) 144 (18,3%) 55 (20,1%) 192 (24,9%) 74 (28%) 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Lokale Klimaveränderungen (DD, n=813) (EF, n=279) Folgen für das Stadtgrün (DD, n=801) (EF, n=275) Folgen für die menschliche Gesundheit (DD, n=799) (EF, n=274) Folgen für Bildung und Wirtscha (DD, n=785) (EF, n=273) Folgen für (kommunale) Gebäude & Infrastrukturen (DD, n=770) (EF, n=264) B) Welche Rolle spielen folgende Klimawandelfolgen in Ihrer Tätigkeit bei der Stadtverwaltung? (Mehrfachnennungen möglich) bedeutende Rolle eher bedeutende Rolle eher unbedeutende Rolle unbedeutende Rolle 9 (3,5%) 15 (2,0%) 30 (11,7%) 77 (10,0%) 157 (61,3%) 484 (63,1%) 21 (8,2%) 79 (10,3%) 39 (15,2%) 112 (14,6%) 0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Erfurt Dresden C) Wie stark wird aus Ihrer Sicht die Anpassung an die Folgen des Klimawandels im Verwaltungshandeln der Stadt Dresden bzw. Erfurt (DD: n=767; EF: n=256) stark eher stark eher schwach gar nicht weiß nicht 49 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte beobachten, die vermutlich auch im Zusammenhang mit den wiederholt auftretenden Extremwetterereignissen in den letzten Jahren, wie zum Beispiel Hochwasser, Hitze- und Dürreperioden, steht. Die Befragungsergebnisse zeigen, dass der geringen Berücksichtigung dieser beiden Themen im allgemeinen Verwaltungshandeln und einem Informationsdefizit ein großes Bedürfnis an besserer verwaltungsinterner Information, Kommunikation und Kooperation gegenübersteht. Insbesondere Weiterbildungsmaßnahmen können einen zielführenden Schritt darstellen, um Umsetzungshandeln für Klimaschutz und -anpassung in Verwaltungen zu forcieren. Innerbehördliche Prozesse zur Qualifikation und Kooperation können durch die Befragungsergebnisse unterstützt und inhaltlich strukturiert werden. Die attraktive Ausgestaltung von Weiterbildungen in interaktiven und kooperativen Formaten, etwa als Rundgang am konkreten Beispiel, kann einen Motivationsanreiz bieten und die Wirksamkeit erhöhen. Wesentliche Strategie könnte dabei sein, die relevanten Themen integriert in laufende Arbeitsprozesse der Verwaltung im Rahmen von regelmäßigen Inhouse-Schulungen zu vermitteln. Eine höhere Priorisierung des Themas durch die Vorgesetzten und die Kommunalpolitik, klare Arbeitsaufträge und die gezielte Motivation zur Teilnahme an Schulungen wären zielführend, um die Klimafolgenanpassung im Verwaltungshandeln zu stärken. Letzteres wird auch durch die befragten Beschäftigten in Dresden und Erfurt deutlich eingefordert. Auch der zweite Fortschrittsbericht zur Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel der Bundesregierung [11] unterstreicht diesen Bedarf: „Eine gezielte Fortbildung kommunaler Mitarbeiter befähigt die Kommune zum Handeln.“ Die Ergebnisse legen nahe, dass über alle Ebenen hinweg mehr Mitarbeiter*innen über bestehende Wissens- und Planungsgrundlagen und deren Handhabung Kenntnis haben sollten, um ein qualifiziertes und ortsspezifisches Klimaanpassungshandeln im Rahmen der Verwaltungstätigkeit zu ermöglichen. Dies führt zu der Schlussfolgerung, dass gezielte Informationsangebote (unter anderem durch die Abteilungen, die die Grundlagen erstellen) als Bestandteil einer dauerhaften Kommunikationsstrategie innerhalb der Stadtverwaltungen entwickelt werden sollten. Zudem ist es von großer Bedeutung, dass die übergeordneten Verwaltungsebenen verstärkt für die Weitergabe von Informationen zu Wissens- und Planungsgrundlagen, fachlichen Aspekten, neuen Planungsgrundlagen oder Fachveranstaltungen Sorge tragen. Ein wesentlicher begrenzender Faktor für das Umsetzungshandeln sind zudem die personellen Ressourcen der Stadtverwaltungen. Um dem zu begegnen, sind Klimabelange mit maßvollen Veränderungen in bestehende Routinen und Abläufe, wie beispielsweise die Bearbeitung von Checklisten bei Bauvorhaben, konsequent zu integrieren. Dabei ist auch eine frühzeitige, bereits in der vorbereitenden Phase beginnende Beteiligung der für Klimaschutz und -anpassung relevanten Ämter, unter anderem an Wettbewerben, Planungen und Projekten, sicherzustellen. Die Entwicklung kommunaler Leitbilder und Ziele bleibt eine zentrale Herausforderung für eine bessere Klimafolgenanpassung. Sie schaffen frühzeitig Klarheit und Verbindlichkeit für Investor*innen. So kann die Klimaanpassung forciert und idealerweise auch die Effizienz der Arbeitsabläufe gesteigert werden. Auf der strukturellen Ebene ist eine koordinierende Stelle, die die ämterübergreifenden Aufgaben Klimaschutz und -anpassung anleitet und zusammenführt, von großer Bedeutung. Diese integrierte Bearbeitung der Klimaanpassung in fach- und ressortübergreifenden Arbeitsgruppen ist jedoch lediglich in etwa einem Drittel der deutschen Kommunen eingeführt oder geplant [8]. In Erfurt wurde in diesem Kontext der Lenkungskreis „Resiliente Stadtentwicklung“ eingerichtet, der organisatorische und inhaltliche Mindeststandards setzen und das verwaltungsinterne Projektmanagement verbessern soll. Durch den stark sektoralen Aufbau der Erfurter Stadtverwaltung und die Zuständigkeiten für das Thema „Klima“ in vier verschiedenen Dezernaten ist die Wirksamkeit des Lenkungskreises jedoch reduziert und eine echte Vernetzung kaum umzusetzen. Dies erschwert die Bearbeitung der querschnittsorientierten Themen Klimaschutz und Klimaanpassung erheblich. Insbesondere die Führungsebenen sind gefragt, den Prozess etwa durch Veränderungen von strukturellen Abläufen und ein breiteres Qualifikationsangebot voranzubringen. Die Handlungsfähigkeit von Kommunen bei der Umsetzung von Klimaschutz- und -anpassungsmaßnahmen kann also durch ein breiteres Kommunizieren vorhandenen Wissens sowie durch gezielt eingesetzte Weiterbildungen und optimierte Strukturen erhöht werden. Solange jedoch von der Politik die dringende Notwendigkeit zum Handeln nicht ausreichend erkannt wird, bleibt auch die finanzielle und personelle Ausstattung der Verwaltungen unzureichend und die Umsetzung von Maßnahmen schleppend. Die Kommunalpolitik ist daher gut beraten, systematisch nach strukturellen Defiziten in der Verwaltung zu suchen und diese konsequent abzubauen. 50 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte LITERATUR [1] Deutsche IPCC-Koordinierungsstelle (Hrsg.): Sechster IPCC-Sachstandsbericht (AR6), Beitrag von Arbeitsgruppe II: Folgen, Anpassung und Verwundbarkeit, 2022. Abrufbar unter: https: / / www.de-ipcc.de/ media/ content/ Hauptaussagen_ AR6-WGII.pdf [2] COP 26 (Conference of the Parties 26). (Hrsg.): Glasgow Climate Pact 2021. Decision -/ CP.26. Advance unedited version, abrufbar unter: https: / / unfccc.int/ sites/ default/ files/ resource/ cop26_auv_2f_cover_decision.pdf [3] Hagelstange, J., Rösler, C., Runge, K.: Klimaschutz, erneuerbare Energien und Klimaanpassung in Kommunen. Maßnahmen, Erfolge, Hemmnisse und Entwicklungen - Ergebnisse der Umfrage 2020, Köln (Difu Paper), 2021. Abrufbar unter: https: / / www.dstgb.de/ aktuelles/ 2021/ klimaanpassung-in-kommunen-umfrageergebnisse-veroeffentlicht/ difu-paper-umfrage-klimaschutz-2020-2021.pdf ? cid=dlm [4] Bongers-Römer, S., Hagelstange, J., Reif-Dietzel, O., Wittkötter, F.: „Welche Unterstützung brauchen Kommunen für erfolgreichen Klimaschutz? “ Auswertungsbericht zur Befragung. difu Deutsches Institut für Urbanistik, Köln, 2018. Abrufbar unter: https: / / difu. de/ sites/ difu.de/ files/ archiv/ projekte/ 2019_ klimaschutzumfrage2017_auswertungsbericht.pdf [5] Kaiser, T., Kind, C., Dudda, L., Sander, K.: Klimawandel, Hitze und Gesundheit: Stand der gesundheitlichen Hitzevorsorge in Deutschland und Unterstützungsbedarf der Bundesländer und Kommunen. UMID, Nr. 1, (2021) S. 27 - 37, abrufbar unter: https: / / www.umweltbundesamt.de/ sites/ default/ files/ medien/ 4031/ publikationen/ umid_01-2021-beitrag_3_hitze.pdf [6] LUBW - Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg (Hrsg.): Wie kommt der Klimawandel bei Kommunen an? Ergebnisse einer Umfrage, 2020. Abrufbar unter: https: / / pudi.lubw.de/ detailseite/ -/ publication/ 10025- Ergebnisse_einer_Umfrage.pdf [7] Zimmermann, K., Boghrat, J., Weber, M.: The epistemologies of local climate change policies in Germany. Urban Research & Practice Vol. 8, No. 3, (2015) S. 303 - 318. Abrufbar unter: https: / / www.tandfonline.com/ doi/ pd f/ 10.1080/ 17535069.2015.1051379? needAccess=true [8] Hasse, J., Willen, L.: Umfrage Wirkung der Deutschen Anpassungsstrategie (DAS) für die Kommunen. Teilbericht, CLIMATE CHANGE 01/ 2019, hrsg. vom Bundesumweltamt, Dessau-Roßlau, 2019. Abrufbar unter: https: / / repository.difu.de/ jspui/ bitstream/ difu/ 254722/ 1/ DM19021842.pdf [9] Groth, M., Nuzum, A.-K.: Informations- und Unterstützungsbedarf von Kommunen zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels. GERICS-Report 25, Hamburg, 2016. Abrufbar unter: https: / / www.climate-service-center.de/ imperia/ md/ content/ csc/ report _ 25. pdf [10] Schüle, R., Fekkak, M., Lucas, R., et al.: Kommunen befähigen, die Herausforderungen der Anpassung an den Klimawandel systematisch anzugehen (KoBe), Climate Change 20/ 2016, hrsg. vom Umweltbundesamt, Dessau-Roßlau, 2016. Abrufbar unter: https: / / www.umweltbundesamt.de/ sites/ default/ files/ medien/ 378/ publikationen/ climate_change_20_2016_kommunen_ befaehigen_die_herausforderungen_0.pdf [11] Die Bundesregierung (Hrsg.): Zweiter Fortschrittsbericht zur Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel (2020) S. 80. Berlin. Abrufbar unter: https: / / w w w.bmuv.de/ f ileadmin/ Daten _ BMU/ Download _ PDF/ Klimaschutz/ klimawandel_das_2_fortschrittsbericht_bf.pdf Dr. rer. nat. Janneke Westermann Wissenschaftliche Projektkoordinatorin Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e. V. Kontakt: j.westermann@ioer.de Prof. Dr.-Ing. Heidi Sinning Projektleitung und Institutsleitung Inst. für Stadtforschung, Planung und Kommunikation Fachhochschule Erfurt Kontakt: sinning@fh-erfurt.de Renate Hermann Wissenschaftliche Mitarbeiterin Inst. für Stadtforschung, Planung und Kommunikation Fachhochschule Erfurt Kontakt: renate.hermann@fh-erfurt.de Alfred Olfert Wissenschaftlicher Mitarbeiter Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung Kontakt: a.olfert@ioer.de Guido Spohr Projektmitarbeiter Landeshauptstadt Erfurt Kontakt: guido.spohr@erfurt.de Franziska Reinfried Projektleiterin Landeshauptstadt Dresden Kontakt: FReinfried@dresden.de AUTOR*INNEN 51 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Die Bevölkerung zur Starkregenvorsorge motivieren Individualisierbare Flyer und praxisnahe Empfehlungen unterstützen die kommunale Risikokommunikation Starkregen, Überflutung, Vorsorge, Schutzmaßnahmen, Risikokommunikation, Klimaanpassung Antje Otto, Lisa Dillenardt, Annegret Thieken Die von Starkregen verursachten Überflutungen und Schäden der letzten Jahre zeigen, dass private Vorsorge und richtiges Verhalten äußerst wichtig sind. Für Städte und Gemeinden ist es aber mitunter herausfordernd, passende Materialien zu erstellen und wirksam zu verbreiten. Daher bietet das BMBF- Projekt ExTrass kostenfrei einen Flyer zur (Bau-)Vorsorge und einen zum Verhalten bei Starkregen an. Hierbei können mit einem webbasierten Baukasten Logo, Kontaktdaten, Links sowie einzelne Texte und Fotos verändert werden, um einen lokalen Bezug herzustellen. Kommunikationsstrategien geben zudem Tipps für eine erfolgreiche Informationsverbreitung. Bild 1: Mobile Schutzelemente gegen eindringendes Wasser in Passau. © Annegret Thieken, Universität Potsdam 52 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Risikokommunikation als Teil der Starkregenvorsorge In den letzten Jahren gab es in Deutschland an verschiedenen Orten schadensreiche Starkregenereignisse mit Überflutungen. In Erinnerung bleiben beispielsweise die Starkregenereignisse 2014 in Münster, 2016 in verschiedenen Orten Süddeutschlands, 2017 in Niedersachsen und Brandenburg, 2019 im Raum Berlin sowie 2021 in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Der Deutsche Wetterdienst unterscheidet je nach Regenmenge in Starkregen, heftigen Starkregen und extrem heftigen Starkregen [1]. Wie folgenschwer diese Niederschläge sind, hängt neben der Ereignisstärke auch von den lokalen Gegebenheiten wie der Topographie und der Landnutzung ab. In hügeligen oder bergigen Gebieten, die 2016 und 2021 betroffen waren, kann sich das Niederschlagswasser zu Sturzfluten sammeln, die schadensreich und gefährlich sein können. Auch in Städten werden mitunter hohe Schäden durch Starkregen und lokale Überflutungen verzeichnet, da die Regenmassen auf bebaute und versiegelte Strukturen treffen. Wie schwerwiegend die Folgen eines Starkregens ausfallen, wird zudem davon beeinflusst, ob sich in der Überflutungsfläche Infrastrukturen, Gebäude und Menschen befinden oder diese - wie im Falle von Städten - sogar konzentriert sind. Darüber hinaus ist wichtig, ob und wie sehr deren Anfälligkeit gegenüber einer solchen Überflutung durch Verhaltens- und Bauvorsorge gemindert wird. Im Gegensatz zu Flusshochwassern sind Überflutungen nach Starkregen nicht an Wasserkörper gebunden und vielen potenziell Betroffenen ist deshalb das eigene Risiko gar nicht bewusst. Viele kommunale Verwaltungen stehen daher vor der Frage, wie sie ihre Infrastrukturen und ihre Bevölkerung gut auf derartige extreme Regenfälle vorbereiten können, um gesundheitliche Gefahren, Schäden sowie Einschränkungen im Alltag zu verringern. Private Vorsorgemaßnahmen sind sehr wirkungsvoll, um Schäden durch Überflutungen am Gebäude zu minimieren [2, 3] und besser vorbereitet zu sein, aber sie müssen von den Eigentümern und Eigentümerinnen oder Haushalten implementiert und bezahlt werden. Die Sensibilisierung der Bevölkerung durch Maßnahmen der Risikokommunikation stellt daher ein wichtiges Element eines integrierten Starkregenrisikomanagements dar. Denn wenn Privatpersonen von ihrem eigenen Starkregenrisiko wissen, sorgen sie eher vor [4], selbst wenn sie bislang noch nicht von Starkregen betroffen waren. Wirksame Kommunikationsmaterialien gestalten Städte und Kommunen, welche die Umsetzung privater Starkregenvorsorge anregen wollen, stehen vor den Herausforderungen, entweder eigene passende Materialien zu erstellen oder gute Materialien aus der Fülle vorhandener Angebote auszuwählen und Verwertungsrechte zu erwerben. In der Literatur werden verschiedene Anforderungen an eine erfolgreiche Risikokommunikation genannt, sodass ein Vorsorgeverhalten befördert wird. Dem geht voraus, dass eine zu informierende Zielgruppe identifiziert wird. Für die Bauvorsorge wäre die primär zu sensibilisierende Zielgruppe die der Hauseigentümer sowie der Personen, die einen Hausbau planen. Denn diese können bauliche Maßnahmen an ihren Gebäuden vornehmen oder einplanen. Im Falle eines Starkregenereignisses können allerdings ebenso Mieter und Mieterinnen zur Zielgruppe gehören, da auch sie und ihr Eigentum gefährdet sind. Anschließend sollte der jeweiligen Zielgruppe erstens die Gefahr an sich erklärt werden. Dabei sollte eine starke Dramatisierung vermieden werden, denn Studien zeigen, dass verängstigte Personen eher nicht vorsorgen [2, 5]. Gleichzeitig ist es wichtig, das konkrete Risiko, das heißt mögliche Auswirkungen und Schäden, für eine spezifische Zielgruppe zu verdeutlichen - zum Beispiel für Hausbesitzer in einer bestimmten Stadt oder Nachbarschaft. Hier kann es hilfreich sein, eine Starkregengefahrenkarte vorzustellen, und die Personen damit zu befähigen, ihr ganz persönliches Risiko zu verstehen. Zweitens muss der Zielgruppe vermittelt werden, dass sie sich schützen kann. Hierzu sollten Maßnahmen, deren Wirkweise, Wirksamkeit und Kosten sowie Möglichkeiten der Implementierung vorgestellt werden. Dabei ist drittens mit entscheidend, neben möglichen Maßnahmen auch die Verantwortlichkeit der Zielgruppe zu betonen [2, 6]. Denn nur wenn sich Personen oder Institutionen selbst als verantwortlich ansehen, entscheiden sie sich dafür, die Eigen- Bild 2: Ausschnitt aus dem Flyer „Wie schütze ich mein Haus vor Starkregen? “ © ExTrass, https: / / www. starkregenvorsorge-flyer.de/ 53 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte vorsorge anzupacken. Andernfalls warten sie mitunter darauf, dass dies von anderer Stelle erledigt wird. Bei all diesen Punkten ist es viertens wichtig, dass die Materialien im Idealfall möglichst zielgruppenspezifisch und auf den lokalen Kontext zugeschnitten sind, damit sich die gewählten Gruppen direkt angesprochen fühlen. Angaben zur lokalen Gefährdung und zu vergangenen Ereignissen erhöhen die Bereitschaft zur Maßnahmenumsetzung. Das Aufführen von lokalen Kontakt- und Informationsmöglichkeiten vereinfacht zudem die weitere Beschäftigung mit dem Thema [4]. Dies würde im Grunde dafür sprechen, dass Städte und Kommunen ihre eigenen Materialien entwerfen, allerdings benötigt dies Ressourcen, und es scheint wenig hilfreich, wenn viele Verwaltungen immer wieder „das Rad neu erfinden“. Zwei individualisierbare Flyer für die kommunale Risikokommunikation Diese Punkte im Blick behaltend bietet das Projekt ExTrass 1 Materialien in Form zweier individualisierbarer Informationsblätter an. Städte und Kommunen können die beiden Flyer mittels eines webbasierten Baukastens an ihre lokalen Gegebenheiten anpassen und komplett kostenfrei für ihre Risikokommunikation verwenden. Die beiden Materialien sind unter www.starkregenvorsorge-flyer.de zu finden. Sie behandeln die Themen „Wie schütze ich mein Haus bei Starkregen? “ und „Was tun bei Starkregen? “. 2 1 Das ExTrass-Projekt wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert und läuft in drei Phasen seit 2017. Es hat sich zum Ziel gesetzt, Städte besser gegen extreme Wetterereignisse wie Hitze und Starkregen zu wappnen. Weitere Informationen finden Sie unter: www.extrass.de. 2 Die Flyer und der webbasierte Baukasten wurden inhaltlich durch die Arbeitsgruppe Geographie und Naturrisikenforschung an der Universität Potsdam erstellt und in einem Unterauftrag im Rahmen des BMBF-Projekts ExTrass (FKZ: 01LR2014A) Ende 2021 durch die beyond concepts GmbH umgesetzt. Erstellen der Flyer Die beiden Informationsblätter zur Starkregenvorsorge wurden in einem schrittweisen Prozess im Austausch zwischen Wissenschaft und Praxispartnern entwickelt. Sie fußen auf einem breiten Wissen zu Risikokommunikation und Starkregen und den Erfahrungsberichten der Praxis unter anderem in einem überregionalen Workshop zum Thema Starkregenvorsorge, an dessen Durchführung Ex- Trass beteiligt war [7]. Darüber hinaus wurden die Anforderungen an Materialien der Risikokommunikation in der wissenschaftlichen Literatur aufgearbeitet und parallel bereits bestehende Angebote für Städte gesichtet. Darauf aufbauend wurden erste inhaltliche Ideen mit mehreren Vertretern und Vertreterinnen aus Stadtverwaltungen und der Johanniter-Unfall-Hilfe e. V. diskutiert sowie die Ansprüche der Nutzenden zum webbasierten Baukasten in Einzelgesprächen gesammelt. Nach weitgehender Fertigstellung der beiden Materialien und der Webseite konnten Vertreter und Vertreterinnen aus Stadtverwaltungen und dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenvorsorge (BBK) diese testen und kommentieren. Das überarbeitete Angebot steht nun allen Städten und Kommunen zur Verfügung. Inhalte der Flyer Die Flyer-Inhalte sind in der Tabelle 1 aufgelistet. Die Informationsblätter sollen einen knappen, gut verständlichen Überblick zum Thema bieten und dazu animieren, sich weiter zu informieren und auf ein Starkregenereignis vorzubereiten sowie sich im Fall eines Starkregens schadensmindernd zu verhalten. Funktionen des webbasierten Baukastens Die Flyer können in ihrer Ausgangsform heruntergeladen und direkt verwendet werden. Eine gezieltere Anwendung kann jedoch erreicht werden, indem Flyer 1: Wie schütze ich mein Haus bei Starkregen? Flyer 2: Was tun bei Starkregen? Zielgruppe Personen, die ein Haus bzw. eine Wohnung besitzen oder einen Hausbau planen Allgemeine Bevölkerung Inhalte Einstiegstext Was ist Starkregen? Wie informiere ich mich über meine Gefährdung? Wie schütze ich mein Haus? Kontakte & Informationen Einstiegstext Was ist Starkregen? Wie erreicht mich eine Warnung? Wie bereite ich mich auf Starkregen vor? Was ist im Ereignisfall zu beachten? Kontakte & Informationen Im Baukasten austauschbare Elemente Logo Einstiegsfoto und Bildunterschrift Ausschnitt aus der Starkregengefahrenkarte und Bildunterschrift Ansprechpartner Links zu weiterführenden Informationen Logo Einstiegstext Einstiegsfoto und Bildunterschrift Ansprechpartner Links zu weiterführenden Informationen Tabelle 1: Überblick über die beiden in ExTrass erarbeiteten Flyer. 54 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Städte und Kommunen sie an ihre lokalen Bedürfnisse anpassen. Nach einer Registrierung können bestimmte Aspekte in den Flyern (siehe Tabelle 1) verändert oder ausgetauscht werden. So können lokale Besonderheiten in eigenen Einstiegstexten und Fotos zur Geltung gebracht werden und die potenziell persönliche Betroffenheit stärker ins Bewusstsein gerückt werden. Zudem können das städtische Logo, örtliche Kontaktdaten und Links ergänzt werden. Bei den Fotos können die Anwender und Anwenderinnen aus verschiedenen vorgeschlagenen Bildern oder eigenen hochgeladenen Fotos auswählen. Hinweise zum Ausfüllen unterstützen ein schnelles und unkompliziertes Erstellen eines auf die jeweilige Stadt zugeschnittenen Flyers. Dieser kann im Anschluss als PDF heruntergeladen und digital oder ausgedruckt für die Risikokommunikation genutzt werden. Sollten später Änderungen in den Angaben beispielsweise bei den Kontaktinformationen nötig sein, ist ein Anpassen der Eingaben über das angelegte Nutzerkonto (Account) problemlos möglich. Wirksame Kommunikationsstrategien entwickeln und umsetzen In einem 2019 durchgeführten Workshop mit Vertreterinnen und Vertretern aus Kommunalverwaltungen zeigte sich, dass viele der teilnehmenden Städte Probleme darin sehen, bestehende Materialien wirksam an die Bevölkerung heranzutragen [7]. Einige berichteten von ihren Erfahrungen bei Bürgerveranstaltungen, bei der Kommunikation über die Presse und dem Angebot persönlicher Beratungen. Bei allen Kommunikationswegen erwies sich die Erreichbarkeit der Zielgruppe als ein kritischer Aspekt - insbesondere wenn bislang kein Starkregenereignis das Thema auf die lokale Agenda setzte. ExTrass gibt daher Hinweise zur wirksamen Kommunikation sowie konkrete Praxistipps bis hin zu vorbereiteten Musteranschreiben mit Blick auf die allgemeine Bevölkerung und auf Betreuungseinrichtungen [8, 9]. Dabei sei darauf hingewiesen, dass es zielführend ist, verschiedene Materialien und Wege der Risikokommunikation parallel zu nutzen, um möglichst viele Menschen zu erreichen. Daher kann es sehr hilfreich sein, bestehende Strukturen - wie verbreitete Newsletter und runde Tische oder Anzeigetafeln im öffentlichen Raum - für die Risikokommunikation zu verwenden. Darüber hinaus könnten Multiplikatoren wie die Architektenkammer oder zentrale zivilgesellschaftliche Akteure im überflutungsgefährdeten Quartier gezielt angesprochen werden. Auch die städtische Internetseite und die sozialen Medienauftritte der Stadt können für die Sensibilisierung für Starkregen genutzt werden. Die direkte, gezielte Ansprache ist zwar aufwendig, kann sich aber lohnen. So könnten beispielsweise Personen, die einen Hausbau planen, mit der Bestätigung der Einreichung eines Bauantrags über Starkregen informiert werden. Zudem könnten Menschen in Gebieten, die laut Starkregengefahrenkarte besonders gefährdet sind, gezielt über die Gefahren und angepasstes Verhalten bei Starkregen aufgeklärt werden [8, 9]. Das UBA-Projekt Regen/ / Sicher [10] beschreibt außerdem Wege, wie die Bevölkerung bei der städtischen Starkregenvorsorge beteiligt werden kann. Insgesamt kann auch die Wahl eines guten Zeitpunkts für eine Aktion der Risikokommunikation, wie der Jahrestag eines schweren Starkregens, entscheidend sein. Ausblick Die wirksame Sensibilisierung für Risiken ist zentral, um Schäden an Infrastruktur und Gebäude sowie Gesundheitsrisiken zu verringern. Daher möchte das Projekt ExTrass die Risikokommunikation stärken und hat hierfür die vorgestellten Materialien zur Starkregenvorsorge erarbeitet. Darüber hinaus bietet das Projekt weitere Materialien zu Starkregen und Hitze an. Diese stehen unter www.extrass.de zur Verfügung. Viele der Materialien - auch die hier genannten Flyer zur Starkregenvorsorge - werden im weiteren Projektverlauf evaluiert und sollen im Anschluss daran überarbeitet werden. LITERATUR [1] DWD - Deutscher Wetterdienst (o.J.): Warnkriterien. Starkregen. In: https: / / www.dwd.de/ DE/ wetter/ warnungen_aktuell/ kriterien/ warnkriterien.html? mscl kid=5d2d4d20b4ca11ecaca79d12b470d711, letzter Zugriff: 4. 4. 2022. [2] Dillenardt, L., Hudson, P., Thieken, A.H.: Urban pluvial flood adaptation: Results of a household survey across four German municipalities. Journal of Flood Risk Management. (2021) S. 1 - 15. https: / / doi. org/ 10.1111/ jfr3.12748. Bild 3: Ausschnitt aus dem Flyer „Was tun bei Starkregen? “ © ExTrass, https: / / www.starkregenvorsorge-flyer.de/ 55 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte [3] Kreibich, H., Thieken, A.H., Petrow, T., Müller, M,Merz, B.: Flood loss reduction of private households due to building precautionary measures - lessons learned from the Elbe flood in August 2002. Nat. Hazards Earth Syst. Sci., 5, (2005) S. 117 - 126. https: / / doi. org/ 10.5194/ nhess-5-117-2005 [4] Netzel, L., Drewing, E., Netzel, L., Denecke, M.: Understanding Public Acceptance of a Multifunctional Water Plaza: A Case Study. Water 2021, 13 (4), (2021) S. 576; https: / / doi.org/ 10.3390/ w13040576 [5] Grothmann, T., Reusswig, F.: People at Risk of Flooding: Why Some Residents Take Precautionary Action While Others Do Not. Natural Hazards, 38(1), (2006) S. 101 - 120. https: / / doi.org/ 10.1007/ s11069-005-8604-6 [6] Maidl, E., Buchecker, M.: Raising risk preparedness by flood risk communication. Nat. Hazards Earth Syst. Sci., 15, (2015) S. 1577 - 1595. https: / / doi.org/ 10.5194/ nhess-15-1577-2015 [7] Otto, A., Thieken, A.H., Riechel, R., Meves, M.: Dokumentation des Workshops. „Kommunale Starkregenvorsorge: Gute Ideen austauschen und weitertragen“, 2020. 1. - 2. 10. 2019 in Remscheid. In: https: / / www. uni-potsdam.de/ fileadmin/ projects/ extrass/ workshop_Starkregen_19_3_online.pdf, letzter Zugriff: 4. 4. 2022. [8] Otto, A., Dillenard, L., Heidenreich, A., Ullrich, S., Thieken, A.H.: Wegweiser für eine wirksame Kommunikation mit Betreuungseinrichtungen zu Hitze und Starkregen. Universität Potsdam, 2021. In: https: / / www. uni-potsdam.de/ fileadmin/ projects/ extrass/ Wegweiser_Einrichtungen.pdf, letzter Zugriff: 4 .4. 2022. [9] Ullrich, S., Heidenreich, A., Otto, A., Dillenardt, L., Thieken, A.H. (im Erscheinen): Wegweiser für eine wirksame Kommunikation mit der Allgemeinen Bevölkerung zu Hitze und Starkregen. Universität Potsdam. [10] e-fect dialog consultating eG; ecolo Agentur für Ökologie und Kommunikation GmbH & Co.KG: Bürgerinnen und Bürger an kommunaler Starkregenvorsorge beteiligen. Leitfaden für Kommunen, 2020. In: https: / / www.umweltbundesamt.de/ sites/ default/ files/ medien/ 656/ dokumente/ buergerinnen_und_buerger_ an_kommunaler_ starkregenvorsorge_beteiligen.pdf, letzter Zugriff: 4. 4. 2022. Dr. Antje Otto Wissenschaftliche Mitarbeiterin AG Geographie und Naturrisikenforschung Universität Potsdam Kontakt: antje.otto@uni-potsdam.de Lisa Dillenardt Wissenschaftliche Mitarbeiterin AG Geographie und Naturrisikenforschung Universität Potsdam Kontakt: dillenardt@uni-potsdam.de Prof. Dr. Annegret Thieken Leitung AG Geographie und Naturrisikenforschung Universität Potsdam Kontakt: annegret.thieken@uni-potsdam.de AUTORINNEN DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN WISSEN WAS MORGEN BEWEGT www.internationales-verkehrswesen.de 56 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Sozialraumorientierter Bevölkerungsschutz Als im Juli 2021 die Wetterdienste vor heftigen Gewittern und Starkregenfällen im Westen Deutschlands warnen, rechnet man vielerorts nicht mit den verheerenden Auswirkungen, die das Unwetter noch haben wird. In weiten Teilen von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen zerstören massive Überschwemmungen ganze Straßenzüge und hinterlassen zahlreiche unterspülte und einsturzgefährdete Gebäude. Viele Ortschaften sind verwüstet, in den Straßen und Häusern sammeln sich Schlamm, Schutt und Müll. Angesichts des gravierenden Schadensausmaßes sind die Ressourcen und Kapazitäten des nationalen Katastrophenschutzes schnell erschöpft. Doch innerhalb der Zivilbevölkerung zeigt sich eine starke Betroffenheit und Unterstützungsbereitschaft. Zahlreiche freiwillige Helferinnen und Helfer unterstützen in den kommenden Wochen und Monaten bei den Aufräumarbeiten und nehmen dafür zum Teil weite Anreisen in Kauf. Im Katastrophenschutz wird unterdessen davor gewarnt, dass durch Erderwärmung und Klimawandel künftig vermehrt mit derartigen Wetterphänomenen und Naturkatastrophen zu rechnen sei. Im Bevölkerungsschutz kreisen die Fachdiskussionen daher bereits seit geraumer Zeit um den Begriff der „Community Resilience“, ein Konzept, das auf die Bewältigung auch unvorhergesehener Krisen- und Katastrophensituationen abstellt, indem es wesentliche Bewältigungsressourcen in der kollektiven Leistungsfähigkeit der Bevölkerung selbst verortet. Besonders in Städten sind die gesellschaftlichen Bewältigungsfähigkeiten sozialräumlich jedoch ungleich verteilt. Manche Bevölkerungsgruppen sind resilienter als andere, allein schon deshalb, weil sie in unterschiedlichen Wohngegenden leben [1]. Im Bevölkerungsschutz gewinnt daher zunehmend eine Sozialraumorientierung an Kontur, die sowohl die lokalen Bedarfe und Herausforderungen als auch die Kapazitäten und Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger durch eine Kombination aus zivilgesellschaftlicher Partizipation und Vernetzung aufnimmt und zur Grundlage der kleinräumigen Bewältigung großflächiger Krisen- und Katastrophenereignisse macht [2]. Die Erfahrungen vergangener Krisen und Katastrophen haben zu einem Umdenken des professionellen Bevölkerungsschutzes geführt. Die Bürgerinnen und Bürger werden nicht länger nur als passive Adressatinnen und Adressaten, sondern als an der Krisenbzw. Katastrophenbewältigung aktiv beteiligte Akteurinnen und Akteure verstanden [3]. Der Bevölkerungsschutz wird damit nicht etwa von seiner staatlichen Schutzpflicht entbunden. Vielmehr wird das klassische Rollenverständnis allmählich durch ein neues Selbstverständnis abgelöst, das die bedarfs- und lebensweltorientierte Stärkung des Sozialraums zum Ausgangspunkt eines präventiven Schutzprinzips macht. Im Fokus steht nunmehr die stärkere Vernetzung mit Alltagsorganisationen, welche die soziale Infrastruktur für die Produktion und Community Resilience in Krisen und Katastrophen Entwicklung eines Sozialkapital-Radars für den sozialraumorientierten Bevölkerungsschutz Soziales Kapital, sozialer Zusammenhalt, Nachbarschaftshilfe, Community Resilience, sozialraumorientierter Bevölkerungsschutz, Sozialkapital-Radar Bo Tackenberg, Tim Lukas Große Schadenslagen wie die COVID-19-Pandemie oder das Hochwasser im Ahrtal verdeutlichen die Bedeutung der Nachbarschaftshilfe für die Bewältigung von Krisen und Katastrophen. In Städten sind die gesellschaftlichen Bewältigungsfähigkeiten jedoch sozialräumlich nicht gleich verteilt. In der Modellkommune Wuppertal wird daher ein Sozialkapital- Radar entwickelt, mit dem sich die kollektiven Anpassungsleistungen lokaler Unterstützungsgemeinschaften kleinräumig nachvollziehen lassen. Der Beitrag verortet das praxisbezogene Forschungsprojekt im Kontext aktueller Resilienzstrategien zur Sozialraumorientierung im Bevölkerungsschutz. 57 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Verteilung gesellschaftlicher Unterstützung bereitstellen. Im Modus kooperativer Zusammenarbeit und entlang der sozialraumorientierten Bedarfe der Bewohnerinnen und Bewohner soll unter anderem der soziale Zusammenhalt gefördert werden, der in gesellschaftlichen Krisen und Katastrophen einen wesentlichen Resilienzfaktor darstellt. Resilienz durch sozialen Zusammenhalt Als Ausdruck sozialen Zusammenhalts und gesellschaftlicher Solidarität sind Krisen und Katastrophen durch ein hohes Maß an ungebundener Selbstorganisation und wechselseitigem Unterstützungsengagement gekennzeichnet [4]. So zeigte sich gerade zu Beginn der COVID-19-Pandemie ein starkes prosoziales Unterstützungsverhalten innerhalb der Bevölkerung, das von Hilfen beim Einkauf bis hin zur Kinderbetreuung reichte. Zu einem Zeitpunkt, als die Politik der Bevölkerung noch kein Impfangebot machen konnte, war die pandemische Lage vor allem durch die Solidaritätsapelle von politisch Verantwortlichen geprägt, die auf die Partizipation, Eigenverantwortlichkeit und Achtsamkeit der Bevölkerung abzielten [5]. Dennoch findet die Förderung des sozialen Zusammenhalts bislang nur wenig Beachtung bei der Formulierung von Resilienzstrategien in den etablierten Katastrophenschutzorganisationen. Im Forschungsprojekt „Resilienz durch sozialen Zusammenhalt - Die Rolle von Organisationen (ResOrt)“ (Bild 1) wurden daher Fragen danach gestellt, wie sozialer Zusammenhalt zur Resilienz der Bevölkerung beitragen kann und wie Aspekte des sozialen Zusammenhalts stärker in die Strategieentwicklung von Hilfsorganisationen integriert werden können. Dazu wurde im Frühjahr 2019 eine schriftlichpostalische Bevölkerungsbefragung in Wuppertal durchgeführt. Insgesamt 2 449 Wuppertalerinnen und Wuppertaler nahmen an der Befragung teil und beantworteten Fragen zu verschiedenen Aspekten des sozialen Zusammenhalts in ihrem Wohngebiet. Im Mittelpunkt standen dabei das soziale Vertrauen, der Grad der Partizipation, geteilte Werte- und Normenvorstellungen, die Einbindung in soziale Netzwerke und reziproke Einstellungen. Als Dimensionen der nachbarschaftlichen Unterstützung wurden darüber hinaus sowohl die erwartete als auch die eigene Hilfsbereitschaft in verschiedenen Krisen- und Katastrophensituationen erfragt. Die Erkenntnisse aus dem Forschungsprojekt verdeutlichen die besondere Doppelrolle des sozialen Zusammenhalts. Sozialer Zusammenhalt entsteht im alltäglichen Miteinander der Menschen und fördert Ressourcen, die Prozesse der sozialen Steuerung, Unterstützung und Anerkennung rahmen, wodurch die Mitglieder einer Gemeinschaft enger zusammenrücken und miteinander verbunden sind. Auf diese Weise bildet sozialer Zusammenhalt die Basis gemeinschaftlicher Kooperation, die nicht nur in Prozessen der Krisen- und Katastrophenbewältigung, sondern auch im Alltag wirksam wird. Sozialer Zusammenhalt entsteht also nicht erst im Ereignisfall. Vielmehr können Krisen- und Katastrophensituationen als ein Gradmesser der gesellschaftlichen Kohäsion und Kooperationsfähigkeit verstanden werden. So zeigen die Resultate eines im Projekt berechneten statistischen Modells (Bild 2), dass die Wahrnehmung des kleinräumigen Zusammenhalts im eigenen Wohngebiet einen signifikant positiven Einfluss auf die Erwartung an andere hat, sich im Ereignisfall wechselseitig zu unterstützen. Die erwartete Unterstützungsbereitschaft wiederum hat einen positiven Einfluss auf die eigene Bereitschaft anderen in Krisen und Katastrophen zu helfen [6]. Bild 1: Projekt ResOrt. © Tackenberg Bild 2: Vereinfachtes Strukturgleichungsmodell zum Zusammenhang von wahrgenommenem Zusammenhalt und der erwarteten bzw. eigenen Unterstützungsbereitschaft. © Tackenberg LAUFZEIT PROJEKTZIEL WEBSEITE BETEILIGTE : : 1 0/ 201 7 bis 1 2/ 2021 : : A U S A R B E I T U N G V O N H A N D L U N G S E M P F E H L U N G E N F Ü R O R G A N I S AT I O N E N , W I E A S P E K T E D E S S O Z I A L E N Z U S A M M E N H A LT S A L S W E S E N T L I C H E R R E S I L I E N Z FA K T O R I N D I E S T R AT E G I E E N T W I C K L U N G M I T E I N B E Z O G E N W E R D E N K Ö N N E N U N D S O Z I A L E R Z U S A M M E N H A LT G E F Ö R - D E R T W E R D E N K A N N . : : w w w.projekt-resort.de FKZ: 01UG1724AX + + EINSCHÄTZUNG DES WOHNGEBIETS: : : Die Menschen in meinem Wohngebiet sind im Allgemeinen sehr engagiert. : : Auf die Menschen in meinem Wohngebiet kann man sich im Allgemeinen verlassen. : : Die Menschen in meinem Wohngebiet teilen im Großen u. Ganzen dieselben Werte. : : Die Menschen in meinem Wohngebiet sind eng miteinander verbunden. : : Die Menschen in meinem Wohngebiet kümmern sich im Allgemeinen umeinander. WÜRDEN DIE MENSCHEN AUS IHREM WOHNGEBIET VERSUCHEN ZU HELFEN: : : Wenn durch einen Sturm umgestürzte Bäume die Zufahrt zur örtlichen : : Wenn aufgrund einer Hitzewelle insbesondere ältere Menschen auf Hilfe BEI EINEM MEHRTÄGIGEN STROMAUSFALL: : : Für Personen aus meinem Wohngebiet: Ich würde knappe Güter (Batterien, Wasser etc.) teilen. : : Für Personen aus anderen Stadtteilen: Ich würde knappe Güter (Batterien, Wasser etc.) teilen. : : Für Personen aus meinem Wohngebiet: Ich würde meine privaten und : : Für Personen aus anderen Stadtteilen: Ich würde meine privaten und E I G E N E U N T E R S T Ü T- Z U N G S B E R E I T S C H A F T E R WA R T E T E U N T E R S T Ü T- Z U N G S B E R E I T S C H A F T WA H R G E N O M M E N E R S O Z I A L E R Z U S A M M E N H A LT 58 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Den Stadtkarten 1 (Bilder 3 und 4) ist zu entnehmen, dass der Grad des wahrgenommenen Zusammenhalts und der eigenen Unterstützungsbereitschaft in Wuppertal sozialräumlich variiert. Wie die Ergebnisse des statistischen Modells erwarten lassen, 1 Bei den beiden Wuppertaler Stadtkarten (Bilder 3 und 4) handelt es sich um eigene Darstellungen, die mithilfe eines SHP-Datensatzes der Stadt Wuppertal erstellt wurden, der alle 69 Quartiere beinhaltet. Der Datensatz wird unter der Open-Data-Lizenz CC BY 4.0 hier bereitgestellt: https: / / www.offenedaten-wuppertal.de/ dataset/ quartiere-wuppertal. weisen beide Karten ein ähnliches geographisches Verteilungsmuster auf. Während in den nördlichen und südlichen Lagen Wuppertals mit wenigen Ausnahmen optimistischere Werte erkennbar sind, weisen die zentralen Stadtgebiete entlang der Wuppertaler Talachse größtenteils pessimistischere Einschätzungswerte auf. Um zu untersuchen, inwiefern dabei spezifische sozialräumliche Bedingungen einen Einfluss auf die Wahrnehmung des sozialen Zusammenhalts haben, wurde im Projekt Bild 3: Wuppertaler Stadtkarte zum wahrgenommenen Zusammenhalt. © Tackenberg Herbringhausen Schöller-Dornap Dönberg Nächstebreck-Ost Cronenberg Eckbusch Erbschlö-Linde Siebeneick Ehrenberg Küllenhahn rg Ronsdorf-Mitte/ Nord Lichtenplatz Sudberg Nächstebreck-West Hatzfeld Cronenfeld Beyenburg-Mitte Uellendahl-West Varresbeck Uellendahl-Ost Nevigeser Str. Friedrichsberg Zoo Hammesberg Hahnerberg Westring Schrödersbusch Osterholz Heckinghausen Kothen Sedansberg Beek Oberbarmen-Schwarzbach Heidt Nützenberg Blombach-Lohsiepen Vohwinkel-Mitte Ostersbaum Tesche Lüntenbeck Clausen Brill Höhe Nordstadt Berghausen Fleute Kohlfurth Elberfeld Rauental Fr.-Engels-Allee Hesselnberg Sonnborn Loh Rehsiepen Wichlinghausen-Nord Schenkstr. Buchenhofen Arrenberg Löhrerlen Wichlinghausen-Süd Rott Industriestr. . Langerfeld-Mitte Jesinghauser Str. Südstadt Barmen-Mitte Hilgershöhe EINSCHÄTZUNG DES WOHNGEBIETS: BEWERTUNGSSKALA: * : : Die Menschen in meinem Wohngebiet sind im Allgemeinen sehr engagiert . : : 1 Stimme stark zu : : Auf die Menschen in meinem Wohngebiet kann man sich im Allgemeinen verlassen. : : Die Menschen in meinem Wohngebiet teilen im Großen u. Ganzen dieselben Werte. : : Die Menschen in meinem Wohngebiet sind eng miteinander verbunden. : : Die Menschen in meinem Wohngebiet kümmern sich im Allgemeinen umeinander. : : 2 Stimme zu : : 3 Stimme teilweise zu : : 4 Stimme nicht zu : : 5 Stimme überhaupt nicht zu WA H R G E N O M M E N E R S O Z I A L E R Z U S A M M E N H A LT CLUSTER 2: Durchschnittliche Skalenwerte von 2,72 bis 2,82 CLUSTER 4: Durchschnittliche Skalenwerte von 3,22 bis 3,76 CLUSTER 1: Durchschnittliche Skalenwerte von 2,29 bis 2,71 CLUSTER 3: Durchschnittliche Skalenwerte von 2,84 bis 3,2 STADTKARTE: * F ü r j e d e s d e r 5 3 U n t e r s u c h u n g s q u a r t i e r e ( f a r b l i c h h i n t e r l e g t ) w u r d e e i n M i t t e l w e r t a u s d e n f ü n f F r a g e b o g e n i t e m s g e b i l d e t . Z u r b e s s e r e n V e r a n s c h a u l i c h u n g d e s V e r t e i l u n g s b i l d e s w u r d e n d i e M i t t e l w e r t e a l l e r U n t e r s u c h u n g s q u a r t i e r e i n v i e r g l e i c h g r o ß e C l u s t e r g r u p p i e r t . 59 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte eine Mehrebenenmodellierung durchgeführt, bei der die Befragungsdaten in ein hierarchisches Zusammenhangsverhältnis mit sozialstrukturellen Aggregatdaten gestellt wurden. Die Ergebnisse belegen, dass der lokale Zusammenhalt signifikant pessimistischer eingeschätzt wird und direkte Nachbarschaftsbeziehungen weniger gepflegt werden, je höher der Grad der konzentrierten sozialen Benachteiligung im Wohngebiet ist [7]. Entwicklung eines Sozialkapital-Radars Ein Folgeprojekt intensiviert die bisherigen Analysen mit dem Ziel einer praxisbezogenen Übertragung in den sozialraumorientierten Bevölkerungsschutz. Anknüpfend an die Vorarbeiten aus dem Projekt ResOrt beschäftigt sich der Lehrstuhl für Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit gegenwärtig mit der „Entwicklung eines Sozialkapital-Radars für den sozialraumorientierten Bevölkerungsschutz (Sokapi-R)“ (Bild 5). Bild 4: Wuppertaler Stadtkarte zur eigenen Unterstützungsbereitschaft. © Tackenberg Herbringhausen Schöller-Dornap Dönberg Nächstebreck-Ost Cronenberg Eckbusch Erbschlö-Linde Siebeneick Ehrenberg Küllenhahn rg Ronsdorf-Mitte/ Nord Lichtenplatz Sudberg Nächstebreck-West Hatzfeld Cronenfeld Beyenburg-Mitte Uellendahl-West Varresbeck Uellendahl-Ost Nevigeser Str. Friedrichsberg Zoo Hammesberg Hahnerberg Westring Schrödersbusch Osterholz Heckinghausen Kothen Sedansberg Beek Oberbarmen-Schwarzbach Heidt Nützenberg Blombach-Lohsiepen Vohwinkel-Mitte Ostersbaum Tesche Lüntenbeck Clausen Brill Höhe Nordstadt Berghausen Fleute Kohlfurth Elberfeld Rauental Fr.-Engels-Allee Hesselnberg Sonnborn Loh Rehsiepen Wichlinghausen-Nord Schenkstr. Buchenhofen Arrenberg Löhrerlen Wichlinghausen-Süd Rott Industriestr. . Langerfeld-Mitte Jesinghauser Str. Südstadt Barmen-Mitte Hilgershöhe BEWERTUNGSSKALA: * : : 1 Sehr wahrscheinlich : : 2 Wahrscheinlich : : 3 Wenig wahrscheinlich : : 4 Gar nicht wahrscheinlich CLUSTER 2: Durchschnittliche Skalenwerte von 1,79 bis 1,88 CLUSTER 4: Durchschnittliche Skalenwerte von 1,98 bis 2,33 CLUSTER 1: Durchschnittliche Skalenwerte von 1,51 bis 1,79 CLUSTER 3: Durchschnittliche Skalenwerte von 1,88 bis 1,95 STADTKARTE: E I G E N E U N T E R S T Ü T- Z U N G S B E R E I T S C H A F T BEI EINEM MEHRTÄGIGEN STROMAUSFALL: : : Für Personen aus meinem Wohngebiet: Ich würde knappe Güter (Batterien, Wasser etc.) teilen. : : Für Personen aus anderen Stadtteilen: Ich würde knappe Güter (Batterien, Wasser etc.) teilen. : : Für Personen aus meinem Wohngebiet: Ich würde meine privaten und : : Für Personen aus anderen Stadtteilen: Ich würde meine privaten und * F ü r j e d e s d e r 5 3 U n t e r s u c h u n g s q u a r t i e r e ( f a r b l i c h h i n t e r l e g t ) w u r d e e i n M i t t e l w e r t a u s d e n v i e r F r a g e b o g e n i t e m s g e b i l d e t . Z u r b e s s e r e n V e r a n s c h a u l i c h u n g d e s V e r t e i l u n g s b i l d e s w u r d e n d i e M i t t e l w e r t e a l l e r U n t e r s u c h u n g s q u a r t i e r e i n v i e r g l e i c h g r o ß e C l u s t e r g r u p p i e r t . 60 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Das lokale Sozialkapital-Radar versteht sich dabei als ein Instrument, mit dem die soziale Unterstützungsbereitschaft in verschiedenen Krisen und Katastrophenlagen kleinräumig identifiziert und nachvollzogen werden kann. Am Beispiel der Modellkommune Wuppertal, wo sich während der Coronavirus-Pandemie ein großes Angebot ehrenamtlicher Nachbarschaftsinitiativen entwickelte, wird dabei zunächst der Zusammenhang von sozialräumlichen Strukturen und lokalem Sozialkapital modelliert und im Rahmen einer quantitativen, mehrsprachigen Bevölkerungsbefragung empirisch untersucht. Der Wert des sozialen Kapitals drückt sich in den Verbindungen aus, die mit anderen Menschen eingegangen werden. Indem soziales Kapital dazu beiträgt, dass sich Menschen gegenseitig Hilfe leisten, bildet es das Fundament für die Herausbildung von lokalen Unterstützungsgemeinschaften im Krisen- und Katastrophenfall. Statistische Analysen kleinräumiger Effekte der sozialstrukturellen Bedingungen des Wohngebiets auf die soziale Unterstützungsbereitschaft der befragten Bürgerinnen und Bürger, sollen Aufschluss über kurz- und mittelfristige soziale Anpassungsprozesse der Bevölkerung in unterschiedlichen Zivil- und Katastrophenschutzlagen geben. Die daraus abgeleiteten Erkenntnisse werden anschließend auf gesamtstädtischer Ebene aggregiert und zusammen mit den verfügbaren kleinräumigen Sozialdaten der Stadt Wuppertal in ein interaktives und räumlich skalierbares graphisches Lagebild (GIS-basiertes Dashboard) zum Bevölkerungsverhalten übersetzt. Mit dem kleinräumigen Sozialkapital-Radar wird kommunalen Entscheidungstragenden ein effizientes Instrument an die Hand gegeben, das es ihnen auf Basis von kleinräumig visualisiertem Kontextwissen ermöglicht, spezifische Wohnquartiere vor Ort zu identifizieren, in denen aufgrund erwartet schwächerer Anpassungsprozesse eine stärkere Sozialraumorientierung noch vor Eintreten eines Ereignisfalls sinnvoll erscheint. Die darauf aufbauende Vernetzung im Sozialraum ermöglicht es den Akteuren des Katastrophenschutzes im Ereignisfall auf belastbare Kooperationsstrukturen zurückzugreifen, durch die ehrenamtliche Hilfsangebote und besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen in einzelnen Wohngebieten schneller ermittelt werden können. Die sozialwissenschaftliche Fundierung und das GIS-basierte Sozialkapital-Radar bilden einen zuverlässigen Ausgangspunkt, um praxisnahe und anwendungsbezogene Rahmenempfehlungen für ein bedarfs- und ressourcenorientiertes Krisenmanagement zu formulieren, indem es die Identifikation sozialer Unterstützungsgemeinschaften im sozialen Nahraum von Wohnquartieren und ihrer Einbindung in den Bevölkerungsschutz ermöglicht. Auf Basis partizipativer Austauschformate mit Entscheidungstragenden anderer Kommunen werden die lokal untersuchten Zusammenhänge in ein generalisierbares Konzept übertragen, das künftig den Leitfaden zur „Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz“ [8] ergänzen soll. Fazit Krisen und Katastrophen, wie zuletzt die Coronavirus-Pandemie oder das Hochwasser im Ahrtal, offenbaren die Schwachstellen des etablierten Hilfesystems und haben zu politischen Diskussionen über eine Neuausrichtung des Bevölkerungsschutzes in Deutschland geführt. Mit der Entwicklung eines kleinräumigen Sozialkapital-Radars wird ein sozialwissenschaftlich fundierter und zugleich praxisbezogener Weg zu einem sozialraumorientierten Bevölkerungsschutz aufgezeigt, der das kontextuelle Wissen um die Resilienz der Bevölkerung zum Ausgangspunkt eines effektiven Krisenmanagements macht. Stabile Netzwerke im sozialen Nahraum, die im Alltag von Nicht-Krisenzeiten entstanden sind, können die Grundlage schneller und sicherer Hilfe in Notfällen sein. Das persönliche Umfeld ist zumeist am ehesten über lokale Vulnerabilitäten informiert und kann beim Eintritt krisenhafter Ereignisse entsprechende Unterstützung organisieren [9]. Als ein unmittelbares Unterstützungshandeln entwickelt sich wechselseitige Hilfeleistung jedoch nicht im luftleeren Raum. Die Raumbezogenheit einer resilienten Bevölkerung zeigt sich insbesondere im Sozialraum von Stadtquartieren und Nachbarschaften, die als Bezugsrahmen zukünftig eine stärkere Berücksichtigung im System des Bevölkerungsschutzes finden sollten. Bild 5: Projekt Sokapi-R. © Tackenberg LAUFZEIT PROJEKTZIELE WEBSEITE BETEILIGTE : : 08/ 2021 bis 0 7/ 2024 : : E N T W I C K L U N G E I N E S L O K A L E N S O Z I A L K A P I TA L- R A D A R S , M I T D E M S I C H D I E K O L L E K- T I V E N A N P A S S U N G S L E I S T U N G E N S O Z I A L E R G E M E I N S C H A F T E N N A C H V O L L Z I E H E N U N D I M K R I S E N FA L L I D E N T I F I Z I E R E N L A S S E N . : : A BL E I T UN G V O N R A H M E N E M P F E H L U N G E N F ÜR DIE R I S IKOA N ALYS E I M B E VÖL K E R U N G S S C H U T Z . : : w w w.sokapi-r.de FKZ: BBK III.1 - 41201 / 0009 61 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte LITERATUR [1] Bonß, W.: Karriere und sozialwissenschaftliche Potenziale des Resilienzbegriffs. In: Endreß, M., Maurer, A. (Hrsg.): Resilienz im Sozialen, (2015) S. 15 -31. Wiesbaden: Springer VS. [2] Deutsches Rotes Kreuz (Hrsg.): Die vulnerable Gruppe „ältere und pflegebedürftige Menschen“ in Krisen, Großschadenslagen und Katastrophen. Teil 2: Vernetzung und Partizipation - auf dem Weg zu einem sozialraumorientierten Bevölkerungsschutz. Berlin: Deutsches Rotes Kreuz, 2018. [3] Max, M., Schulze, M.: Hilfeleistungssysteme der Zukunft. Analysen des Deutschen Roten Kreuzes zur Aufrechterhaltung von Alltagssystemen für die Krisenbewältigung. Bielefeld: transcript, 2022. [4] Jewett, R. L., Mah, S. M., Howell, N.: Social cohesion and community resilience during COVID-19 and pandemics: A rapid scoping review to inform the United Nations research roadmap for COVID-19 recovery. International Journal of Health Services, 51(3), (2021), S. 325 - 336. [5] Thießen, M.: Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie. Frankfurt/ New York: Campus, 2021. [6] Lukas, T., Tackenberg, B., Kretschmer, S.: Resilienz im Stadtquartier. Welchen Beitrag leistet der wahrgenommene soziale Zusammenhalt zur nachbarschaftlichen Unterstützungsbereitschaft in Krisen? In: Lange, H.-J., Kromberg, C., Rau, A. (Hrsg.): Urbane Sicherheit. Migration und der Wandel kommunaler Sicherheitspolitik, (2021) S. 35 - 57. Wiesbaden: Springer VS. [7] Tackenberg, B.: Community Resilience und ethnische Diversität - Lokales Sozialkapital und nachbarschaftliche Unterstützungsbereitschaft im Städtevergleich. Wuppertal: Bergische Universität Wuppertal (unv. Diss.), 2022. [8] Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (Hrsg.): Leitfaden Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz. Ein Stresstest für die Allgemeine Gefahrenabwehr und den Katastrophenschutz. Bonn: Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, 2019. [9] Stahlhut, B., Fehrecke-Harpke, B.: Partizipation auch in der Krise? In: Skutta, S., Steinke, J. (Hrsg.), Digitalisierung und Teilhabe, (2019) S. 30 - 315. Baden-Baden: Nomos. Bo Tackenberg, M.A. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit Bergische Universität Wuppertal Kontakt: tackenberg@uni-wuppertal.de Dr. Tim Lukas Akademischer Rat Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit Bergische Universität Wuppertal Kontakt: lukas@uni-wuppertal.de AUTOREN All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren Neue Mobilitätskonzepte für lebenswerte Städte Neue Mobilitätskonzepte für lebenswerte Städte Elektromobilität | Luftmobilität | Seilbahnen | Radfahren | Parkraum | Urbane Logistik | Geodaten Elektromobilität | Luftmobilität | Seilbahnen | Radfahren | Parkraum | Urbane Logistik | Geodaten 1 · 2022 SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Urbane Mobilität URBA URBA Städtische Räume und Flächen: Gemeingut oder Wirtschaftsgut? Dritte Orte | Alltagsräume | Stadtbäume | Klimaanpassung | Mobilitätswandel | Transformation Dritte Orte | Alltagsräume | Stadtbäume | Klimaanpassung | Mobilitätswandel | Transformation 4 · 2021 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Lebensraum Stadt URBA Strategien für ein nachhaltiges Wasserressourcenmanagement Starkregen | Hitzestress | Regenwasserbewirtschaftung | Stadtbäume | Dach- und Fassadenbegrünung Starkregen | Hitzestress | Regenwasserbewirtschaftung | Stadtbäume | Dach- und Fassadenbegrünung 3 · 2021 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Zu viel oder zu wenig Wasser ? URBA Nachhaltige, klimafreundliche Gestaltung von Stadtquartieren Nachhaltige, klimafreundliche Gestaltung von Stadtquartieren Energiewende|Innenstädte|NeueMobilität|Reallabore|Transformation|Freiräume|Kreislaufwirtschaft Energiewende|Innenstädte|NeueMobilität|Reallabore|Transformation|Freiräume|Kreislaufwirtschaft 2 · 2021 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Umbau zur Stadt Umbau zur Stadt der Zukunft der Zukunft URBA Resilienz: Wie Städte künftig Krisen besser bewältigen können Corona | Verhäuslichung | Grüne Infrastruktur | Freiraum | Neue Arbeitswelten | Smart Cities | Mobilität | 1 · 2021 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Lehren aus der Pandemie Mit der Größe der Städte wachsen auch Risiken und Belastungen Vulnerabilität | Risikowahrnehmung | Prävention | Bürgerbeteiligung | Freiwilliges Engagement | Resilienz 2 · 2019 2 · 2019 YSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Städte im Krisenmodus? Beispiele zukunftsorientierter nachhaltiger Stadtentwicklung Urbane Wasserwirtschaft | Nicht-fossile Mobilität | Stadtnatur | Blau-grüne Infrastrukturen | Stadtklima 1 · 2020 URBANE SYSTEME IM WANDEL. 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DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Städtisches Grün - städtisches Blau e S ele für AAbb www Resilienz: W Reesilienz: silienz: Resilienz: W WWWWie iee S St e St ilienz WWiee St ilienz: tt si : t Co orona | Verhä or ro ronna a | Ver rhhä äuuus slic chung chung hung ung uslichung | aa | Ver rhhä hu un Co rhäu | Innovative Konzepte für den Wandel städtischer Quartiere Stadtentwicklung | Resilienz | Bürgerbeteiligung | Energiewende | Mobilität | Luftqualität | Smart City Urbane Transformation Ambivalenz zwischen urban zz z em Lifestyle und ländlicher Idylle Digitalisierung | Sm mart Cities | Mobili Sm m Sm m tät | Ländliche Regionen | Urbane Peripherie | Stadtökologie | Stadtgrün Urbanes es ssssssssss es sssss es sss eeeeeeeeee Land - durcccccccccccccccccccchhhgrü hh nte Stad dddddddddddddddddddt Urbaner Metabolismus: Material- und Energieflüsse in der Stadt Flächennutzung | Stadtgrün | Rohsto e | Energie | Wasser + Abwasser | Wiederverwendung | Bioökonomie SSSSStä SSS dti d i hhhhhhhh schhhhhhhh schee Res Res Re Re Re Re Res Res Res Res Res RRes Re RRee Res ee sourcenn 62 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Krisen als Entscheidungspunkte zukünftiger Entwicklung Die Covid-19-Pandemie hat das Leben in Städten weltweit verändert. Die Krankheit löste vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen krisenhafte Momente aus und legte somit Defizite in der öffentlichen Daseinsvorsorge offen. Zugleich verursachte das Herunterfahren des öffentlichen Lebens über längere Phasen ökonomischen, sozialen und psychischen Stress für die Einzelnen und die Stadtgesellschaften insgesamt. Die Erfahrungen der Pandemie ermöglichten aber auch durch das Aussetzen von Alltagsroutinen neue Perspektiven auf öffentliche Infrastrukturen. Ein Aspekt davon war, dass insbesondere kommunale Politik und Verwaltung kurzfristig urbane Innovationen dort implementieren konnten, wo sich unmittelbare gesellschaftliche Bedarfe zeigten. Besonders zu Beginn der Pandemie wirkten sich kollektive Eindämmungsmaßnahmen sowie individuelles Schutzverhalten einschränkend und dämpfend auf das Alltagsleben aus. Die unmittelbarsten Innovativ durch Krisen Covid-19 als Opportunitätsfenster für Digitalisierung und ökologische Nachhaltigkeit vor Ort Krise, Kommunale Handlungsfähigkeit, Digitale und nachhaltige Innovationen Steffen Jähn Krisen markieren oft Zeitpunkte, zu denen der weitere Verlaufspfad städtischer Entwicklung deutlicher wird. Die Covid-19-Pandemie stellte die öffentliche Daseinsvorsorge vor Herausforderungen. Dennoch konnte diese Krise von kommunalen Akteuren für digitale und ökologisch nachhaltige Innovationen genutzt werden. Der Artikel zeigt anhand zweier Beispiele aus Berlin, wie lokale Politik und Verwaltung vor dem Hintergrund plötzlich eintretender Krisenereignisse weiter handlungsfähig sein können und wie das auch zukünftig gelingen kann. © Edwin Hopper on unsplash 63 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte und deutlichsten Veränderungen äußerten sich in einer reduzierten Alltagsmobilität. Vor allem der öffentliche Nahverkehr verlor wegen einer befürchteten Ansteckungsgefahr die meisten Anteile an zurückgelegten Wegen. Im selben Augenblick nahm die digitale Kommunikation einen größeren Stellenwert in sozialen Routinen ein. Im Bereich des Arbeitens etwa vervielfachte sich der Anteil der Beschäftigten, die regelmäßig im Homeoffice arbeiten, ebenso verzeichneten der Online-Handel und Essenslieferdienste starke Umsatzzuwächse und auch digitale Nachbarschaftsplattformen registrierten eine Zunahme von Anmeldungen und Interaktion [1]. Diese veränderten Praxen der Mobilität sowie der Nutzung digitaler Tools ermöglichten neue und über die Krise hinausweisende Perspektiven auf ökologische Nachhaltigkeit sowie die Digitalisierung im Bereich des Städtischen. Bereits vor der Pandemie wurden beide Felder international mit Habitat- III - der urbanen Agenda der Vereinten Nationen - sowie der Neuen Leipzig Charta in der Europäischen Union als Ankerpunkte gegenwärtiger städtebaulicher Leitbilder definiert. Als Folge der Krise wurden diese Felder im Rahmen staatlicher Wiederaufbauprogramme mit finanziellen Förderungen bedacht und deren Implementation vor Ort dürfte sich in der Folge weiterhin intensivieren. Die Europäische Union etwa passte ihr langfristiges Budget ab 2021 zusammen mit kurzfristig aufgelegten Wiederaufbauprogrammen in der Höhe von insgesamt rund zwei Billionen Euro an. Bis zur Hälfte dieser Mittel soll von den Mitgliedstaaten darauf verwendet werden, Investitionen in erneuerbare Energien, die Energieeffizienz von Gebäuden, in Elektromobilität, den Breitbandausbau, die Digitalisierung der Verwaltung sowie den Aufbau von Rechenzentren zu intensivieren [2]. Kommunale Gestaltungsräume in der Krise Bei der Implementation dieser Vorhaben wird es unter anderem auf die Agilität von lokaler Politik und Verwaltung ankommen. Bereits vor der Pandemie wurde darauf verwiesen, dass es in Kommunen noch einige zu beseitigende Hemmnisse gibt, um angesichts der ökologischen und sozialen Herausforderungen der kommenden Jahrzehnte nicht nur reaktiv, sondern auch innovativ handeln zu können. In den letzten Jahren schränkten vielerorts ein Mangel an finanzieller Autonomie, fehlendes Fachpersonal und partiell institutionelle Faktoren, etwa in Folge starker Reglementierung durch übergeordnete Ebenen, die kommunale Handlungsfähigkeit ein [3]. Die durch die Covid-19-Pandemie ausgelöste Krise verdeutlichte drastisch Innovationsbedarfe. In der Bundesrepublik äußerten sich diese im Bereich der Digitalisierung von Behörden etwa im Mangel an Endgeräten, Software oder VPN-Tunneln. In einigen Kommunen führte dies in Kombination mit den zusätzlichen Belastungen durch Aufgaben in der Pandemiebekämpfung dazu, dass Verwaltungsdienstleistungen zeitweise nicht oder nur eingeschränkt verfügbar waren [4]. Gleichzeitig wurde bemängelt, dass etwa die in der organisierten Zivil- und Bürgergesellschaft vorhandenen Ressourcen nicht in die Bewältigung der Notlage geschuldeten Aufgaben eingebunden wurden [4, 5]. Doch an manchen Orten eröffnete die Pandemie der lokalen Politik und Verwaltung einen Raum, um städtische Innovationen zu schaffen. Zwei solcher Beispiele aus dem Stadtstaat Berlin werden hier näher betrachtet. Dort spielten die lokalen Bezirksverwaltungen eine zentrale Rolle bei der Herstellung solcher Innovationen. Stadtweit wurden digital-analoge Schnittstellen in der Nachbarschaftshilfe sowie Fahrrad-Mobilitätslösungen während der Pandemiesituation geschaffen. Dies gelang deshalb, weil öffentliche Akteure die Zivilgesellschaft verstärkt einbanden und weil ebenenübergreifende Zusammenarbeit innerhalb der Verwaltung umsetzungsorientiert und pragmatisch gehandhabt wurde. Digital-Analoge Schnittstellen in der Nachbarschaftsunterstützung In den ersten Tagen der Pandemie herrschte häufig Verunsicherung insbesondere bei vulnerablen Gruppen bezüglich möglicher Infektionsrisiken beim Aufenthalt in der Öffentlichkeit. Gleichzeitig entfielen vielfach Alltagskontakte und Begegnungen im Familien- und Freundeskreis sowie in der Nachbarschaft. Zudem reduzierten soziale Einrichtungen ihre Angebote auf das Nötigste. In dieser Situation wurde deutlich, dass einige Menschen Hilfe bei der Bewältigung von Alltagsaufgaben wie der Besorgung von Lebensmitteln und Hygieneartikeln, bei Botengängen oder der Versorgung von Haustieren benötigten. Vielfach waren Personen plötzlich auf externe Hilfe angewiesen, die noch kurz zuvor in der Lage waren, sich selbst zu versorgen. Angesichts dieser wachsenden Bedarfe entwickelte sich Hilfsbereitschaft unter Menschen, die ihre Nachbarn in dieser Situation unterstützen wollten. Vielfach boten Personen ihre Hilfe durch Aushänge in Treppenaufgängen von Mehrfamilienhäusern an, außerdem wurden hierfür digitale Medien wie Messengerdienste oder kommerzielle Nachbarschaftsplattformen genutzt [1]. Auf diese Steigerung von Hilfsbereitschaft und -bedarf wurden insbesondere 64 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Verantwortliche in Politik und Verwaltung schon zu einem frühen Zeitpunkt aufmerksam. Um diese Hilfebedarfe schnell entsprechenden Angeboten zuzuordnen, wurden digital-analoge Schnittstellen bereitgestellt. Die Initiative hierzu ging von der Berliner Senatsverwaltung sowie den unterschiedlichen Fachresorts der Bezirke aus. In den Aufbau dieser Struktur wurden bereits frühzeitig bezirkliche Freiwilligenagenturen integriert - da sie über Netzwerke sowie weitreichende Erfahrung in der Koordination von Engagement verfügten [4]. Als Schnittstellen fungierten dabei eine Telefonhotline sowie eine Online-Maske, die über die Internetpräsenzen der Berliner Verwaltung sowie über die Seite hilf-jetzt.de zu erreichen war, auf der bundesweit Unterstützungsangebote gesammelt zur Verfügung gestellt wurden. Während des Frühjahrs 2020 nutzten täglich mehrere hundert Hilfsbereite und Bedürftige dieses Angebot, wobei die Hotline vor allem von älteren Hilfesuchenden und die Online-Maske eher von den jüngeren Hilfeanbietenden genutzt wurde [4]. Die Mitarbeitenden der Freiwilligenagenturen führten dann mit Hilfe eines eigens entwickelten digitalen Datenbanktools Bedarfe und Angebote zusammen. Sowohl in der Verwaltung, als auch bei den Freiwilligenagenturen führte diese Kooperation zu einem besseren Verständnis des Handelns der jeweils anderen Seite und zudem beidseitig zu intensiveren Erfahrungen mit der Nutzung digitaler Tools. Wenngleich im Jahresverlauf die Nutzung dieser Hilfestrukturen stark nachgelassen hat, ist doch ein gewisser Lerneffekt zu verzeichnen. Im Gegensatz zur Fluchtmigration 2015 reagierte die Verwaltung innerhalb weniger Tage, indem sie schon zu Anfang digital-analoge Schnittstellen für Freiwillige bereitstellte sowie etablierte Akteure aus der Zivilgesellschaft in die Hilfsstrukturen einband. Denn damals waren lokale Politik und Verwaltung in die Kritik geraten, weil sie erst spät die dezentralen selbstorganisierten Hilfestrukturen aus der Bürgerschaft in ein übergreifendes Hilfekonzept einbanden. Aktuell verweist der Umgang der Berliner Senatsverwaltung sowie der Freiwilligenagenturen mit der Fluchtmigration aus der Ukraine darauf, dass hier ein institutionelles Lernen stattgefunden hat. So wird etwa bei Vermittlung von Privatzimmern auf die Webseite einer zivilgesellschaftlichen Organisation verwiesen. Und auf den Seiten vieler bezirklicher Freiwilligenagenturen wird erneut die Nutzung digitaler Schnittstellen für die Vermittlung von Hilfen angeboten. Die Innovation liegt hier insbesondere darin, sich in Notsituationen im Rahmen kurzer Entscheidungswege innerhalb der Verwaltung abzustimmen und zugleich die engagierte Bürgerschaft als Mitspieler einzubeziehen. Pop-Up-Fahrradwege Im Bereich des Stadtverkehrs wurden Innovationen ebenfalls durch Kooperation erstellt, dort waren es allerdings die unterschiedlichen Ebenen der Verwaltung, die handlungsorientiert miteinander in Austausch traten. Diese Maßnahmen hatten in Berlin ihre organisatorischen Grundlagen vor der Pandemie und sie wurden noch währenddessen für die Zeit danach verstetigt. Schon in den Jahren zuvor zeigte sich ein erhöhter Bedarf an infrastrukturellen Alternativen zum motorisierten Individualverkehr. Dieser ergab sich insbesondere aufgrund des starken Bevölkerungszuwachses der Stadt sowie der damit einhergehenden Zunahme innerstädtischer Verkehre. Der Ausbau öffentlicher Verkehrsangebote und Fahrradverkehrsinfrastrukturen wurde insbesondere seit 2016 von der Rot-Rot-Grünen Regierungskoalition angekündigt. Allerdings war aufgrund eines lange andauernden Prozesses von Gesetzgebungs- und Planungsverfahren die konkrete Umsetzung noch weitgehend ausgeblieben [6]. Die Sondersituation des Lockdowns bot an einigen Stellen die Möglichkeit, diesem größeren Vorhaben mit konkreten Maßnahmen teilweise vorzugreifen. Das weitgehende Fehlen von Alltagsverkehren im Frühjahr 2020 schuf den Raum für eine solche konkrete Umsetzung. Mit Pop-Up-Fahrradwegen, unmittelbar eingerichteten Fahrradinfrastrukturen, konnten diese in kurzer Zeit durch ebenenübergreifende Verwaltungskooperation umgesetzt werden. Das Konzept wurde bereits Anfang März 2020 in Bogotá / Kolumbien angewandt und schnell in europäischen Städten übernommen. In Berlin wurde der größte Anteil der Streckenkilometer im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg geschaffen. Das dort zuständige Straßen- und Grünflächenamt richtete bis Ende des Sommers 2020 16 Kilometer Bild 1: Inzwischen verstetigter Pop-Up-Radweg Kottbusser Damm im April 2022. © Jähn 65 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte temporäre Fahrradstreifen ein [7]. Mit rund 20 000 Euro pro Kilometer für deren Einrichtung und Wartung im ersten Jahr sind diese meist an mehrspurigen Hauptverkehrsstraßen angelegten, vor allem durch Baustellen-Warnbarken abgesicherten Radstreifen wesentlich günstiger als permanente Infrastrukturen. Möglich wurden diese Maßnahmen auf Grundlage von „Regelplänen zur temporären Einrichtung und Erweiterung von Radverkehrsanlagen“, die von der Berliner Senatsverwaltung für Verkehr herausgegeben wurden und deren Konzeptualisierung auf die Zeit vor der Pandemie zurückgeht [8]. Planung und Durchführung der Maßnahme wurde im Rahmen von Vor-Ort-Terminen zwischen dem Bezirksamt, der Senatsverwaltung sowie der Verkehrspolizei besprochen und konnten anschließend direkt umgesetzt werden [8]. Die schnelle Umsetzung der Maßnahme leistete einen Beitrag zur Reduzierung von Infektionsrisiken für auf Mobilität angewiesene Menschen. Die Pop-up-Fahrradwege führten zwar ebenfalls zu entschiedenen Gegenreaktionen der politischen Opposition sowie einem gerichtlichen Klageverfahren. Dennoch fanden die Radwege Zuspruch sowohl bei Nutzenden, als auch in der Zivilgesellschaft, die deren Einrichtung als einen pragmatischen Schritt in Richtung Verkehrswende begrüßten. Seitdem wurden einige dieser Radverkehrsinfrastrukturen verstetigt und in das bestehende Radverkehrsnetz integriert. Es ist angedacht, dass dieses Verfahren punktuell an Standorten zum Tragen kommt, wo noch zu eruieren ist, ob eine langfristig Fahrradinfrastruktur hinreichend genutzt wird. Innovationen sind förderfähig und Innovatoren meist schon vor Ort Aktuell betonen Beiträge aus der Kommunalforschung, dass Entscheidungs- und Budgetspielräume, ein verbindlicher Handlungsrahmen sowie eine akteursübergreifende Problemwahrnehmung und Lösungsorientierung zentral für Akteure der lokalen Politik und Verwaltung sind, um sich nicht nur reaktiv, sondern gleichfalls gestaltend auf sich verändernde Anforderungen einlassen zu können [9]. Diese treten langfristig in Gestalt gesellschaftlicher, technischer und ökologischer Transformationsprozesse auf, können aber ebenso durch kurzfristig eintretende Ereignisse bedingt sein. Wie die beiden hier vorgestellten Beispiele zeigen, nutzten lokale Politik und Verwaltung einige solcher Spielräume in der Corona-Pandemie. Dabei schufen eine stärkere Kooperation mit der Zivilgesellschaft sowie eine intensivere, ebenenübergreifende Zusammenarbeit innerhalb der Verwaltung städtische Infrastrukturen, die den Pandemiealltag für die Bevölkerung erleichterten. Insofern ist zu überlegen, wie trotz einer starken Dependenz von Förderkulissen und umfangreichen gesetzlichen Regelungen vermehrt Strukturen geschaffen werden können, die Verantwortlichen vor Ort gestaltende Handlungsräume im Umgang mit sich verändernden stadtgesellschaftlichen Anforderungen ermöglichen. LITERATUR [1] Böcker, N., Jähn, S.: Nachbar*innenschaft - „findet pandemiebedingt online statt“? ! Ein Multi-Methoden- Zugang zur Interaktion auf Nachbarschaftsplattformen. In: Soziologiemagazin (2022) Sonderheft Nr.-7. [2] European Commission - Directorate-General for Budget: The EU’s 2021-2027 long-term budget and NextGenerationEU: facts and figures, 2021. Online zuletzt abgerufen am 28.03.2022 unter: https: / / data. europa.eu/ doi/ 10.2761/ 91357 [3] Kersting, N.: Urbane Innovation - Ursachen, Strategien und Qualitätskriterien. In: ders. (Hrsg.) Urbane Innovation. Springer. Wiesbaden. (2017) S. 1 - 32. [4] Becker, A., Böcker, N., Jähn, S., Willim, J., Kretschmann, R.: Urban Governance, Corona und Digitalisierung: Wandel der Kooperationsbeziehungen im sozialräumlichen Krisenmanagement in Berlin. In: vhw-Werk- STADT. Berlin, 2022. [5] Fuhrmann, R.: Krisen-Governance etablieren! Wie wir gemeinsam Corona meistern. In: Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement. Newsletter für Engagement und Partizipation in Deutschland. 11/ 2020. [6] Die regierende Bürgermeisterin: Berliner Radverkehrsplan setzt neue Standards für rund 3000 Kilometer Radwege, 2021. Online zuletzt abgerufen am 28.03.2022 unter: https: / / www.berlin.de/ rbmskzl/ aktuelles/ pressemitteilungen/ 2021/ pressemitteilung.1123384.php [7] Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg: Konsequente Verstetigung der Pop-Up-Radwege, 2021. Online zuletzt abgerufen am 28.03.2021 unter: https: / / www. berlin.de/ ba-friedrichshain-kreuzberg/ aktuelles/ pressemitteilungen/ 2021/ pressemitteilung.1158571.php [8] Stein, T., Klein, T.: Neue Wege auf der Straße und in der Verwaltung. Die Berliner „PopUp“-Radwege, 2020. Online zuletzt abgerufen am 28.03.2022 unter: https: / / nationaler-radverkehrsplan.de/ de/ forschung/ schwerpunktthemen/ die-berliner-popupradwege [9] Kegelmann, J., Schweizer, C., Geiger, A., Kurt, M.,Lang, N.: Nachhaltige Stadtentwicklung durch nachhaltige Verwaltungsentwicklung - Die (Kommunal-)Verwaltung der Zukunft. In: vhw-Schriftenreihe 32. Berlin, 2021. Steffen Jähn, M.A. Wissenschaftler vhw - Bundesverband für Wohnen und Stadtentwicklung e. V. in Berlin Kontakt: sjaehn@vhw.de AUTOR 66 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Infrastrukturen entwickeln sich von traditionellen sektoralen, meist zentralen Systemen zu neuartigen, intelligenten, gekoppelten, oft dezentralen Lösungen [1]. Die Veränderungen und Innovationen werden durch gesellschaftliche Erwartungen und Prioritäten angetrieben: Klimaschutz und Gefahrenvorsorge gehören ebenso dazu wie Digitalisierung, Vernetzung, Energiewende oder schlichtweg neue technische Möglichkeiten durch Informations- und Kommunikationstechnologien. Zudem wird der Ruf nach nachhaltigen Lösungen immer lauter [2]. Beispielsweise soll eine Kläranlage heute nicht nur das Abwasser klären. Sie soll wirtschaftlich und sozial gerecht zum Klimaschutz und zur Energiesicherheit beitragen und die eigene Betriebssicherheit erhöhen indem klimaschädliches Methan als alternative Energiequelle aufgefangen, gespeichert, stromnetzdienlich eingespeist oder zu Wasserstoff veredelt wird. Zusätzlich soll die (Ab-)Wärme des geklärten Wassers durch Wärmepumpen zurückgewonnen und in Wärmenetze eingespeist werden. Greifbare Veränderungen passieren meist auf lokaler Ebene. Soll eine innovative Infrastrukturlösung umgesetzt werden, kommen Akteure auch auf kommunaler Ebene daher nicht umhin, Neuland zu betreten. Indem Infrastrukturbetreiber die Herausforderungen neuer gesellschaftlicher Ziele und Erwartungen annehmen, werden konventionelle Systemgrenzen überschritten. Neben der technischen Lösung müssen neue Vereinbarungen und Kompetenzteilungen zwischen bisher getrennten Nachhaltige und resiliente Infrastrukturlösungen Das informelle Instrument TRAFIS.NB unterstützt die Lösungssuche in frühen Planungsphasen Infrastrukturen, Nachhaltigkeit, Resilienz, Ressourcenschonung, Bewertung Alfred Olfert, Jörg Walther Das speziell für frühe Planungsphasen entwickelte Werkzeug zur Nachhaltigkeitsbewertung TRAFIS.NB unterstützt Such- und Planungsprozesse für nachhaltige und resiliente Infrastrukturlösungen. Das prozessorientierte Instrument hilft, die Nachhaltigkeitswirkung innovativer Infrastrukturlösungen expertengestützt zu bewerten und die Ergebnisse für die begleitenden Diskussions- und Entscheidungsprozesse bereitzustellen. TRAFIS.NB basiert auf einem operativen Nachhaltigkeitsverständnis, welches Ressourcenschonung, Versorgungssicherheit sowie Wirtschaftlichkeit und soziale Gerechtigkeit integriert. Systemen, neue Finanzierungsmodelle, veränderte Betriebs- und Wartungsroutinen entwickelt werden. Oft müssen sich auch die Kunden anpassen und neue Nutzungsformen lernen. Diese Vielschichtigkeit der Wirkungen führt dazu, dass die Nachhaltigkeitseffekte in ihrer ganzen Breite nicht hinreichend bedacht werden. Zum einen ist über die Wirkungen der gekoppelten Prozesse zu wenig bekannt. Zum anderen werden im Planungsprozess (auch neue) Akteursgruppen zusammengeführt, die oft sehr unterschiedliche Zielvorstellungen verfolgen. Die konventionelle Schrittfolge von Planung führt oft dazu, dass der anfänglich hohe Nachhaltigkeitsanspruch im Prozess über die Akteure hinweg nicht verlustfrei weitergegeben werden kann und letztendlich in der Umsetzung auf ein technisch-ökonomisch dominiertes Minimalverständnis von Nachhaltigkeit reduziert wird. Es fehlt ein über die im Planungs- und Umsetzungsprozess beteiligten Akteure hinweg synchronisiertes Problembzw. Zielverständnis und eine systematisch aufbereitete Nachhaltigkeitsbewertung. Das hier vorgestellte informelle Instrument zur Nachhaltigkeitsbewertung zukunftsfähiger Infrastrukturen (TRAFIS.NB) setzt an dieser Stelle an und unterstützt die Entwicklung nachhaltiger und resilienter Infrastrukturlösungen gerade in den frühen Entwicklungsphasen, indem es vorhandenes Wissen aktiviert und einen strukturierten und „ressourcenleichten“ Rahmen für einen Austausch und richtungsgebende Entscheidungen anbietet. Es wurde 67 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte im Rahmen des UBA-Forschungsprojektes TRAFIS entwickelt (Transformation hin zu nachhaltigen, resilienten Infrastrukturen, FKZ 3719 15 103 0). Prozessbegleitende Nachhaltigkeitsbewertung in frühen Planungsphasen Wenn neue Lösungen nachhaltiger sein sollen als die bisherigen, sind verschiedene Prioritäten, Komplexitäten, Abhängigkeiten, Kostenstrukturen, Ressourcenbedarfe und Nutzungsformen zu bedenken. Das macht die Lösungssuche zu einer reizvollen aber nicht einfachen Aufgabe. Ein genaueres Hinsehen ist gerade in frühen Entwicklungsphasen effizient und instruktiv. Dies stellt jedoch auch Anforderungen an den Prozess der Lösungsfindung und die Auswahl und Auslegung möglicher Optionen. Stärken an einer Stelle können schnell mit Schwächen an anderer Stelle einhergehen. Bei innovativen Infrastrukturlösungen sollte dies möglichst frühzeitig bedacht werden, um unnötige Kompromisse bei Nachhaltigkeitszielen zu vermeiden und Suchprozesse ziel- und nachhaltigkeitsorientiert zu beschleunigen. Mit TRAFIS.NB können die Auswirkungen von innovativen Infrastrukturlösungen im konkreten Anwendungsfall hinsichtlich Versorgungssicherheit, Ressourcenschonung, Wirtschaftlichkeit und Nutzerorientierung aus unterschiedlichen Perspektiven der Akteure zeitgleich bewertet werden. Das Instrument kann für die zielgerichtete Weiterentwicklung oder Auswahl verschiedener Lösungsoptionen genutzt werden, da es Konflikte und Unsicherheiten bzw. Stärken und Schwächen der Lösungen sichtbar macht und Bedarfe für tiefergehende Untersuchungen aufzeigt. Die Anwendung der Nachhaltigkeitsbewertung strukturiert den Bewertungs- und Diskussionsprozess, sorgt für Transparenz und liefert nicht zuletzt auch differenzierte Begründungen für Entscheidungen, die über die übliche Fokussierung auf Wirtschaftlichkeit und die CO 2 -Bilanz hinausgehen. Das Vorgehen bei der Bewertung basiert auf der sogenannten Delphi-Methode. Diese wurde seit den 1960er Jahren entwickelt, um strukturiert und so weit wie möglich belastbar Einschätzungen über unsichere, meist in der Zukunft liegende Sachverhalte zu generieren. Die Bewertung wird durch Expert*innen durchgeführt. Sie basiert auf einer (informierten) Schätzung von Wirkungen, die aus methodischen, zeitlichen oder wirtschaftlichen Gründen nicht durch andere Methoden genauer bestimmt werden können. Nutzer*innen der Nachhaltigkeitsbewertung sind in erster Linie Betreiber*innen und Planer*innen von Infrastrukturen oder öffentliche Verwaltungen. Der Bewertungsprozess kann beispielweise im Rahmen einer Machbarkeitsstudie durchgeführt werden. Im Weiteren werden der Kriteriensatz zur Bewertung und das Vorgehen kurz umrissen. Die Voraussetzungen und Arbeitsschritte fasst Bild 1 zusammen. Kriterien zur Bewertung von Nachhaltigkeit und Resilienz von Infrastrukturlösungen Technische Infrastrukturen stehen als zentrales Rückgrat des modernen Lebens unserer Gesellschaft im Fokus der Diskussion über Nachhaltigkeit, Resilienz und Versorgungssicherheit [3, 4, 5]. TRAFIS.NB ist darauf angelegt, diese Themen in einer Bewertung zusammenzudenken. Als Ergebnis eines mehrstufigen Auswahlprozesses [1] definieren wir 33 Nachhaltigkeitskriterien in den drei Dimensionen: 1. Versorgungssicherheit, 2. Ressourcenschonung, 3. Wirtschaftlichkeit und Nutzerorientierung (Bild 2). Unter Versorgungssicherheit werden Kriterien gebündelt, welche auf die Fähigkeit eines Systems schließen lassen, bei externen und internen Störungen die Funktionsfähigkeit zumindest teilweise aufrechtzuerhalten bzw. schnell wiederherzustellen. Sind die Voraussetzungen erfüllt? √ Das Vorhaben strebt nach mehr Nachhaltigkeit. √ Die Lösungssuche kann ergebnisoffen geführt werden. √ Die Lösungsoptionen sind hinreichend konkretisiert. √ Die Prozesskoordination hat Kompetenzen und ist akzeptiert. Bereiten Sie die Arbeit der Bewertungsgruppe gründlich vor. Zusammenstellen der Bewertungsgruppe Vorgehen und Bewertungsmodus festlegen Aufgabenstellung und Lösungsoptionen klären Prozessmoderation mit Entwicklern der Lösung und der Bewertungsgruppe Nutzen Sie das automatisierte TRAFIS.NB-Tool, um die Nachhaltigkeitsbewertung mit der Bewertungsgruppe durchzuführen. Schritt 1: Kriterien prüfen (ggf. Beschreibung anpassen) und Verständnis der Kriterien absichern Prozessmoderation, ggf. in Abstimmung mit der Bewertungsgruppe Schritt 2: (optional) Kriterien bei Bedarf ergänzen Schritt 3: (optional) Kriterien für Sonderauswertung wählen Schritt 4: a. Bereitstellen der Bewertungstabelle b. Einzelbewertung durch die Bewertungsgruppe Prozessmoderation Bewertungsgruppe Schritt 5: Zusammenführen der Bewertungen Prozessmoderation bzw. TR AFIS.NB- Tool Schritt 6: automatisierte Ergebnis-Ausgabe (Visualisierung) als Tabellen, Grafiken und als Bericht Nutzen Sie die Ergebnisse für den weiteren Entwicklungsprozess und bei der Entscheidungsfindung. Wiederholen Sie die Bewertung wenn nötig. Bild 1: Arbeitsschritte für die Prozessmoderation der prozessbegleitenden Nachhaltigkeitsbewertung (verändert nach [6], Beta-Version). © Olfert, Walther TRAFIS.NB - Ablaufschema Nachhaltigkeitsbewertung für innovative Infrastrukturlösungen ( Details siehe Anwendungshandbuch) 68 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Diese Kriterien bzw. Merkmale stehen in ihrer Gesamtheit für die operative, das heißt für die auf kurzfristige Gewährleistung der Versorgungssicherheit ausgerichtete Resilienz eines Systems. Neben der Widerstandsfähigkeit von Systemkomponenten gegenüber Störungen können anhand der Kriterien Strukturen, Ressourcen und Fähigkeiten auf Seiten der technischen Anlagen, des Managements und der benötigten natürlichen Ressourcen [5] bewertet werden. Die in der Literatur intensiv diskutierte, auf langfristige Anpassung von Systemen orientierte strategische Resilienz [5] steht in TRAFIS.NB nicht im Fokus. Ressourcenschonung erfasst Wirkungen auf den Verbrauch bzw. die Beeinträchtigung natürlicher Ressourcen. Es geht einerseits um Stoffe (Rohstoffe, Wasser …), Energie und Flächen, die für die Erbringung der Infrastrukturdienstleistung als Input-Ressourcen benötigt werden. Andererseits geht es auch um die Beanspruchung von Umweltgütern (Luft, Gewässer, Boden als sogenannte Output-Ressourcen) durch die Emission von (Schad-)Stoffen, Abwärme oder Lärm. Mit Kriterien der Dimension Wirtschaftlichkeit und Nutzerorientierung werden mögliche Auswirkungen für Betreiber*innen und Nutzer*innen von Infrastrukturen beschrieben. Aus Betreiberperspektive geht es zum Beispiel um die ökonomische Tragfähigkeit bis hin zur Nutzungsdauer einer Lösung. Aus Nutzerperspektive stellen sich Fragen nach der Verteilungsgerechtigkeit im Sinne der Qualität und der ökonomischen und technischen Barrierefreiheit der Infrastrukturdienstleistung. Die 33 Kriterien bilden ein Basisset. Mit dem Set kann nach unserer Einschätzung die Nachhaltigkeitswirkung sehr vieler innovativer Infrastrukturlösungen bewertet werden. Reicht das Basisset nicht aus oder passt es nicht zu einer speziellen Lösung, können die Nutzer*innen eigene Kriterien ergänzen oder nicht relevante Kriterien weglassen. Die Kriterien werden ohne Gewichtung bewertet. Sie stehen im Ergebnis gleichrangig nebeneinander. Es obliegt den Bewertenden im Diskussionsprozess, hier eventuell eine Priorisierung vorzunehmen. Die Kriterien selbst sind durch eine konkrete Fragestellung beschrieben, die im Rahmen der Bewertung von jedem Teilnehmer auf einer fünfstufigen Skala beantwortet werden muss. Ablauf der Bewertung Prozessmoderation als Erfolgsfaktor Der Bewertungsprozess wird von einer kompetenten und vor Ort akzeptierten „Prozessmoderation“ koordiniert. Diese hat einen klaren Auftrag von übergeordneter Stelle oder ist anderweitig legitimiert. Sie steht im Austausch mit den Entwicklern der Lösungsvariante(n), verfügt über operative Kompetenzen bei der Begleitung der Bewertungsschritte und genießt im Idealfall das Vertrauen aller Beteiligten. Die Prozessmoderation ist mit dem Prozess vertraut, prüft die Voraussetzungen, organisiert und moderiert den Bewertungsprozess. Zusammensetzung der Bewertungsgruppe Der zweite erfolgskritische Punkt von TRAFIS.NB ist die Auswahl der bestmöglich geeigneten Expert*innen. Ziel ist die Zusammenstellung einer Bewertungsgruppe, die neben dem fachlichen Wissen und Erfahrungen auch unterschiedliche Perspektiven auf ein innovatives Infrastrukturprojekt einbringt. Diese sind wichtig, um einseitige Bewertungen zu vermeiden, die zum Beispiel durch ähnliche fachliche Neigung der Beteiligten entstehen würden und so die Grundlage für weitere Erwägungen verfälschen können [7]. Auf kommunaler Ebene sind geeignete Bewertende beispielsweise: das mittlere und untere Management des Infrastrukturbetriebs, Wissensträger in der kommunalen Verwaltung, lokale/ regionale Partner für Infrastrukturplanung und -betrieb oder auch Erfahrungsträger aus anderen Kommunen. Versorgungssicherheit Ressourcenschonung Wirtschaftlichkeit und Nutzerorientierung Leistungsfähigkeit Technische und organisatorische Komplexität Störungsanfälligkeit Dependenz Technische Anpassungsfähigkeit Redundanz (technisch, personell) Puffervermögen Modularität Verfügbarkeit v. Fachkräften Kosten und Dauer für die Funktionswiederherstellung Primärenergie, Endenergie Flächen schädliche Bodenveränderungen Rohstoffe, kritische Rohstoffe Wasser Gewässerschutz Treibhausgase gesundheitsgefährdende Stoffe Lärm und Abfall besonders geschützte Lebensräume und Arten Ökonomische Tragfähigkeit (Betreiber) Qualität und Quantität der Infrastrukturdienstleistung Folgekosten auf Nutzerseite Technische Barrierefreiheit Kosten der Dienstleistung Bild 2: Dimensionen und Kriterien für die prozessbegleitende Nachhaltigkeitsbewertung bei der Entwicklung innovativer Infrastrukturlösungen auf kommunaler Ebene [6, 8]. © Olfert, Walther 69 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Prüfung und Auswahl der Kriterien Das vorgestellte Kriterienset bietet eine Grundlage, die grundsätzlich direkt verwendet werden kann. Die Anpassung ist bei speziellen Infrastrukturlösungen, die bislang nicht abgebildete Nachhaltigkeitseffekte erwarten lassen, geboten. Die Überprüfung und möglicherweise Anpassung des Kriteriensets erfolgt im Vorfeld durch die Prozessmoderation. Der Schritt kann auch gemeinsam mit der Bewertungsgruppe durchgeführt werden. Bewertung und Ergebnisvisualisierung Die Bewertenden werden anhand der Fragestellungen durch das Kriterienset geführt und nehmen eine Einschätzung auf der Bewertungsskala vor. Jedes Mitglied der Bewertungsgruppe bewertet separat. Der Prozessmoderation obliegt es, diese Einzelergebnisse zusammenzuführen und grafisch und tabellarisch zu visualisieren. Die Einzel-Bewertung kann im Vorfeld durchgeführt werden oder Bestandteil eines Workshops sein. Bei Vorliegen mehrerer alternativer Lösungsvarianten kann und soll die Bewertung mehrfach angewendet werden, um die Ergebnisse für mehrere Lösungsvarianten miteinander zu vergleichen. Diskussion Die Diskussion der Ergebnisse in der Bewertungsgruppe ist der wichtigste Teil von TRAFIS.NB. Diese schafft ein gemeinschaftliches Verständnis der Auswirkungen der vorliegenden Lösungsoption(en). Sie ist erforderlich, um die Beweggründe hinter den Bewertungen aus unterschiedlichen Perspektiven besser zu verstehen und um diese im Sinne der Weiterentwicklung einer nachhaltigen Lösung mit Substanz zu versehen. Es ist empfehlenswert, diese Diskussion in Form eines Workshops zu organisieren. TRAFIS.NB - Bewertungswerkzeug Zur leichteren Umsetzung der TRAFIS-Nachhaltigkeitsbewertung wird ein MS Excel-basiertes Bewertungs-Tool zur Verfügung gestellt, das alle Kriterien und Fragestellungen, Möglichkeiten zur Anpassung und Bewertung sowie automatisiert erstellte Bewertungsergebnisse in Form einzelner Tabellen und Grafiken sowie als zusammenfassenden Bericht enthält. Die Handhabung des TRAFIS.NB-Tools wird in einem Anwendungshandbuch [6] erläutert. Ausblick In vorangegangenen Arbeiten konnten wir zeigen, dass der eigens für Infrastrukturen auf kommunaler und regionaler Ebene entwickelte Bewertungsansatz gut für innovative und gekoppelte Infrastrukturlösungen angewandt werden kann [1]. Mit der nun vorliegenden Beta-Version des Bewertungswerkzeugs (TRAFIS.NB-Tool) und des Anwenderhandbuchs bereiten wir konkrete Test-Anwendungen bei kommunalen Projektentwicklungen zum Beispiel in der Stadt Cottbus vor. Bei Interesse können auch weitere Anwendungen an konkreten kommunalen oder regionalen Infrastrukturvorhaben beratend unterstützt werden. Das TRAFIS.NB Tool und Anwendungshandbuch stehen bereit unter: https: / / www.ioer.de/ projekte/ trafis/ trafisnb LITERATUR [1] Olfert, A., Brunnow, B., Schiller, G. et al.: Nachhaltigkeitspotenziale innovativer, gekoppelter Infrastrukturen. Umweltbundesamt, Texte 99/ 2020, Dessau, 2020. [2] Thacker, S., Adshead, D., Fay, M. et al: Infrastructure for sustainable development. Nat Sustain 2 (2019) S. 324 - 331. DOI: 10.1038/ s41893-019-0256-8. [3] Adshead, D., Thacker, S., Fuldauer, LI., Hall, J.W.: Delivering on the Sustainable Development Goals through long-term infrastructure planning. Global Environmental Change 59: 101975 (2019). DOI: 10.1016/ j.gloenvcha.2019.101975. [4] Folke, C.: Resilience (Republished). E&S 21: art44 (2016). DOI: 10.5751/ ES-09088-210444. [5] Olfert, A., Walther, J., Hirschnitz-Garbers, M. et al.: Sustainability and resilience - a practical approach to assessing sustainability of infrastructures in the context of climate change. (2021) DOI: 10.1007/ 978-3- 658-33702-5_5. [6] Olfert, A., Walther, J.: TRAFIS.NB - Prozessbegleitende Nachhaltigkeitsbewertung für innovative Infrastrukturlösungen. Anwendungshandbuch: Methode und Bewertungswerkzeug. Umweltbundesamt, Dessau, 2022. [7] Kahneman, D., Sibony, O., Sunstein, CR.: Noise: was unsere Entscheidungen verzerrt - und wie wir sie verbessern können, 1. Auflage. Siedler, München,2021. [8] VDI - Verein Deutscher Ingenieure: VDI Richtlinie 4605 „Nachhaltigkeitsbewertung“ (VDI 4605), 2017. Alfred Olfert Wissenschaftlicher Mitarbeiter Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung Kontakt: a.olfert@ioer.de Jörg Walther Wissenschaftlicher Mitarbeiter Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg Kontakt: walther@b-tu.de AUTOREN 70 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte UNESCO-Welterbe als Strategie für eine resiliente Stadtentwicklung? Auswirkungen urbaner Transformation in der Mittel- und Welterbe-Stadt Quedlinburg Stadtplanung, Demografie, Wohnen, Tourismus, Denkmalschutz, Anpassungsfähigkeit Lena Greinke Widerstands- und anpassungsfähige Stadtentwicklung ist in Krisenzeiten bedeutsamer denn je, um auf aktuelle Herausforderungen schnell reagieren zu können. Kommunen stehen dabei zunehmend vor der Herausforderung einer resilienten Transformation. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, die Auswirkungen urbaner Transformation mit dem oder durch das UNESCO-Welterbe am Beispiel der Mittel- und Welterbestadt Quedlinburg (Sachsen-Anhalt) zu analysieren. Mit Hilfe qualitativer leitfadengestützter Interviews wird der Frage nachgegangen, inwiefern das UNESCO-Welterbe eine Strategie für eine resiliente - also widerstands- und anpassungsfähige - Stadtentwicklung in Quedlinburg sein kann. Zu diesem Zweck werden Chancen und Risiken des UNESCO-Welterbes in den Bereichen Welterbe, Tourismus sowie Wohnen und Stadtentwicklung aufgezeigt. Die Befunde zeigen Folgendes: Durch die Auszeichnung als UNESCO-Weltkulturerbe in 1994 hat die Stadt Quedlinburg in den letzten Jahren an touristischer Attraktivität gewonnen. Zudem konnten Anreize für Investor*innen geschaffen und dadurch die Wohnqualitäten verbessert werden. Allerdings gibt es auch noch Handlungsbedarf, die historische Identität der Stadt zukunftsfähig und resilient weiterzuentwickeln. Schlossberg Quedlinburg. © Hans Braxmeier auf Pixabay 71 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Resiliente Transformation in Quedlinburg Insbesondere in Krisenzeiten - wie der Finanz-, Klima- oder Covid-19-Krise - wird das Konzept der resilienten urbanen Transformation oder widerstands- und anpassungsfähiger Stadtentwicklung immer bedeutsamer. In unterschiedlichen Forschungssträngen wird Resilienz bereits vielschichtig diskutiert und bedeutet zumeist Robustheit, Widerstandfähigkeit oder Selbstregulationsfähigkeit [1]. Als zentrale Verwundbarkeiten werden in der internationalen Literatur vor allem Naturkatastrophen, gezielte terroristische Angriffe und Cyber-Angriffe genannt [2]. Sie sind aber in nahezu allen Bereichen zu finden, zum Beispiel Wirtschaft, Umwelt, Finanzen, Infrastrukturen, Politik oder Demografie und Soziales [2]. Dazu können zum Beispiel auch lokale Überschwemmungen, Hitzeinseln oder kurzfristige Gewerbe- oder Einzelhandelschließungen zählen. Um im Krisenfall resilient zu sein und sich zu organisieren, reicht es als Stadt oft nicht aus, auf Standardmechanismen zurückzugreifen, sodass vielerorts neue Wege im Sinne von Experimentieren und Lernen für innovatives, adaptives Handeln gefordert werden. Dafür sind insbesondere intensive, gezielte und langfristige Kooperationen zwischen Akteuren der Stadtentwicklung nötig [3], etwa aus Politik, Stadtplanung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft [2]. In einer nachhaltigen Stadtentwicklung sollte die Resilienzpolitik stets prozessorientiert ausgerichtet sein und könnte sich am Resilienz-Zyklus orientieren [3] (Bild 1). Dabei gilt es für Kommunen, die Risiken durch Analysen ab- und einzuschätzen. Denn so kann Vorsorge betrieben, Gefahren können frühzeitig erkannt werden. Durch das Erkennen und Eindämmen der Verwundbarkeiten in der Stadt-(entwicklung) können Kommunen geschützt werden. Mit Hilfe der Analysen kann es gelingen, angemessen zu reagieren und zum Beispiel ein Krisenmanagement zu etablieren, mit dem Schocks gebändigt werden können [vgl. 3]. „Wenn dies gelingt, fällt es Städten auch leichter, sich von Krisen wieder zu erholen“ [3] und dadurch resilienter zu werden. Bislang wurden Welterbestätten zumeist in der Tourismusforschung thematisiert [4]. Neben dem Tourismus kann sich das Weltberbe aber möglicherweise auch auf andere Bereiche der Stadtentwicklung auswirken, zum Beispiel auf Wohnen und Leben. Ziel des Beitrages ist es, die Auswirkungen urbaner Transformation mit oder durch den Welt(kultur)erbestatus zu analysieren. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwiefern das UNESCO-Welterbe eine Strategie für eine resiliente Stadtentwicklung in der Mittel- und Welterbestadt Quedlinburg sein kann. Analyse des UNESCO-Welterbes am Beispiel der Stadt Quedlinburg Für die Analyse wird beispielhaft die etwa 120- m² große Mittelstadt Quedlinburg mit Mittelzentrum im Landkreis Harz (Sachsen-Anhalt) ausgewählt [7]. Die Welterbestadt Quedlinburg wurde erstmals im Jahr 922 schriftlich erwähnt und hat sich seitdem zu einer attraktiven Stadt mit rund 23 600 Einwohner*innen entwickelt [7]. Im Jahr 1994 wurde sie in die UNESCO-Welterbeliste der schützenswerten Kulturgüter aufgenommen und feierte im Jahr 2019 das 25-jährige Jubiläum UNESCO-Welterbe Quedlinburg [5]. Die Stadt zeichnet sich durch ein geschlossenes historisches Stadtbild aus und bildet damit eines der größten Flächendenkmaler Deutschlands mit über 1 300 Fachwerkhäusern [6]. In den vergangenen Jahrzehnten verzeichnet die Stadt bereits einen Bevölkerungsverlust, der auch für die Zukunft prognostiziert wird. Der negative Pendlersaldo im Jahr 2020 von - 405 verdeutlicht, dass Beschäftigte vor Ort wenig Arbeitsplätze finden [7]. Nach der Wiedervereinigung litten zahlreiche Denkmale in ostdeutschen Städten aufgrund von Mangelwirtschaft unter flächendeckendem Verfall [6]. Betroffen war und ist die Stadt vom Abbau industrieller Arbeitsplätze, Abwanderung (junger) Bevölkerung und - nicht zuletzt bedingt durch die pandemische Lage - sich reduzierendem Einzelhandel [vgl. 8]. Veränderungen in der Stadtstruktur sind seit 1991 mit der Erhaltungs- und Gestaltungssatzung sowie seit 1996 mit dem Denkmalschutzgesetz des Landes Sachsen-Anhalt abzustimmen [8]. Zudem Bild 1: Resilienz-Zyklus. © Greinke nach [3] 72 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte sind die Vorgaben der UNESCO zu beachten. Diese werden regelmäßig durch die UNESCO-Kommission überprüft [9]. Im Jahr 2022 wurden qualitative leitfadengestützte Interviews [Experteninterviews nach 10, 11, 12] mit Akteuren aus Verwaltung, Politik, Wohnungswirtschaft und Gesellschaft geführt. Der für die Gespräche entwickelte Leitfaden enthält Fragen zur aktuellen Situation in Quedlinburg, der Stadtentwicklung vor und nach der Auszeichnung als UNESCO-Welterbe sowie zur zukünftigen Entwicklung der Stadt. Die etwa 30 bis 60-minütigen Interviews wurden in Form von Protokollen und Audiomitschnitten dokumentiert [13] und transkribiert [12] sowie anhand von qualitativer Inhaltsanalyse [14] ausgewertet. Herausforderungen und Chancen des Welterbe-Status für die Stadtentwicklung Das Welterbe kann eine Chance und eine Herausforderung für die Stadtentwicklung von Mittelstädten in der urbanen Transformation sein. Für die Stadt Quedlinburg ist dieser Transformationsprozess seit vielen Jahren gelebte Praxis und wird es auch zukünftig sein. So heißt es in der zweiten Fortschreibung des Städtebaulichen Rahmenplans der Welterbestadt Quedlinburg „Quedlinburg 2036“ im Jahr 2021, dass es Ziel ist, die „historische Identität der Welterbestadt Quedlinburg zu bewahren, als auch die Stadt zukunftsfest im Sinne urbaner Resilienz weiterzuentwickeln“ [15]. Stadtentwicklung, Denkmalschutz und Welterbe Die Auszeichnung als Welterbe bedeutete für die Stadt Quedlinburg nicht nur touristische Attraktivität, sondern auch neue, andere Stadtentwicklung als zuvor. Betroffen vom demografischen Wandel musste die Stadt schon häufiger auf Bevölkerungsrückgang und Fortzug reagieren. Durch den Welterbe-Status als Flächendenkmal galt es aber den Bedingungen der UNESCO gerecht zu werden und das historische Stadtbild zu erhalten, was „bei einem großräumigen Altstadtkern weitaus komplexer als bei Einzeldenkmalen“ [16] ist. Das kann unter anderem daran liegen, dass die Gebäude und Flächen in privater und öffentlicher Hand liegen [17]. Nicht immer ist es für die lokalen Entscheidungsträger*innen leicht, die globalen Standards des Welterbeschutzes vor Ort umzusetzen, ohne dabei als kommunale Planungshoheit mit den Maßgaben zu kollidieren [4]. Die Regulierungen führen zum Beispiel zu reduzierten Landnutzungsoptionen [17]. Einige Investor*innen hat das dazu veranlasst, auf den Kauf einer denkmalgeschützten Immobilie zu verzichten, weil die Auflagen zu groß waren (beispielsweise die Bindung an soziale Mieter*innen). Gleichzeitig kann die Welterbeauszeichnung dazu führen, dass der Stadt aus denkmalschützerischer Perspektive besonderes Gewicht verliehen wird [4]. So haben einige Investor*innen aus persönlichem oder ideellem Interesse die Immobilien saniert. Zwar ist der Austausch der Stadtverwaltung mit den zuständigen Komitees der UNESCO bisher nahezu konfliktfrei verlaufen; die UNESCO selber hat Bild 2: Renovierte Fachwerkhäuser neben leerstehenden Immobilen in Quedlinburg. © Greinke, Dezember 2021 73 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte fast ausschließlich weiche Sanktionsmittel (zum Beispiel: Mahnungen) [4], dennoch besteht immer auch das Risiko, auf der „Roten Liste“ zu landen und den Status zu verlieren. Beispiele in anderen Städten haben bereits gezeigt, wie kontrovers die Maßgaben der UNESCO diskutiert werden können (etwa beim Kölner Dom [16]). Dies bekam auch Quedlinburg bei der Entwicklung einer Seniorenresidenz zu spüren, die nicht durchgehend auf Zustimmung stieß. Zudem liegt derzeit die Ausweisung eines neuen Gewerbegebietes zur Prüfung durch die UNESCO vor. Solche Wohn- und Gewerbeansiedlungen können jedoch für eine schrumpfende Stadt wertvoll sein, um die Auswirkungen des demografischen Wandels zu minimieren und Fortzug zu vermeiden, sowie Gewerbe und Industrie zu diversifizieren. Durch das regelmäßige Monitoring der UNESCO ist die Stadt stets dazu angehalten, strategisch zu agieren und „klug“ zu reagieren, was folglich Planungen befördern, aber auch hemmen kann. Anbindung und Wirtschaftsstandort Bereits Ende der 90er Jahre analysierte Manz [8], dass Quedlinburg durch seine Lage in der Mitte Deutschlands durchaus ein attraktiver Standort sei, allerdings waren damals Investor*innen weniger interessiert, weil die überregionale verkehrliche Anbindung der Stadt kritisch war [8]. Zudem waren die nahgelegenen Städte Goslar und Wernigerode Konkurrenzstandorte [8]. Heute ist die Stadt durch einen Zubringer zur Autobahn etwas besser angebunden, kämpft aber weiterhin um wirtschaftliche Attraktivität. In Quedlinburg selber und im direkten Umland gibt es nur wenige Industrie- und Gewerbeansiedlungen, sodass es an Arbeitsplätzen außerhalb der Einzelhandels-, Tourismus- und Beherbergungswirtschaft mangelt. Themenbezogene Kooperationen mit den Nachbarstädten befruchten derzeit zwar den Tourismus wechselseitig (zum Beispiel durch gemeinsame Veranstaltungen), stärken aber nicht die Wirtschaftskraft. Zu beobachten war, dass aufgrund des Welterbe-Status insbesondere die Tourismusbranche mit den dazugehörigen privaten und wirtschaftlichen Profiteur*innen im Übernachtungs- und Bewirtungsbereich gewann. Parallel wird bemängelt, dass sich durch das Welterbe viele Maßnahmen ausschließlich auf das Innenstadtgebiet beschränken, obwohl dort nur rund 20 Prozent der Bevölkerung der Stadt leben. Die Ausweisung denkmalgeschützter Gebäude und des Ensembles war und ist ein positiver Wirtschaftsfaktor [6], der dafür gesorgt hat, dass Quedlinburg an Bekanntheit überregional und weltweit gewonnen hat [8] sowie bei den Bewohner*innen eine stärkere Identifikation mit der Stadt hervorgerufen hat [vgl. 17]. Gleichzeitig kann eine Mittelstadt wie Quedlinburg durchaus auch an die Grenzen ihrer touristischen Kapazitäten gelangen [8]. Wohnen und Leben Die Stadt Quedlinburg identifiziert sich selbst als Wohnstandort mit attraktiven Lebensbedingungen. Durch das Welterbe und den damit verbundenen Restriktionen sind aber insbesondere die innerstädtischen Lagen eine Herausforderung für den Wohnungsmarkt. Vielerorts sind zumeist nur minimale (architektonische) Interventionen an der physischen Substanz der Gebäude möglich [18], was wiederum im Gebäudeinneren sehr individuelle Zuschnitte der Wohnflächen bedingt [8]. Aufgrund der daraus resultierenden Einschränkung freier Entfaltungsmöglichkeiten der Bewohner*innen kann es zu Abwanderungen aus dem Innenstadtgebiet kommen [8]. Für Investor*innen ist insbesondere in Zeiten der Covid-19-Pandemie der Kauf und die Sanierung von denkmalgeschützten Gebäuden nicht gewinnbringend, sodass derzeit häufig davon abgesehen wird. Gleichzeitig kann durch den Charme der denkmalgeschützten Gebäude der Zuzug von zahlungskräftigen Eigentümer*innen und Mieter*innen die Gefahr der Gentrifizierung erhöhen [8]. Beide Herausforderungen haben Quedlinburg bislang weniger stark getroffen: Zwar gab es Fortzüge aus der Innenstadt und es gab (hochpreisige) Renovierungen privater (ausländischer) Investor*innen, die jedoch bisher nicht zur Gentrifizierung führten (Bild 2). Dennoch wurden und werden in Quedlinburg Immobilien bereits abgerissen oder umgenutzt, um den Leerstand zu reduzieren. Vielmehr führten die Investitionen dazu, dass die vor dem Welterbe stark sanierungsbedürftigen und leerstehenden Wohnungen (etwa 60 % Wohnungsleerstand) [19] wieder nutzbar wurden. Mittlerweile befindet sich ein Großteil des Leerstands ausschließlich außerhalb des Welterbegebietes. Die Sanierungen ermöglichten zudem neue Wohnformen (zum Beispiel: betreutes Wohnen für Menschen mit Behinderung im Haus der Deutschen Stiftung Denkmalschutz) [6]. Zudem wurden durch das Welterbe neue Instrumente der Stadtentwicklung erprobt: Im Jahr 1995 gab es zum Beispiel einen Baulückenwettberwerb [8] und später wurden auch Zwischennutzungen von Einzelhandelsflächen oder Plätzen in der Innenstadt etabliert. Vor allem aber für private Investor*innen stellten die Fördermaßnahmen durch das Welterbe eine Chance zur Entwicklung von Wohnungen für den Eigenbedarf 74 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte oder zur Vermietung dar. Dafür waren nicht nur die finanziellen Anreize verantwortlich, sondern auch das Verbundenheitsgefühl mit der Stadt, der ideelle Wert der Immobilien und die Aufbruchsstimmung nach der Wende. Allerdings sorgen die Anreize für (private) Investor*innen im Zusammenhang mit der touristischen Attraktivität der Stadt auch für negative Entwicklungen auf dem (Miet-)Wohnungsmarkt. Überall in Quedlinburg sind in den letzten Jahren Ferienwohnungen aus dem Boden gesprossen. Das führt zu Konkurrenzen mit dem Beherbergungsgewerbe und den Bewohner*innen der Stadt. Für die touristische Attraktivität sind die zahlreichen Überachtungsmöglichkeiten in Hotels und Ferienwohnungen sowie weitere Angeboten (zum Beispiel Airbnb) aber sehr förderlich. Unter den Akteur*innen vor Ort sorgen sie für vielschichtige Diskussionen. Zum einen kann die hohe Anzahl der Ferienwohnungen, dazu führen, dass nicht mehr ausreichend Mietwohnungen für die lokale Bevölkerung zur Verfügung stehen. Allerdings kann der Verkauf von Immobilien als Ferienwohnungen auch eine Lösung für den Mietwohnungsmarkt sein, weil diese keine zusätzlichen Konkurrenzwohnungen sind. Gleichzeitig stellen die (privaten) Ferienwohnungen eine Konkurrenz zu Beherbergungsbetrieben dar, die dadurch nicht mehr ausreichend ausgelastet werden. Diese Problematik ist der Stadtverwaltung durchaus bekannt. Maßnahmen zur Eindämmung dieser Herausforderung, zum Beispiel durch ein Zweckentfremdungsverbot, werden deshalb immer wieder abgewogen, aber bislang (noch) nicht etabliert. Das Spannungsfeld zwischen Welterbe, Tourismus, Wohnen und Stadtentwicklung als Beitrag zur resilienten Stadt? Die Stadt Quedlinburg hat in der Vergangenheit durch die Auszeichnung als Welterbe-Stadt profitiert und tut dies auch heute noch. Nicht nur die touristische Attraktivität, sondern auch das Leben und Wohnen vor Ort hat sich positiv verändert. Allerdings gibt es auch noch zahlreiche Handlungsoptionen für Quedlinburg als Stadt mit historischer Identität, um sich „zukunftsfest im Sinne urbaner Resilienz weiterzuentwickeln“ [15]. Um „den ständigen Wandel mit Rücksicht auf das wertvolle Erbe zu steuern“ [16], zeigt sich die Stadt Quedlinburg aktiv und hat bereits den zweiten Städtebaulichen Rahmenplan „Quedlinburg 2036“ fortgeschrieben. Darin enthalten ist ein Sanierungskonzept und unterschiedliche Maßnahmen. Die hier formulierten Ziele und Strategien sind wichtig, um „die gesunde Mischung aus der lebenswerten Stadt, die wir sein müssen, da es unser Standortfaktor ist, in Kombination mit allen Konsequenzen des Welterbes zu finden“ [20]. Um sich auch zu einer klimagerechten Stadt zu entwickeln sollen zukünftig die naturnahen Potenziale der Stadt (beispielsweise Grün- und Wasserflächen) genutzt und ein stadtökologisches Grundlagenkonzept erarbeitet werden [15]. Für Quedlinburg bietet sich eventuell auch der Blick in andere Städte an, die bereits Instrumente zum Umgang mit denkmalgeschützten Gebäuden und Flächen entwickelt haben (etwa die Stadtumbaumatrix in Görlitz [21] oder das Kommunale Denkmalkonzept in Bayern [22]). In Anlehnung an den Resilienz-Zyklus [nach 3] (Bild- 1) gilt es für die Welterbestadt Quedlinburg zukünftig die Risiken für eine resiliente Stadtentwicklung einzuschätzen. Dabei können Vulnerabilitätsanalysen oder Machbarkeitsstudien divergierende Interessen verdeutlichen und helfen, diese zukunftsfähig abzuwägen. Dadurch kann es den Akteur*innen vor Ort gelingen, Gefahren frühzeitig zu erkennen und dafür entsprechende Maßnahmen zu entwickeln. Um die Verwundbarkeit in der Stadtentwicklung zu minimieren, ist es zukünftig wichtig, noch stärker Kooperationen anzustoßen bzw. auszubauen. Themenbezogen gelingt diese Kollaboration schon recht gut (etwa bei der Entwicklung des ISEK). Allerdings gilt es hier auch (neue) Formate der informellen Beteiligung stärker in den Fokus zu rücken. Runde Tische und Workshops können helfen, die Chancen Quedlinburgs zu stärken und an den Herausforderungen gemeinsam zu wachsen. Um Kaskadeneffekte in Zukunft zu verhindern, sollte die Mittelstadt Quedlinburg sich nicht auf dem Welterbe-Status ausruhen, sondern insbesondere die Diversifizierung der Bereiche Wohnen, Tourismus, Wirtschaft und Bildung fördern. Geplante Gewerbegebiete und neue Wohnformen sind einige Beispiele, die es sich lohnt, im Einklang mit dem Welterbe weiter zu entwickeln. Um den demografischen Wandel abzufedern, ist es aber auch nötig, geeignete Strategien und Leitbilder für die Stadt zu entwickeln. Beispielsweise könnte die Kooperation oder Ansiedlung einer Hochschule, Zweigstelle oder eines Ausbildungszentrums (etwa für Pflegeberufe) für den Zuzug junger Menschen sorgen. Eine Vernetzung mit den Nachbarkommunen ist erstrebenswert, um Synergieeffekte zu nutzen. Der Welterbe-Status hat die Stadtentwicklung Quedlinburgs positiv beeinflusst. Die Stadt hat den Status nicht nur als Auszeichnung aufgefasst, sondern als Arbeitsauftrag verstanden. So konnte der Wohnungsleerstand reduziert, touristische Attraktivität gesteigert, historische Bausubstanz erhalten 75 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte und ein Alleinstellungsmerkmal geschaffen werden. Bislang zeigte sich die Stadt innovativen Ansätzen gegenüber offen, um Leerstand zu vermeiden (zum Beispiel: Zwischennutzungen) oder „neue“ Bauweisen an historischer Substanz (zum Beispiel: Balkone im Hinterhof). Um den heutigen Nutzungsansprüchen und gleichzeitig den Herausforderungen einer denkmalverträglichen Stadtentwicklung gerecht werden zu können, sollte die Stadt diese Offenheit beibehalten. In Quedlinburg gibt es bereits innovative Akteure, die leerstehende Flächen flexibel nutzen könnten (zum Beispiel: für Coworking in ehemaligen Industriegebäuden). Für die Mittel- und Welterbestadt Quedlinburg ist es zukünftig von Bedeutung, den Resilienzbegriff in der Praxis zu operationalisieren und mögliche resilienzbildende Leitideen, Strategien und Maßnahmen zukunftsweisend gemeinsam mit allen Akteuren zu realisieren. LITERATUR [1] Jakubowski, P. Kaltenbrunner, R.: Resilienz. S. I-II, in: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 4, (2013). [2] Christmann, G., Ibert, O., Kilper, H.: Resilienz und resiliente Städte. S. 183 - 196, in: Jäger, T., Daun, A., Freudenberg, D. (Hrsg.): Politisches Krisenmanagement. Band 2: Reaktion - Partizipation - Resilienz. Wiesbaden, Springer VS, 2018. [3] Jakubowski, P.: Resilienz - eine zusätzliche Denkfigur für gute Stadtentwicklung. In: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 4, (2013) S. 371 - 378. [4] Schmitt. T., Schweitzer, A.: Welterbe der Stadtentwicklung in Gefahr? Zu deutschen Debatten und zur global-lokalen Governanz von UNESCO-Welterbestätten am Beispiel des Kölner Doms. In: Berichte zur deutschen Landeskunde, Leipzig, Band 21, Heft 4, (2007) S. 329 - 352. [1] Quedlinburg-Tourismus-Marketing GmbH: Geschichte und Chronik. Zuletzt aufgerufen am 05.04.2022, https: / / www.quedlinburg-info.de/ de/ sehenswert/ historie.html [6] Deutsche Stiftung Denkmalschutz: Quedlinburg: Denkmalschatz trifft Denkmalschutz. Bonn, 2019. [7] brain-SCC GmbH: Demografie-Monitor. Kennzahlen und Indikatoren der Landesentwicklung. Zuletzt aufgerufen am 05.04.2022, http: / / www.demografiemonitor.de [8] Manz, K.: Quedlinburg: Auswirkungen des Status als UNESCO-Weltkulturerbe auf die Stadtentwicklung. In: Europa Regional, 7 (1999) (4) S. 14 - 22" https: / / nbn-resolving.org/ urn: nbn: de: 0168-ssoar-48277-2 [9] Deutsche UNESCO-Kommission e. V.: Über die Deutsche UNESCO-Kommission, Zuletzt aufgerufen am 05.04.2022, https: / / www.unesco.de/ [10] Liebold, R., Trinczek, R.: Experteninterview. In: Kühl, S., Strodtholz, P., Taffertshofer, A. (Hrsg.): Handbuch Methoden der Organisationsforschung. Quantitative und Qualitative Methoden. Wiesbaden, (2009) S. 32 - 56. [11] Mayer, H. O.: Interview und schriftliche Befragung. Grundlagen und Methoden empirischer Sozialforschung. 6. überarb. Aufl., München, 2013. [12] Meuser, M., Nagel, U.: ExpertInneninterviews - Vielfach erprobt, wenig bedacht. Ein Beitrag zur qualitativen Methodendiskussion. In: Bogner, A., Littig, B., Menz, W. (Hrsg.): Das Experteninterview. Theorie, Methode, Anwendung. Opladen, (2002) S. 71 - 93. [13] Helfferich, C.: Die Qualität qualitativer Daten. Manual für die Durchführung qualitativer Interviews. 4. Aufl.. Wiesbaden, 2011. [14] Mayring, P.: Qualitative Inhaltsanalyse: Grundlagen und Techniken. 11. überarb. Aufl., Weinheim, 2010. [15] Welterbestadt Quedlinburg (Hrsg.): QUEDLINBURG 2036. Zweite Fortschreibung Städtebaulicher Rahmenplan der Welterbestadt Quedlinburg / Juli 2021. [16] Ruland, R.: Entwicklung vs. Weltkulturerbe? Der schwierige Umgang mit einem Flächendenkmal. In: Bauwelt 21, (2006) S. 50 - 51 [17] Franz, P.: Stadtentwicklung durch Denkmalschutz? Eine Analyse seiner Regulierungs- und Anreizinstrumente. In: Wirtschaft im Wandel 6 (2010) S. 274 - 280. [18] Oevermann, H., Mieg, H. A.: Nutzbarmachung historischer Industrieareale für die Stadtentwicklung: Erhaltungsbegriffe und Fallbeispiele in der Praxis. In: disp - The Planning Review, 52 (1), (2016) S. 31 - 41. [19] Schirmer, U.: Eine Erfolgsgeschichte. Altstadtsanierung Quedlinburg. In: Monumente, Jg.29, Nr. 2, (2019) S. 64 - 72. [20] Interview mit Vetreter*innen der Stadt Quedlinburg am 17.02.2022. [21] Knippschild R., Zöllter C.: Stadterneuerung zwischen Revitalisierung und Denkmalschutz. In: Altrock U., Kurth D., Kunze R., Schmidt H., Schmitt G. (Hrsg.) Stadterneuerung in Klein- und Mittelstädten. Jahrbuch Stadterneuerung. Springer VS, Wiesbaden, 2020. https: / / doi.org/ 10.1007/ 978-3-658-30231-3_6 [22] Sandmeier J., Selitz L.M.: Das Kommunale Denkmalkonzept Bayern. In: Altrock U., Kurth D., Kunze R., Schmidt H., Schmitt G. (Hrsg.): Stadterneuerung in Klein- und Mittelstädten. Jahrbuch.- Die Autorin bedankt sich bei den Interviewpartnerinnen und -partnern für die wertvollen Auskünfte und Hinweise, ohne die dieser Beitrag nicht zustanden gekommen wäre. Außerdem bedankt sie sich bei ihren Kolleginnen, Dr. Nora Mehnen und Dr. Sonja Fücker, für die Anmerkungen und Korrekturen. Dr. Lena Greinke Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschung und Lehre Institut für Umweltplanung Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover Kontakt: greinke@umwelt.uni-hannover.de AUTORIN 76 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Bereits kurz nach Beginn der Corona-Pandemie und des Inkrafttretens der Schutzmaßnahmen wurden insbesondere in den Medien vielfältige potenzielle Auswirkungen auf Städte und das Stadtleben beschrieben: Beispielsweise könnte es zur Reduzierung öffentlicher Parkflächen in Innenstädten kommen [1], das Arbeiten in Zukunft flexibler und ortsungebundener stattfinden [2], der Handel zukünftig lokaler funktionieren [3] und die Gastronomie Einbußen, aber auch Erholungseffekte erfahren [4]. Von wissenschaftlicher Seite wurden vor allem Fragen zur Bebauungs- und Funktionsdichte in Städten [5] und den Veränderungen im (berufsbedingten) Mobilitätsverhalten [6] aufgeworfen. Angesichts dieser ersten Vermutungen scheinen Innenstädte besonders für Folgen der Corona- Pandemie exponiert. Durch ihre Multifunktionalität beherbergen sie vor allem Einrichtungen der durch Reisebeschränkungen und Schließungen besonders stark betroffenen Sektoren Einzelhandel, Kultur und Tourismus. Zudem weisen sie aufgrund ihrer meist hohen baulichen Dichte selten ausreichend Freiräume auf. In historischen Altstädten, besonders in Welterbestätten, treten diese Umstände in besonderem Maße hervor. Deren hohe Anziehungskraft sorgt wiederum für günstige wirtschaftliche Perspektiven. Das Infrastrukturangebot muss sowohl auf Tourist*innen als auch Bewohner*innen ausgerichtet sein. Die hohe bauliche Dichte und der Erhalt historischer Gebäude unterschiedlichster Epochen machen das Bauen im Bestand zu einer besonderen Herausforderung [7]. Historische Innenstädte Historische Innenstädte in der Corona-Pandemie in der Corona-Pandemie Stadtentwicklung, Altstädte, Weltkulturerbe, Tourismus, Denkmalschutz, Revitalisierung Erik Mann, Stefanie Rößler, Robert Knippschild Seit Beginn der Corona-Pandemie wurden unterschiedliche Thesen zu deren Auswirkungen auf die Stadtentwicklung formuliert. Die Vielfältigkeit möglicher Folgen für Infrastruktur, Mobilität und das Stadtleben ließ auch räumliche Auswirkungen vermuten. Angesichts unterschiedlicher Rahmenbedingungen sind spezifische Auswirkungen in historischen Innenstädten zu erwarten. Eine Experteneinschätzung im ersten Jahr der Pandemie in sechs Städten mit historisch bedeutsamen Innenstädten zeigt mögliche Potenziale und Herausforderungen für die künftige Entwicklung. Lübeck. © Udo Voigt auf Pixabay 77 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Studie zu Herausforderungen in historischen Innenstädten Dieser Beitrag basiert auf einer Untersuchung zur Art und Wahrscheinlichkeit des Eintretens langfristiger Folgen durch die Corona-Pandemie in historischen Innenstädten [8]. Es wurden sechs Städte in Deutschland konkret betrachtet - Bamberg, Regensburg, Lübeck, Stralsund, Görlitz und Meißen. Die Städte beschäftigen sich als „Arbeitsgemeinschaft Historische Städte“ vorrangig mit dem Erhalt und der zeitgemäßen Nutzung historischer Altstadtquartiere und betreiben diesbezüglich einen regelmäßigen Erfahrungsaustausch. Die Untersuchung basierte auf Hypothesen in den Themenfeldern Wohnen, Tourismus, Freiraum, Einzelhandel, Kultur und Stadtentwicklungsplanung (Bild 1). Zunächst wurden die Entwicklungsstände und künftige Entwicklungsziele der Altstadtquartiere vor der Pandemie auf Grundlage von Stadtentwicklungskonzepten und sektoralen Fachplanungen sowie erste Erkenntnisse aus dem Pandemiegeschehen analysiert. Der Betrachtungszeitraum reichte von Anfang 2020 bis Ende September 2020. So konnten die Phase des ersten Lockdowns mit sehr starken Einschränkungen des öffentlichen Lebens im Frühjahr und die Beruhigung des Infektionsgeschehens in den Sommermonaten mit entsprechenden Lockerungen der Einschränkungen betrachtet werden. Schlüsselfaktoren wurden identifiziert und ihre Wirkung untereinander analysiert. Daraufhin wurden für die ausgewählten Themen jeweils zwei Entwicklungsszenarien erstellt. Expert*innen aus der Arbeitsgemeinschaft wurden mit einem Fragebogen zur Eintrittswahrscheinlichkeit dieser Szenarien befragt. Ergebnisse Wohnen Vor der Pandemie erfuhren die Altstädte zumeist eine positive Bevölkerungsentwicklung. Die Wohnfunktion wurde trotz geringer Defizite in Bezug auf das familien- und seniorengerechte Wohnen als stabil beschrieben. Durch eine zunehmende Differenzierung beim Wohnraumangebot sollten diese Defizite in Zukunft abgebaut werden. Die Mittelstädte in der Untersuchung konnten dabei auf einen Wohnungsüberhang zurückgreifen, die Großstädte konnten neuen Wohnraum nur durch Neubau und Nachverdichtung bereitstellen. In den Szenarien wurde hinterfragt, ob die bestehende Differenzierung des Wohnraums in den Altstädten ausreicht, um die Wohnfunktion aufrechtzuerhalten oder ob mögliche veränderte Ansprüche an den Wohnraum zur Abwanderung führen würden. Die befragten Städte hielten große Abwanderungen aus den Altstädten zu diesem Zeitpunkt für unwahrscheinlich. Man konnte sich aufgrund der Kompaktheit der Stadtteile, der kurzen Wege und der fußläufigen Erreichbarkeit von Versorgungseinrichtungen sogar weitere Bevölkerungsgewinne vorstellen. Damit würde das Thema Wohnen generell wichtiger für die Stadtentwicklung werden. Tourismus Besonders in den Städten mit Weltkulturerbetitel (Bamberg, Regensburg, Lübeck, Stralsund) trug der Hypothese 1 - Wohnen Das Homeoffice und der verstärkte Aufenthalt in der eigenen Wohnung führen zu neuen Ansprüchen an den Wohnraum, den die Altstädte nicht bedienen können. In der Folge treten Abwanderungsbewegungen auf. Hypothese 2 - Tourismus Um Altstädte in Zukunft resilienter gegen Pandemien zu machen und eine konstante Belebung der Quartiere zu erreichen, werden touristische Angebote reduziert und Angebote für die Bewohnerschaft ausgebaut. Hypothese 3 - Freiraum Die Pandemie zeigt eine Unterversorgung der Altstädte mit Freiräumen. Eine Aufwertung und Vernetzung bestehender Freiräume reicht nicht aus, um neue Bedarfe zu decken. Der Rückbau wird genutzt, um neue Flächen zu generieren. Hypothese 4 - Einzelhandel Die Altstädte behalten ihren Reiz für den Einzelhandel. Wenn es durch die Pandemie zu Geschäftsaufgaben kommt, werden schnell Nachmieter*innen gefunden. Lediglich die angebotene Ware verändert sich unter Umständen. Hypothese 5 - Kultur Die Pandemie führt nicht zu einem verringerten Verlangen nach Kultur. Ein erhöhter Infektionsschutz führt allerdings zu mehr Freiluftveranstaltungen und weniger Kapazitäten in Gebäuden, was bestehende Kultureinrichtungen gefährdet. Hypothese 6 - Stadtentwicklungsplanung Durch das Pandemiegeschehen verzögert sich die Fortschreibung von Stadtentwicklungskonzepten. Sie werden durch die Pandemie komplexer, weil in Zukunft mehr Interessen und Akteur*innen berücksichtigt werden müssen. Bild 1: Hypothesen der Untersuchung. © Erik Mann 78 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Tourismus zur wirtschaftlichen Stabilität bei. Er beschränkte sich dabei in der Regel auf die Altstädte. Laut mehrerer Stadtentwicklungskonzepte sollte die touristische Nutzung gefördert werden, etwa durch eine Stärkung des Übernachtungstourismus oder durch weitere Angebote in anderen Stadtteilen. Die Akteure signalisierten, dass sie eine weitgehende Normalisierung im Tourismus für realistisch halten. Beeinträchtigungen wurden eher durch einen Rückgang von Geschäftsreisen gesehen. Sollten Tourist*innen aber auf lange Sicht ausbleiben, belaste das neben Beherbergungsbetrieben auch die Gastronomie. Geschäftsaufgaben in diesen Segmenten könnten dann größere Funktionsverluste für die Altstädte bedeuten. Auch wenn der Lockdown eine starke Abhängigkeit der Altstädte vom Tourismus offenlegte, sahen die befragten Akteure keinen Anlass darin, touristische Angebote zugunsten von Angeboten für die Bewohner*innen zu reduzieren, auch wenn diese während der Pandemie Absatz und Konsum überhaupt erst ermöglichten. Freiraum Bereits vor der Pandemie deutete vieles darauf hin, dass die untersuchten Altstädte in Bezug auf Sport-, Spiel- und Grünflächen unterversorgt sind. Straßen, Wege und Plätze übernahmen neben der verkehrlichen Nutzung noch weitere Funktionen. Die Städte beschrieben in ihren Plänen und Programmen, dass in Zukunft die Freiraumgestaltung durch stärkere Vernetzung, verbesserte Zugänglichkeit und Aufwertung der Ausstattung bestehender Flächen verbessert werden sollte. In den Szenarien wurde danach gefragt, ob es ausreicht, bestehende Freiflächen qualitativ anzupassen oder ob es nötig werden würde, dauerhaft mehr nutzbare Flächen zur Verfügung zu stellen. Die Städte signalisierten zunächst, dass multifunktional ausgestattete Freiräume Teil der Altstädte wären und zum Stadtbild gehören würden und auch Sport- und Spielaktivitäten im öffentlichen Raum gewünscht wären. Es sei auch die Bereitschaft da, neue Freiräume zu schaffen, wenn der Bedarf bestehe. Nur gebe es Grenzen bezüglich des verfügbaren Raums in den Altstädten. Mehr Flächenpotenziale gibt es eher in den kleineren Mittelstädten (Görlitz, Meißen). Da einige Städte aber auch mit einem Rückgang des Nutzungsaufkommens in den Grünanlagen nach der Pandemie rechneten, bekam auch das Szenario viel Zuspruch, welches nur die qualitative Verbesserung bestehender Freiräume vorsah. Einzelhandel Die Innen- und damit auch die Altstädte bildeten vor der Pandemie häufig das Versorgungszentrum in den untersuchten Städten. Dabei konkurrierten die größeren Städte in zentralen Lagen stärker mit anderen Einzelhandelsstandorten, was sich auch auf die Angebotspalette in den Altstädten auswirkte. In peripheren Lagen bildeten die Erreichbarkeit und in Grenzregionen das Preisgefälle zu Nachbarländern limitierende Faktoren für eine vitale Einzelhandelslandschaft. Innenentwicklung und Funktionserhaltung waren vor der Pandemie wichtige Planungsziele in den Städten, was sich in einer qualitativen und zielgruppenorientierten Gestaltung des Einzelhandels und der Ausbildung von Alleinstellungsmerkmalen widerspiegelte. Beim Thema Einzelhandel wurde aufgrund der starken pandemiebedingten Einschränkungen bei beiden Entwicklungsszenarien eine Verschlechterung der zukünftigen Situation gegenüber der Ausgangssituation beschrieben. Die befragten Akteure rechneten durch verstärkten Online-Handel und verringerte Kaufkraft mit negativen Folgen für den stationären Einzelhandel, die zudem bereits kurzfristig eintreten würden. Dazu zählten Geschäftsaufgaben und durch Leerstand und Attraktivitätsverlust auch eine funktionale Schwächung der Altstädte. Bild 2: Aufruf des Görlitzer Einzelhandels zum Einkauf in der Stadt, 2021. © S. Rößler 79 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte Kultur Die häufig aus historischen Gründen in den Altstädten verorteten Kultureinrichtungen hatten vor der Pandemie einen hohen Anteil bei der Generierung von Besucher*innen. Auch der öffentliche Raum in den Altstädten wurde häufig kulturell bespielt. Gefragt, ob nach der Pandemie übliche Formate und Angebote ausreichen würden, um die Nachfrage nach Kultur zu bedienen, oder ob es Veränderungen in der Angebotspalette von Kulturveranstaltungen geben könnte, gab es unterschiedliche Reaktionen. Gemäß der Einschätzung der Entwicklungsszenarien gingen die befragten Städte von einer Rückkehr zur Normalität aus, hatten aber Sorge, dass neue Infektionsschutzrichtlinien sinkende Besucherzahlen bzw. steigende Kosten zur Folge haben könnten. Dennoch galt die Auflösung traditioneller Kultureinrichtungen als unwahrscheinlich, da sie fester Bestandteil der Altstädte und auch des Weltkulturerbes seien. Im Hinblick auf neue Formate wurde signalisiert, dass die Altstädte ein gutes Ambiente für Kulturveranstaltungen im Freien bieten würden und hier auch Raum und Wille für diesbezügliche Experimente herrsche. Stadtentwicklungsplanung Die Bestandspflege historischer Gebäude und der Erhalt der Stadtteilstruktur waren vor der Pandemie ein wichtiger Bestandteil der Stadtentwicklungsplanung in allen untersuchten Städten. Zum Erhalt der oberzentralen Funktion sollten in den Altstädten gezielt Gewerbe und Dienstleistungen verortet werden. Sie sollten aber nicht nur funktional, sondern auch gestalterisch stärker in die Gesamtstadt eingebunden werden. Im Hinblick auf die Nutzung der Verkehrsinfrastruktur verfolgten alle Städte das Ziel der Entlastung der Altstädte vom Durchgangsverkehr sowie vom ruhenden Verkehr. Das Ziel einer hohen baulichen Dichte und urbaner Qualitäten wurde eher in den Großstädten verfolgt. Meißen als kleinste Stadt in der Betrachtung signalisierte, dass vor allem die Wohnquartiere nicht weiter verdichtet werden sollten. Die Auswertung zeigte, dass nur einige Städte der Meinung sind, dass sich durch die Pandemie die Komplexität der Stadtentwicklungsplanung erhöhen könnte und, dass sich laufende Fortschreibungen von Entwicklungskonzepten durch die Einarbeitung des Themas Pandemie verzögern würden. Obwohl die Bewältigung der Corona-Krise neues Wissen erfordere, ist der Großteil der befragten Städte der Meinung, dies mit dem bestehenden Fachpersonal leisten zu können. Unterstützend wirkt der Ausblick darauf, dass bestehende Kooperationen der Kommunen mit anderen Akteuren, die sich in der Regel arbeitserleichternd auswirken, durch die Corona- Krise nicht gefährdet scheinen. Fazit und Schlussfolgerungen Die Untersuchung zeigte, dass die Sektoren Wohnen und Tourismus das Potenzial haben, nach der Pandemie stabilisierend auf Alt- und Innenstädte zu wirken. Die Pandemie könnte für ein höheres Tempo bei der Differenzierung des Wohnraums sorgen, um die Attraktivität des Wohnens in der Altstadt zu sichern. Die Erfahrungen aus den Sommermonaten 2020 könnten dazu führen, dass Kulturveranstaltungen vermehrt im öffentlichen Raum und auf Grün- und Freiflächen stattfinden werden. Dadurch würde eine intensivere Nutzung der Flächen erfolgen, in deren Folge die qualitative Ausgestaltung bestehender Freiräume vorangetrieben werden könnte. Die erhöhte Aufmerksamkeit auf das direkte Wohnumfeld könnte die Bedarfe zur Schaffung und Ausgestaltung privater Freiräume in Wohnquartieren steigern. Durch absehbare Geschäftsaufgaben im Einzelhandel kann es vermehrt zu Leerständen in den Altstädten kommen. Darunter könnte die Attraktivität der Stadtteile leiden. Da das Pandemiegeschehen über den Betrachtungszeitraum hinaus anhielt, spitzte sich die Situation in einigen Sektoren weiter zu. Durch die weiteren Schließungsphasen in Einzelhandels-, Kultur-, Beherbergungs- und Gastronomiebetrieben seit dem Herbst 2020 ist mittlerweile mit mehr Geschäftsaufgaben und damit auch Leerständen in den Alt- und Innenstädten zu rechnen. Auch Fragen nach dauerhaften Veränderungen in den Bereichen Mobilität und mobiles Arbeiten lassen sich zum Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht abschließend beantworten. Mit Fortdauer der Pandemie und verbesserter Studienlage gibt es neben Hypothesen zunehmend empirisch belegte Befunde zu den kurz- und langfristigen Auswirkungen und möglichen Anpassungsstrategien und -maßnahmen: Demnach ist in den Innenstädten mit mehr Leerständen bei Büro- und Verkaufsflächen zu rechnen. Beim Wohnen ist nicht mit einem Nachfragerückgang zu rechnen, wodurch frei werdende Gewerbeflächen auch in Wohnraum umgewandelt werden könnten. Die Pandemie könnte zudem ein Treiber für bereits bestehende Entwicklungen sein, besonders den ruhenden Verkehr und den motorisierten Individualverkehr aus publikumsintensiven Bereichen der Innenstädte zurückzunehmen [9]. Die Corona-Pandemie könnte auch für einen Digitalisierungsschub, einen regionalisierten Nahrungsmittelvertrieb und ein Wachstum 80 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES THEMA Stresstest für Städte von Stadt- und Metropolregionen sorgen [10]. Ausschlaggebend für die Entwicklungen sind die spezifischen sozioökonomischen Voraussetzungen wie etwa die Abhängigkeit von Tourismus und Handel, der Anteil an Selbstständigen oder der Beschäftigten in Risikosektoren. So kann es zu großen regionalen Unterschieden kommen [11]. Im Einzelhandelssektor scheint die Konkurrenz zu anderen Einzelhandelsstandorten für Probleme zu sorgen und negative Folgen der Corona-Pandemie in diesem Sektor zu verstärken [12]. Resiliente Strukturen, wie eine gute digitale Infrastruktur, funktionierende Nachbarschaften und Teilhabe der Bürgerschaft sind gute Voraussetzungen für die Bewältigung der Pandemiefolgen [13]. Die vorliegende Untersuchung zeigt die Unterschiedlichkeit von Städten bezüglich potenzieller Auswirkungen, aber auch Strategien zum Umgang mit den Pandemie-Folgen. Die Großstädte besitzen eher wenige Flächenpotenziale und bauen auf die qualitative Ausgestaltung bestehender Freiräume, wohingegen die Mittelstädte öfter Leerstände oder Brachflächen im Bestand aufweisen und Möglichkeiten der quantitativen Erweiterung sehen. Hier stehen die Städte in zentralen Lagen in einem größeren Wettbewerb, wohingegen die Städte in peripheren Regionen häufig eine eigene Zentralität aufweisen, aber schlechter zu erreichen sind. Unterschiedliche Entwicklungsstände, räumlich Lagen, Erreichbarkeiten und wirtschaftliche Schwerpunkte machen es daher nötig, die Risiken und Chancen durch die Corona-Pandemie lokal zu bewerten. LITERATUR [1] Puvogel, H.-H.: Corona-Krise: So könnten sich Mobilitäts- und Parkverhalten ändern. 2020, München (https: / / vision-mobilit y.de/ news/ corona-krise-sokoennten-sich-mobilitaets-und-parkverhalten-aendern-43638.html, Zugriff 19.08.2020). [2] Obmann, C., Ivanov, A., Scheppe, M.: Digitaler, traditioneller, grüner: Corona könnte die Arbeitswelt nachhaltig verändern. 2020, Düsseldorf (https: / / www. handelsblatt.com/ unternehmen/ beruf-und-buero/ buero-special/ buerotrends-digitaler-traditionellergruener-corona-koennte-die-arbeitswelt-nachhaltigveraendern/ 25865016.html? ticket=ST-2714363-Rq- WJE9ErkJIYHrfcxoOk-ap3, Zugriff 22.09.2020). 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[8] Mann, E.: Die Corona-Pandemie und mögliche Folgen für die räumliche Entwicklung historischer Altstadtquartiere. 2021, Dresden: Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. https: / / www.ioer.de/ fileadmin/ user_upload/ ioer_de/ presse/ download/ Polic y-Paper_Corona _ Folgen-fuer-historische-Altstadtquartiere_final.pdf [9] Anders, S., Kreutz, S., Krüger, T.: Die Covid-19-Pandemie und die Innenstädte. In: Planerin 1 (2021) S. 19 - 21. [10] Kunzmann, K. R.: Europäische Raumentwicklung nach COVID-19, in: Nachrichten der ARL 3 (2020) S. 9 - 14. [11] Böhme, K.; Lüer, C.: Die Auswirkungen von COVID-19 auf Regionalentwicklung in Europa, in: Nachrichten der ARL 3 (2020) S. 28 - 34. [12] Krüger, A.: German Planning Discourses on the Post-Pandemic City. In: disP 56-4, (2021) S. 98 - 106. https: / / doi.org/ 10.1080/ 02513625.2020.1906063 [13] Scheuermann, R.: Lehren aus Corona: Resiliente Städte haben ein intaktes Immunsystem. 2020, Baiersbronn-Buhlbach (https: / / www.transforming-cities. de/ lehren-aus-corona-resiliente-staedte-haben-einintaktes-immunsystem/ , Zugriff 02.08.2021). Erik Mann Referat Landes- und Regionalplanung Sächsisches Staatsministerium für Regionalentwicklung, Dresden Kontakt: erik.mann@smr.sachsen.de Dr.-Ing. Stefanie Rößler Dipl.-Ing. Landschaftsarchitektur Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), Dresden; Interdisziplinäres Zentrum für transformativen Stadtumbau (IZS), Görlitz Kontakt: S.Roessler@ioer.de Prof. Dr.-Ing. Robert Knippschild Dipl.-Ing. Raumplaner Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), Dresden, und Technische Universität Dresden Kontakt: R.Knippschild@ioer.de AUTOR*INNEN 81 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Forschung + Lehre Resilienz und Transformation urbaner Quartiere war das übergeordnete Thema der forschungsorientierten Projekte, welche die Studierenden des 4.- Jahrgangs im Masterstudiengang „Urbane Zukunft“ an der Fachhochschule Potsdam im Sommersemester 2020 bearbeitet haben. Die Leitfrage unserer Arbeit war, was bei der Planung und Realisierung eines neuen Stadtquartiers berücksichtigt werden sollte, damit es sich anpassungsfähig an zu erwartende klimatische, demographische und infrastrukturelle Veränderungen erweist und robust auf unvorhergesehene Störungen reagieren kann. Der Fachbegriff in der Stadt- und Umweltforschung hierfür ist Resilienz. Der Begriff Resilienz (von lat. resilire = rückspringen, zurück- / abprallen) stammt ursprünglich aus der Materialkunde und bezeichnet dort die wünschenswerte Materialeigenschaft, sich bei mechanischen Einwirkungen relativ unbeschadet wieder in die Ausgangsform zurückformen zu können [1]. Seit den 1950er Jahren erlangte der Begriff mit der Verwendung in der Entwicklungspsychologie und der ökologischen Systemforschung [2] eine Bedeutungsverschiebung und wird als Begriff für die Eigenschaft adaptiver Systeme verwendet, auf externe Störungen systemstabilisierend oder systemregenerierend zu reagieren. Im Hinblick auf urbane Systeme wurde das Konzept zunächst vor allem auf die Handlungsfelder Katastrophenschutz und öffentliche Sicherheit, Schutz kritischer Infrastrukturen sowie im Umgang mit langfristig unsicheren Naturereignissen vor allem infolge des Klimawandels ausgeweitet. Im Diskurs über eine nachhaltige Stadtentwicklung ist Resilienz in den vergangenen rund 15 Jahren zu einem der zentralen Konzepte avanciert, obwohl - oder gerade weil - es hinsichtlich städtischer Entwicklungsprozesse relativ unscharf verwendet wird. Bisweilen wird Resilienz sogar als die neue Nachhaltigkeit bezeichnet [3]. Resilienz ist ein holistisches Konzept, welches das Zusammenwirken von technologischen, sozialen und raum-zeitlichen Eigenschaften und Organisationsprinzipien für den Funktionserhalt und die Regenerationsfähigkeit von ökologischen, techno- Resilienz und Transformation Zum Kontext der Forschungsprojekte an der Fachhochschule Potsdam im Sommersemester 2020 Alexandra Martini, Michael Prytula Was sollte bei der Planung und Realisierung eines neuen Stadtquartiers berücksichtigt werden, damit es sich resilient und somit auch langfristig anpassungsfähig an klimatische, demographische und infrastrukturelle Veränderungen erweist? logischen und sozialen Systemen gegenüber äußeren Störungen erklärt. Ergänzend zum eher normativ ausgerichteten Konzept einer nachhaltigen Entwicklung beschreibt Resilienz das Prozessverhalten von Systemen und charakterisiert die Eigenschaften lernfähiger und beweglicher, adaptiver Systeme [4]. Zentral für das Resilienz-Prinzip ist das Lernen aus der Bewältigung vergangener Krisen. Resilienz bezieht sich aber nicht allein auf eine „konservierende“ Widerstands- und Erholungsfähigkeit, sondern vor allem auf die Fähigkeit zur Weiterentwicklung, die gegebenenfalls Strukturveränderungen für den Funktionserhalt bedeuten können [5]. Das Neue Gartenfeld in Berlin-Spandau Was leisten die theoretischen und praktischen Erkenntnisse aus der Resilienzforschung für die konkreten Herausforderungen in der Stadtentwicklung? Um das zu untersuchen, haben wir uns mit dem „Neuen Gartenfeld“ beschäftigt, einem neuen städtischen Entwicklungsgebiet südwestlich des ehemaligen Flughafens Berlin-Tegel in Berlin-Spandau. Nach dessen Schließung wird das Flughafengelände unter dem Namen „Urban Tech Republic“ zu einem Technologie- und Innovationsstandort weiterentwickelt. Bild 1: Masterplan Neues Gartenfeld, Berlin, 2017. © Planungsgemeinschaft „Das-Neue-Gartenfeld“ GmbH & Co. KG / Studio Duplex GmbH 82 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Forschung + Lehre Die Insel Gartenfeld ist zur Zeit eine Industriebrache, die vom Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal und dem Alten Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal umgeben ist. 1911 erwarb die Firma Siemens das Gelände und baute den Standort bis in die 1980er Jahre als Kabelwerk mit Produktions-, Infrastruktur- und Verwaltungsgebäuden aus. Einige Gebäude stehen unter Denkmalschutz, so auch das ehemalige Metallwerk - ein Eisenskelettbau mit Ziegelausfachung und Eisenstützen im Innenbereich, der während des Ersten Weltkrieges in dem von Deutschland besetzten Frankreich demontiert und 1917 auf dem jetzigen Standort (mit späteren Erweiterungen) wieder aufgebaut wurde. Seither wird das Gebäude irrtümlich als „Belgienhalle“ bezeichnet [6] (Bild-2). Im Jahr 2015 hat die UTB Projektmanagement GmbH das Gelände zusammen mit privaten Wohnungsbauunternehmen und Wohnungsbaugenossenschaften erworben und 2016 in einem dreistufigen Werkstattverfahren einen städtebaulichen Masterplan erarbeitet. Auf dem Planungsgebiet von rund 310 000- m 2 soll ein innovatives Quartier mit etwa 3 700 Wohnungen für über 8 000 Bewohner und Bewohnerinnen entstehen. Der Masterplan- Siegerentwurf der Architekten COBE Berlin GmbH wurde in einem kooperativen Planungsverfahren mit sechs gemeinschaftlich agierenden Architektenteams weiterentwickelt. Die Planung dient als Grundlage zur Erstellung eines Bebauungsplans, verbunden mit einem integrierten Infrastruktur- und Mobilitätskonzept, das ein sektorengekoppeltes Wärme- und Energiemanagement, ein Müll-Unterflursystem und eine nachhaltige Regenwassernutzung umfasst und organisatorisch durch ein „Quartierswerk“ betrieben wird. Das Energiekonzept zur Quartiersversorgung enthält unter anderem Blockheizkraftwerke, Wärmepumpen, Kompressionskältemaschinen, Fotovoltaik- und Mieterstromanlagen, die durch ein intelligentes Leitsystem gesteuert werden. Durch nachhaltige Mobilitätsangebote wie Mobility-Hubs und E-Mobility soll ein „auto-armes“ aber „mobilitäts-starkes“ Quartier entstehen, das durch eine quartierseigene Warenlogistik unterstützt wird. Der Betrieb der gebäudetechnischen Anlagen, der technischen Infrastrukturen und die Serviceangebote sollen über eine gemeinsame digitale Plattform koordiniert werden. Das Quartier wird so zu einem der ersten Smart City-Standorte Berlins [7,-8] und ein Modellprojekt für eine nachhaltige Quartiersentwicklung. Methodenvielfalt in der Projektarbeit Der Beginn der Projektarbeit im April 2020 stand ganz unter den besonderen Bedingungen des Lockdowns infolge der COVID-19-Pandemie, der eine kurzfristige Umstellung der Lehre auf Online-Formate erforderte. Die Projektarbeit erfolgte daher weitgehend über Videokonferenzen und unter Verwendung von Digital White Boards wie Miro und Figma. Anstelle der geplanten Exkursion in die Niederlande starteten wir mit einer digitalen Projektwoche zur Themen- und Gruppenfindung. Die Arbeit in den interdisziplinär gemischten Gruppen wurde von Antje Michel, Professorin für Informationsdidaktik und Wissenstransfer, im Seminar Wissensintergration begleitet. Weiterhin unterstützten uns Omar Abdel Moaty und Florian Schröder mit einem Design Thinking-Workshop, um verschiedene Methoden des Human Centred Designs zu implementieren, sowie Fabian Gampp und Gian Wieck, die projektbegleitend in vier Workshop-Terminen zum System Mapping sogenannte Wirkungsdiagramme (causal loop diagrams) für ein besseres Systemververständnis erarbeiteten. Der Arbeitsprozess umfasste somit vielfältige designspezifische Methoden zur Ideenfindung und -ausarbeitung: Design Thinking Personas How-Might-We Questions Flower-Method Entwicklung von Prototypen sowie „klassische“ wissenschaftliche Forschungsmethoden wie: Literaturrecherchen und -auswertung Leitfaden gestützte Interviews Beobachtungen Systemanalysen oder die Analyse und Auswertung von Best Practice- Beispielen. Ausgehend vom jeweiligen „state of the art“ eines Projektthemas wurden Forschungsfragen identifi- Bild 2: Die „Belgienhalle“ © Michael Prytula, 2018 83 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Forschung + Lehre ziert, die mit einem projektspezifischen Methodenmix bearbeitet wurden. Im Zusammenspiel mit den projektübergreifenden Methoden (Design Thinking und System Mapping) war das übergeordnete Ziel, aus dem allgemeinen Wissensbestand und den konkreten Rahmenbedingungen des Neuen Gartenfelds, allgemeine Strategien und konkrete Maßnahmen für eine resiliente Quartiersentwicklung abzuleiten. Projektergebnisse Die 23 Studierenden haben in vier Projektgruppen die Themen Regenwassermanagement im Quartier, Wasserinfrastrukturen im Allgemeinen, Strategie für die Aneignung öffentlichen Raums und Maßnahmen für die Stärkung der mentalen Gesundheit in Neubauquartieren bearbeitet. Die Gruppe Regenwasser als wertvolle Ressource untersuchte, welche Potenziale sogenannte naturebased Solutions in urbanen Neubauquartieren für eine nachhaltige und resiliente Bewirtschaftung von Regenwasser im Neuen Gartenfeld haben und welche Bedingungen dafür zu erfüllen sind. Die prognostizierten Klimaveränderungen werden zu vermehrten Starkregenereignissen und zu längeren Trockenphasen führen und stellen so erhöhte Anforderungen an das urbane Regenwassermanagement. Darüber hinaus sind aufgrund vorhandener Altlasten in den Böden, des hohen Grundwasserstands durch die Insellage sowie der Position des Planungsgebiets innerhalb von Trinkwasserschutzzonen besondere Maßnahmen für das Neue Gartenfeld zu treffen. Die Ausführung eines offenen Regenwasserkanals als Rückhaltebecken spielt dabei eine besondere technische wie auch gestalterische Rolle. Methodisch hat die Arbeitsgruppe eine Potenzialanalyse nach der Sequential Monomethod Design gewählt. Zunächst wurde für fünf geplante oder realisierte Projekte - Flussbad Berlin e. V., IGG Malzfabrik Berlin, Roof Water Farm Berlin, Floating Ecosystem Modules in Manchester und Potsdamer Platz Berlin - eine SWOT-Analyse durchgeführt und deren Bewertung in Netzdiagrammen dargestellt. Aufbauend auf der Analyse wurde die Übertragbarkeit und Skalierbarkeit der Ergebnisse auf das Neue Gartenfeld untersucht und Handlungsempfehlungen wurden abgeleitet. Die Gruppe Zukunft Wasserinfrastruktur - Wie gestalten wir neue Stadtquartiere krisenfest? betrachtete die Wasserinfrastruktur in Berlin-Brandenburg auf einer höheren Systemebene. Die Auswirkungen der Klimakrise, städtisches Wachstum und der demographische Wandel sowie die möglichen Folgen eines langandauernden und großflächen Stromausfalls durch terroristische Anschläge oder Cyberattacken sind Einflussfaktoren, auf die kritische Infrastrukturen vorbereitet werden müssen. Der zu erwartende Wassermangel infolge der Klimakrise und die zunehmende Abhängigkeit von Strom und digitalen Infrastrukturen werden erhebliche Herausforderungen an die Wasserinfrastruktur stellen. Unter Verwendung von Systemanalysen, einer Risiko- und Vulnerabilitätsanalyse und dem Ansatz des Human Centered Designs erarbeitete die Gruppe einen Maßnahmenkatalog für die Planung einer krisenresilienten Wasserinfrastruktur in Neubauquartieren. Dabei nahm die Gruppe mögliche Risiken der nächsten 50 Jahre in den Blick. Die Gruppe Gestaltung neuer öffentlicher Räume beschäftigte sich mit Fragen einer (spielerischen) Aneignung des öffentlichen Raums. Nicht zuletzt forciert durch die Erfahrungen einer starken temporären Einschränkung öffentlicher Räume infolge der COVID-19 Pandemie wurde hier untersucht, wie sich eine Aneignung von und eine Sensibilisierung für öffentliche Räume durch Nutzende im Kontext eines Neubauquartiers fördern lassen. Raumtheoretische Grundlage der Arbeit bildet der Spatial Turn in den Sozialwissenschaften, wonach Raum als ein relationales, sozial konstruiertes Phänomen begriffen wird. Raumaneignung ist demnach ein interaktiver und reziproker Prozess, der zwischen der Transformation der physischen Umwelt und den sozialen Akteuren abläuft. Für die Arbeit ist vor allem der von Henry Lefebvre geprägte Diskurs über das „Recht auf Stadt“ von zentraler Bedeutung. Insbesondere die Kommerzialisierung öffentlicher Räume und der damit verbundene Ausschluss verschiedener Nutzergruppen wird stark kritisiert. Aufbauend auf diesen theoretischen Vorüberlegungen wurde durch Systemanalysen, einem Visionsprozess nach Meadows sowie einer Best- Bild 3: Projektteam bei der Abschlusspräsentation am 9. Juli 2020 in der Belgienhalle. © Julia Grüßing 84 2 · 2022 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Forschung + Lehre Impressum Transforming Cities erscheint im 7. Jahrgang Herausgeber Eberhard Buhl, M.A. Verlag Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22, D-72270 Baiersbronn-Buhlbach Tel. +49 7449 91386.36 · Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de · www.trialog.de Redaktionsleitung Dipl.-Ing. arch. Christine Ziegler VDI (verantwortlich) Tel: +49 7449 91386.43 Fax: +49 7449 91386.37 christine.ziegler@transforming-cities.de Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 7 vom 01.01.2022 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 vertrieb@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist zum Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. Es ist untersagt, die Inhalte digital zu vervielfältigen oder an Dritte weiterzugeben, sofern nicht ausdrücklich vereinbart. Bezugsgebühren JahresAbo Print: gedruckte Ausgabe zum Jahresbezugspreis von EUR 125,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), zzgl. Versandkosten (Inland EUR 11,90, Ausland EUR 25,-) JahresAbo ePaper: elektronische Web-Ausgabe zum Jahresbezugspreis von EUR 120,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), ohne Versandkosten JahresAbo Plus gedruckte Ausgabe + elektronische Web-Ausgabe + Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 165,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), zzgl. Versandkosten (Inland EUR 11,90 , Ausland EUR 25,-) StudiAbo Print: gedruckte Ausgabe zum reduzierten Jahresbezugspreis von EUR 82,50 (inkl. MwSt., zzgl. Versandkosten. Inland EUR 11,90 , Ausland EUR 25,-) Eine aktuelle Studienbescheinigung ist Voraussetzung. StudiAbo ePaper: elektronische Web-Ausgabe zum reduzierten Jahresbezugspreis von EUR 79,20 (inkl. MwSt., ohne Versandkosten). Eine aktuelle Studienbescheinigung ist Voraussetzung. Einzelheft Print: gedruckte Ausgabe zum Einzelbezugspreis von EUR 35,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), zzgl. Versandkosten (Inland EUR 3,-, Ausland EUR 6,50) Einzelausgabe ePaper: elektronische Web- Ausgabe zum Einzelbezugspreis von EUR 35,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), ohne Versandkosten Campus- und Firmenlizenzen auf Anfrage Organ | Medienpartnerschaft VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld Druck QUBUS media GmbH, Hannover Herstellung Trialog, Baiersbronn-Buhlbach, www.trialog.de Titelbild German paramedic runs in a floor to an accident. © ClipDealer Copyright Vervielfältigungen durch Druck und Schrift sowie auf elektronischem Wege, auch auszugsweise, sind verboten und bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Abbildungen übernimmt der Verlag keine Haftung. Eine Publikation der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, Baiersbronn-Buhlbach ISSN 2366-7281 (print) www.trialog.de/ agb Practice-Analyse zur Aneignung des öffentlichen Raums durch Urban Games eine Raumstation konstruiert, die als ein konkretes Werkzeug für eine interakive und partizipative Entwicklung von Interventionen im öffentlichen Raum dienen soll, um diese zu Verhandlungsräumen werden zu lassen. Für die Gruppe Q-iosk - Eine erste Anlaufstelle für mentale Gesundheit im Neubauquartier stand der sozialpsychologische Aspekt der Resilienzforschung im Vordergrund. Die Gruppe beschäftigte sich mit dem Diskurs einer gesunden Stadt, insbesondere wie Stressbelastung im urbanen Kontext entsteht und welche stadtgestalterischen Maßnahmen die mentale Gesundheit der Erstbewohnenden in einem Neubauquartier verbessern könnten. Neben Literaturauswertung und Systemmodellierung wurden auch hier vielfältige Methoden eingesetzt, um Maßnahmen einer stresssensiblen Stadtgestaltung zu identifizieren und zu testen. Dazu zählten Research Marketplace, explorative Wahrnehmungsspaziergänge, Design Thinking und Lego Serious Play. Als konkreter Lösungssansatz wurde der Q-iosk konstruiert - eine pavillonartige Struktur, die als Anlaufstelle mit Service- und Beratungsangeboten für Kultur- und Bildungsaktivitäten oder Sharing-Möglichkeiten Strategien zur Stressbewältigung der neuen zugezogenen Bewohnerinnen und Bewohnern im Neuen Gartenfeld aufzeigt. Der Arbeitsstand der Projektergebnisse wurde am 9. Juli 2020 im Neuen Gartenfeld vorgestellt und mit Vertreterinnen und Vertretern von der UTB diskutiert. Eine weitere Präsentation fand am 17. Juli 2020 im Rahmen der FHP-Klimaschau statt. LITERATUR + QUELLEN [1] Fooken, I.: Psychologische Perspektiven der Resilienzforschung. In: Wink, R. (Hrsg.): Multidisziplinäre Perspektiven der Resilienzforschung. - Wiesbaden: Springer Fachmedien, (2016), S. 24. [2] Holling, C. S.: Resilience and Stability of Ecological Systems. Annual Review of Ecology and Systematics, Vol. 4, (1973) S. 1 - 23. http: / / webarchive.iiasa.ac.at/ Admin/ PUB/ Documents/ RP-73-003.pdf [3] BBSR: Resilienz. Informationen zur Raumentwicklung, 2013. 4.2013.http: / / www.bbr.bund.de/ BBSR/ DE/ Veroeffentlichungen/ IzR/ 2013/ 4/ Inhalt/ inhalt. html [4] Thoma, K. (Hrsg.): Resilien-Tech. „Resilience-by-Design“: Strategie für die technologischen Zukunftsthemen. acatech STUDIE, April 2014. https: / / www. acatech.de/ publikation/ resilien-tech-resilience by-design-strategie-fuer-die-technologischen-zukunftsthemen-2/ download-pdf ? lang=de [5] Hahne, U., Kegler, H. (Hrsg.): Resilienz: Stadt und Region - Reallabore der resilienzorientierten Transformation. Stadtentwicklung. Urban Development, Band 1. Frankfurt / Main, Bern, Bruxelles, 2016. PL Academic Research. [6] Ribbe, W., Schäche, W.: Die Siemensstadt. Geschichte und Architektur eines Industriestandortes. Berlin, Ernst & Sohn, (1985) S. 765 ff. [7] Jahn, Mack & Partner: Das Neue Gartenfeld - Gemeinwesenkonzept, 2018. Bearbeitet durch: Susanne Jahn, Nicole Kirschbaum, Tim Nebert, Maja Kerber. [8] Prytula, M.: Smart im Quartier - Nachhaltige Quartiersentwicklung im Zeitalter der Digitalisierung. In: Serbser, W. H., Serbser, C. (Hrsg.): Pflegt der Stadt Bestes. Betriebsunterhalt als Strategie zum nachhaltigen Erhalt unserer Städte und Gemeinden. Spandau, Oekom Verlag, (2019) S. 39 - 50. Weitere Informationen: https: / / klimaschau.fh-potsdam.de/ de Originalpublikation Studentische Forschung Urbane Zukunft zum Download: https: / / opus4.kobv.de/ opus4-fhpotsdam/ frontdoor/ index/ index/ docId/ 2572 Prof. Alexandra Martini Professorin für räumliche Gestaltungsgrundlagen Fachhochschule Potsdam Kontakt: alexandra.martini@fh-potsdam.de Prof. Dr.-Ing. Michael Prytula Forschungsprofessor für ressourcenoptimiertes und klimaangepasstes Bauen, Studiengangsleiter Urbane Zukunft (M.A.) Kontakt: michael.prytula@fh-potsdam.de AUTOR*INNEN Luft, Wasser, Boden Am 5. September 2022 erscheint die nächste Ausgabe von Transforming Cities mit dem Themenschwerpunkt Luftqualität Extreme Trockenheit und Wassermangel Stadtklima + Urbane Hitzeinseln Starkregen und Überflutungsschutz Regenwasserbewirtschaftung Stadtgrün Dach- und Fassadenbegrünung Stadtökologie, urbane Ökosysteme Flächennutzung
