Transforming cities
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Wenn multiple Krisen Städte und Gemeinden treffen Wenn multiple Krisen Städte und Gemeinden treffen Kritische Infrastrukturen | Blackouts | Krisenresilienz | Anpassungsstrategien 1 · 2023 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Krisen managen All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren T i l P bli h V l ll h f | B i b | i @ i l d 1 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, unsere Gegenwart ist geprägt von Krisen und Katastrophen. Kaum ein Tag, an dem nicht Naturgewalten oder menschliches Fehlverhalten zu Unglück und Verheerung führen. Frage ist nur, wo und wie sich die nächste Tragödie ereignen wird. Unvermeidliches Schicksal also? Sich so einfach aus der Verantwortung zu nehmen, greift zu kurz. Genau betrachtet, haben viele Unglücksfälle und Notlagen menschengemachte Ursachen. Selbst extreme Naturgewalten führen erst zur Katastrophe, wenn sie auf menschliche Siedlungen treffen, viele Menschenleben kosten, reihenweise Gebäude und Infrastrukturen zerstören. Klar ist: Städte und Dörfer bieten reichlich Angriffsflächen - aufgrund von Bauweise, Form und Materialien. Seit Menschengedenken werden sie von Hochwasser und Bränden, Erdbeben und Stürmen, aber auch von der Aggression kriegerischer Nachbarn getroffen. Aber wir wissen heute viel über Brandschutz und Maßnahmen gegen Hochwasser, über Pandemien und erdbebensicheres Bauen. Gefahrenkarten findet man einfach im Internet, Wettermeldungen erhalten wir direkt aufs Smartphone. Kommen wir also zur Kernfrage: Warum haben Naturereignisse und andere Desaster trotz allen technischen Fortschritts immer wieder, auch heute noch, so verheerende Auswirkungen? Keine höhere Gewalt - nein, menschliche Gier und Unvernunft steigern das Risiko, aus Naturereignissen ernsthafte Katastrophen zu machen. Entgegen allen technischen Regeln und Bauvorschriften wird oftmals immer noch zu nah am Wasser oder unter dem Vulkan gebaut, Gebäude werden mit mangelhaftem Brandschutz oder nicht erdbebensicher errichtet. Ist ja bisher immer gut gegangen. Und wenn es dann passiert ist, bei der Krisenbewältigung, fehlen häufig klare Strategien und straffe Strukturen, um die Folgeschäden einigermaßen einzugrenzen. Angesichts der Größe und Dichte der Ereignisse, auch der kommenden, ist das derzeitige Krisenmanagement sicher ausbaufähig - gerade im dicht besiedelten urbanen Umfeld. Leider wirken Politik und Verwaltung oft überfordert. Um künftige Risiken zu mindern und Krisen besser zu managen, gilt es jedoch vorausschauend zu denken und zu planen. Das beginnt mit kommunaler Kriminalitätsprävention, geht weiter mit der Entwicklung städtischer Resilienz und der Sicherung kritischer Infrastrukturen, gefolgt von der vorsorglichen Organisation von Bewältigungsmaßnahmen im Ernstfall. Die Daten für aussagekräftige Resilienzbewertungen und Simulationen möglicher Lagen beim Ausfall kritischer Infrastrukturen sind längst vorhanden. Das heißt: An fachlicher Expertise zu all diesen Themen mangelt es nicht. Die zahlreichen Beiträge in dieser Ausgabe sind dafür einmal mehr Beweis. Jetzt ist höchste Zeit für eine zügige Umsetzung. Christine Ziegler Redaktionsleitung „Transforming Cities“ Krisen managen 2 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES INHALT 1 · 2023 PRA XIS + PROJEKTE Stadtraum 4 Kombiniert: Eine Feuer- und Rettungswache mit Regionsleitstelle in Hannover 7 Die resiliente Innenstadt Vorausschauend handeln, für neue Wege öffnen Christiane Marks Energie 10 Keine Chance für Manipulation und Sabotage Absicherung dezentraler Energieversorgungseinheiten Tommy Göring, Kai Nürnberger, Jochen Sauer Kommunikation 14 Jede Sekunde zählt Wie digitale Kanäle die Bevölkerung im Notfall besser warnen Markus Bornheim THEMA Krisen managen 16 Der Weg zu einer sicheren und lebenswerten Stadt Dieter Hermann 20 Mehr Sicherheit in Wohngebieten Rückbesinnung auf das Defensible Space-Konzept Antje Flade 23 Sicherheits-Audit für Quartiere Mit dem Leitfaden „Lebenswertes Quartier“ Herbert Schubert 28 Urbane Sicherheit: integral und vorausschauend Tillmann Schulze, Laura Fischer, Christian Wandeler 32 Sicherheit und Sicherheitsgefühle in Bahnhofsvierteln Handlungsempfehlungen der Wuppertaler Sicherheitspartnerschaft Tim Lukas, Saskia Kretschmer 37 Krisen-Resilienz als Anpassungsstrategie für Kommunen Wie sich Kommunen mittels methodischen Vorgehens auf aktuelle und künftige Krisenszenarien vorbereiten Rico Kerstan, André Röhl 42 Multiple Krisen als lokaler Stresstest Zur kommunikativen Herstellung von Akzeptanz am Beispiel der Corona- Pandemie Rita Haverkamp, Ina Hennen, Anne-Marie Jambon, Marie Kaltenbach 46 Datenbasierte kommunale Resilienzbewertung in Krisen Krisenfestigkeit für die Anwendungsfälle Pandemie und Extremwetter Kai Fischer, Jet Hoe Tang, Martin Huschka, Yu-Sheng Tang, Michael Dlugosch, Jonas Stilling, Tobias Leismann, Alexander Stolz Seite 7 Seite 16 Seite 23 © Imorde © Jana V. M. auf Pixabay © luigi auf Pixabay 3 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES INHALT 1 · 2023 51 Was wäre, wenn? Neue Simulationen sollen die Auswirkungen von KRITIS-Ausfällen erlebbar machen. Niklas Reinhardt 56 Hochwasser und die Modellierung Kritischer Infrastrukturnetzwerke Chancen und Herausforderungen für Hochwasserschutzmaßnahmen im Bereich der KRITIS- Versorgung Roman Schotten, Daniel Bachmann 60 Krisenmanagement im Ahrtal 2021 Eva Katharina Platzer, Michèle Knodt 64 Gefahrenlage: Kritische Infrastrukturen und Blackouts Eine neue Aufgabe für das Krisenmanagement von Krisen- und Verwaltungsstäben Hans-Walter Borries 70 Krisen begegnen: Mit digitalen Lösungen zu einer besseren Arbeitskultur Wie hängen Resilienz, Arbeitskultur und Digitalisierung zusammen? Rebecca Nell, Alberto Sánchez, Fatma Cetin 74 Öffentliche Verwaltungen im Krisenmodus Herausforderungen durch eine Doppelrolle Patricia M. Schütte, Yannik Schulte, Malte Schönefeld 78 Digitale Risikotreiber in Smart Cities Ein neues regulatorisches Anforderungsfeld Ulrich Ufer, Sadeeb Simon Ottenburger 82 Finanzsicherheit durch Citymaut? Zielkonflikt zwischen fiskalischer und verkehrlicher Wirkung Rafael Oehme, Christian Scherf, Cornelia Emmerich, Wolfgang Schade 84 Verfügbarkeit des städtischen Schienenverkehrs Spezifikation und Nachweis von Zuverlässigkeit, Instandhaltbarkeit und Verfügbarkeit im Lebenszyklus Lars Schnieder 89 Wasserstoff-integrierte Energiesysteme Georg Brunauer, Maria-Christina Brunauer, Harald Rettenegger, Stefan Netsch 92 Impressum Seite 28 Seite 42 © Stadt Luzern Seite 56 © Markus Distelrath auf Pixabay © Markus Distelrath auf Pixabay © Michael Hofmann auf Pixabay 4 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Asymetrischer Baukörper zwischen Wohnhäusern und Industriearchitektur Standort des Neubaus ist die ehemalige „Gleisharfe“ des Güterbahnhofs Hannover. Auf dem weitläufigen Gelände erstreckt sich der asymetrische Bau entlang der Bahntrasse, die vom Hauptbahnhof Richtung Nordwesten führt. Durch die abgestuften Höhen der einzelnen Bauteile - von fünf Geschossen im Südosten bis zu zwei Geschossen im Nordwesten - und dank der für den Ort typischen, rotbunten Ziegelfassade fügt sich das Ensemble respektvoll in sein städtebauliches Umfeld ein. Zwischen den Wohnhäusern am Weidendamm und der Industriearchitektur jenseits der Bahntrasse erzeugt die selbstbewusste Architektur der „FRW 1“ eine identitätsstiftende bauliche Gestalt. Gleichzeitig schützt der Baukörper die dahinterliegende Wohnbebauung vor den Schallemissionen der Bahntrasse. Selbstbewusste städtebauliche Präsenz An der Kreuzung von Weidendamm und Kopernikusstraße definiert und besetzt die FRW- 1 eine städtebaulich prominente Ecksituation. Hier bildet ein fünfgeschossiger Gebäuderiegel entlang der Kopernikusstraße den höchsten Punkt des in seiner Höhe gestaffelten Ensembles. Unter einer weiten Auskragung ist der Haupteingang im Stadtraum gut erkennbar. Ein vorplatzartiger Fußgängerbereich vor der Kombiniert: Eine Feuer- und Rettungswache mit Regionsleitstelle in Hannover Nordwestlich der Innenstadt von Hannover haben struhkarchitekten BDA einen multifunktionalen Neubau geplant und realisiert: Die Feuer- und Rettungswache 1 am Weidendamm beherbergt neben den umfangreichen Räumlichkeiten der Berufsfeuerwehr auch die Regionsleitstelle Hannover sowie ein städtisches Rechenzentrum. Das Planungsbüro aus Braunschweig gewann 2012 den Wettbewerb für das Großprojekt. Er wurde in zwei Bauabschnitten realisiert und 2014 bzw. 2021 in Betrieb genommen. Bild 1: Mit seiner rotbunten Ziegelfassade fügt sich das Ensemble respektvoll in das städtebauliche Umfeld ein. © Frank Aussieker 5 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Gebäudeecke und die spitzwinklige Geometrie verleihen dem Baukörper Präsenz und Dynamik. Der mäanderförmige Bau legt sich um zwei U-förmig gefasste, großzügig dimensionierte Innenhöfe, auf denen die Feuerwehr- Fahrzeuge ausreichend Platz zum Rangieren haben. Der südliche Innenhof ist zur Bahntrasse hin geöffnet, der nördliche zum Weidendamm. Hier befindet sich auch die wichtigste Ein- und Ausfahrt für die Einsatzfahrzeuge. An der Kopernikusstraße liegt eine zweite Alarmausfahrt, die vor allem in den Nachtstunden genutzt wird, um die Bewohner am Weidendamm vor Ruhestörung zu schützen. Für die PKW der Beschäftigten steht eine separate Zufahrt bereit, wodurch Kreuzungsverkehr mit den Einsatzfahrzeugen vermieden wird. Arbeiten und Ruhen - Die „Zugwache“ Die abschnittsweise Realisierung des Gesamtprojektes war eine zentrale Anforderung des Planungswettbewerbs im Jahr 2012. Damit wollten die Auslobenden vermeiden, dass nach der Fertigstellung des ersten Bauabschnitts der Eindruck eines Provisoriums entsteht. Das Planungsteam von struhkarchitekten wurde dieser Anforderung gerecht und realisierte bis 2014 für die Feuer- und Rettungswache den jetzt in der Mitte des Gesamtgebäudes liegenden dreigeschossigen Gebäuderiegel sowie ein Nebengebäude. Einen Großteil dieser Flächen nehmen die drei Hallen für die Einsatzfahrzeuge ein. Sie liegen direkt nebeneeinander, getrennt durch Erschließungskerne und Treppenhäuser. An der Straßenseite ergänzen die Räume der Einsatzleitung, Kleiderkammern und Umkleideräume das Erdgeschoss des 1. Bauabschnitts. Im Obergeschoss befinden sich Büro- und Besprechungsräume sowie die Ruheräume, Sanitärbereiche und der Fitnessraum der Feuerwehrleute, die hier pro Schicht bis zu 48 Stunden am Stück verbringen. Die sogenannte „Zugwache“ der FRW 1 ist rund um die Uhr besetzt und einsatzbereit. Sie ist in drei Schichten organisiert: Das bedeutet für die Beschäftigten zwei Tage Leben vor Ort, sofern kein Einsatz ansteht. In der einsatzfreien Zeit wird in den Werkstätten und an den Fahrzeugen gearbeitet, um die ständige Einsatzbereitschaft zu erhalten. Multifunktional: Feuer- und Rettungswache plus Leitstelle für die Region Mit dem zweiten Bauabschnitt von 2016 bis 2021 wurde die FRW-1 um verschiedene Funktionen für die Feuerwehr Hannover ergänzt, darunter weitere Fahrzeughallen, Werkstätten, Büros und Schulungsräume. Auch eine Mensa war Teil des Raumprogramms. Sie steht den Beschäftigten aller Bereiche der neuen FRW 1 zur Verfügung und befindet sich im Brückengebäude über dem nördlichen Innenhof. Mit ihrer zur Bahntrasse hin gelegenen Terrasse bietet sie eine hohe Aufenthaltsqualität. Ein zentraler Baustein des zweiten Bauabschnittes ist die im Frühjahr 2022 in Betrieb genommene Regionsleitstelle Hannover. Sie befindet sich im dritten und vierten Obergeschoss des insgesamt fünfgeschossigen, südlichen Gebäuderiegels. Hier werden auf etwa 500 m² alle Anrufe des Feuerwehrnotrufs 112 entgegen genommen und jährlich rund 300 000 Einsätze in der Region Hannover koordiniert. Weitere Räumlichkeiten stehen unter anderem für ein städtisches Rechenzentrum, die Telefon- und Informationszentrale sowie für den „Stab Außergewöhnliche Ereignisse“ (SAE) der Landeshauptstadt Hannover bei Großschaden- und Katastrophenlagen bereit. Der erste Bauabschnitt wurde (mit Ausnahme der Fahrzeughallen) nach den Anforderungen des Passivhausstandards erstellt. Der zweite Bauabschnitt wurde in Analogie zum ersten mit passivhaustauglichen Komponenten an der Gebäudehülle realisiert, unter anderem mit dreifachverglasten Fenstern oder Wärmerückgewinnung in den Lüftungsanlagen. Kühllasten werden überwiegend mit Hilfe von Kühldecken abgeführt. Die Dächer sind weitestgehend extensiv begrünt. Bild 2: Durchlaufende Erschließung: Über die Brücke im südlichen Innenhof ist eine komplette „Gebäudequerung“ möglich. © Frank Aussieker 6 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Sorgfältig komponiertes Zusammenspiel der Materialien Die äußere Erscheinung der FRW-1 wird geprägt durch das rotbunte Ziegelmauerwerk. Es wird - mit Ausnahme der Fahrzeughallen sowie der Leitstellenfassade - als Verblendmauerwerk vor der Stahlbetonkonstruktion an allen Fassaden eingesetzt. Gegliedert werden die Ziegelfassaden durch langgezogene, horizontale Fensterbänder. Diese anthrazitfarbenen Streifen werden ihrerseits durch feine, helle Sichtbetonstürze akzentuiert. Der Kontrast zwischen opakem Mauerwerk und dunkel gefassten Fassadenflächen wird in den beiden Innenhöfen in größerem Maßstab fortgeführt: Die Fassaden der Fahrzeughallen sind als transparente Pfosten-Riegel-Konstruktionen mit dunklen Metallteilen und durch das Glas erkennbaren Sichtbetonstützen ausgeführt. Eine homogene, oberflächenbündige Erscheinung der Fassade - in die sogar die Außenbeleuchtung für das Vorfeld integriert wurde - betont die klare Kubatur der Baukörper. Darüber, hier ebenfalls getrennt durch einen umlaufenden Sichtbetonstreifen, liegen die Ruheräume hinter einer rotbraunen Klinkerfassade. Einfache, aber langlebige und sorgfältig komponierte Materialien wurden auch im Innenraum verwendet: Sichtbeton und Gipskarton an den Wänden, Werkstein, Linoleum und Nadelfilz als Bodenbeläge. Etwas aufwändiger hat man den großen Saal der Leitstelle ausgestattet: Dort sorgen organisch geformte Akustikpanele aus Holz für sehr kurze Nachhallzeiten - sehr wichtig in einem Raum, in dem täglich hunderte Telefonate geführt werden. Auch die große Raumhöhe der Leitstelle ist den hohen Anforderungen an die Akustik und den Nachhall geschuldet, sie entspricht zwei Regelgeschossen. Für die Beleuchtung der fast 20 Arbeitsplätze in der Leitstelle hat ein Lichtplanungsbüro eigens ein Lichtkonzept entwickelt. Sofern das Tageslicht den Saal nicht durch die raumhohe Glasfassade flutet, garantieren die Spezialleuchten an der Decke eine Lichtstärke von bis zu 10 000 Lux. Sie beugen als chronobiologische Beleuchtung, die an die Tageszeit angepasst werden kann, der Ermüdung der Mitarbeitenden vor. Nicht nur in der Leitstelle, sondern im gesamten Gebäudekomplex hilft ein hoher Anteil an natürlichem Tageslicht bei der Orientierung. Dem Planungsteam gelang dabei ein lebhafter Wechsel zwischen Introvertiertheit - zum Beispiel in den Bereichen der Ruheräume, die teilweise um private Innenhöfe herum gruppiert sind - und Offenheit mit fließenden Übergängen zum Außenraum, so wie im Foyer mit seinem Bezug zur vielbefahrenen Straßenkreuzung, oder in der Mensa, von wo aus der Blick weit über die Bahntrasse und ins Grüne schweifen kann. Neubau der Feuer- und Rettungswache Weidendamm Hannover, 1. und 2. Bauabschnitt 1. Bauabschnitt Wettbewerb: 2012 Baubeginn 1. BA: 2013 Fertigstellung 1. BA: 2014 Auftraggeber: Landeshauptstadt Hannover Bauherr: Landeshauptstadt Hannover Leistungsphasen nach HOAI (struhkarchitekten): 1-9 Bruttogeschossfläche (BGF): 6.083 m² Brutto-Rauminhalt (BRI): 28.427 m³ 2. Bauabschnitt Baubeginn 2. BA: 2016 Fertigstellung 2. BA: 2021 Auftraggeber: Landeshauptstadt Hannover Bauherr: Ed. Züblin AG Leistungsphasen nach HOAI (struhkarchitekten): 1-9 Bruttogeschossfläche (BGF): 15.197m² Brutto-Rauminhalt (BRI): 60.393m³ Gesamt 1 + 2. Bauabschnitt Bruttogeschossfläche (BGF): 21.280 m² Brutto-Rauminhalt (BRI): 88.820 m³ PROJEKTDATEN struhkarchitekten BDA Planungsgesellschaft mbH public@struhk-architekten.de https: / / struhk.de KONTAKT Bild 3: Die organisch geformte Wandverkleidung und die große Raumhöhe sorgen für gute Akustik. © Frank Aussieker 7 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Mittlerweile arbeiten 170 nordrhein-westfälische Kommunen im „Netzwerk Innenstadt NRW“ zusammen. Übergeordnetes Ziel: die Förderung des Erfahrungsaustauschs und die kollegiale Beratung der Städte und Gemeinden untereinander. Das Netzwerk versteht sich als dabei wachsende Arbeitsgemeinschaft, die für alle Städte, Gemeinden und Innenstadtakteur*innen des Landes NRW offen ist. Im Jahr 2022 lautete das Jahresthema: „Urbane Resilienz“. Und das nicht von ungefähr: Befinden sich unsere Städte doch in einem Dauerzustand der Anpassung an unerwartete Herausforderungen. Schließlich ist Transformation ein urbaner Normalzustand. Viele Entwicklungen werden dabei besonders in den Stadtzentren sicht- und spürbar. Vor diesem Hintergrund ist der Begriff der Resilienz schon seit einiger Zeit immer stärker in den Blickpunkt von Stadtentwicklung und Planungspraxis gerückt. Der vielfältige Veranstaltungs- und Formatreigen, den das „Netzwerk Innenstadt NRW“ im Jahr 2022 zum Thema durchgeführt hat, wurde Anfang April von der in Unna hybrid durchgeführten „Tagung Innenstadt“ eröffnet. Zwei Tage lang standen hier sowohl wissenschaftliche Grundlagen als auch praktische Beispiele zur „Resilienten Stadt“ im Fokus. Mehr als 150 Teilnehmende vor Ort und noch etwa dreimal so viele Menschen an den heimischen Computerbildschirmen verfolgten die Vorträge und Diskussionen und beteiligten sich aktiv an den Debatten. Aber damit nicht genug. Das Netzwerk bot über das Jahr verteilt zahlreiche weitere digitale Formate und Vor-Ort-Veranstaltungen zu verschiedenen Teilgebieten von „Urbaner Resilienz“ an: Fachleute und Praktiker*innen beschäftigten sich hier gemeinsam mit den Mitgliedskommunen etwa mit den Themen: „Die gesunde Innenstadt“, „Soziale Funktionen in Innenstädten“, „Wasser - Fluch und Segen“, „Klimaanpassung im Bestand“, „Grün in der klimaadaptiven (Innen-)Stadt“ und „Nutzungen jenseits des Handels“. Deutlich ist dabei in nahezu allen Veranstaltungen geworden: Resilienz ist ein Begriff, der aktuell im Wesentlichen in der wissenschaftlichen Betrachtung diskutiert wird. Für eine stärkere Nutzung im Kontext der Verwaltungsarbeit gilt es, den Begriff handhabbar und konkreter zu gestalten - und ihn für die Bürger*innen zu übersetzen, ihn kommunizierbar zu machen. Die resiliente Innenstadt Vorausschauend handeln, für neue Wege öffnen Resilienz, Soziale Stadt, Klimawandel, Alternativen zur Handelsfixierung Christiane Marks „Die gesunde Innenstadt“, „Soziale Funktionen in Innenstädten“, „Wasser - Fluch und Segen“, „Klimaanpassung im Bestand“, „Grün in der klimaadaptiven (Innen-)Stadt“, „Nutzungen jenseits des Handels“ - die Vielfalt der Themen, die das „Netzwerk Innenstadt NRW“ im Jahr 2022 in verschiedenen Veranstaltungsformaten bearbeitet hat, ist breit. Und doch standen alle unter einer gemeinsamen Überschrift: „Urbane Resilienz“. Bild 1: Wasser als Fluch und Segen für die Stadt war nur eines der zahlreichen Themen des Netzwerk Innenstadt NRW im Jahr 2022. © Imorde 8 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Innenstadt als erleb- und bespielbarer Raum Wirft man einen Blick auf die Zahl der Teilnehmenden, so konnte das Netzwerk allein mit den Veranstaltungen zur Resilienz im Jahr 2022 knapp über 1 000 Personen erreichen und so den Wissenstransfer für eine resiliente Innenstadtentwicklung in 170 nordrhein-westfälische Städten und Gemeinden sowie darüber hinaus transportieren. Zusätzlich fanden weitere Formate wie Arbeitsgruppen, Innenstadtgespräche und Experimentierlabore statt, die das Querschnittsthema Resilienz zumindest indirekt abdeckten: Dabei ging es beispielsweise um digitale Beteiligung, die Rolle von Kunst und Kultur für den öffentlichen Raum, die Innenstadt als erleb- und bespielbaren Raum, um Beschleunigung von Planungsprozessen sowie die komplexen Konstellationen von Innenstadtakteur*innen. Auch 2022 standen alle diese Themenfelder im Kontext des Sofortprogramms des Ministeriums für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung des Landes Nordrhein-Westfalen. Die Inhalte, Erfahrungen und Erkenntnisse, die in der Auseinandersetzung mit der resilienten Innenstadt sichtbar wurden, waren und sind dabei durchaus vielgestaltig - und warfen ein ums andere Mal nicht nur neue Fragen auf, sondern unterstrichen die Notwendigkeit von Perspektivwechseln. Was nicht wundern mag. Zeigt das Konzept Resilienz doch deutlich auf, dass neue Perspektiven auch frische Herangehensweisen, Entscheidungsmöglichkeiten, Lösungswege und Potenziale aufzeigen können - und müssen. Ein wichtiger Aspekt in diesem Kontext - der letztlich diverse Formate und Diskussionen bestimmte: Alt ist das neue Neu! Vor dem Hintergrund der globalen Klimakrise müssen wir uns viel stärker mit dem Bestand, der (Um-)Nutzung vorhandener Baustrukturen und der darin gebundenen Energie beschäftigen. Und das bedeutet auch, Umnutzungen als gute Beispiele und prestigeträchtige Projekte anzusehen und einen kreativen Umgang mit der vorhandenen Bausubstanz zu üben. Planungen verschlanken und beschleunigen Dabei gilt es gleichzeitig zu betonen, dass Resilienz nicht ein „Zurückbouncen“ im klassischen physikalischen Sinne bedeutet, sondern dass jegliche Reaktion auf Krisen- oder Stresssituationen in eine aktive und bewusst zukunftsgewandte Entscheidungskultur überführt wird. Dazu braucht es - und daran müssen alle Kommunen arbeiten - ein widerstandsfähiges und flexibles sowie nachhaltiges Zukunftsbild der eigenen Innenstadt, welches die globalen Herausforderungen mit den lokalen Gegebenheiten in Einklang bringt. Das bedeutet in der Konsequent auch: Es gilt, Planungen zu verschlanken und zu beschleunigen, mehr Zugriffsmöglichkeiten für Kommunen zu schaffen, Anpassungen der Sanierungsrechte vorzunehmen und nicht zuletzt Fördergegebenheiten zu modifizieren. Wahr ist aber auch, dass die bereits vorhandenen Möglichkeiten in den gesetzlichen Spielräumen oftmals noch nicht vollends ausgeschöpft werden oder flexibler und umfassender eingesetzt werden könnten. Mit besonderem Blick auf die Innenstädte rückte die Frage der Nutzungen jenseits des Handels wenig überraschend schnell und oft in den Mittelpunkt. Konsens bestand dabei weitgehend darin, dass die Städte mit ihren Bewohner*innen aushandeln sollten und müssen, wie die Innenstädte zukünftig aussehen und genutzt werden sollen, welche Rolle die aktuell tragende Nutzung des Einzelhandels in Zukunft spielen wird, welche Vorstellungen überhaupt angestrebt werden und auch gewünscht sind. Die Antworten darauf dürften und werden je nach Kommune recht unterschiedlich ausfallen. Bild 2: Das Konzept Resilienz zeigt auf, dass neue Perspektiven auch frische Herangehensweisen, Entscheidungsmöglichkeiten, Lösungswege und Potenziale für die Innenstadt aufzeigen können - und müssen. © Imorde Weitere konkrete Fragestellungen, die im Laufe des Jahres behandelt und debattiert wurden, drehten sich um aktuelle und bevorstehende Risiken im Kontext des Klimawandels: innerstädtische Hitzeinseln, Hochwasser, urbane Sturzfluten etc. - wie lassen sich unsere Innenstädte widerstandsfähiger und unsere Strukturen flexibler gestalten? Welche Möglichkeiten bieten multifunktionale Lösungen, multicodierte Räume oder auch neue bzw. bekannte Technologien? Und wie kann dies mit einer Steigerung der Aufenthaltsqualität einhergehen? Einmal mehr bewährte sich hier das Credo des „Netzwerk Innenstadt NRW“: Der kollegiale Austausch und der Blick auf Projekte anderer Städte, die bereits Erfahrungen in der Umsetzung machen konnten, helfen ungemein. Deutlich wurde hierbei vor allem, dass insbesondere Einzelmaßnahmen mit grüner und blauer Infrastruktur einerseits zusammen und andererseits multidimensional gedacht werden müssen. Oftmals sind vielerorts in vielen Bereichen auch bereits gut ausgearbeitete Ansätze und Unterlagen vorhanden, an denen sich die Verwaltung, aber auch die Kommunalpolitik anderenorts orientieren kann. Widerstandsfähigkeit und Lernfähigkeit Gezeigt hat sich ebenso, dass Erfahrungen im Umgang mit Krisen die Resilienz von Kommunen steigern können und dass im Sinne von Lernfähigkeit und Flexibilität Kommunen gestärkt aus Krisenzeiten heraustreten. In schwierigen Zeiten werden die internen Strukturen, Denkmuster und Kommunikationswege herausgefordert, angepasst und flexibilisiert, was in späteren Situationen zu einer verbesserten 35. Oldenburger Rohrleitungsfo rum über 400 Aussteller ca. 100 Fachvorträge in den Weser-Ems-Hallen Oldenburg Rohrleitungen und Kabel Kritische Infrastruktur und Versorgungssicherheit www.iro-online.de 30. + 31. März 2023 Reaktionsfähigkeit - auch in der Außenkommunikation - führen kann. Ob es dabei um große strategische Fragen oder ganz konkrete Umsetzungsmaßnahmen geht: Um gemeinsam starke Transformationsprozesse durchsetzen zu können, braucht es sowohl ein gutes und auf Vertrauen basierendes Verhältnis zwischen Politik und Verwaltung als auch einen aktiven Aushandlungsprozess zwischen politischem Willen und fachlicher Einordnung - immer mit einem mutigen Blick in Richtung einer Zukunft von und mit resilienten Städten. Widerstandsfähigkeit und Lernfähigkeit, Robustheit und Flexibilität - wie auch immer man Resilienz übersetzen möchte: Es geht darum, vorausschauend zu handeln, einen integrierten Blick in die Zukunft zu werfen und offen für neue Wege zu sein. Dabei sollten ausgetretene Pfade auch einmal verlassen werden, um Experimente zu wagen und die Transformation der Innenstädte aktiv zu gestalten. Resilienz ist in diesem Sinne eben kein reines Reagieren auf Krisen und Stress, sondern ein bewusstes, die Eigenheiten der eigenen Stadt einbeziehendes und fachlich fundiertes aktives Handeln, mit dem Ziel, den aktuellen, aber auch noch unbekannten zukünftigen Herausforderungen bestmöglich begegnen zu können. Christiane Marks Geschäftsführerin Netzwerk Innenstadt NRW c/ o IMORDE Projekt- & Kulturberatung GmbH Kontakt: info@innenstadt-nrw.de AUTORIN ANZEIGE 10 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Manipulation oder Sabotage von schwächer gesicherten peripheren Elementen - wie Umspannwerken - können als Einstiegspunkt für Cyberangriffe zu einer großflächigen Beeinträchtigung der Energieversorgung führen. Entsprechende Vorfälle wurden schon dokumentiert, wobei die Auswirkungen noch weitgehend lokal sind. Es bedarf daher stärker integrierter Sicherheitskonzepte, die Daten und Informationen aus der Überwachung betrieblicher Prozesse, dem Perimeterschutz und der IT-Sicherheit für diese Liegenschaften zusammenführen. Faktisch geht es um ein Frühwarnsystem, das bei Seitenangriffen auf die Netzintegrität ebenfalls geeignete Sicherheitsmechanismen zur Schadensminimierung auslöst. Die Bedrohungslage ist ernst zu nehmen, wie verschiedene Veröffentlichungen zur Cyberkriminalität und zum Status der IT-Sicherheit in Deutschland nahelegen. Deshalb sollten Behörden, Industrie und Forschung diese Thematik schnell und umfassend angehen. Schutz der Liegenschaften gegen unbefugtes Eindringen Mit zunehmender Sensibilisierung für die Sicherheit von Steueranlagen in kritischen Infrastrukturen - wie Energieversorgungsnetzen - und immer besseren Lösungen zu deren Absicherung wird der Aufwand für die externe technische Manipulation der Netzsteuersysteme größer. Es scheint naheliegend, dass designierte Angreifer nach weiteren Schwachstellen im Gesamtsystem suchen, die ihnen einen unbemerkten Zugriff auf die IT-Systeme und Netzwerke ermöglichen. Häufig entfalten erfolgreiche Angriffe ihre Wirkung zeitverzögert und sind dann nur unter Inkaufnahme erheblicher Schäden zu beheben. Bei der forensischen Analyse und Bereinigung der Systeme lassen sich nachträglich der Tathergang, die betroffenen Systeme und die abgeflossenen Daten mehr oder weniger gut ermitteln. Dabei treten wiederholt auch ungewöhnliche betriebliche Daten und außerordentliche Systemzugriffe zu Tage. Gleiches gilt für ein auffälliges Verhalten von Personen, die bereits zum Ereigniszeitpunkt eine drohende Gefahr vermuten ließen, jedoch unerkannt, unbeachtet oder falsch interpretiert blieben. Der Kern des Problems liegt in den größtenteils unabhängig arbeitenden Über wa chung smechanismen , die jeweils lediglich bestimmte Facetten des Gesamtsystems Keine Chance für Manipulation und Sabotage Absicherung dezentraler Energieversorgungseinheiten Tommy Göring, Kai Nürnberger, Jochen Sauer Informations- und Kommunikationstechnologie spielen bereits in den heutigen Energieversorgungsnetzen eine zentrale Rolle. Durch die fortschreitende Digitalisierung unter Einbindung aller wesentlichen Erzeugungs-, Übertragungs-, Transformations- und Verbrauchsstrukturen ergeben sich viele Vorteile, aber auch neue Angriffsvektoren. Bild 1: Umspannwerk sowie dezentrale Energieerzeugung durch Windenergie- und Photovoltaikanlagen- © Phoenix Contact 11 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie betrachten. Selbst bei richtig antizipierter Bedrohungslage könnten sie kaum adäquate Schutzmaßnahmen einleiten, da geeignete Werkzeuge zur Kollaboration zwischen den unterschiedlichen Verantwortungsbereichen fehlen. Das soll nicht bedeuten, dass Cyberangriffe von außen - wie Distributed- Denialof-Ser vice - Angriffe aus dem Internet - in ihrer Bedeutung abnehmen würden. Diese erfordern keine physische Präsenz, sind einfach skalierbar und erfolgen in der Regel aus anderen Rechtsräumen. Der Umweg über das physische Vordringen auf kritische Liegenschaften, um unmittelbar vor Ort Angriffe ausführen zu können, ist ein zusätzlicher Aspekt, der mehr Bedeutung erlangen wird. Insbesondere, weil die IT-Netzwerke nach außen relativ gut geschützt sind, während eine konsequente Umsetzung von internen Sicherheitsmaßnahmen - etwa nach dem Defence-in-Depth-Prinzip - häufig noch lückenhaft ist. Somit kann ein Angreifer innerhalb des Netzwerks seine Zugriffsrechte systematisch ausweiten, um schließlich den geplanten Angriff durchzuführen. Hier sollte die Bedrohung durch Innentäter oder das sogenannte Spear-Phishing ebenfalls nicht unterschätzt werden. Spear-Phising besagt, dass Personen mit berechtigtem Zugriff innerhalb des Netzwerks ungewollt zu Mittätern werden. Kopplung von Automatisierungssystem und Sicherheitstechnik Es bestehen gute technische Voraussetzungen zur Zusammenarbeit bei der Gefahrenabwehr. Für den Betrieb der elektrischen Anlagen eines Umspannwerks wird schon heute umfassend netzwerkbasierte Automatisierungstechnik eingesetzt, die ihre Informationen an die Leittechnik sendet. Von dort gibt es oft nur eine Kommunikationsschnittstelle zur übergeordneten Netzleittechnik, über die die einzelnen elektrischen Anlagen gesteuert werden. Ein zuverlässiger Betrieb der Anlage wird durch verschiedene Monitoring- und Steuerungsmechanismen sichergestellt, die den Betreiber im Fehler- und Ereignisfall alarmieren. Aktuell arbeiten das Automatisierungssystem und die Sicherheitstechnik in einer Anlage jedoch weiterhin als getrennte Systeme. Die Automatisierungstechnik kann einen Beitrag zur Einschätzung von sicherheitsrelevanten Ereignissen leisten. Beide Systeme nutzen die gleiche Netzwerktechnologie zur Kommunikation. Dadurch lassen sich Informationen, wie Alarm- und Zustandsmeldungen beider Anlagenteile, in einem übergeordneten System zusammenfassen. Beispielsweise könnten das Öffnen einer Schaltschranktür sowie der Ausfall einzelner Geräte oder ganzer Anlagenteile sicherheitsrelevante Informationen darstellen, die nicht nur auf einen fehlerhaften Betrieb der Anlage, sondern auf ein höheres Sicherheitsrisiko hindeuten. In ähnlicher Weise lassen sich Hinweise auf drohende Gefahren für das IT-System aus der IP-basierten Videosicherheitstechnik des Perimeters oder der Liegenschaft ableiten. Als Beispiel sei ein auffälliges Verhalten vermeintlicher Lieferanten oder Dienstleister auf einer Liegenschaft genannt, die sich unerlaubt kritischen Bereichen nähern. Bei einer entsprechenden Eskalation der Gefahr sollten auch derartige Informationen in das Sicherheitsmanagement einfließen. Es geht nicht um die Substitution von Sicherheitskomponenten, vielmehr um die echtzeitnahe Erfassung, Konsolidierung und Auswertung heterogener Daten. So können rechtzeitig Maßnahmen zum Schutz der vernetzten IT- Systeme eingeleitet und flächendeckende Auswirkungen lokaler Ereignisse verhindert werden. Darüber hinaus kann die Korrelation der unterschiedlichen Datenquellen den Anteil an falsch-positiven Meldungen reduzieren helfen und exaktere Reaktionen auf tatsächliche IT-Sicherheitsvorfälle ermöglichen. Eine wesentliche Hürde auf diesem Weg stellen organisatorische und prozessuale Gegebenheiten dar. Konkret handelt es sich um fragmentierte Verantwortlichkeiten, ein unvollständiges Lagebild und mangelhafte Werkzeuge zur Kollaboration bei der Gefahrenabwehr. Zusammenführung der Daten zu einem gemeinsamen Lagebild Die sensiblen Bereiche von Unternehmensnetzwerken sind in der Regel gut gesichert. Angreifer könnten ihr Vorgehen daher variieren und über periphere Infrastrukturelemente in die IT- Netzwerke eindringen. Durch den Aus- und Umbau der Energieversorgung in Deutschland - stark dezentralisierte Erzeugung, räumlich entkoppelter Verbrauch, digitale Vernetzung und Steuerung - entstehen nun reale Gefahren aufgrund neuer Angriffsvektoren, da zum Beispiel unbemannte Umspannwerke an das Netzwerk angebunden sind. Die physische Sicherung dieser peripheren Elemente entspricht nicht dem Niveau von Rechenzentren, weil die dokumentierten Straftaten meist Buntmetall- oder Werkzeugdiebstahl betreffen. Dies sind keine Bagatellen, aber die Auswirkungen räumlich begrenzt und relativ gut zu bewältigen. 12 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Festzuhalten bleibt allerdings, dass die vorhandenen Sicherheitsmaßnahmen - wie Zäune oder Hochspannungs-Warnschilder - bei entsprechender krimineller Energie keine wirkliche Abschreckung bilden. Es ist nicht zu erwarten, dass das bei einem geplanten Angriff auf das geschützte Kernnetzwerk anders aussieht. Die negativen Effekte wären jedoch erheblich. Statt eines lokalen Stromausfalls könnten ein großflächiger Blackout oder der Abfluss sensibler Daten die Folge sein. Es muss also über eine erweiterte Risikobetrachtung und geeignete Schutzmechanismen nachgedacht werden. Das ist eine große Herausforderung, denn Vorfälle in entfernten peripheren Elementen können sich durch die Vernetzung auf das gesamte IT- Netzwerk der Energieversorger auswirken. Der Lösungsansatz hierfür liegt in der Koppelung der Liegenschaftsüberwachung, betrieblichen Kontrollsysteme und IT- Sicherheitssysteme durch die Zusammenführung der Daten in einem gemeinsamen Lagebild. Beispielweise können Informationen über verdächtige Vorfälle auf der Liegenschaft oder in den betrieblichen Anlagen die Intr u s ion - D e te c tion - Sy s te m e gezielt auf die vertiefte Analyse des Datenverkehrs betroffener IT-Komponenten hinweisen. Eine weitergehende Maßnahme wäre die automatisierte Entkoppelung der IT-Anbindung bis zur Klärung des Vorfalls. Eine solche Lösung erfordert folgende Schritte: Detektion und Klassifikation der relevanten Vorfälle vor Ort in der Peripherie logische Verknüpfung zur Ableitung potenzieller Auswirkungen, um auf die Relevanz für die IT-Sicherheit zu schließen Übertragung der bedeutsamen Informationen in ein Security Information and Event Management (SIEM) des Energieversorgers Durchführung von Maßnahmen in der IT-Sicherheit (intensiviertes Monitoring oder Kappung des Datenverkehrs) sowie physische Sicherheitsmaßnahmen vor Ort Sicherung der relevanten Daten und Informationen aus der Peripherie und IT-Infrastruktur zur Dokumentation in möglichen Strafverfahren Das unmittelbare Zusammenwirken zwischen physischer Sicherheit und IT-Sicherheit ist hier essenziell. Erst in dem kombinierten Lagebild wird die Bedrohung in ihrem vollen Umfang sichtbar und kann entsprechend adressiert werden (Bild 2). PoE-Switch zur Überwachung aller Kameraverbindungen Eine wesentliche Aufgabe besteht darin, die Daten aus den verschiedenen Bereichen einer Anlage sinnvoll zu verknüpfen und die nützlichen Informationen einem übergeordneten System zur Verfügung zu stellen. Selbst wenn sich ein Umspannwerk als eine Anlage ansehen lässt, werden die Automatisierungs- und Sicherheitstechnik sowie das Netzwerk für die Videosicherheitstechnik oft separat geplant und installiert. Im späteren Betrieb des Umspannwerks haben die einzelnen Bereiche meist keine direkte Kommunikationsverbindung zueinander. An dieser Stelle schaffen intelligente Netzwerkkomponenten wie die Smart Camera Box Abhilfe. Der nach dem All-in-One-Prinzip entwickelte PoE-Switch für den Outdoor-Bereich wird zur Verbindung der Netzwerkteilnehmer - wie IP-Kameras - mit dem Server eingesetzt. Die Smart Camera Bild 3: Smart Camera Box: PoE-Switch für den Outdoor- Einsatz, gemäß All-in-One-Prinzip, zur Videoüberwachung und für andere Ethernet- Anwendungen. © Phoenix Contact Bild 2: Schema eines integrierten Sicherheitsmonitorings in Energieversorgungsnetzen. © Phoenix Contact 13 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Box überwacht eigenständig die Verbindung zu den einzelnen Kameras - ganz gleich, ob Anschlusskabel durchtrennt werden, um Kameras auszuschalten, oder die Tür des Gerätes durch Unbefugte geöffnet wird. Die Box steht im ständigen Austausch mit dem Videomanagementsystem und ermöglicht ein aktives Monitoring aller Komponenten eines Systems. Für die logische Verknüpfung zur Ableitung potenzieller Auswirkungen gibt es Lösungen aus der Forschung zur digitalen Prozessunterstützung, die sich adaptieren lassen. Ähnlich den Abhängigkeiten für das Eintreten von Planabweichungen in Prozessen oder der Koordination knapper Ressourcen können auch logische Abhängigkeiten für Detektionen des Perimeterschutzes hinterlegt werden. Je spezifischer die Informationen an das SIEM-System weitergegeben werden, desto gezielter kann die Reaktion erfolgen. Genauso verhält es sich in der physischen Welt für die Intervention des Perimeterschutzes. Wie so häufig bei Überwachungslösungen gilt es, Alarme frühzeitig auszulösen und Falschalarme auf ein Minimum zu reduzieren. Formulierung erweiterter gesetzlicher Anforderungen Der unmittelbare Nutzen stärker integrierter Sicherheitslösungen unter Auswertung unterschiedlicher Daten- und Informationsquellen besteht in einem verbesserten Lagebewusstsein hinsichtlich der Gefahrensituation. Weitere Vorteile resultieren aus den längeren Vorwarnzeiten zur Einleitung von Gegenmaßnahmen sowie einem breiteren Instrumentarium zum Schutz der Systeme respektive zur Minimierung der Auswirkungen von Angriffen. Dazu ist eine erweiterte Risikobetrachtung unter Einbeziehung aller wichtigen Systemelemente in der Energieversorgung und möglicher Schutzmaßnahmen erforderlich. Die derzeit implementierten Lösungen spiegeln diesen Gedanken nur bedingt wider. Die Konzeption und Realisierung komplexer Lagebilder für Sicherheitsanwendungen in hochvernetzten Umgebungen ist Forschungsgegenstand. Es gibt jedoch bereits Erfahrungen aus anderen Anwendungsdomänen, die sich verwenden lassen. Schwieriger erscheint es, den Weg für die Bereitstellung und Nutzung der notwendigen Daten zu ebnen und ein flexibles Instrumentarium zur Reaktion auf identifizierte Bedrohungen zu entwickeln. Weiterhin müssen rechtliche Aspekte bei der erweiterten Zusammenarbeit von Energieversorgern, Netzbetreibern und Sicherheitsdienstleistern berücksichtigt werden. Perspektivisch könnte die Formulierung erweiterter gesetzlicher Anforderungen zum Betrieb von Anlagen zur Erzeugung, Übertragung, Transformation und Steuerung von Energie mehr Orientierung bieten. Mit Blick auf die voranschreitenden Veränderungen in der Energieversorgung und den sich daraus ergebenden Risiken erweist sich die Bearbeitung dieses Themas als unerlässlich. Mehr Informationen: Webcode: #2458 Als Videosicherheitssystem wird heute das Zusammenspiel von IP-Überwachungskameras sowie dem Videoserver und der Videomanagementrespektive Analysesoftware betrachtet. Die Infrastruktur zur Verbindung und Versorgung dieser einzelnen Systemteile erscheint meist als eigener Anlagenteil. Doch auch die Netzwerkkomponenten können dem Sicherheitssystem relevante Informationen liefern (Bild 3). Bei der Smart Camera Box handelt es sich um einen gemanagten PoE-Switch (Power-over- Ethernet), der Geräte wie IP-Kameras an das Netzwerk ankoppelt und gleichzeitig mit Spannung versorgt. Der PoE-Switch kann verschiedene Anlagenzustände, Veränderungen und Ereignisse überwachen und dem Videomanagementsystem als Meldung über das vorhandene Netzwerk mitteilen: Das unbefugte Öffnen der Gerätetür sowie das Freilegen der Verkabelung und Ethernet-Ports führt zu einem sofortigen Sabotagealarm. Falls das Kameraanschlusskabel durchtrennt wird oder einzelne Kameras ausfallen, erfolgt eine entsprechende Meldung. Der zeitweilige Ausfall von Kameras und anderen PoE-Geräten lässt sich anhand der erfassten Spannungsverläufe rekonstruieren. Defekte Zusatzmodule - wie Überspannungsschütze - werden vom PoE-Switch erkannt und gemeldet. ÜBERWACHUNG VON ANLAGENZUSTÄNDEN, VERÄNDERUNGEN UND EREIGNISSEN Tommy Göring Strategisches Produktmarketing im Bereich Communication Interfaces Phoenix Contact Electronics GmbH Kontakt: tgoering@phoenixcontact.com Dr. Kai Nürnberger Mitglied der Institutsleitung Fraunhofer FKIE Kontakt: kai.nuernberger@fkie.fraunhofer.de Jochen Sauer Architect & Engineering Manager Axis Communications GmbH Kontakt: jochen.sauer@axis.com AUTOREN 14 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Warnung der Öffentlichkeit in Deutschland Bis zur Verbreitung von Smartphones wurden Sirenen zur Warnung eingesetzt. Mittlerweile haben Apps, die für die Warnung vor Gefahren entwickelt wurden, diese Rolle übernommen. Dazu gehören etwa die Warn-App NINA (Notfall-Informations-und- Nachrichten-App) oder die vom Fraunhofer Institut im Auftrag der Versicherungswirtschaft entwickelte App KATWARN. Die EU-Gesetzgebung zum öffentlichen Warnsystem legt EU- Mitgliedsstaaten nahe, eine den Mobilfunkdiensten zuzuordnende Technologie zu nutzen. Dies bedeutet, dass jeder Bürger mit einem eingeschalteten Mobiltelefon auch ohne die Nutzung einer App eine Warnung erhält, sollte er oder sie sich in einem akuten Gefahrengebiet aufhalten. Deutschland hat sich als Konsequenz aus der Flutkatastrophe im Sommer 2021 auf die Aktivierung der Cell-Broadcast-Technologie in den Mobilfunknetzen geeinigt. Im Notfall soll eine SMS-ähnliche Warnmeldung mit einem lauten Ton an alle eingeschalteten Mobiltelefone auf eine Gefahr hinweisen. Dieser Ansatz ist bereits vielversprechend, kann und sollte aber noch im Sinne einer systemischen Ende-zu- Ende-Betrachtung weitergedacht werden. Alles beginnt mit dem Notruf Ob ein eingehender Notruf einer Katastrophenlage zuzuordnen ist, zeigt sich, wenn binnen kurzer Zeit viele weitere unabhängige Anrufe zur selben Gefahrenlage eingehen. Landkreise und kreisfreie Städte sind zunächst in der Verantwortung, bei einem eingehenden 112-Notruf entsprechende Einsatzkräfte zu entsenden. Handelt es sich um einen Krisenfall (wie einer Flut), obliegt dieser dem Verantwortungsbereich des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK), entsprechend melden die Notrufbehörden ihre Daten und Einschätzungen an eben dieses. Das BBK sorgt dafür, die einzelnen Informationsströme aus den betroffenen Kreisen und Städten zu einem gesamtheitlichen und umfassenden Lagebild zusammenzuführen, zu analysieren, zu bewerten und letztendlich über die notwendigen Warnmeldungen an die Bevölkerung zu entscheiden. Grundsätzlich gilt: Je breiter und vielfältiger die Anzahl der Warnkanäle ist, umso größer ist die Chance, möglichst viele Bürger im betreffenden Gebiet direkt zu erreichen. Neben den bekannten Kanälen wie Cell Broadcast, Warn-Apps, Radio und TV sowie Sirenen sollten weitere Kanäle mit großer Reichweite eingebunden werden. So nutzen bereits Jede Sekunde zählt Wie digitale Kanäle die Bevölkerung im Notfall besser warnen Markus Bornheim Bei der Flutkatastrophe im Ahrtal 2021 wurde die Bevölkerung - aus diversen Gründen - nicht rechtzeitig gewarnt. Seitdem ist das Thema „Public Warning“ wieder aktuell, denn auch in vielen anderen Fällen beobachten wir zu lange Warnzeiten in Notfallsituationen. Dabei könnten gerade responsive digitale Kanäle, wie SMS oder Social Media, dabei helfen, Notfallnachrichten schnell zu übertragen und es den Betroffenen ermöglichen, über diese Kanäle Rückfragen zu stellen, was Notfallnummern entlasten würde. Ein weiter Vorteil ist, dass diese Kanäle nicht nur Behörden zur Verfügung stehen, sondern weitere Branchen und Betreiber kritischer Infrastrukturen sie ebenfalls nutzen können. Leitstelle. © Avaya 15 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation heute viele Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) Social Media-Kanäle wie Twitter zur zeitnahen Information ihrer Follower. Rückmeldung von Bürgern als Reaktion auf Public Warning Haben die Warnungen die Zielgruppe effektiv erreicht, kann diese entsprechende Vorkehrungen treffen. Allerdings können die für Cell Broadcast genutzten Mobilfunkzellen gerade in ländlichen Bereichen deutlich größer sein als das gefährdete Gebiet selbst. Dadurch empfangen Bürger die Warnung, obwohl sie gar nicht direkt betroffen sind. Das Resultat: eine alarmierte Bevölkerung, die möglicherweise zu unnötigen oder gefährdenden Reaktionen und Handlungen neigt. Um dies zu verhindern, kann eine über Public Warning-Kanäle versandte Nachricht mit einer Feedback-Möglichkeit, wie etwa einem eingebetteten Link mit nachgelagerter Web-Applikation, versehen werden. Über diesen Link wird der Empfang der Nachricht quittiert, präzise lokalisiert und der Empfänger sieht über die Web-Applikation, ob er sich im Gefahrengebiet aufhält. Mittels im Krisenmanagementsystem eingebundener Analytik-Tools werden dann Heatmaps erstellt, die die tatsächliche Anzahl potenziell gefährdeter Menschen aufdeckt. Die Web-Applikation ermöglicht es der Bevölkerung zudem, eine digitale Notfallmeldung abzusetzen und somit die Lage vor Ort noch transparenter für die Einsatzkräfte zu gestalten. Der Vorteil: Es muss kein eingehender Notruf in der Leitstelle angenommen und bearbeitet werden, was zu einer Entlastung beiträgt. Umsetzbarkeit der „Rückruf- Warnung“ Wie ist es um die Umsetzbarkeit einer solchen digitalen Bevölkerungswarnung bestellt? Zunächst sollte eine digitale Kopplung der kommunalen Einsatzleitsysteme an eine übergeordnete Krisenmanagementplattform stattfinden. Hier werden relevante Details zum Notfall registriert, diese tragen zu einem übergeordneten Lagebild bei. In Notfallsituationen ist jeder für klare, leicht verständliche Anweisungen dankbar. So sollte sich in der Web-Applikation für jeden Bürger eine individuelle Situationsdarstellung wiederfinden, gekoppelt an eine Handlungsempfehlung: Wie sollte man sich am besten verhalten und welche Maßnahmen müssen für die eigene Sicherheit vorgenommen werden? Befindet sich also eine Person in einer Notfallsituation und entscheidet sich dazu, die digitale Anwendung für die Meldung an die Notfallorganisationen zu nutzen, ist in erster Linie ein hohes Maß an Automatisierung sowohl in ebendieser Anwendung als auch in der Einsatzleitstelle oder im BBK gefordert. Besonders dann, wenn die ursprüngliche Notfallwarnung über Social Media-Kanäle mit teils sehr vielen Followern abgesetzt wurde. Ein Chatbot kann dabei helfen, diese Anfragen zu filtern und zu sortieren. Anschließend sorgt die Geolokalisierung für die Zuordnung des realen Standortes der/ des Betroffenen zur zuständigen Leitstelle. Auch diese kann oder sollte über digitale Kanäle in die K risenmanagement- Plat t form eingebunden werden, wenn gewünscht. Ähnlich wie bei einer Notruf- App braucht es eine Applikation sowie eine fortgeschrittene Digitalisierung aller beteiligten Behörden. Explizit für die Leitstellen sind Multimedia-Erweiterungen sinnvoll, mit denen sich zusätzlich zum Telefon und neben dem Text-Chat auch Bilder oder sogar Videoaufnahmen bidirektional und in Echtzeit austauschen lassen. So können die vom Chatbot generierten Informationen und die digitalen Kontakte (also die meldenden Personen) aufgenommen, erweiterte Erkenntnisse über die Multimedia-Inhalte geteilt, und, wenn notwendig, kann direkt zurückgerufen werden. Diese multimedialen Fähigkeiten könnten tendenziell über zukünftige Erweiterungen der vom Expertenforum Universelle Leitstellenschnittstelle (EFULS) entwickelten Schnittstelle „UCRI“ (Universal Control Room Interface) eingebracht werden. Schon heute finden wir ähnliche Anwendungsbeispiele in großflächig digitalisierten Branchen wie etwa dem Kundenservice im Online-Handel. Hier wird häufig Künstliche Intelligenz (KI) eingesetzt, die auf Basis der ihr zur Verfügung stehenden Informationen kontinuierlich dazu lernt und so ein recht autark agierendes System bildet. So können Kundenanfragen bereits gelöst werden, ohne eine reale Person hinzuziehen zu müssen. Dasselbe Prinzip ist auf den Notruf anwendbar: Stehen der KI ausreichend Daten zur Verfügung, kann diese individuelle Anweisungen für die Bürger erzeugen und damit zur Entlastung des Notrufwesens beitragen. AUTOR Markus Bornheim Practice Lead Public Safety and Emergency Services Avaya International Kontakt: bornheim@avaya.com 16 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Man kann versuchen, Sicherheit und die Reduzierung von Kriminalität durch eine umfassende Überwachung und durch restriktive Strafen zu erreichen. Viele Städte, darunter Mannheim, gehen einen anderen Weg. Sie schaffen Sicherheit durch den Abbau der Kriminalitätsfurcht und mit Hilfe der Steigerung der Lebensqualität. Grundlage dieses Ansatzes sind Studien über die Bedingungen und Auswirkungen der Kriminalitätsfurcht in einer Region. Zu den Bedingungen der Kriminalitätsfurcht zählen insbesondere Incivilities und Sozialkapital. Der Weg zu einer sicheren und lebenswerten Stadt Kriminalitätsfurcht, Incivilities, Sicherheits-Audits, Kriminalprävention, Lebensqualität Dieter Hermann Kriminalität und Kriminalitätsfurcht beeinträchtigen nicht nur die Lebensqualität in einer Gesellschaft und Gemeinde, sondern können auch das Verhalten und die kriminalpolitischen Einstellungen der Menschen sowie die wirtschaftliche Situation des Einzelhandels und unternehmerische Entscheidungen über die Standortwahl erheblich beeinflussen [1, 2]. Deshalb ist es wichtig, den Menschen ein realistisches Sicherheitsgefühl zu vermitteln. Für eine bürgernahe Kommune, die auch der Wirtschaftsförderung eine hohe Priorität zukommen lässt, muss deshalb die Reduzierung von Kriminalität und der Abbau von Kriminalitätsfurcht ein zentrales Ziel sein. Gemeinden, die auf das wichtige Steuerungsinstrument „Kommunale Kriminalprävention“ verzichten, stehen in der Gefahr, als rückständig und bürgerfern etikettiert zu werden. © Jana V. M. auf Pixabay 17 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Unter „Incivilities“ versteht man subjektive Störungen der sozialen und normativen Ordnung. Die Auswirkungen von Incivilities werden insbesondere im Broken Windows-Ansatz beschrieben. [3] Verlassene und verfallende Häuser, nicht entsorgter Müll, rücksichtslose Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer, pöbelnde Menschen sowie verwahrloste Gebäude verunsichern die Bevölkerung, reduzieren die Lebensqualität, verursachen Kriminalitätsfurcht und signalisieren, dass Normen nur bedingt gültig sind. Als Folge davon ziehen sich die Menschen zurück, die soziale Kontrolle nimmt ab und die Kriminalitätsbelastung steigt. Diejenigen, die es sich leisten können, ziehen aus einem solchen Stadtbezirk weg, andere Personen hingegen, die solche Verhältnisse eher positiv bewerten und an sozialer Kontrolle weniger interessiert sind, bevorzugen solche Stadtbezirke als Wohnort. Diese Fluktuation führt zu einer Verschlechterung der Situation des Stadtbezirks und somit zu einer Verschärfung der Problemlage in dem Viertel. Empirisch zeigt sich, dass wahrgenommene Incivilities mit einer vergleichsweise großen Kriminalitätsfurcht korrespondieren. [4 - 8] Dies gilt auch für die Beziehung zwischen Sozialkapital, insbesondere dem Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in Institutionen und Mitmenschen, und Kriminalitätsfurcht. [9] Bild 1 beschreibt die skizzierten Beziehungen. Nach diesem Modell würde eine Reduzierung der Kriminalitätsfurcht zu einer Verbesserung der Lebensqualität und zu einem Abbau der Kriminalitätsbelastung führen. Für die Antwort auf die Frage, welche Maßnahmen zur Reduzierung der Kriminalitätsfurcht erfolgversprechend sind, ist eine Datengrundlage erforderlich, denn Kriminalprävention nach dem Gießkannenprinzip kann kontraproduktiv sein. Für die Erstellung einer Datenbasis können Sicherheits- Audits verwendet werden. Ein Sicherheits-Audit ist eine regelmäßig durchgeführte Befragung in Kommunen mit dem Ziel, die subjektive und objektive Sicherheitslage zu erfassen, Regionen und Personengruppen mit vergleichsweise hoher Kriminalitätsfurcht zu identifizieren und Bedingungen einer hohen Kriminalitätsfurcht zu ermitteln. Mit diesem Ansatz ist es möglich, ursachenorientierte und erfolgversprechende Präventionsmaßnahmen zu implementieren. Der Erfolg dieses Vorgehens soll am Beispiel Mannheim aufgezeigt werden. Sicherheits-Audits in Mannheim In Mannheim werden seit 2012 Sicherheitsbefragungen durchgeführt. Die vierte Erhebung ist für Ende 2022 vorgesehen. Das Spektrum der Erhebungen hat sich stetig erweitert. Die ersten Befragungen waren auf die Erfassung der subjektiven und objektiven Sicherheitslage konzentriert. In der Befragung aus dem Jahr 2020 wurden zusätzlich Fragen zur Compliance von Corona-Regeln, zur Impfbereitschaft, zum Einfluss einer intelligenten Videoüberwachung auf das Sicherheitsgefühl und zur Sicherheit von LSBTI- Menschen einbezogen. In der Befragung 2022 wird neben dem Basismodul der zuletzt genannte Punkt und die Frage nach der Kommunikation in Katastrophensituationen wie dem Chemie-Unfall 2022 im Mannheimer Hafen berücksichtigt. Die klassische Sicherheitsbefragung hat sich zum kommunalen Planungsinstrument weiterentwickelt, in dem auch Fragestellungen bedacht werden, die mit dem Thema Sicherheit in Verbindung stehen. Dadurch ist es möglich, schnell auf Krisen zu reagieren, welche die Sicherheitslage beeinträchtigen könnten. Die Grundgesamtheit der Sicherheitsbefragung im Jahr 2012 waren die im Einwohnermelderegister erfassten Bewohnerinnen und Bewohner Mannheims. Daraus wurde eine zufällige Stichprobe von 6 500 Personen zwischen 14 bis 70 Jahren gezogen. Die Rücklaufquote betrug 29 %. In den nachfolgenden Befragungen wurde auf eine Altersobergrenze verzichtet. Der schriftliche Fragebogen wurde 2016 an 9 998 zufällig ausgewählte Personen verteilt. Die Auswahl erfolgte wieder anhand der Daten des Einwohnermelderegisters. Die Rücklaufquote betrug 36 %. In der Befragung 2020 wurden zwei Zufallsstichproben gezogen, eine Stichprobe von 15 000 Fällen für eine Online-Befragung und eine Stichprobe von 10 000 Fällen für die schriftliche Befragung. Der Rücklauf für die Online-Befragung lag bei 16 % und für die schriftliche Befragung bei 33 %. Die Befragung 2022 wird als Online-Befragung durchgeführt. Sozialkapital Incivilities Kriminalität Lebensqualität Kriminalitätsfurcht Änderung der Bevölkerungsstruktur Eindruck von fehlender Normgeltung Abbau sozialer Kontrolle Bild 1: Bedingungen und Wirkungen der Kriminalitätsfurcht. © Hermann 18 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Ergebnisse des Mannheimer Sicherheits-Audits 2020 Ein Sicherheits-Audit soll insbesondere drei Fragen beantworten: In welchen Regionen ist die Kriminalitätsfurcht besonders groß? Welche Personengruppen haben eine besonders große Kriminalitätsfurcht? Welche Bedingungen haben einen großen Einfluss auf die Kriminalitätsfurcht und werden zudem von vielen Bürgerinnen und Bürgern als relevant angesehen? Kriminalitätsfurcht wurde durch mehrere Indikatoren gemessen, sodass die affektive, kognitive und konative Komponente berücksichtigt sind. Die Items werden zu einem Index zusammengefasst. Ein positiver Wert bedeutet eine überdurchschnittliche und ein negativer Wert eine unterdurchschnittliche Kriminalitätsfurcht. Ein Vergleich der Stadtbezirke hinsichtlich der Kriminalitätsfurcht der Bewohnerinnen und Bewohner zeigt, dass das Furchtniveau in der Neckarstadt-West, Im Jungbusch und in der Innenstadt signifikant größer ist als in anderen Stadtbezirken. Somit ist es sinnvoll, Kriminalprävention auf diese Regionen zu konzentrieren. In Bild 2 wird die Abhängigkeit der Kriminalitätsfurcht von demographischen Merkmalen aufgezeigt. Es zeigt sich, wie in anderen Studien auch, dass Frauen eine höhere Kriminalitätsfurcht als Männer haben. Allerdings nimmt weder für Frauen noch für Männer die Kriminalitätsfurcht mit dem Alter zu. In Mannheim fühlen sich ältere Bürgerinnen und Bürger besonders sicher. Die Gruppe mit der höchsten Kriminalitätsfurcht besteht aus jungen Frauen mit Migrationshintergrund. Dies kann durch drei Sachverhalte erklärt werden: Junge Frauen mit Migrationshintergrund werden häufiger als andere Opfer sexueller Angriffe, Begegnungen mit alkoholisierten Personen sind für diese Bevölkerungsgruppe besonders problembelastet, und sie sind stärker als andere von sexuellen Herabwürdigungen gegenüber Frauen betroffen. Somit ist es sinnvoll, dass Präventionsmaßnahmen auf junge Frauen mit Migrationshintergrund konzentriert werden. Quantitativ bedeutsame und einflussstarke Bedingungen der Kriminalitätsfurcht in der Neckarstadt-West, dem Stadtbezirk mit der höchsten Kriminalitätsfurcht, sind Gruppen von Jugendlichen, deren Absicht vorbeigehenden Passanten unklar bleibt. Furchtauslösend sind auch Begegnungen mit alkoholisierten Personen, ein respektloser Umgang miteinander und die sexuelle Herabwürdigung von Frauen. Zudem ist das Misstrauen in die Mitmenschen im Stadtteil und in der Nachbarschaft von Bedeutung. Im Stadtteil Jungbusch hat die Wahrnehmung von Schmutz und Müll einen relevanten Einfluss auf die Kriminalitätsfurcht, ebenso beschmierte Hauswände und heruntergekommene, leerstehende Gebäude. Zudem ist der Anteil der Personen, die diese Punkte negativ wahrnehmen, so groß, dass Präventionsmaßnahmen mit dem Ziel, das ästhetische Erscheinungsbild des Stadtbezirks zu verbessern, sinnvoll erscheinen. Die negative Wahrnehmung undiszipliniert fahrender Autofahrer und alkoholisierter Personen beeinflusst ebenfalls die Kriminalitätsfurcht; auch diese Aspekte sind präventionsrelevant. Ein dritter Komplex betrifft die negativen Auswirkungen von Respektlosigkeit, Anonymität und Misstrauen unter den Bewohnerinnen 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 Jahr 60 40 20 0 -20 - 40 -60 -80 -100 -120 -140 -160 -180 -200 Nivellierte Häufigkeitszahl Gewaltkriminalität (2012 = 0) HZ _Gewaltkriminalität _ BW_nivelliert HZ _Gewaltkriminalität _MA _nivelliert Männlich ohne Migrationshintergrund Männlich mit Migrationshintergrund Weiblich ohne Migrationshintergrund Weiblich mit Migrationshintergrund ,60 ,50 ,40 ,30 ,20 ,10 ,00 -,10 -,20 -,30 -,40 Mittelwert Kriminalitätsfurcht (Gesamtindex) 14 bis 19 Jahre 20 bis 29 Jahre 30 bis 39 Jahre 40 bis 49 Jahre 50 bis 59 Jahre 60 bis 69 Jahre 70 bis 79 Jahre 80 Jahre und älter Bild 2: Die Abhängigkeit der Kriminalitätsfurcht von Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund. © Hermann Bild 3: Die Entwicklung der polizeilich registrierten Gewaltkriminalität in Mannheim und in Baden- Württemberg. © Hermann 19 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen und Bewohnern des Stadtbezirks. Die quantitative und qualitative Relevanz von Bedingungen der Kriminalitätsfurcht unterscheiden sich regional. Eine Einwirkung auf diese Bedingungen dürfte die Kriminalitätsfurcht positiv beeinflussen. Evaluation Die Kriminalitätsfurcht hat sich zwischen 2016 und 2020 deutlich reduziert. Der Anteil der Personen, die sich unsicher fühlen, ist von 19 auf 13 % gesunken. Alle Indikatoren belegen einen Rückgang der Kriminalitätsfurcht. Auch die Anteile der Viktimisierten haben sich verringert. Die Wirksamkeit der Kriminalprävention Mannheims ist zudem an der Entwicklung der polizeilich registrierten Kriminalität erkennbar. In Bild 3 wird die Entwicklung der Gewaltkriminalität in Mannheim und in Baden-Württemberg einander gegenübergestellt. Die Häufigkeitszahl ist die Anzahl registrierter Straftaten pro 100 000 Einwohner. Für den Vergleich wurde das Ausgangsniveau für beide Gruppen auf null gesetzt. Demnach ist die Entwicklung der Gewaltkriminalität in Mannheim günstiger als in Baden-Württemberg, obwohl in vielen Städten des Landes Kriminalprävention betrieben wird. Dies spricht für einen Erfolg des Mannheimer Ansatzes. Fazit Durch die Sicherheits-Audits konnten Unterschiede in der Kriminalitätsfurcht, Bedingungen der Kriminalitätsfurcht und Problemschwerpunkte aus der Sicht der Bürgerinnen und Bürger aufgezeigt werden. Dadurch ist es möglich, Prävention ursachenorientiert und ressourcenschonend durchzuführen. Die Evaluationen weisen auf einen Erfolg dieses Konzepts hin. In der postmodernen Gesellschaft ist auf Grund der starken funktionalen Vernetzung Kriminalität und Kriminalitätsfurcht kontraproduktiv, weil dadurch Vertrauen in Mitmenschen und Institutionen zerstört wird - dies ist jedoch die Grundlage einer funktionierenden Gesellschaft. Zudem ist Kriminalität durch die Verletzung der Freiheit des Opfers eine extreme Form von Intoleranz. Somit hat eine subjektiv und objektiv sichere Kommune, die dies ohne wesentliche Einschränkungen der Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger erreicht, einen Wettbewerbsvorteil im Modernisierungsprozess. Sicherheits-Audits sind ein wichtiges Instrument, um dieses Ziel zu erreichen. LITERATUR [1] Armborst, A.: Kriminalitätsfurcht und punitive Einstellungen: Indikatoren, Skalen und Interaktionen. Soziale Probleme 25 (2014), S. 105 - 142. [2] Bussmann, K.-D., Werle, M.: Kriminalität. Standortfaktor für betriebliche Entscheidungen? Neue Kriminalpolitik 16 (2004), S. 90 - 95. [3] Wilson, J. Q., Kelling, G. L.,: Polizei und Nachbarschaftssicherheit: Zerbrochene Fenster. In: Kriminologisches Journal 28 (1996), S. 121 - 137. Englisches Original: Kelling, G. L., Wilson, J. Q.: Broken Windows. The police and Neighborhood Safety. The Altlantic. März (1982), S. 29 - 39. https: / / www.theatlantic.com/ magazine/ archive/ 1982/ 03/ broken-windows/ 304465/ . [4] Häfele, J.: Urbane Disorder-Phänomene, Kriminalitätsfurcht und Risikoperzeption. Eine Mehrebenenanalyse. In: Oberwittler, D., Rabold, S., Baier, D. (Hrsg): Städtische Armutsquartiere - Kriminelle Lebenswelten? Studien zu sozial-räumlichen Kontexteffekten auf Jugendkriminalität und Kriminalitätswahrnehmungen. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften, (2013), S. 217 - 247. [5] Häfele, J., Lüdemann, C.: „Incivilities“ und Kriminalitätsfurcht im urbanen Raum - Eine Untersuchung durch Befragung und Beobachtung. Kriminologisches Journal 38 (2006), S. 273 - 291. [6] Hermann, D.: Das Mannheimer Auditinstrument zur Förderung von Sicherheit und Lebensqualität - ein Konzept der rationalen Bewältigung von Herausforderungen. In: Marks, E. (Hrsg.): Prävention und Integration. Ausgewählte Beiträge des 22. Deutschen Präventionstages 19. und 20. Juni in Hannover. Bonn: Forum Verlag Godesberg (2018), S. 207 - 220; [7] Hermann, D., Wachter, E., Kerner, H.-J.: Sicherheit ist machbar! Das Heidelberger Audit-Konzept für urbane Sicherheit, am Beispiel der Kommunalen Kriminalprävention in Pforzheim. Tübingen: TOBIAS-lib Universitätsbibliothek Tübingen, Tübinger Schriften und Materialien zur Kriminologie, Band 47, (2022). Online verfügbar unter https: / / publikationen.unituebingen.de/ xmlui/ handle/ 10900/ 126280/ . [8] Wachter, E.: Kommunale Kriminalprävention. Baden- Baden, (2020) Nomos. [9] Hermann, D.: Sozialkapital und Sicherheit - zu Wirkungen bürgerschaftlichen Engagements. In: Kerner, H.-J., Marks, E. (Hrsg.): Internetdokumentation des Deutschen Präventionstages. Hannover (2008), www.praeventionstag.de/ Dokumentation, cms/ 261. Prof. Dr. Dieter Hermann Institut für Kriminologie Universität Heidelberg Kontakt: hermann@krimi.uni-heidelberg.de AUTOR 20 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Die Frage nach den Gründen, warum in manchen städtischen Bereichen und Wohnsiedlungen Kriminalität und Unsicherheitsgefühle überhand nehmen, hat in den 1960er Jahren in den USA zur Gründung der Institution „Crime Prevention Through Environmental Design“ (CPTED) geführt. Man hatte erkannt, dass eine mangelnde öffentliche Sicherheit auch mit der Umweltgestaltung zu tun haben kann. „The CPTED approach states that the proper design and effective use of the built environment can lead to a reduction in the fear and incidence of crime, and an improvement in the quality of life“ [1]. Verschiedene Modelle und Theorien zur Prävention von Kriminalität und Kriminalitätsfurcht wurden entwickelt. Eines davon ist das von Oskar Newman stammende Defensible Space-Konzept, das sich dadurch auszeichnet, dass es die räumliche Struktur eines Gebiets als kriminalitäts- und sicherheitsrelevantes Merkmal in den Blickpunkt rückt. Es sagt etwas darüber aus, was bei dem Entwurf und der Herstellung Mehr Sicherheit in Wohngebieten Rückbesinnung auf das Defensible Space-Konzept Öffentliche Sicherheit, Kriminalität, Unsicherheitsgefühle, Prävention, Zwischenzonen Antje Flade Das Defensible Space-Konzept, das der Architekt Oskar Newman bereits vor 50 Jahren propagiert hat, wird in Erinnerung gerufen. Ein Grund ist die derzeitige bauliche Verdichtung in Anbetracht der Notwendigkeit, bei knappem städtischem Baugrund viele Wohnungen herzustellen. Das Verdichten kann jedoch dazu führen, dass statt Defensible Spaces das Gegenteil, nämlich „vulnerable spaces“ entstehen, in denen sich die Bewohner und Bewohnerinnen nicht sicher fühlen und sich deshalb hinter ihren Wohnungstüren verschanzen. Ein ausgewogenes territoriale Gefüge kann dazu beitragen, Wohngebiete sowohl objektiv als auch subjektiv sicherer zu machen. Bild 1: Baustelle. © Flade 21 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen gebauter Umwelten zu beachten ist, damit sie „funktionieren“ und zwar auch in dem Sinne, dass die Kriminalitätsrate gering ist und Unsicherheitsgefühle selten sind [2]. Ein Defensible Space bietet Tätern keine Chance, ihre kriminellen Absichten zu verwirklichen. Die Bewohnerinnen und Bewohner können sich sicher fühlen. Eine differenzierte räumliche Struktur besteht nicht nur aus privaten und öffentlichen Bereichen, sondern enthält immer auch Übergangsbereiche bzw. Zwischenzonen. Inwieweit das „territorial functioning“ klappt, hängt von der Zusammensetzung aus privaten (primären), halböffentlichen (sekundären) und öffentlichen Territorien ab. Während öffentliche Bereiche für alle Menschen zugänglich sind - was sie zu anonymen Räumen macht -, gilt das nicht für die halböffentlichen Zwischenzonen. So dürfen zum Beispiel in der Bahn nur diejenigen mitfahren, die ein Ticket haben, oder in der Staatsbibliothek dürfen nur diejenigen Bücher ausleihen, die einen Bibliotheksausweis besitzen. Je nach der Art und Exklusivität der halböffentlichen Bereiche ist die Zugänglichkeit mehr oder weniger begrenzt. In Wohngebieten sind die Zwischenzonen (sekundäre Territorien) eher selten sichtbar markiert. Es gibt kein Ticket oder einen Pförtner oder festgefügte Mauern. Es sind subtilere Zeichen, die mitteilen, wer dazu gehört und wer nicht. Ein Beispiel sind Fußwege zwischen mehrstöckigen Häuserzeilen, die nicht als Durchgangsweg - also öffentliches Territorium - infrage kommen, weil sie in einer Sackgasse münden. Weitere Beispiele sind hinter dem Haus gelegene Höfe und Gemeinschaftsgärten sowie zur Wohnanlage gehörende Kinderspielplätze. Für das territoriale Funktionieren sind die sekundären Territorien essentiell. „Territoriality refers to the legitimate users’ sense of ownership or appropriation which reduces the opportunities for offending by discouraging illegitimate users … Territoriality aims to eliminate unassigned spaces and ensure that all spaces have a clearly defined and designated purpose“ [3]. Zwischenzonen sind nicht nur aus Sicherheitsgründen wichtig. Das soziale Leben im Wohngebiet und die Wohnzufriedenheit hängen davon ab. Die Bewohner und Bewohnerinnen können sich hier unverbindlich, informell, ohne jede Terminabsprache begegnen und ins Gespräch kommen. Dabei können sich soziale Beziehungen und ein Gefühl von Zugehörigkeit herausbilden. Kontakte, Kommunikation und das Gefühl der Zugehörigkeit verhindern Vereinzelung und Vereinsamung. Die positive Wirkung des „territorial functioning“ ist empirisch belegt. Dazu zwei Beispiele: Eine Untersuchung in einem Studentenwohnheim ergab, dass die Einbruchswahrscheinlichkeit in ein studentisches Apartment höher war, wenn dieses direkt an den öffentliche Bereich angrenzte, was vor allem für Eckwohnungen im Erdgeschoss zutraf. Hier hatte die „Pufferwirkung“ halböffentlicher Zwischenzonen Bild 2: Neubau-Gebiet. © Flade 22 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen gefehlt [4]. Die Analyse der Umwandlung eines großen öffentlichen Bereichs direkt vor den Häusern in kleinere halböffentliche Bereiche ergab, dass die Bewohner und Bewohnerinnen nachher weniger verängstigt waren (5). Damit sich die Menschen in den geplanten neuen Wohngebieten und künftigen Stadtteilen wohl und sicher fühlen, sollte die bauliche Verdichtung nicht auf die Spitze getrieben werden, indem die Zwischenzonen allzu sehr dezimiert oder einfach weg gelassen werden. Diese Tendenz besteht, wie die Bilder 1 und 2 zeigen. Differenzierte räumliche Anordnungen mit Übergangsbereichen zwischen den privaten Wohnungen und dem öffentlichen Raum fördern Begegnungen und das einander Bekanntwerden. Günstige Konstellationen sind der Hoftyp, in den keine Fremden kommen, und der Überdachungstyp [6]. Überdachungen verändern das Ambiente. Eine Einkaufsmeile, die von einem Glasdach überspannt ist, wirkt beispielsweise weniger öffentlich als eine Straße mit ähnlichen Geschäften unter freiem Himmel. Eine völlig andere, nicht auf territoriales Funktionieren abzielende Strategie, um die Wahrscheinlichkeit von Unsicherheitsgefühlen jenseits der eigenen Wohnungs- oder Haustür spürbar zu verringern, soll hier nicht unerwähnt bleiben: ein striktes Abgrenzen von öffentlichen Räumen in Form der Gated Communities. Anstelle von Zwischenzonen gibt es hier sehr klare, nicht misszuverstehende Grenzziehungen. Diejenigen, die sich die teuren Communities leisten können und geschützter leben wollen, ziehen in umzäunte, mit Überwachungsanlagen versehene abgeschottete Wohnanlagen, in denen Sicherheit garantiert ist. Bezogen auf den gesamten städtischen Raum wirken Gated Communities segmentierend, so dass sie aus kommunaler Sicht sowie aus der Sicht der außerhalb dieser Communities Lebenden keine befriedigende Lösung darstellen. Ergebnis ist „die fragmentierte Stadt“ [7]. Auch eine Verwandlung öffentlicher Räume in No-go-Areas ist im Zuge der Segmentierung nicht auszuschließen. Abgrenzungen sind ein Zeichen von Unsicherheit und Angst, was Theroux in literarischer Form beschrieben hat: „Ich hatte keine Lust, hier anzuhalten. Wer aus Oklahoma oder Texas stammt, brüstet sich gern mit seiner Freiheit und redet davon, wie eng zusammengepfercht die New Yorker leben müssen, aber die Landstädte hier kamen mir zum Ersticken eng vor. Schon die Art, wie sie angelegt waren, deutete auf Verteidigungsbereitschaft hin, als seien sie nur aus einer allgemeinen Angst entstanden. Das Raster entsprach dem einer Wagenburg“ [8]. Die strikte Abgrenzung vom öffentlichen Raum in Form von Gated Communities oder „Wagenburgen“ läuft auf ein „narrow the field“ hinaus, ein freiwilliges Verzichten auf Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten. Bei einem funktionierenden Mix aus privaten, halböffentlichen und öffentlichen Territorien erübrigt sich ein Verzicht auf Lebensmöglichkeiten. Das Fazit ist ein Plädoyer: In den in Planung befindlichen Wohnsiedlungen und künftigen Stadtteilen sollte es zwischen den Wohnungen und dem öffentlichem Raum sekundäre Territorien in allen möglichen Formen geben. Es lohnt, darüber nachzudenken, wie sich trotz des Gebots, viel Wohnraum auf begrenzten städtischen Flächen zu schaffen, ansprechende und unmissverständliche Zwischenbereiche realisieren lassen. LITERATUR [1] Montoya, L., Junger, M., Ongena, Y.: The relation between residential property and its surroundings and dayand night-time residential burglary. Environment and Behavior, 48 (2016), S. 517. [2] Newman, O.: Defensible Space. Crime prevention through urban design. New York: McMillan, 1972. [3] Montoya et al., a.a.O., S. 519. [4] Robinson, M. B., Robinson, C. E.: Environmental characteristics associated with residential burglaries of student apartments. Environment and Behavior, 29 (1997), S. 657 - 675. [5] Cherulnik, P. D.: Applications of environment-behavior research. Case studies and analysis. Cambridge: Cambridge University Press, 1993. [6] McCamant, K., Durrett, C.: Cohousing. A contemporary approach to housing ourselves. Berkeley, CA: Habitat Press, 1989. [7] Glasze, G.: Die fragmentierte Stadt. Ursachen und Folgen bewachter Wohnkomplexe im Libanon. Opladen: Leske+ Budrich, 2003. [8] Theroux, P.: Der alte Patagonien Express. 3. Aufl. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, (1998) S. 52f. Dr. Antje Flade Diplom-Psychologin Angewandte Wohn- und Mobilitätsforschung (AWMF), Hamburg Kontakt: awmf-hh@web.de AUTORIN 23 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Sicherheits-Audit für Quartiere Mit dem Leitfaden „Lebenswertes Quartier“ Quartier, Prävention, Sicherheitsgefühl, Stadtplanung Herbert Schubert Das „Quartier“ spielt in der sozial-ökologischen Transformation der Städte eine Schlüsselrolle. Es repräsentiert nach der Neuen Leipzig-Charta die urbane Raumebene, auf der das Gemeinwohl im alltäglichen Zusammenleben sichergestellt wird und auf der im Rahmen einer integrierten Quartiersentwicklung Beiträge zur notwendigen sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen sowie räumlichen Transformation geleistet werden können [1]. Dazu sollen alle fachlich relevanten Belange und Interessen koordiniert werden, um offene, sichere und lebendige öffentliche Quartiersräume zu schaffen. Bisher fehlen jedoch Instrumente, mit denen bewertet werden kann, was ein Quartier in diesem Sinn lebenswert macht. Daher hat die Sicherheitspartnerschaft im Städtebau in Niedersachsen [2] im Rahmen eines interdisziplinären Arbeitskreises den „Leitfaden zur Beratung und Bewertung von Quartieren unter kriminalpräventiven Aspekten“ entwickelt und im Jahr 2022 in zwei Stadtquartieren erprobt. © luigi auf Pixabay 24 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Das Verfahren und die Instrumente des Leitfadens Dem Leitfaden liegen drei Dimensionen der städtebaulichen Kriminalprävention zu Grunde [2, 3]: (1.) Schutz durch die architektonische und städtebauliche Quartiersgestaltung - im Blickpunkt steht dabei, wie ein Quartier physisch-symbolisch beschaffen sein muss, damit sich die Bewohnerinnen und Bewohner dort wohl und sicher fühlen können. (2.) Schutz durch das Management im Quartier - hierbei steht die Frage im Vordergrund, wie ein Quartier beispielsweise durch Wohnungsunternehmen, Dienstleistende und lokale Institutionen mit dem Ziel zu managen ist, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner von den alltäglichen Routinen gut versorgt fühlen. (3.) Schutz durch die soziale Kohäsion - unter diesem Blickwinkel wird das Augenmerk darauf gerichtet, wie der Zusammenhalt in der Bewohnerschaft informell zu einem sicheren Quartiersbild beiträgt bzw. ob die bestehenden Rahmenbedingungen sie dazu befähigen. Denn das Wohlbefinden und das subjektive Sicherheitsgefühl im Quartier wird vor allem von der Übereinkunft unter den Menschen getragen, selbst verantwortlich zu sein und sich engagiert um ein konfliktfreies Zusammenleben zu kümmern [4]. Der Prozess der Leitfadenanwendung umfasst insgesamt sieben Schritte (Bild 1), in die eine Anwendung unterschiedlicher Instrumente eingebettet sind (Bild 2): I. Im ersten Schritt wird ein „lokales Prüfteam“ mit einem interdisziplinären und interinstitutionellen Profil aus den Feldern der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft, der Architektur und Stadtplanung, der (polizeilichen) Prävention, der Gemeinwesenarbeit, des Ehrenamts lokaler Vereine und der Bewohnerschaft des Quartiers konstituiert. II. Im zweiten Schritt werden die Grunddaten - das heißt sowohl die städtebaulichen und wohnungswirtschaftlichen als auch die sozialen und infrastrukturellen Merkmale - mit dem „Quartierbogen“ erhoben. Anhand der kartographischen Planunterlagen wird eine Abgrenzung des Quartiers vereinbart. III. Als dritter Schritt werden die erhobenen Informationen mit Hilfe des „Vorprüfungsbogens“ ausgewertet. Dabei wird das Quartier als Ganzes in Augenschein genommen, aber es wird auch in Zonen gegliedert, in denen die Audits, Begehungen und Beobachtungen erfolgen sollen. IV. Gegenstand des vierten Schrittes sind die Erörterung der Vorprüfungsergebnisse durch das lokale Prüfteam und die daraus abgeleitete Vorbereitung, wie der Leitfaden vor Ort angewendet werden soll. In der Vorprüfung ist unter anderem von Interesse, ob das Quartier ein erkennbares Zentrum und deutliche Ränder aufweist, die Eingänge in das Quartier erkennbar sind, prominente Standorte für Infrastrukturen der Daseinsvorsorge und andere Versorgungseinrichtungen reserviert sind, die meisten Wohnungen sich nur wenige Gehminuten vom Zentrum entfernt befinden, und es über den ÖPNV gute Verbindungen in die anderen Teile der Stadt gibt [5]. Diesen Blicken liegt das Verständnis eines Idealtypus von „Stadtquartier“ zu Grunde, der auf der Basis einer robusten Stadtstruktur sowie einem individuellen Profil im innerstädtischen Kontext Bild 1: Verfahren des Leitfadens. © Schubert Bild 2: Instrumente des Leitfadens. © Schubert 25 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen eine gute Erreichbarkeit von Einrichtungen des täglichen Bedarfs, eine Nutzungsmischung und eine demografische Mischung aufweist, zugleich aber auch eine Verinselung vermeidet, indem es hinreichend mit der Gesamtstadt verknüpft ist [6]. Bezüge gibt es auch zur „Pattern Language“ von Christopher Alexander et al. [7], nach der ein Quartier den Charakter einer „identifizierbaren räumlichen Einheit“ aufweisen muss, damit sich die Bewohnerinnen und Bewohner zugehörig fühlen können. V. Während der Vor-Ort-Termine im fünften Schritt werdem die „Auditbögen“ mit den Kriterien der architektonischen und städtebaulichen Quartiersgestaltung in den ausgewählten Untersuchungsbereichen angewendet. Bewertet werden Orientierung, Transparenz, Sichtachsen und Wegeführung im Quartier, die räumliche An-/ Zuordnung und gestalterische Klarheit, die Aufenthaltsqualitäten im Freiraum, die Abstellmöglichkeiten und Möblierung sowie die Qualität der Beleuchtung in der Dunkelheit. Im Rahmen der Audits werden beispielsweise geprüft: die Anordnung der Gebäude an den Wegen gemäß dem Leitbild der „Augen auf die Straße“, die klare Kennzeichnung der öffentlichen und halböffentlichen Bereiche durch die Landschaftsgestaltung, eine Belebung zu allen Tageszeiten infolge einer Vielfalt in der Flächennutzung, die Ermöglichung einer konfliktfreien Nutzung für unterschiedliche Stakeholder oder die fußläufige Erreichbarkeit von Infrastrukturen - wie beispielsweise Grundschule oder Einkaufsgelegenheiten - aus vielen Wohnungen. Nach der Durchführung der Audits wird in weiteren Begehungen beobachtet, wie „lebendig“ das Quartier ist. Ein reges Leben im öffentlichen Raum gilt als eine Voraussetzung, dass Menschen sich dort sicher fühlen [8]. Nach früheren Studien wird ein öffentlicher Raumausschnitt ab einer gleichzeitigen Anwesenheit von etwa 15 Personen als „urban-belebt“ wahrgenommen [9]. Auf der Grundlage der Pretests des Leitfadens wird ein Quartier als „belebt“ definiert, wenn kontinuierlich - also ohne Phasen der Leere - Menschen wahrnehmbar sind. Um die Lebendigkeit im Quartier zu bewerten, werden - in Anlehnung an Jan Gehls Methodik - in einem „Beobachtungsbogen“ die Nutzerinnen und Nutzer je Untersuchungsbereich gezählt; außerdem werden wahrnehmbare Nutzungsspuren wie nutzungsbedingte Erosionen und Nutzungszeichen im (halb-) öffentlichen Raum dokumentiert [10]. In „Gesprächen mit Schlüsselpersonen“ und in einer „Passantenbefragung“ werden als Ergänzung weitere Nutzungs- und Wohnperspektiven gesammelt. Methodologisch entspricht das Instrumentarium den Anforderungen der „Triangulation“ [11]. Dieses Konzept fordert eine Betrachtung des Quartiers als Untersuchungsgegenstand über mehrere, voneinander unabhängige methodische Zugänge. In dem Verfahren und der Instrumentierung des Leitfadens werden deshalb Erhebungen von Werten aus unterschiedlichen Quellen und Perspektiven miteinander Räumliche An-/ Zuordnung, gestalterische Klarheit Aufenthaltsqualitäten im Freiraum Orientierung, Transparenz, Sichtachsen, Wegeführung Abstellmöglichkeiten, Möblierung Beleuchtung Nutzungsdichte des Quartiers Zusammenarbeit im Quartier Management im Quartier Aktivitätsspuren im Quartier Aktivitäten im Quartier Sozialer Zusammenhalt im Quartier Förderung eigenverantwortlichen Handelns im Quartier Soziale Teilhabe im Quartier Leinhausen Barne Idealwert 5,0 4,5 4,0 3,5 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0,0 Bild 3: Ergebnisse des Tests in zwei Quartieren. © Schubert kombiniert: Die statistischen Basis- und Verwaltungsdaten über das Quartier werden verknüpft mit Auditergebnissen und Beobachtungen, die auf der Wahrnehmung aus verschiedenen disziplinären Perspektiven beruhen. Zum Kontrast werden Informationen über Hintergrundpotenziale des Quartiers im vertieften Austausch mit lokalen Schlüsselpersonen und während Passanteninterviews gewonnen - quasi beim Anhören von Selbstbewertungen der Bewohnerschaft. VI. Nach den empirischen Erhebungen erfolgt im sechsten Schritt die Auswertung der Audit-, Beobachtungs- und Befragungsbögen. Arithmetisch werden die Punktwerte für die verschiedenen Skalen der Bewertungskriterien ermittelt und das Gesamtergebnis als Netzdiagramm veranschaulicht. VII. Im letzten, siebten Schritt werden die errechneten Ergebnisse in einem Auswertungstreffen erörtert. Auf der Grundlage der Diskussionen werden qualitative Empfehlungen für das Quartier abgeleitet und festgehalten, welcher Handlungsbedarf durch die Anwendung des Leitfadens erkannt wurde. 26 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Erprobung des Leitfadens in zwei Stadtquartieren Der Leitfaden wurde im Quartier Barne der Mittelstadt Wunstorf und im Quartier Leinhausen in der Großstadt Hannover erprobt. Die Wohnungsunternehmen Wunstorfer Bauverein und Vonovia SE hatten interdisziplinär und interinstitutionell gemischte lokale Prüfteams gewonnen, die den Prozess kompetent begleiteten. Mit dem Einsatz der Instrumente wurde ermittelt, dass sowohl das Wunstorfer Quartier Barne als auch das Eisenbahnquartier Leinhausen in Hannover gute Qualitäten aufweisen - beide Quartiere erhielten die Auszeichnung „Lebenswertes Quartier“. Sie wird vergeben, wenn in einzelnen Bewertungskategorien ein Gesamtpunktwert von mindestens 4,5 (= Erfüllung von Anforderungen der städtebaulichen Kriminalprävention in sehr hohem Maße) oder von mindestens 3,5 (= Erfüllung in hohem Maße) erreicht wurde. Als Ergebnis des Einsatzes der Instrumente des Leitfadens erfüllten sowohl das Wunstorfer Quartier Barne als auch das hannoversche Eisenbahnquartier Leinhausen die meisten Anforderungen der städtebaulichen Kriminalprävention in hohem Maße. Neben der zugrundeliegenden Visualisierung des Ergebnisprofils im Rahmen eines Netzdiagramms, das einerseits die Stärken und andererseits den Entwicklungsbedarf jedes Quartiers veranschaulicht (Bild- 3), eröffnete der Leitfaden vielfältige Anregungen für die weitere Entwicklung der beiden Quartiere. Mit dem Leitfaden konnte deutlich transparent herausgearbeitet werden, was das Quartier Wunstorf Barne lebenswert macht - es sind: die günstigen Mieten und Wohnungen, in denen sich die Menschen zuhause fühlen; die ruhige Lage in der Stadt; der Barner Marktplatz als prägnantes Zentrum; die Nähe und Verbundenheit mit dem Wunstorfer Stadtzentrum; der gute ÖPNV-Anschluss und die schnelle Erreichbarkeit des Wunstorfer Bahnhofs; die vielen Spielgelegenheiten für Kinder; die Sauberkeit und ein kaum Unsicherheit erzeugendes Alltagsleben im öffentlichen Raum (Bild 4). Für die weitere Entwicklung des Quartiers Wunstorf Barne wurden Empfehlungen ausgesprochen. Die Anregungen fokussierten besonders die starke Belastung des öffentlichen Straßenraumes durch den ruhenden Verkehr, weshalb eine Verlagerung der Parkplätze an den Quartiersrand vorgeschlagen wurde. Zu den Empfehlungen gehörte auch, die Rasenflächen des Abstandsgrüns zwischen den Mehrfamilienhäuserzeilen zur Belebung neu zu strukturieren und das eigenverantwortliche Handeln der Hausgemeinschaften auf diesen Flächen zu fördern. Auch in Hannover Leinhausen zeigte das Instrumentarium des Leitfadens auf, dass es sich um ein Wohnquartier handelt, in dem sich die Menschen wohl fühlen. Besonders hervorgehoben wurden das ruhige Wohnumfeld mit einer attraktiven Freiraumgestaltung; der Leinhäuser Markt als belebtes Zentrum mit vielfältigen Angeboten (Bild 5); der sehr gute ÖPNV-Anschluss stadteinwärts und stadtauswärts; die Sauberkeit im öffentlichen und halböffentlichen Raum und ein ausgeprägtes Sicherheitsgefühl infolge des konsequenten Raummanagements des Wohnungsunternehmens. Auf der Grundlage des Leitfadens wurden Empfehlungen zur Weiterentwicklung des Quartiers gewonnen. Sie reichen von einer Verringerung der Straßenbreite durch die Pflanzung von Bäumen und die Anlage eines attraktiven Fußweges an der zentralen Quartiersstraße über eine Verkehrsberuhigung, die auch einen Radweg berücksichtigt und den Bild 4: Beim Audit der Beleuchtung im Quartier Barne. © Schubert Bild 5: Der belebte Leinhäuser Markt. © Schubert 27 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen ruhenden Verkehr neu ordnet, sowie eine bessere Abstimmung der Lichtpunkthöhe von Leuchten auf den Fußweg bis hin zu einer besseren Beschilderung für die Orientierung und Auffindbarkeit von Orten im Quartier. Besonderes Augenmerk soll zukünftig auf den Ausbau der Zusammenarbeit des Wohnungsunternehmens mit anderen Organisationen, Institutionen und Vereinen gelegt werden. Angeregt wurde auch, den Bedarf eines Quartiertreffpunkts zu klären, um durch Gemeinschaftsaktivitäten die Identifikation mit dem Quartier zu stärken und das eigenverantwortliche Handeln zu fördern. Schließlich wurde noch empfohlen, die Siedlungsgeschichte der Eisenbahnersiedlung (seit den 1960er Jahren) zu einer identitätsstiftenden Erzählung über das Gebiet zu verdichten und in Jubiläumsritualen aufzugreifen, um die Diversität zwischen jüngeren, zuziehenden Familien (ohne Eisenbahnhintergrund) und der bereits länger ansässigen, älteren Wohnbevölkerung (mit einer Eisenbahntradition) zu einem nachbarlichen Verständnis füreinander weiterzuentwickeln. Schlussbemerkung Das Instrumentarium des Leitfadens „Lebenswertes Quartier“ wird im Laufe des Jahres 2023 auf der Internetseite der Sicherheitspartnerschaft im Städtebau in Niedersachsen zum Download zur Verfügung gestellt [12]. Beim Pretest in den beiden Quartieren wurden Papierversionen ausgefüllt. Die demnächst downloadbaren PDF-Dateien werden auf mobilen Kommunikationsgeräten - wie Smartphones, Notebooks oder Tablets - bearbeitbar sein. Nach Einwerben der erforderlichen Ressourcen ist mittelbis längerfristig geplant, eine App (Applikation) zu entwickeln, mit der die Erhebungs- und Auswertungsschritte automatisiert erfolgen können. Die Erhebungen sollen dann GPS-fähig sein, damit Fotos und Bewertungen direkt mit den Koordinaten der jeweiligen Orte verbunden sind und im Rahmen eines Mappings Merkmale und Ereignisse wie etwa das Bewegungsverhalten im Quartier kartographisch erfasst werden können. LITERATUR [1] Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Hrsg.): Neue Leipzig-Charta. Die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl. Verabschiedet beim Informellen Ministertreffen Stadtentwicklung im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft am 30. November 2020, https: / / www.bmi.bund. de/ SharedDocs/ downloads/ DE / veroeffentlichungen/ 2020/ eu-rp/ gemeinsame-erklaerungen/ neueleipzig-charta-2020.pdf [Zugriff 14.12.2022]. [2] Schubert, H.: Erlebnisse und Ergebnisse - Ein Rückblick auf das erste Jahrzehnt der Sicherheitspartnerschaft im Städtebau in Niedersachsen. In: Landespräventionsrat Niedersachsen - Niedersächsisches Justizministerium (Hrsg.), 10 Jahre Sicherheitspartnerschaft im Städtebau in Niedersachsen. Dokumentation der Jahrestagung 2015 (2015), http: / / www.sicherheit-staedtebau.de/ html/ download.cms? id=3&datei=Jahrest agung2016-3.pdf [Zugriff 14.12.2022]. [3] Schubert, H.: Quartier und Sicherheit - Über sozialräumliche Perspektiven von Lebensqualität. In: sozialraum.de (13) 2 (2021). URL: https: / / www.sozialraum. de/ quartier-und-sicherheit.php [Zugriff 14.12.2022]. [4] Jacobs, J.: Tod und Leben großer amerikanischer Städte. 3. Auflage, Braunschweig, Wiesbaden: Vieweg (1993). Original: The Death and Life of Great American Cities, (1961), S. 29. [5] Atlas, R. I.: Designing Safe Communities and Neighborhoods. In: ders. (Hrsg.): 21st Century Security and CPTED. Designing for Critical Infrastructure Protection and Crime Prevention (2013), S. 401 - 499. 2. Auflage, Boca Raton: Taylor & Francis. S. 406 ff. [6] Reicher, C.: Das (Stadt-) Quartier. Vom Umgang mit dem gebauten Raum und seinen dynamischen Parametern. In: Deffner, Veronika & Meisel, Ulli (Hrsg.): Stadtquartiere. Sozialwissenschaftliche, ökonomische und städtebaulich-architektonische Perspektiven (2013), S. 197 - 209). Essen: Klartext. [7] Alexander, C. et al. : Eine Muster-Sprache. Wien: Löcker Verlag (Original: A Pattern Language, 1977). (1995), S. 85 ff. [8] Appleyard, D., Gerson, M. S., Lintell, M.: Livable Streets. Berkeley: University of California Press, 1981. [9] Whyte W. H.: The Social Life of Small Urban Spaces. Washington, DC: Conservation Foundation, 1980. [10] Gehl, J., Svarre, B.: How To Study Public Life. Washington: Island Press, 2013. [11] Flick, U.: Triangulation - eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag, 2011. [12] http: / / www.sicherheit-staedtebau.de/ Dr. phil. Dr. rer. hort. habil. Herbert Schubert Sozial • Raum • Management - Büro für Forschung und Beratung, Hannover Kontakt: herbert.schubert@sozial-raum-management.de AUTOR 28 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen 2005: In der Zentralschweiz regnet es extrem. In der Folge kommt es zu einem Hochwasser, das auch Teile der historischen Luzerner Innenstadt unter Wasser setzt. Die Schäden in der siebtgrößten Schweizer Stadt sind groß. Die Verantwortlichen stellen sich die Frage, wie sie solche Ereignisse künftig verhindern können. Damit verbunden drängt sich auch die Frage auf, welchen Stellenwert der Hochwasserschutz im Vergleich zu anderen sicherheitsrelevanten Themen haben soll. Die damalige Luzerner Sicherheitsdirektorin erinnerte sich an ihre Zeit, als sie noch im Gesundheitswesen tätig war. Das Krankenhaus, in dem sie arbeitete, verfügte über ein Risikomanagement: Alle relevanten Gefährdungen für den Betrieb waren erfasst und wurden regelmäßig überprüft. Erforderliche Maßnahmen, um die erkannten Risiken zu minimieren, wurden definiert und umgesetzt. Die Vision der Sicherheitsdirektorin: eine umfassende, integrale Analyse der gesamten Sicherheitslage in der Stadt Luzern. Es sollte unabhängig von tagesaktuellen Sicherheitsthemen klar werden, wo die größten Risiken für die Stadt liegen und wie diesen vorausschauend entgegengewirkt werden kann. Die Idee für den ersten Luzerner Sicherheitsbericht war geboren. Luzern betritt Neuland Auf Worte folgten Taten: 2006 begannen die Arbeiten. Die auf Sicherheitsplanungen spezialisierte Firma EBP Schweiz AG unterstützte die Sicherheitsdirektion dabei, ihre Vision umzusetzen. Aber auch für das damalige EBP-Projektteam bedeutete der erste Luzerner Sicherheitsbericht „Neuland“. Es war Urbane Sicherheit: integral und vorausschauend Urbane Sicherheit, Risikomanagement, Hochwasserschutz, Pandemie, Klimawandel Tillmann Schulze, Laura Fischer, Christian Wandeler Die Sicherheitsanforderungen an Städte verändern sich laufend. Die Schweizer Stadt Luzern hat mit ihren „Sicherheitsberichten“ einen Weg gefunden, um mit Kontinuität und vorausschauender Planung Sicherheit zu gewährleisten - risikobasiert und integral, von kriminellen Alltagsdelikten bis zu Amoktaten oder einer Pandemie. Bild 1: Hochwasserschutz in der historischen Luzerner Innenstadt. © Stadt Luzern 29 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen bis dahin kein Beispiel einer Sicherheitsplanung bekannt, die sowohl den Anspruch hat, alle sicherheitsrelevanten Themen abzudecken, als auch eine gesamte Stadt zu betrachten. Die Arbeiten zum ersten Bericht waren nicht immer einfach. Die eigens für das Projekt gebildete Arbeitsgruppe, bestehend aus Sicherheitsakteuren der Stadt Luzern, galt es von dem damals neuen Ansatz des risikobasierten Planens zu überzeugen; die Skepsis war zu Beginn teilweise groß. Doch es zeigte sich schon schnell der hohe Mehrwert der Vernetzung zwischen den Sicherheitsakteuren: Das Feuerwehrkommando hatte beispielsweise Kontakt zu Fachpersonen von der Stadtplanung, die Polizei diskutierte mit Mitarbeitenden der Jugendarbeit. Obwohl unterschiedliche Sichtweisen zu Themen wie zum Beispiel Videoüberwachung oder Verkehrssicherheit auf den Tisch kamen, war die Arbeitsgruppe immer bereit, konstruktiv einen Mittelweg zu finden. Hier ist sicherlich von Vorteil, dass konsens-orientiertes Arbeiten tief in der Schweizer Kultur verankert ist. Im Sommer 2007 trat die Luzerner Sicherheitsdirektorin mit dem fertigen Sicherheitsbericht vor die Medien. Er umfasste: Eine kurze Darstellung der Ist-Situation: Wer sind die zentralen Sicherheitsakteure in der Stadt? Was waren in der jüngeren Vergangenheit die wichtigsten sicherheitsrelevanten Ereignisse? Eine vertiefte Analyse der insgesamt 21 als relevant beurteilten Gefährdungen: Wie stellt sich die Gefährdungssituation in der Stadt Luzern dar? Welche Entwicklungen gab es? Welche Entwicklungen sind zu erwarten? Eine Risikoanalyse der relevanten Gefährdungen: Wie oft kommt es zu einem sicherheitsrelevanten Ereignis auf dem Stadtgebiet bzw. mit Auswirkungen auf die Stadt? Und wenn es dazu kommt, was sind die Schäden bzw. die Auswirkungen? Eine Liste von 58 Maßnahmen, die geeignet sind, um die Sicherheitslage in Luzern zu halten oder sogar zu verbessern. Generelle Erkenntnisse und übergeordnete Empfehlungen zum weiteren Vorgehen. Die Öffentlichkeit zeigte sich überrascht von den Ergebnissen. Sie erwartete wohl, dass alltagsnahe Gefahren wie Verkehrsunfälle oder Pöbeleien im öffentlichen Raum von besonderer Bedeutung für Luzern sind. Nun lieferte der Sicherheitsbericht aber ein unerwartetes Ergebnis: Eines der größten Risiken für Luzern sind Erdbeben! Teile der Stadt stehen auf einem Boden, der sich im Fall eines starken Bebens verflüssigen könnte. Ein ganzes Quartier würde komplett zerstört. Hier bestätigte sich der Vorteil des Ansatzes risikobasierter Planung: Auch sehr seltene Ereignisse sind Teil der Analysen. Wenn diese - wie im Fall eines Erdbebens - aber zu sehr großen Schäden führen, ist das Risiko (Häufigkeit multipliziert mit dem Schadensausmaß) ähnlich groß wie bei häufigen Ereignissen mit deutlich kleineren Schäden. Ein weiteres zentrales Ergebnis der Arbeiten war der enge Austausch zwischen den städtischen Sicherheitsakteuren, der den Nährboden für eine fruchtbare Sicherheitskultur in Luzern schaffte. Diese besteht bis heute und führt auch weiterhin bei der täglichen Arbeit zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit innerhalb der städtischen Sicherheitsplanungen. Eine der vorgeschlagenen Maßnahmen aus dem Sicherheitsbericht von 2007: Luzern brauche eine Person, die sich um die Sicherheitslage in all ihren Facetten kümmert und die auch dafür zuständig ist, die Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen zu koordinieren. Der Stadtrat, die politische Entscheidungsinstanz in Luzern, war schnell überzeugt von dieser Empfehlung; die „Stelle für Sicherheitsmanagement“ wurde geschaffen. Bei dieser liegt seitdem auch die Projektleitung für die nachfolgenden Sicherheitsberichte. Denn auch davon hatte sich der Stadtrat überzeugen lassen: Sicherheitsplanung muss kontinuierlich sein. Alle drei Jahre beurteilt die Stadt Luzern seitdem ihre Sicherheitslage neu. Bild 2: Sicherheitsberichte der Stadt Luzern. © Stadt Luzern Stadt Luzern, Sicherheitsdirektion Sicherheitsbericht für die Stadt Luzern Mai 2007 Direktion Umwelt, Verkehr und Sicherheit Sicherheitsbericht Stadt Luzern 2010 Beurteilung der Sicherheitslage im Stadtgebiet Luzern 30. Juni 2010 Stadt Luzern Sicherheitsbericht Stadt Luzern 2019 Beurteilung der Sicherheitslage Klimawandel und Sicherheit Sozial- und Sicherheitsdirektion September 2019 30 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Vergleichbarkeit der Ergebnisse ist zentral So folgten in den Jahren 2010, 2013, 2016 und 2019 weitere Sicherheitsberichte. Um die Ergebnisse vergleichen zu können, blieb das Vorgehen weitgehend gleich: Eine vertiefte Analyse der relevanten Gefährdungen bildet jeweils das Fundament der Arbeiten; die risikobasierte Darstellung zeigt den Verantwortlichen auf, welche Themen in den Sicherheitsplanungen besonders hoch zu priorisieren sind. Für alle relevanten Gefährdungen wird geprüft, ob es Maßnahmen gibt, mit der sich die Situation verbessern ließe. Ergänzend vertieft der Sicherheitsbericht seit 2010 immer ein anderes Fokusthema: 2010 fusioniert die Stadt Luzern mit der angrenzenden Gemeinde Littau: Die dortige Sicherheitslage wird besonders gründlich analysiert. 2013 bildet die künftige Stadtentwicklung/ Stadtplanung und ihre Auswirkung auf die Sicherheitslage den Schwerpunkt. Mit der Sicherheitslage der älteren Bevölkerungsgruppen in der Stadt befasst sich der Bericht von 2016. Die Folgen des Klimawandels auf die Sicherheitslage gilt es im 2019er-Bericht zu analysieren. Für den Sommer 2023 ist nun der nächste Sicherheitsbericht geplant. Der Abstand von vier Jahren erklärt sich aus der Covid-Pandemie; die Stadt musste ihre Prioritäten anders setzen, wodurch es zu dem einen Jahr Verzögerung kam. Auch das Fokusthema des neuen Berichts ist geprägt von der Pandemie und ihren Auswirkungen. Es gilt die Sicherheitslage in Luzerns öffentlichen Räumen zu überprüfen. Der Nutzungsdruck auf die bereits dicht genutzten Räume wie beispielsweise eine Grünfläche am direkt an die Stadt angrenzenden Vierwaldstättersee verschärfte sich vor allem in den warmen Monaten der Jahre 2020 und 2021 stark. Nun stellt sich die Frage, ob diese intensivierte Nutzung bestehen bleibt und welche Konsequenzen daraus resultieren. Unverzichtbares Planungsinstrument mit Strahlkraft Der Sicherheitsbericht ist über die Jahre für die Verantwortlichen der Stadt zu einem unverzichtbaren Planungsinstrument geworden. Die politisch Verantwortlichen haben seit dem ersten Bericht von 2007 mehrfach gewechselt und auch der langjährige Sicherheitsmanager hat die Stadt vor zwei Jahren verlassen. Der Sicherheitsbericht jedoch hat Kontinuität und Stabilität in der Sicherheitsplanung geschaffen. Er ist etabliert und anerkannt - und das nicht nur in der Stadtverwaltung. Auch die kantonalen Fachpersonen, die bei gewissen Fragestellungen mitarbeiten, schätzen dieses Instrument. Seit 2013 wird zudem immer auch eine sogenannte „Echogruppe“ in die Arbeiten mit einbezogen. In dieser Gruppe sind Vertreterinnen und Vertreter ganz unterschiedlicher Bevölkerungs- und Interessensgruppen vertreten: das Jugendparlament beispielsweise, Seniorinnen und Senioren, die örtlichen Verkehrsbetriebe, das Gewerbe oder der Tourismusverband. Diese Organisationen schätzen die Möglichkeit sehr, ihre Anliegen und Bedürfnisse im Rahmen moderierter, partizipativer Workshops zu äußern. Auch können sie Vorschläge für Maßnahmen einbringen, die dann in den Bericht einfließen. Auf die Luzerner Sicherheitsberichte sind über die Jahre auch die Sicherheitsverantwortlichen anderer Städte und Gemeinden aufmerksam geworden. Auch wenn es zumindest im deutschsprachigen Bild 3: Über die Jahre zeigt sich die Veränderung der Risiken für die Stadt Luzern. © Stadt Luzern 31 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Raum bislang keine andere Stadt gibt, die gleich umfassend ihre Sicherheitslage analysiert - von Alltagsdelikten über Themen wie Verkehr und Kriminalität bis hin zu Naturgefahren, Gefahrgutunfällen und Terroranschlägen -, so haben mittlerweile Städte in der Schweiz wie beispielsweise Biel, aber auch im Ausland - hier verfolgt München aktuell ein ähnliches Vorgehen -, den Luzerner Ansatz übernommen und auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. Ist damit der Luzerner Sicherheitsbericht eine reine Erfolgsgeschichte? Sind die Menschen in Luzern sicherer als in anderen Städten? Fakt ist: Wie in jeder Stadt kann es auch in Luzern keine vollständige Sicherheit geben. Unsicherheiten gehören zum Alltag. Vielmehr zeigt der Sicherheitsbericht Handlungsfelder auf, wo die Sicherheit verbessert werden kann, und er ist ein Hilfsmittel, um Sicherheit zu gestalten. Doch bekanntlich ändert ein Hilfsmittel allein noch gar nichts an der Sicherheitslage. Es braucht die Menschen dahinter, die mit dem Bericht und seinen Erkenntnissen arbeiten: Es braucht das Bewusstsein der politisch Verantwortlichen, dass eine integrale und risikobasierte Sicherheitsplanung für die Stadt von Vorteil ist. Es braucht personelle Ressourcen und die jeweilige Kompetenz auf der operativen Ebene der Stadtverwaltung, um die Ergebnisse des Berichts umzusetzen und den erforderlichen Koordinationsaufwand betreiben zu können. Es braucht die Bereitschaft der Fachpersonen aus der Stadt, des Kantons sowie Dritter, an dem Bericht zu partizipieren - und vor allem auch konstruktiv zu überlegen, wie sich Sicherheitsfragen gemeinsam lösen lassen. Es braucht die Bereitschaft der Sicherheitsorganisationen mit ihren Akteurinnen und Akteuren, die Ergebnisse und Maßnahmen zu akzeptieren sowie auch umzusetzen. Sich von tagesaktuellen Ereignissen nicht dominieren lassen Die Arbeiten für den neuen Sicherheitsbericht, der im Juni 2023 veröffentlicht werden soll, laufen derzeit wie geplant. Der neue Sicherheitsmanager hat ein eingespieltes Team von internen Fachstellen und externen Fachpersonen im Rücken, die nun zum sechsten Mal zusammenarbeiten. Die aktuell sicherheitsrelevanten Krisen wie Covid, die Energiemangellage oder auch der Krieg in der Ukraine mit seinen Auswirkungen auf die Schweiz werden in den 2023er-Bericht einfließen. Dennoch bleibt es ein zentrales Anliegen, Sicherheit umfassend zu verstehen und sich von den tagesaktuellen Gefährdungen oder Entwicklungen nicht komplett einnehmen zu lassen. Ziel des Berichts ist es, das Augenmerk auf jene Themen zu richten, von denen das größte Risiko für die Stadt und seine Bevölkerung ausgeht. Und auch das Sicherheitsempfinden fließt in die Beurteilungen mit ein. So zeigte der Workshop mit der Echogruppe von Ende 2022, dass die Themen Verkehrssicherheit und Konflikte in öffentlichen Räumen stärker beschäftigen als die - zumindest in den Medien und politischen Agenden - dominierenden Krisen. Für die Sicherheitsverantwortlichen von Luzern bleibt es zentral, bei ihren Planungen weiterhin jene Sicherheitsthemen zu berücksichtigen, bei denen es aus der Sicht der Fachpersonen Verbesserungsbedarf gibt. Gleichzeitig gilt es den Handlungsdruck zu berücksichtigen, der aus der öffentlichen Berichterstattung entsteht sowie die Anliegen der Bevölkerung und Interessensgruppen. Mehr denn je ist Sicherheitsplanung in einer und für eine Stadt eine anspruchsvolle Aufgabe. Aber mit ihren Sicherheitsberichten verfügt Luzern über ein etabliertes und seit über fünfzehn Jahren bewährtes Analyse- und Planungsinstrument, das den Verantwortlichen auch in „unruhigen Zeiten“ dabei hilft, überlegt und fundiert Einfluss auf die Sicherheit in der Stadt Luzern zu nehmen und damit Sicherheit proaktiv zu gestalten. So bleibt Luzern auch künftig eine sichere und damit lebenswerte Stadt. Dr. Tillmann Schulze Sicherheitsplaner und -berater Geschäftsbereich Sicherheit EBP Schweiz AG Zürich Kontakt: Tillmann.Schulze@ebp.ch Laura Fischer Stadtsoziologin Geschäftsbereich Raum- und Standortentwicklung EBP Schweiz AG Zürich Kontakt: laura.fischer@ebp.ch Christian Wandeler Sicherheitsmanager Sozial- und Sicherheitsdepartement Stadt Luzern Kontakt: christian.wandeler@stadtluzern.ch AUTOR*INNEN 32 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Sicherheit in der Stadt Die Forschungsgruppe Räumliche Kontexte von Risiko und Sicherheit des Fachgebiets Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit an der Bergischen Universität Wuppertal verfolgt seit 2014 das übergeordnete Gesamtprojekt „Sicherheit in der Stadt“, in dem Aspekte der Wahrnehmung von subjektiver Sicherheit und der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung im öffentlichen Raum wissenschaftlich untersucht und begleitet werden. Im Rahmen des Gesamtprojekts werden unterschiedliche räumliche Kontexte im Hinblick auf Sicherheit und Unsicherheit erforscht. Mit der Integration von Ergebnissen aus zahlreichen empirischen Fallstudien trägt das Projekt dazu bei, unterschiedliche Voraussetzungen für die Entstehung von Kriminalität und kriminalitätsbezogenen (Un-)Sicherheitsgefühlen wissenschaftlich fundiert abzubilden und auf diese Weise verallgemeinerbare Handlungsempfehlungen für kommunales Handeln im Umgang mit Kriminalität und Ordnungsstörungen zu entwickeln. Das Gesamtprojekt verfolgt damit das übergeordnete Ziel, verschiedene urbane Problemlagen und kommunale Sicherheitsarchitekturen systematisch zu erheben, um so das Bild einer bundesweiten Risiko- und Bedarfsanalyse stetig zu erweitern. So können zentrale Mechanismen der Entstehung von (Un-) Sicherheitsgefühlen nachvollzogen und evaluierte Maßnahmen der Kriminalprävention zum Ausbau effizienter Sicherheitsstrategien entwickelt und den Kommunen zur Verfügung gestellt werden. Sicherheit im Bahnhofsviertel - Das Wuppertaler Projekt KoSID Ein besonderer räumlicher Fokus liegt dabei auf Bahnhofsumgebungen und zentrumsnahen Bereichen. Bahnhöfe und ihre angrenzenden Stadtviertel bilden das Tor zur Innenstadt. Zugleich konzentrieren sich in ihnen Delikte der Massen- und Straßenkriminalität. Es verwundert daher kaum, dass sich Diskussionen um Fragen der Stadtentwicklung und Sicherheit im öffentlichen Raum häufig am besonderen Stadtraum des Bahnhofsviertels festmachen [2]. Kaum ein anderer Ort im Gefüge der Stadt weist eine derartige Gleichzeitigkeit von Aufwertungsdynamik und sozialer Marginalisierung auf. Neue Wohngebiete, Geschäftszentren und Bürokomplexe treffen auf Phänomene von Obdachlosigkeit, Drogenkonsum und Straßenprostitution. Die Transformation des Bahnhofsviertels zu einer Visitenkarte der Stadt verläuft allzu häufig nicht frei von Konflikten und hat paradoxe Auswirkungen auf das Sicherheitsgefühl der verschiedenen Nutzerinnen und Nutzer. Aufwertungsdynamiken vollziehen sich exemplarisch auch im Umfeld des Wuppertaler Hauptbahnhofs. Der einst unübersichtliche und zum Teil verwahrloste Übergang vom Bahnhof in die Innenstadt gehörte über lange Zeit zu den zentralen Sicherheit und Sicherheitsgefühle in Bahnhofsvierteln Handlungsempfehlungen der Wuppertaler Sicherheitspartnerschaft KoSID Bahnhofsviertel, Handlungsempfehlungen, kommunale Kriminalprävention, öffentlicher Raum, Sicherheitskooperation, urbane Sicherheit Tim Lukas, Saskia Kretschmer Mit der Sicherheitspartnerschaft „Kooperation Sicherheit Innenstadt/ Döppersberg (KoSID)“ wurden rund um den Wuppertaler Hauptbahnhof akteursübergreifend abgestimmte Maßnahmen umgesetzt und wissenschaftlich begleitet [1]. Nach dem Ende der wissenschaftlichen Begleitforschung liegt nun eine Handreichung der Stiftung „Lebendige Stadt“ vor, in der die Ergebnisse des Projekts, seine Umsetzung und die Lernerfolge vorgestellt werden, von denen andere Städte und Kommunen bei der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung nicht nur in Bahnhofsvierteln profitieren können. 33 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Angsträumen der Stadt Wuppertal [3]. Nach einer umfangreichen Umgestaltung wich die angstbesetzte Unterführung einer hellen und weitläufigen Einkaufsbrücke, die Platz für eine komplette Neugestaltung der unmittelbaren Bahnhofsumgebung schaffte (Bild 1). Die inzwischen nahezu abgeschlossenen Umbauarbeiten haben einen attraktiven und funktionalen Ort hervorgebracht, der die Bedarfe verschiedener Nutzungsgruppen miteinander vereint. Der Bahnhofsvorplatz erscheint als ein qualitätsvoller Ort, der als „Tor zur Stadt“ einladend wirkt und vielfältige Nutzungsmöglichkeiten bietet. Als urbaner Stadtraum ist der sogenannte Neue Döppersberg jedoch nicht nur ein Ort des Transits und des Konsums, er ist auch Aufenthaltsort marginalisierter Bevölkerungsgruppen, denen mit einem Kontaktcafé im angrenzenden Wupperpark-Ost eine neue Anlauf- und Beratungsstelle geschaffen wurde. Die Erwartungen von Stadtgesellschaft und Politik waren dabei von Beginn an darauf ausgerichtet, ein repräsentatives Stadtbild zu erzeugen, das unterschiedliche Nutzungsgruppen integriert. In der Folge entstanden Grünflächen und großzügige öffentliche Plätze, die jedoch nur dann zu Verweilzonen für die Bürgerinnen und Bürger werden können, wenn auch das Sicherheitsempfinden dazu einlädt. Dieser Aufgabe widmete sich die im neuen Stadtraum eingerichtete Sicherheitspartnerschaft „Kooperation Sicherheit Innenstadt Döppersberg (KoSID)“, die von April 2019 bis Juni 2022 gefördert und durch die Bergischen Universität Wuppertal koordiniert und wissenschaftlich begleitet wurde [4]. Die im Projektverbund geteilte und gemeinsam getragene Sicherheitsverantwortung umfasste dabei verschiedene Akteursgruppen aus den Bereichen der Sozial- und Stadtplanung, der Verkehrsbetriebe, der lokalen Wirtschaft wie auch der Ordnungs- und Sicherheitsbehörden. Mit dem Ziel der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung und der Stärkung des Sicherheitsgefühls für alle Nutzerinnen und Nutzer des Neuen Döppersbergs zeichnete sich das Projekt durch eine Kombination aus wissenschaftlicher Grundlegung und praxisbezogener Umsetzung aus [4]. Die Erfolge des Projekts haben dazu geführt, dass die entwickelten Ansätze fortgesetzt und auf Dauer gestellt werden. Die erprobten Methoden und das entstandene Netzwerk werden zukünftig in den etablierten Strukturen der sozialen Ordnungspartnerschaften weitergeführt und auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet. Nicht zuletzt diese räumliche Erweiterung des KoSID-Ansatzes verweist auf die Übertragbarkeit des Projekts in andere Stadträume. Um auch andere Städte und Kommunen bei der Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung für alle Nutzenden zentrumsnaher Bereiche unterstützen zu können, wurden die Bild 1: Der Neue Döppersberg am Wuppertaler Hauptbahnhof. © Saskia Kretschmer 34 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen zentralen Inhalte des Projekts in einer anschaulichen Handreichung zusammengefasst, die einen Überblick über die Ergebnisse des Projekts, seine Umsetzung und die Lernerfolge gibt (Bild 2). Die KoSID-Handreichung Die im Rahmen des Projekts KoSID gesammelten Erkenntnisse lassen sich grundsätzlich in sieben Handlungsfelder unterteilen: Subjektive Sicherheit, subjektiv unerwünschte Verhaltensweisen, Kriminalität und Prävention, Aufenthaltsqualität, Sauberkeit, Bahnhofsviertel im Wandel sowie Institutionelle Verankerung und Bürger*innenbeteiligung. In Anlehnung an den im Projekt „Sicherheit im Bahnhofsviertel (SiBa)“ entstandenen „Werkzeugkasten der (Kriminal-)Prävention“ [5] bieten die ausgewählten Handlungsfelder Einblicke in die im Projekt verfolgten Arbeitsschwerpunkte. Neben einer Situationsanalyse liefert die Broschüre einen Überblick über den in den jeweiligen Handlungsfeldern realisierten KoSID-Ansatz sowie Empfehlungen und Hinweise auf mögliche Stolpersteine in der Umsetzung. Dabei werden zunächst die lokalen Bedingungen der städtebaulichen Umgestaltung des Wuppertaler Bahnhofsumfelds erläutert, um anschließend die im Projektverlauf verabredeten Maßnahmen und externen Impulse darzustellen. Auf diese Weise können die im Wuppertaler Beispiel gemachten Erfahrungen abstrahiert und durch pointierte Lernerfolge nachgezeichnet werden, die auch für andere Kommunen Möglichkeiten der Optimierung des Sicherheitshandelns aufzeigen. Die Handlungsfelder ergeben zusammen das Bild eines ganzheitlichen Sicherheitsverständnisses, das verschiedene Facetten der Sicherheit und Sicherheitswahrnehmung in urbanen Räumen umfasst. Einleitend dient das Handlungsfeld der subjektiven Sicherheit dazu, das herkömmliche Verständnis des Sicherheitsbegriffs um Aspekte der Sicherheitswahrnehmung zu erweitern und Handlungsspielräume für unterschiedliche Akteursgruppen aufzuzeigen. Gute Sicherheitsarbeit zeichnet sich demnach nicht allein durch die Prävention von Kriminalität und Ordnungsstörungen aus, sondern bezieht auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Prozesse des sozialen Wandels mit ein. Um deren Berücksichtigung zu gewährleisten, bedarf es eines umfassenden Ansatzes, der neben den Ordnungs- und Sicherheitsbehörden auch weitere Akteursgruppen, wie etwa die (Straßen-)Sozialarbeit, den Einzelhandel, die Verkehrsbetriebe und schließlich auch die Bürgerinnen und Bürger integriert. Ein weiteres Kapitel befasst sich mit Kriminalität und Prävention. Die traditionellen Handlungsfelder im Bereich der Sicherheitsarbeit schließen neben der Polizeiarbeit auch weitreichende Bereiche der Prävention mit ein. Das Kapitel legt dar, wie wichtig es ist, notwendige Maßnahmen der Repression mit umfassenden Präventionsstrategien zur Vermeidung von Straftaten und Ordnungsstörungen im Sicherheitshandeln miteinander zu vereinen. Bereits im Planungsprozess können zahlreiche Weichenstellungen erfolgen, die jedoch stets flexibel genug sein müssen, um sich veränderten Rah- Bild 2: Feierliche Überreichung der KoSID-Handreichung an den Wuppertaler Oberbürgermeister Prof. Dr. Uwe Schneidewind. © Bo Tackenberg 35 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen menbedingungen anpassen zu können. Die KoSID- Handreichung zeigt hier vor dem Hintergrund der städtebaulichen Umgestaltung eines bestehenden Stadtraums Empfehlungen für den Planungsprozess auf. Darüber hinaus bilden subjektiv unerwünschte Verhaltensweisen ein weiteres Handlungsfeld, dem sich die Broschüre ausführlich widmet (Bild-3). Hier werden insbesondere ordnungsstörende Nutzungen unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit thematisiert, die von Teilen der Mehrheitsgesellschaft als störend empfunden werden (Bild 4). Das Handlungsfeld fußt dabei auf der Akzeptanz und Anerkennung der sozialen Lage verschiedener Nutzungsgruppen im öffentlichen Raum und greift damit auf ein für den urbanen Raum zentrales Verständnis von Toleranz und Kompetenz im Umgang mit Unsicherheit zurück. Zugleich bietet die Broschüre praktikable Ansätze der Ermöglichung einer konfliktarmen Nutzung des öffentlichen Raums, mit denen sich die jeweilige Angebotsstruktur an die Bedürfnisse vor Ort anpassen lässt. Das Handlungsfeld Aufenthaltsqualität besitzt eine zentrale Bedeutung, da Umgestaltungsmaßnahmen für ein attraktives städtebauliches Umfeld nur dann erfolgreich sein können, wenn der öffentliche Raum auch angenommen und von den Bürgerinnen und Bürgern genutzt wird. Aufenthaltsqualität und Sicherheitsgefühle sind eng miteinander verwoben, weil attraktive öffentliche Räume, die zum Verweilen einladen, auch eine intensive Nutzung erfahren und insofern als belebt wahrgenommen werden. Die Anwesenheit anderer Menschen als Instanzen einer auf informelle Sozialkontrolle ausgerichteten Belebung kann zu einem verbesserten Sicherheitsempfinden beitragen. Die KoSID-Handreichung liefert hierzu wichtige Erkenntnisse aus dem Planungsprozess unterschiedlicher Nutzungsmöglichkeiten in einem neu gestalteten Stadtraum. Die schriftlich-postalische Bevölkerungsbefragung im Projekt KoSID repliziert den kriminologischen Befund, wonach Müll, Leerstand und Verwahrlosung einen Einfluss auf das Sicherheitsempfinden ausüben. Aus diesem Grund erfährt das Handlungsfeld Sauberkeit einen zentralen Stellenwert in der Handreichung. Intensiv genutzte Bereiche im öffentlichen Raum verlangen nach regelmäßigen und intensiven Reinigungstätigkeiten. Neben diesen notwendigen Arbeiten zeigt die Broschüre aber auch außergewöhnliche und kreative Lösungen auf, die zur Vorbeugung von Verschmutzungen im öffentlichen Raum beitragen und dabei die Nutzerinnen und Nutzer sensibilisieren. Über die kleinräumige Perspektive auf das Bahnhofsviertel hinaus, liefert die Handreichung auch Einblicke in gesamtgesellschaftliche Prozesse, die zwar in erster Linie Entwicklungen im Bahnhofsviertel betreffen, aber auch über die Grenzen des Quartiers hinausgehen und in den erweiterten Raum der Gesamtstadt abstrahlen. Das Kapitel Bahnhofsviertel im Wandel verweist auf Prozesse der Stadtentwicklung, die sich nicht nur in Wuppertal, Bild 3: Das Handlungsfeld der subjektiv unerwünschten Verhaltensweisen in der KoSID- Broschüre. © Stiftung Lebendige Stadt 23 22 Exkurs zum Begriff Der Begriff „subjektiv unerwünschte Verhaltensweisen“ bietet vielschichtige Interpretationsmöglichkeiten. Aus diesem Grund sollen die folgenden drei Fragen zu einem verbesserten Verständnis verhelfen: Ist der Begriff exkludierend? Einige Projektbeteiligte kritisieren eine zu enge Kopplung von störendem Verhalten und Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße. Der Begriff lasse die Interpretationsmöglichkeit zu, dass bestimmte soziale Gruppen „unerwünscht“ seien. Dagegen soll betont werden, dass störende Verhaltensweisen von unterschiedlichen sozialen Gruppen ausgehen können. Was bedeutet „subjektiv“? Subjektiv betont in diesem Kontext, dass zwischenmenschliches Verhalten höchst unterschiedlich bewertet und wahrgenommen werden kann. Der ausschließliche Fokus auf den Rechtsbegriff „Ordnungswidrigkeiten“ würde diese Ambivalenz ausklammern. Gibt es eine Alternative? Im Projektkontext wurden zahlreiche Alternativen diskutiert, jedoch konnte kein Begriff gefunden werden, der der Komplexität des Phänomens angemessen wäre. Begriffliche Klarheit und Sensibilität im Themenfeld „Ordnung und Sicherheit“ sind jedoch notwendig, um Diskriminierung und Stigmatisierung zu vermeiden. Subjektiv unerwünschte Verhaltensweisen Zu den subjektiv unerwünschten Verhaltensweisen zählen Nutzungsweisen des öffentlichen Raums, die von Teilen der Gesellschaft als störend wahrgenommen werden. In diesem Fall handelt es sich nicht um strafrechtlich relevantes Verhalten, sondern zumeist um Ordnungswidrigkeiten unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit. Situationsbeschreibung A uch wenn von derartigen Verhaltensweisen kein unmittelbares Sicherheitsrisiko ausgeht, können sie Unwohlsein oder gar Unsicherheitsgefühle auslösen ( Subjektive Sicherheit). Aus diesem Grund üben subjektiv unerwünschte Verhaltensweisen einen Einfluss auf die Nutzung und den Aufenthalt im öffentlichen Raum aus. Auch am Neuen Döppersberg konnten derartige Störungen festgestellt werden. In diesem Zusammenhang fielen insbesondere Fälle des öffentlichen Urinierens (in Hauseingängen), Vandalismus und nächtliches Randalieren (Abbildung 13 und Abbildung 14), Pöbeleien einer Jugendgruppe und verbale Belästigungen von Frauen in den Morgenstunden auf. Sogenannte Incivilities oder Disorder- Phänomene können als Verwahrlosungserscheinungen des öffentlichen Raums und Zeichen mangelnder Sozialkontrolle gewertet werden. Zwar lässt sich aus den Befragungsdaten kein schwerpunktmäßig wahrgenommenes subjektiv unerwünschtes Verhalten herauslesen, jedoch registrieren viele Befragte vor allem den öffentlichen Konsum von Alkohol. Nicht selten werden marginalisierte Straßenszenen allgemein mit subjektiv unerwünschten Verhaltensweisen in Verbindung gebracht. Die Wahrnehmung von Wohnungslosen oder Menschen mit Suchterkrankungen kann innerhalb der Mehrheitsgesellschaft verschiedene Reaktionen auslösen, deren Ursachen nach Meinung der interviewten Expertinnen und Experten zumeist die Konfrontation mit Leid und Krankheit oder die Sorge vor willkürlicher Aggression sind. Konkrete Herausforderungen im Untersuchungsgebiet liegen diesbezüglich in einer vorrangig durch den umliegenden Einzelhandel vorgebrachten Beschwerdelage, wie sie regelmäßig auch im Blitzlicht ( Tools) der Projektbeteiligten und in einer von Studierenden durchgeführten Befragung des stationären Einzelhandels deutlich wurde. Der Aufenthalt von obdachlosen Menschen vor den Ladeneingängen wird als störend und geschäftsschädigend empfunden. Zwar seien Konflikte und strafrechtlich relevantes Verhalten wie Drogenhandel und -konsum oder Pöbeleien und Streitereien nur innerhalb der Gruppen zu beobachten, jedoch wirke die Anwesenheit des Personenkreises abschreckend auf potentielle Kundinnen und Kunden: „Mein Laden hat einen Imageschaden und bekommt die Beschreibung `da wo die Junkies stehen`.“ (Interviewnotizen Gewerbe und Handel) Zu berücksichtigen ist aber auch, dass Obdachlosigkeit zu einem überwiegenden Teil nicht frei gewählt wird und die davon betroffenen Menschen auf die Nutzung des öffentlichen Raums angewiesen sind. Sicherheitsgefühle von Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße finden jedoch oftmals keine Berücksichtigung bei der Planung und Umsetzung kriminalpräventiver Maßnahmen (Lukas & Hauprich 2022). KoSID-Ansatz/ Maßnahmen Der kontinuierliche Austausch im Projektverbund ermöglichte eine zeitnahe Identifizierung von Problemlagen, um mit zielgruppenspezifischen Maßnahmen und orientiert an lokalen Bedarfen gemeinsam zu agieren. In enger Zusammenarbeit mit einem Träger der Jugendhilfe, der Wichernhaus Wuppertal gGmbH ( Steckbriefe), konnte so eine Lösungsstrategie für Beschwerden über skatende Jugendliche erarbeitet werden. Unter Einbeziehung der Beteiligten konnte für Beschädigungen des öffentlichen Mobiliars sensibilisiert werden. Angesichts einer skandalisierenden Medienberichterstattung über Vandalismusschäden am Neuen Döppersberg konnte der Stigmatisierung des neu entstandenen Stadtraums mit einer versachlichenden Pressemitteilung entgegengewirkt werden. Mit einer stärkeren Präsenz der Polizei wurden aggressive Belästigungen (insbesondere gegenüber Frauen) durch Jugendliche verhindert. Gegen das öffentliche Urinieren half der Einsatz eines Dixi-Urinals, das im Rahmen einer Zwischennutzung auf einem Baufeld am Neuen Döppersberg errichtet werden konnte ( Sauberkeit). Wachsende Beschwerden über Gruppen von Menschen mit dem Lebensmittelpunkt Straße führten zu einem aufsuchenden Dialog zwischen Anliegenden und Vertretungen der sozialen Träger, in dem konkrete Lösungsansätze abgestimmt wurden. Insbesondere die Verlegung des Café COSA ( Steckbriefe) und die während der Coronapandemie ausgesetzten Streetwork-Angebote konnten dabei als Ursachen einer Verlagerung der Szene identifiziert werden, die durch die Wiedereröffnung der Einrichtung am Neuen Döppersberg umgekehrt werden konnte. Das moderne Abbildung 13 Wildes Urinieren am Schwebebahnhof Hauptbahnhof/ Döppersberg führte zu Beschwerden Abbildung 14 Zerstörtes Zwischenelement aus Metall an einer Brüstung des Neuen Döppersbergs Gebäude wurde zentral, aber etwas abseits vom Eingang zur Fußgängerzone angesiedelt. Bild 4: Unerwünschte Verhaltensweisen im Stadtraum. © Jolande auf Pixabay 36 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Handreichung „Wie schaffen Städte Sicherheit und Ordnung in Bahnhofsvierteln? “ steht den Kommunen somit eine umfassende und zugleich ansprechende Broschüre zur Verfügung, die den positiven Wandel am Wuppertaler Döppersberg als ein Best Practice-Beispiel beschreibt, das den Weg für die Entwicklung sicherer Innenstadträume auch in anderen Großstädten ebnet. Die Stiftung Lebendige Stadt bietet die Broschüre auf ihrer Homepage zum kostenlosen Download an [7]. LITERATUR [ 1] Lukas, T., Coomann, B., Kretschmer, S.: Kooperative Sicherheitsarbeit in neuen Stadträumen. Die Wuppertaler „Kooperation Sicherheit Innenstadt/ Döppersberg (KoSID)“. In: Transforming Cities 4 (2021), S. 60 - 64. [2] Faigle, M., Härle, L., Hennen, I., Hohendorf, I.: Sicherheit im Ludwigsburger Bahnhofsviertel (SiLBer). In: forum kriminalprävention 4 (2021), S. 12 - 14. [3] Stadt Wuppertal (Hrsg.): Angstraumkonzept. Wuppertal: Geschäftsbereich Soziales, Jugend & Integration, 2012. [4] Lukas, T., Kretschmer, S., Coomann, B.: Plurale Sicherheitsarbeit in einem neuen Stadtraum. Kooperation Sicherheit Innenstadt/ Döppersberg (KoSID) in Wuppertal. In: forum kriminalprävention 3 (2020), S. 18 - 21. [5] Projektverbund SiBa (Hrsg.): Werkzeugkasten der (Kriminal-)Prävention. Tübingen: Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement, 2020. [6] Ammicht Quinn, R., Bescherer, P., Gabel, F., Krahmer, A.: Leitlinien für eine gerechte Verteilung von Sicherheit in der Stadt. Tübingen: Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften, 2016. [7] Stiftung Lebendige Stadt (Hrsg.): Wie schaffen Städte Sicherheit und Ordnung in Bahnhofsvierteln? Eine Handreichung der Wuppertaler Sicherheitspartnerschaft KoSID. Hamburg, 2022. Online: https: / / lebendige-stadt.de/ pdf/ Publikation_KoSID_2022.pdf (Zugriff: 20.12.2022). sondern auch in zahlreichen anderen Kommunen abzeichnen. Aufwertungsdynamiken und deren (nicht beabsichtigte) Nebenfolgen stellen nicht nur die planenden Professionen vor Herausforderungen. Als Aufwertungsquartier und Konzentrationsort sozialer Problemlagen, Mobilitätsschnittstelle für Pendelnde und Tor zur Innenstadt für Reisende und Besucherinnen und Besucher erfüllen Bahnhofsviertel verschiedene Funktionen, die potenziell miteinander in Konflikt geraten können. Das Kapitel adressiert die Strahlkraft einzelner Quartiere für die Stadtentwicklung und den Umgang mit den sozialen Folgen von Aufwertungsprozessen. Das Handlungsfeld Institutionelle Verankerung und Bürger*innenbeteiligung thematisiert die im Rahmen der Sicherheitspartnerschaft gewonnenen Erfahrungen mit den im Projektverbund beteiligten Akteursgruppen und die Erkenntnisse aus ausgewählten Beteiligungsprozessen, wie etwa der Bevölkerungsbefragung oder den unregelmäßig durchgeführten Schaufensterbefragungen. Im Projektverlauf beteiligte sich eine Vielzahl unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure, die die entscheidenden Weichen für eine gelingende Kooperation und Arbeit im Netzwerk stellten. Das Kapitel behandelt den Mehrwert einer geteilten Sicherheitsverantwortung sowie die Möglichkeiten einer Sensibilisierung einzelner Organisationen, die sich genuin nicht in der Verantwortung für die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung sehen, aber dennoch einen Beitrag leisten können. Dazu zählen auch die Bürgerinnen und Bürger, die über Beteiligungsformate und niedrigschwellige Angebote in den Prozess involviert werden können und durch Partizipation Sicherheit erschaffen und erfahren. Fazit Das Projekt KoSID bildet ein gelungenes Praxisbeispiel in der Gesamtschau des übergeordneten Projekts „Sicherheit in der Stadt“. Die gesammelten Erkenntnisse fügen sich in die Zielstellungen des Gesamtvorhabens ein, die Ursachen von kriminalitätsbezogenen Unsicherheitsgefühlen im öffentlichen Raum systematisch zu erfassen und die Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung in Kommunen zu unterstützen. Ausgehend vom Grundverständnis einer an Gerechtigkeitsprinzipien ausgerichteten Verteilung von Sicherheit in der Stadt [6], speisen sich die im Projekt KoSID zur Anwendung gebrachten Maßnahmen überwiegend aus dem Handlungsrepertoire des SiBa-Werkzeugkastens und liefern damit einen weiteren Baustein zum Verständnis und der Ausgestaltung nachhaltiger Sicherheitsstrategien in deutschen Städten und Kommunen. Mit der Dr. Tim Lukas Akademischer Rat Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit Bergische Universität Wuppertal Kontakt: lukas@uni-wuppertal.de Saskia Kretschmer, M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit Bergische Universität Wuppertal Kontakt: kretschmer@uni-wuppertal.de AUTOR*INNEN 37 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Neue Herausforderungen erfordern neue Vorgehensweisen Corona-Pandemie, Energiekrise, Hochwasser im Ahrtal, Afrikanische Schweinepest und Hackerangriffe auf zahlreiche Gebietskörperschaften sind prominente Beispiele für Krisen und Katastrophen, die die Verwundbarkeit unseres Gemeinwesens aufzeigen. Dabei ergibt sich die besondere Vulnerabilität aus der vielschichtigen Vernetzung einer digitalen Gesellschaft, die zu einem fast verzuglosen und weitreichenden Übergreifen von Schadensereignissen auf kritische Infrastrukturen und - viel wichtiger - auf kritische Prozesse und Wechselwirkungen führen kann. Für Kommunen und die kommunale Selbstverwaltung stellen solche Extremereignisse Stressoren dar, die sie vor besondere Herausforderungen stellen. In Bezug auf die Vorbereitung auf künftige Krisen greift ein Verweis auf die Kompetenzen von Katastrophenschutzbehörden zu kurz. Die neuen Krisen müssen unmittelbar und adhoc in jeder Kommune bewältigt werden. Zumal der Katastrophen- Wie sich Kommunen mittels methodischen Vorgehens auf aktuelle und künftige Krisenszenarien vorbereiten Resilienz, Krisenmanagement, Bevölkerungsschutz, Gefahrenabwehr Rico Kerstan, André Röhl Kommunen sehen sich mit neuen Krisen konfrontiert - vom Stromausfall bis zum Starkregenereignis. Die Komplexität infolge vielschichtiger Abhängigkeiten innerhalb der Gesellschaft macht eine Vorbereitung auf potenzielle Krisen erforderlich. Die Autoren haben hierfür ein Modell für kommunale Krisen-Resilienz entwickelt, das als methodische Unterstützung bei der Vorbereitung unterschiedlicher Krisen dienen kann. Der Beitrag stellt die Notwendigkeit der Vorbereitung sowie das methodische Vorgehen dar. © Samuel F. Johanns auf Pixabay Krisen-Resilienz als Anpassungsstrategie für Kommunen 38 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen fall nicht ex ante festgestellt werden kann. Grundsätzlich ist daher jede Krise eine kommunale Krise. Kommunen müssen tätig werden, wenn Gefahr im Verzug ist, insbesondere wenn Gefahr für Leib und Leben besteht 1 . Sie übernehmen auch Aufgaben der Gefahrenabwehr, die nicht spezialrechtlich (zum Beispiel im Katastrophenschutzrecht) geregelt sind 2 . Zwar geht im Katastrophenfall die taktisch-strategische Steuerung der Krise auf die Katastrophenschutzbehörde über. Erfahrungen aus dem Ahrtal- Hochwasser zeigen jedoch, dass Kommunen in den ersten 48 Stunden einer Großschadenslage auf sich allein gestellt sind. Überörtliche Hilfe ist nicht oder nur eingeschränkt und verzögert verfügbar. Zudem werden die eigenen, dem Katastrophenschutz zuzuordnenden Ressourcen, durch die übergeordnete Steuerung gewissermaßen vereinnahmt. Die schränkt die Handlungsfähigkeit weiter ein. Die Notwendigkeit, mögliche Risiken zu antizipieren, folgt insofern auch der Verantwortung für die Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft. Zudem haben die Kommunen die Pflicht zum Selbstschutz im Rahmen des Zivilschutzes 3 . Bei jüngeren Krisen, beispielsweise der Corona- Pandemie oder dem Hochwasser im Ahrtal, wurde deutlich, dass die steigende Vernetzung der Gesellschaft durch digitale Medien und die schnelle Verbreitung von Informationen zu neuen Modellen der Kooperation bei der Krisenbewältigung führen oder bereits bekannte Modelle intensivieren kann. Zum einen schlossen sich mehrere Organisationen zum Zwecke der Krisenbewältigung zusammen [1], wie das Beispiel der Zusammenarbeit von ALDI SÜD und McDonald’s zeigt. Im Zuge des ersten Shutdowns im März 2020 setzte McDonalds freigewordenes Personal bei ALDI SÜD ein, das mit stark erhöhter Nachfrage zu kämpfen hatte [2]. Zum anderen kooperierten einzelne Menschen oder Initiativen miteinander und brachten sich in die Krisenbewältigung ein. Beispielhaft seien hier private Initiativen zum Maskennähen zu Beginn der Pandemie oder der Helfer- Shuttle, der Privatpersonen vom Betriebsparkplatz der Firma Haribo in das Katastrophengebiet im Ahrtal brachte, genannt [3, 4]. Kommunen können das eigene Krisenmanagement durch die Einbindung solcher Initiativen bereits in der Planungsphase anreichern. Verschiedentlich ist dies neben pragmatischen Lösungen vor Ort auch schon in der wissenschaftlichen Betrachtung berücksichtigt worden. Zumeist stand dabei die Einbindung der Potenziale der Zivilgesellschaft im Mittelpunkt [5]. Ein Konzept 1 vgl. § 6 OBG NRW oder Brandenburg 2 vgl. § 3 i. V. m. § 5 ebenda 3 vgl. § 5 Abs. 1 ZSKG zu einer systematischen Einbindung von Unternehmen und anderen Organisationen zusammen mit einer Stärkung der eigenen organisationalen Bewältigungsfähigkeit stand bislang aber noch aus. Bedingt unter anderem durch den Klimawandel werden Kommunen in Zukunft häufiger mit Krisen konfrontiert sein. Unabhängig von der Wirksamkeit politischer Maßnahmen zum Klima- und Umweltschutz ist bereits heute klar, dass die Veränderungen direkten Einfluss auf die Häufigkeit und Intensität von Extremwetterereignissen haben werden. Dies verstärkt die Notwendigkeit wirksame Vorkehrungen zu treffen. Kommunale Gefahrenabwehr ist mehr als der Einsatz der örtlichen Feuerwehr Am Beispiel eines zweitägigen, überregionalen Stromausfalls erschließt sich die Notwendigkeit, Gefahrenabwehr auf kommunaler Ebene weiter zu denken. Für die kommunale Gefahrenabwehr unterhalb der Kreisebene ist die (freiwillige) Feuerwehr vor Ort eine wichtige und schnell einsetzbare Ressource. Aber sie stößt mit ihren Kompetenzen bei einem überregionalen Stromausfall schnell an ihre Grenzen. Bei einem Stromausfall ist die Feuerwehr mit vielen (Bagatell-)Einsätzen konfrontiert: Personen stecken in Aufzügen fest, Züge bleiben stehen, Ampeln fallen aus und es kommt zu Unfällen, Brandmeldeanlagen lösen fehlerhaft aus, usw. Die Feuerwehr hat sofort alle Hände voll zu tun. Daher steht sie für weitere Maßnahmen nur eingeschränkt zur Verfügung. Fällt der Strom aus, steht die Kommunikationsgesellschaft sofort Kopf. Festnetzanschlüsse funktionieren nicht mehr, da heimische Router keine Notstromversorgung haben. Menschen ohne Mobiltelefon können keine Notrufe mehr absetzen. Hausnotrufsysteme für Pflegebedürftige fallen aus. Mobilfunkmasten sind nur für kurze Zeit notstromversorgt. Das Netz funktioniert nur für begrenzte Zeit weiter. Es ist davon auszugehen, dass das Anrufaufkommen bei einem Stromausfall steigt, weil sich die Bürger informieren wollen. Die Verfügbarkeit des Mobilfunknetzes sinkt damit. Die Bürger sind nicht mehr in der Lage, Hilfe zu rufen, sollte es zu einem Herzinfarkt oder einem Brand durch den Campingkocher kommen. Gefahr ist im Verzug. Die Kommune muss tätig werden. Ohne Vorbereitung wird sich aber der Ausfall eines Notrufsystems nicht kompensieren lassen. Polizisten an Kreuzungen zu positionieren, hilft nur eingeschränkt. Die Kommune muss folglich weitere (Selbst-)Hilfekräfte aktivieren. Frage ist: Wie können heimbeatmete Patienten, deren Akku nur noch eingeschränkte Zeit Energie 39 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen liefert, Hilfe holen? Wer hilft und wie werden die Helfer erreicht? Wer kümmert sich um die Kinder in der Schule, wenn die Eltern zum Zeitpunkt des Blackouts nicht in der Nähe sind? Und wie lange funktioniert eigentlich das Klärwerk? Modell für kommunale Krisen-Resilienz Aus den Erkenntnissen der vergangenen Krisenjahre haben die Autoren ein Resilienzmodell entwickelt, das dabei helfen kann, die kommunale Krisen-Resilienz zu steigern. Es beschreibt Resilienz zunächst als Verbindung von Widerstandsfähigkeit und Bewältigungsfähigkeit. Erstere soll den Eintritt eines möglichen Schadens verhindern oder ihn minimieren. Letztere umschreibt die Befähigung, entstandene Schäden zu kompensieren und trotz vorhandener Einschränkungen die wichtigsten Aufgaben weiter ausführen zu können. Kombiniert werden diese beiden Perspektiven durch eine Innensicht und eine Außensicht der Organisation in Form eines inneren und eines äußeren Ökosystems. Damit werden die einzubindenden Akteure und Netzwerke und die zu berücksichtigenden Schnittstellen beschrieben. In Form einer Matrix ergeben sich daraus vier Handlungsfelder organisationaler Resilienz (Bild 1). Nano- und Mikro-Resilienz fördern durch entschlossenes und agiles Handeln die Störungsbehebung. Meso-Resilienz umfasst ein funktionierendes Krisenmanagement zur Aufrechterhaltung der wichtigsten Prozesse. Makro-Resilienz ermöglicht durch Kooperation unterschiedlicher Akteure die gemeinsame Nutzung und den Austausch notwendiger Ressourcen. Dies macht Ressourcen für die Verwaltung nutzbar, die sonst verborgen bleiben, weil sie nicht zu den klassischen Akteuren der Gefahrenabwehr gehören. Insbesondere die Makro-Resilienz ermöglicht es der Kommune die Kooperation mit und zwischen Organisationen und Initiativen außerhalb der Blaulichtorganisationen für sich zu nutzen. Zwar können im Rahmen der Katastrophenschutzgesetze Helfer und Organisationen verpflichtet werden, doch ist dann weder der Grad der Handlungsfähigkeit der Verpflichteten bekannt, noch ist die Zusammenarbeit formal geregelt. Das Ahrtal-Hochwasser hat gezeigt, dass zu Beginn der bidirektionale Informationsaustausch zwischen Betreibern kritischer Infrastrukturen mit den zuständigen Behörden auf unterschiedlichen Ebenen eine besondere Herausforderung war [6]. Gerade zu Beginn sind Informationen jedoch entscheidend für effektives Krisenmanagement. Das Resilienzmodell lässt sich nicht nur singulär auf einzelne Krisenszenarien (zum Hochwasser, Stromausfall, IT-Ausfall) anwenden. Es liefert vielmehr Methoden für die Anpassung an unterschiedliche Krisenauslöser. Neuen Krisen methodisch begegnen Aufbauend auf dem Resilienzmodell haben die Autoren eine Methode zur Analyse des Gesamtökosystems in der Kommune entwickelt: die Municipal Impact Analysis, kurz MIA (übersetzt: kommunale Wirkungsanalyse). Der Name leitet sich von der „Business Impact Analysis“ ab, dem Kernelement betrieblicher Kontinuitätsplanungen. Ziel von MIA ist es, die Handlungsfähigkeit der Kommunalverwaltung als Organisation zu verbessern und die Bewältigungsfähigkeit in der örtlichen Gemeinschaft zu erhöhen. Damit soll insbesondere dem Umstand Rechnung getragen werden, dass es bei Kommunen in einer Krisensituation nicht nur um die Frage geht, ob und welche (Alltags-)prozesse aufrechterhalten werden. Vielmehr muss die Kommune, wie dargestellt, zusätzliche Aufgaben wahrnehmen können. Dazu zählt auch die Befähigung weiterhin Äußeres Ökosystem Inneres Ökosystem Widerstandsfähigkeit Bewältigungsfähigkeit Nano-Resilienz Verschiebung des Ausnahmezustandes Fähigkeit zu agilem Handeln Adaption bestehender Prozessschritte Mikro-Resilienz Kooperationsfähigkeit der Mitarbeiter in außergewöhnlichen Situationen Eigenständige Anpassung der Arbeitsweise Meso-Resilienz Betriebskontinuitätsplanung und Umsetzung Etablierung von Krisenmanagementstrukturen Makro-Resilienz Kooperationsfähigkeit der Kommune mit wichtigen Stakeholdern Analyse und Bewertung des eigenen Einflusses auf das Ökosystem Interoperabilität mit anderen Verwaltungen Szenarioanalyse Fokus auf Prävention Fokus auf Reaktion Grad des Verständnisses der Ökosysteme Bild 1: Resilienzmodell. © Kerstan, Röhl 40 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Entscheidungen treffen zu können, da davon auszugehen ist, dass jede Krise neue, bisher nicht vorhergesehene Herausforderungen mit sich bringen wird. Die MIA umfasst folgende Schritte (Bild 2): Schritt 1: Zu Beginn der Analyse sind die zu betrachtenden Ökosysteme abzugrenzen. Zu klären ist beispielsweise in Abhängigkeit bestehender Wechselwirkungen, ob kommunale Unternehmen unterschiedlicher Rechtsformen dem inneren oder äußeren Ökosystem zugeordnet werden oder ob KRITIS außerhalb des Gemeindegebietes zu berücksichtigen sind. Ebenfalls festgelegt werden das höchste akzeptable Risiko sowie zu betrachtende Szenarien und Schadensereignisse. Schritt 2: Es folgt eine Stakeholderanalyse des äußeren Ökosystems, um Organisationen und Akteure zu identifizieren, bei denen Abhängigkeiten bzw. Wechselwirkungen bestehen, die einen besonderen Unterstützungsbedarf haben oder über besondere Ressourcen verfügen, die in einem Krisenszenario von Bedeutung sein könnten. Schritt 3: Im einem Expertenworkshop mit Vertretern der Verwaltung und ausgewählter Organisationen die Bedeutung jeder Organisation für das Ökosystem „Kommune“ bewertet. Dies beinhaltet für jedes Szenario eine organisationsbezogene Einschätzung der Ausfallwirkung, der Unterstützungsbedürftigkeit und des Unterstützungspotenzials entlang einer zeitlichen Entwicklung. Schritt 4: Anschließend werden im Kontext des Ökosystems die wichtigsten Prozesse innerhalb der kommunalen Verwaltung identifiziert: Welche Auswirkung hat der Ausfall der Verwaltungsdienstleistung in den jeweiligen Zeitspannen? Auch in einer Krise muss die Kommune wesentlichen Aufgaben nachkommen können. Während die Beantragung von Negativbescheiden für Hauskäufe beim Stromausfall keine Bedeutung haben dürften, ist die Registrierung von Geburten und Sterbefällen essenziell. Schritt 5: Es folgt die Einschätzung der akzeptablen Ausfallzeiten sowohl bezüglich der Verwaltungsprozesse als auch der Prozesse innerhalb des Ökosystems. Diese ergeben sich je Szenario aus den Analysen der Schritte drei und vier. Schritt 6: Die individuelle Widerstands- und Bewältigungsfähigkeit von Organisationen und Verwaltung werden im sechsten Schritt eingeschätzt. Dies erfolgt im Gespräch mit der Organisation selbst. Schritt 7: Im letzten Schritt werden die Widerstandswerte mit den akzeptablen Ausfallzeiten verglichen. Im Falle von Abweichungen werden Handlungsempfehlungen zur Anpassung der organisationalen Kompetenzen erstellt und umgesetzt. Die MIA ist als iterativer Prozess zu verstehen. Sie lässt sich auf unterschiedliche Szenarien anwenden: Klimawandel, Cybergefahren, Energieknappheit. Damit Kommunen nicht für jede Krise isolierte Planungen durchführen, ist ein integrierter Ansatz notwendig. Während die Kommune mit einem „Pilotszenario“ starten kann, zum Beispiel Stromausfälle aufgrund der Energiekrise, sollten später weitere Szenarien einbezogen werden. Dies stärkt die Vernetzung unterschiedlicher Akteure und vernetztes Denken gleichermaßen. Die MIA liefert der kommunalen Verwaltung ein fundiertes Lagebild zu den Potenzialen und Risiken innerhalb des kommunalen Ökosystems. Sie ist eine methodische Voraussetzung für die Beplanung unterschiedlicher Krisenszenarien und insbesondere für eine zielgerichtete Steuerung von Ressourcen im Krisenfall. Die MIA macht Ressourcen innerhalb der Kommune nutzbar, die heute unbekannt und schwer steuerbar sind. Darüber hinaus legt die MIA den Grundstein, um im Krisenfall Prioritäten abzuleiten. Sie liefert Informationen darüber, welche Organisationen in welcher Reihenfolge unterstützt werden müssen und wie lange sie ohne Unterstützung auskommen. Sie legt dar, welcher Verwaltungsprozess wann im Notbetrieb funktionieren muss. Im kommunalen Krisenmanagement können die knappen Ressourcen somit zielgerichtet eingesetzt werden. Die MIA ist insofern ein elementares Entscheidungswerkzeug. Schritt 1: Kontext festlegen Schritt 2: Auswahl der Organisationen von kommunaler Bedeutung Schritt 3: Expertenworkshop zur Kritikalitätsbewertung Schritt 4: Kritische Verwaltungsprozesse erheben Schritt 5: Akzeptable Ausfallzeiten für Organisationen und Verwaltung Schritt 6: Widerstands- und Bewältigungsfähigkeit bewerten Schritt 7: Abgleich und Maßnahmendefinition Municipal Impact Analysis Bild 2: Municipal Impact Analysis (MIA). © Kerstan, Röhl 41 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Zielgruppen durch Vernetzung angemessen adressieren Mit dem Abschluss der ersten MIA-Iteration beginnt die gemeinsame Arbeit an der Gefahrenabwehr als kommunales Gemeinschaftsprojekt. Örtliche IT-Experten, die bei einem Cyberangriff unterstützen, Sportvereine, die Meldepunkte betreiben oder Tankstellenbetreiber, die für eine Kraftstoffversorgung beim Stromausfall sorgen könnten, benötigen eine gezielte Ansprache, die sich vom klassischen Tagesgeschäft einer Ordnungsbehörde unterscheiden. Kommune und Organisationen im Ökosystem müssen Kommunikationsstrukturen und -mittel für den Krisenfall abstimmen. Der kommunale Krisenstab muss über die Möglichkeit und die Fähigkeit der Kooperation mit den relevanten Organisationen verfügen und vice versa. Die Implementierung und Aufrechterhaltung dieser Strukturen bedingen unterschiedliche Ressourcen und Zuständigkeiten. Neben der Ordnungsbehörde müssen Wirtschaftsförderung und Pressestelle aktiv mitwirken. Es ist von besonderer Bedeutung, die Krisenplanungen nicht als Anordnung im Sinne der Hilfeleistungspflichten der Katastrophenschutzgesetze zu verstehen. Vielmehr geht es um Kooperation: Während die Kommune Zugriff auf zusätzliche Ressourcen (insbesondere Personal, Wissen, Fähigkeiten und Technik) erhält, erhalten auch die beteiligten Organisationen Zugang zu einem Netzwerk und zu Unterstützung. Die Einbindung eines örtlichen Pflegeheims in die Krisenmanagementplanungen ist für Kommune und Pflegeheim gleichermaßen bereichernd. Das Pflegeheim kann beim Stromausfall direkt die eigene Lage an den kommunalen Krisenstab kommunizieren und so beispielsweise Unterstützung bei der Versorgung mit Diesel für den Generator erhalten. Der kommunale Krisenstab kann im Gegenzug einen notstromversorgten Anlaufpunkt mit medizinischer Grundausstattung einrichten, an dem sich niedergelassene Ärzte einfinden. Zudem kann die Küche des Pflegeheims bei der Versorgung der Bevölkerung unterstützen. Diese Mehrwerte entstehen vor allem, wenn die Partner auf Augenhöhe kommunizieren und gemeinsame Vorbereitungen treffen. Die Mitwirkung der Organisationen innerhalb der Kommune sollte eine Selbstverpflichtung zu einem Code of Conduct enthalten. Vernetzung und Kooperation funktionieren nur durch offenen Austausch und Vertrauen. Diese Werte sollten im Code of Conduct schriftlich niedergelegt werden. Zudem ist eine Selbstverpflichtung zur regelmäßigen Teilnahme an Schulungen und Ausbildungen sinnvoll. Als gemeinsamer Wert sollte das Verständnis verankert werden, dass Wissen, das im Rahmen der Initiative entsteht oder ausgetauscht wird, als Open-Source- Ressource uneingeschränkt innerhalb und außerhalb des kommunalen Gefahrenabwehr-Netzwerks zur Verfügung steht. LITERATUR [1] Dieterle , A. - K., Duchek, S.: „Unternehmenskooperation als Resilienzstrategie. Nutzen für die Krisenbewältigung,“ Der Betriebswirt, vol. 61, no. 3 (2020), pp. 173 - 184, doi: 10.3790/ dbw.61.3.173. [2] Aldi-Süd: „Personalpartnerschaft von McDonald’s Deutschland und ALDI,” 2020. https: / / unternehmen.aldi-sued.de/ de/ presse/ pressemitteilungen/ unternehmen/ 2020/ personalpar tnerschaf t-vonmcdonalds-deutschland-und-aldi/ (accessed Jan. 16, 2023). [3] NeueWerft - Gesellschaft für Markenentwicklung mbH: „Helfer-Shuttle,“ 2021. https: / / www.helfershuttle.de/ (accessed Jan. 16, 2023). [4] Jehle, S.: „Wie zwei Unternehmer die privaten Helfer organisieren,“ Die Rheinlandpfalz, Aug. 19, 2021. Accessed: Jan. 16, 2023. [Online]. Available: https: / / www.rheinpfalz.de/ politik/ rheinland-pfalz_artikel,wie-zwei-unternehmer-die-privaten-helfer-organisieren-_arid,5242150.html [5] Max, M., Schulze, M.: Hilfeleistungssysteme der Zukunft: Analysen des Deutschen Roten Kreuzes zur Aufrechterhaltung von Alltagssystemen für die Krisenbewältigung, 1st ed. Bielefeld, Germany: transcript Verlag, 2021. doi: 10.14361/ 9783839460320. [6] UP-KRITIS: Lessons-learned: Krisenvorsorge und Krisenbewältigung COVID-19 im Kontext des Schutzes KRITIS, May 26, 2021. Accessed: Jan. 16, 2023. Available: https: / / www.kritis.bund.de/ SharedDocs/ Downloads/ Kritis/ DE/ krisenvorsorge_krisenbewaeltigung_covid19.pdf ? _ _blob=publicationFile Rico Kerstan, MBA Mitgründer Deutsches Institut für Sicherheit und Krisenvorsorge Kontakt: rk@disk.institute Prof. Dr. André Röhl Leiter des Studiengangs Sicherheitsmanagement NBS Northern Business School. Wissenschaftlicher Leiter Deutsches Institut für Sicherheit und Krisenvorsorge Kontakt: ar@disk.institute AUTOREN 42 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Multiple Krisen als lokaler Stresstest Zur kommunikativen Herstellung von Akzeptanz am Beispiel der Corona-Pandemie Akzeptanz, BOS, Corona-Pandemie, Kommunen, Kommunikation, Krise Rita Haverkamp, Ina Hennen, Anne-Marie Jambon, Marie Kaltenbach Die Bewältigung der Corona-Pandemie ist ein Stresstest für Kommunen und lokale Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS), die hierbei mit zwei Herausforderungen konfrontiert sind: Wie kann zum einen die Akzeptanz von Maßnahmen in der Bevölkerung gestärkt werden und wie können BOS und Kommunen zum anderen ihre Entscheidungs- und Kommunikationsprozesse der Krisensituation anpassen? Diesen Fragen stellt sich das BMBF-Verbundprojekt „Legitimation des Notfalls (LegiNot)“. Im Beitrag werden erste Zwischenergebnisse präsentiert. © Michael Hofmann auf Pixabay 43 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Im Krisenmodus Das 21. Jahrhundert steht bislang im Zeichen von Krisen. Charakteristisch sind ihre zeitliche und räumliche Entgrenzung, ihr globales Auftreten und die Verflechtung verschiedener Krisenphänomene. In der Literatur wird daher von multiplen Krisen gesprochen, die durch die Komplexität der Problemlagen und ihre Dynamik zu Überforderung führen [1]. In den letzten Jahren haben nicht nur die Corona-Pandemie, sondern auch andere Krisen mit ihren Kaskadeneffekten (zum Beispiel: Ukraine- Krieg 2022 unter anderem einhergehend mit Energiekrise) Kommunen sowie BOS belastet und häufig überlastet. Die Corona-Pandemie als globale Krise muss lokal bewältigt werden und die Effektivität der Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung hängt dabei maßgeblich von der Kooperation der Bevölkerung ab. Grundlage hierfür bilden das Vertrauen in staatliche Institutionen und die Akzeptanz von Maßnahmen, was beispielhaft Bild 1 mit der Entwicklung der Akzeptanz von Maßnahmen und des Vertrauens in Gesundheitsinstitutionen im Vergleich zu den Inzidenzen von März 2020 bis einschließlich August 2022 veranschaulicht. Die Bewältigung einer Pandemie erfordert von Kommunen und BOS somit die Herstellung und Aufrechterhaltung von Akzeptanz in der Bevölkerung sowie eine entsprechende Krisenkommunikation. Akzeptanz in der Bevölkerung durch Verfahrensgerechtigkeit Krisensituationen wie die Corona-Pandemie bringen einen Wandel der Sicherheitsgewährleistung mit sich. Staatliche Eingriffe in Grundrechte erfordern eine besondere Sensibilität seitens der Sicherheitsbehörden und bedürfen einer vorausgegangenen Legitimierung. Vor dem Hintergrund multipler Krisen ist daher eine differenzierte empirische Beschäftigung mit Legitimitätsanforderungen an Sicherheitsakteure in Ausnahmesituationen angezeigt: beispielsweise die Frage nach der Akzeptanz von Freiheitseinschränkungen durch die Bevölkerung in der Corona-Pandemie. Im Fokus der Theorie der Verfahrensgerechtigkeit (procedural justice theory) steht die Frage nach den Voraussetzungen für die Befolgung von Regeln und warum Menschen Anordnungen von Sicherheitsakteuren freiwillig nachkommen. Ein Schlüsselfaktor für die Akzeptanz von Regelungen und Maßnahmen stellt dabei die Legitimität der diese vollziehenden Behörden dar. Die Frage ist, welche Faktoren die Herstellung von Legitimität bei BOS in interaktiven Prozessen begünstigen oder beeinträchtigen. Das Konzept geht davon aus, dass die Art und Weise der zwischenmenschlichen Kommunikation von Sicherheitsakteur*innen und Bürger*innen das Entstehen von Legitimität beeinflusst [2]. Aus Studien 2000 1800 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0 Inzidenz 2020 - 2022 7 6 5 4 3 2 1 03. Mär 05. Mai 23. Jun 10. Aug 21. Sep 02. Nov 08. Dez 17. Dez 27. Dez 06. Jan 15. Jan 24. Jan 02. Feb 11. Feb 20. Feb 01. Mär 10. Mär 19. Mär 28. Mär 06. Apr 15. Apr 24. Apr 03. Mai 12. Mai 21. Mai 30. Mai 08. Jun 17. Jun 26. Jun 07. Jul 20. Jul 02. Aug 13. Aug 26. Aug 08. Sep 19. Sep 30. Sep 13. Okt 26. Okt 08. Nov 19. Nov 02. Dez 15. Dez 11. Jan 24. Jan 04. Feb 17. Feb 02. Mär 15. Mär 29. Mär 11. Apr 25. Apr 06. Mai 19. Mai 02. Jun 29. Jun 12. Jul 25. Jul 05. Aug 18. Aug Inzidenz Vertrauen in Gesundheitsinstitutionen Maßnahmen übertrieben finden Vertrauen: 1 (sehr wenig) bis 7 (sehr viel) Maßnahmen: 1 (angemessen) bis 7 (sehr übertrieben) Bild 1: Entwicklung der Akzeptanz von Maßnahmen und des Vertrauens in Gesundheitsinstitutionen während der Corona-Pandemie im Vergleich zu den Inzidenzen. Gesundheitsinstitutionen: RKI, BZgA, BMG, Gesundheitsministerien der Länder. Selbst erstellte Grafik nach Angaben des RKI zu den Inzidenzen und nach Daten der Cosmo-Studie. © Haverkamp et al. 44 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen ergibt sich, dass Autoritätspersonen unter anderem durch eine faire Behandlung ihres Gegenübers Legitimität schaffen können [3]. Den Grundstein für eine als verfahrensgerecht wahrgenommene Kommunikation legen vier Kernelemente: die neutrale, unvoreingenommene Einstellung, die Möglichkeit zur Meinungsäußerung, Respekt und Vertrauenswürdigkeit. Die Legitimität von Sicherheitsbehörden steht damit als Voraussetzung für eine freiwillige Befolgung durch Bürger*innen. Die Grundannahmen der Theorie lassen sich auf Krisenlagen übertragen, so dass in solchen Situationen ein hohes Vertrauen in Sicherheitsakteure zu größerer Akzeptanz und zur Einhaltung von möglicherweise neu eingeführten Notfallmaßnahmen führen könnte. Sich fair verhaltende BOS sollten in Ausnahmesituationen folglich mehr Kooperation in der Bevölkerung erreichen. Fraglich ist jedoch, inwiefern diese Annahme in dynamischen und lang anhaltenden Krisen zutrifft, in denen sich Regeln schnell ändern und das allgemeine Verständnis der Bevölkerung für die vielfältig ausgestalteten und kurzfristig anberaumten Maßnahmen schwindet. Wie ist es um die Verfahrensgerechtigkeit bestellt, wenn der Vertrauensvorschuss, der Politik und Sicherheitsbehörden zugestanden wird, verloren geht? Antworten hierauf sind bedeutsam für den Umgang von Sicherheitsakteuren mit der Bevölkerung in unsicheren Zeiten. Im kriminologischen Teilprojekt von LegiNot werden die Annahmen der procedural justice theory in Deutschland unter Krisenbedingungen getestet. In einer Onlinevignettenstudie werden den Befragten mehrere Szenarien über verfahrens(un)gerechte Interaktionen mit verschiedenen Sicherheitsakteuren zur subjektiven Bewertung vorgelegt. Ziel ist es, Empfehlungen für BOS zu entwickeln, wie das eigene Verhalten in der wechselseitigen Interaktion mit der Bevölkerung deren Legitimität fördern kann. Akzeptanz im Kontext organisationaler Entscheidungen In Krisensituationen müssen BOS und Kommunalverwaltungen Regeln durchsetzen und für Sicherheit sorgen. Bei diesen Akteuren löste die Corona- Pandemie auch eine starke Selbstbetroffenheit aus. Infektionsschutzmaßnahmen beispielsweise müssen innerhalb der Organisationen zur Sicherstellung der Arbeitsfähigkeit umgesetzt werden. Der Krisen anhaftende hohe Zeit- und Handlungsdruck zeigte sich insbesondere zu Beginn der Corona-Pandemie, als die Kommunen und BOS die Corona-Landesverordnungen in praktisch umsetzbare Maßnahmen, nach einer Interviewperson aus einem Gesundheitsamt „in die Welt von Normalsterblichen“, übersetzen mussten. Krisen setzen Handlungsroutinen außer Kraft und erfordern schnelle Entscheidungen. In den Akutphasen der Corona-Pandemie bedienten sich Kommunen und BOS hierzu verschiedener Krisenmanagementstrukturen. Integraler Bestandteil des Krisenmanagements ist die Krisenkommunikation. Diese soll das Vertrauen in eine Organisation und deren Glaubwürdigkeit gewährleisten und zielgruppenorientiert ausgelegt sein [4]. Um die Legitimität des Handelns der Organisationen aufrechtzuerhalten, bedarf es demgemäß einer Krisenkommunikation, bei der die Bevölkerung die Maßnahmen als Teil der Lösung der Krise anerkennt [5]. Zu Beginn der Pandemie waren Entscheidungen mit Rücksicht auf die öffentliche Gesundheit relativ unstrittig, doch mit Ausweitung der Pandemie drängten immer mehr Akteure auf Mitsprache bei der Auswahl der Mittel zur Krisenbewältigung [6]. Erste Zwischenergebnisse aus unserer qualitativen Studie zu Kommunikations- und Entscheidungsprozessen während der Pandemie zeigen, dass Kommunen und BOS anfangs auf die Konzentrierung von Entscheidungen auf wenige Köpfe setzten. Dabei verwiesen Interviewpersonen aus der kommunalen Verwaltung auf die Gefahr, hierdurch die Legitimität von Entscheidungen langfristig zu gefährden. Unserer Studie zufolge griffen Behörden bereits in den akuten Phasen der Pandemie auf Strategien zurück, um dem drohenden Akzeptanzverlust durch Beteiligung entgegenzuwirken. Betroffene Gruppen und ihr Wissen wurden aktiv in Entscheidungsprozesse einbezogen, indem kommunale Entscheidungsträger*innen unter anderem Vertreter*innen aus der Wirtschaft, dem Kulturbereich oder aus Sportvereinen anhörten. Das dialogische Vorgehen mit der Bevölkerung erwies sich dabei nicht nur als notwendiger Wissenszugewinn, um fundierte Entscheidungen treffen zu können. Vielmehr war es laut einer weiteren Interviewperson auch „dem sozialen Frieden in einer schwierigen gesellschaftlichen Situation“ zuträglich. Nicht immer eignen sich jedoch staatliche Akteure zur Vermittlung von Maßnahmen an bestimmte Zielgruppen. So verfügen Multiplikator*innen aus der Zivilgesellschaft in bestimmten Bevölkerungsgruppen über einen Vertrauensvorschuss und erweisen sich als Türöffner*innen zur Akzeptanz behördlicher Maßnahmen. Krisenkommunikation setzt somit eine Sensibilität für die Kulturen verschiedener Bevölkerungsgruppen voraus [7]. 45 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Ausblick Vertrauen in staatliche Institutionen, das die Akzeptanz für freiheitseinschränkende Maßnahmen in Krisen fördert, ist ein wichtiger Klebstoff für unsere Demokratie und unentbehrlich für die Bewältigung von Krisen. Diese Akzeptanz versuchen Kommunen und BOS herzustellen, indem einerseits Sicherheitsakteure einen respektvollen Umgang mit den Bürger*innen pflegen und andererseits Einrichtungen eine offene und transparente Krisenkommunikation innerhalb der jeweiligen Organisation und gegenüber der Bevölkerung verfolgen. Bislang liegen hierzulande jedoch kaum Erkenntnisse zur Herstellung und Gewährleistung von Akzeptanz in Krisensituationen vor. Diesem Defizit möchte das noch am Anfang stehende BMBF-Verbundprojekt LegiNot abhelfen. Bereits eine während der Corona-Pandemie entwickelte, praxisnahe Herangehensweise steht mit dem sogenannten „4-Es-Ansatz“ („Engagement“, „Explanation“, „Encouragement“, „Enforcement“) aus England zur Verfügung, der das Vertrauen in die Polizei und damit die Kooperation in der Bevölkerung erhöhen soll [8]. Dieser Ansatz könnte Impulse für BOS und Kommunen zur Weiterentwicklung ihrer unterschiedlichen Kommunikationsstrategien enthalten. Darüber hinaus zeichnet sich ab, dass bewährte Bewältigungsstrategien sowohl in anderen Krisen übernommen werden als auch über den Krisenmodus hinaus bestehen bleiben könnten. Der Artikel basiert auf ersten Forschungen im Verbundprojekt „Legitimation des Notfalls - Legitimationswandel im Notfall (LegiNot)“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Bekanntmachung „Zivile Sicherheit - Gesellschaften im Wandel“ für drei Jahre (2022 - 2025) gefördert wird. Das interdisziplinäre Projekt zielt darauf ab, eine systematische Analyse des Covid-19-Pandemiegeschehens als dynamische Notfalllage vorzulegen und über die Pandemie hinaus gültiges Orientierungswissen für den Umgang mit ausgedehnten Krisenlagen zu entwickeln. Das Projektkonsortium besteht aus der Universität Tübingen als Verbundkoordination (Prof. Dr. Rita Haverkamp, Stiftungsprofessur für Kriminalprävention und Risikomanagement), der Universität Bielefeld (Prof. Dr. Christoph Gusy, Lehrstuhl für öffentliches Recht) und der Universität Freiburg (Prof. Dr. Stefan Kaufmann, Centre for Security and Society). Weitere Informationen unter: https: / / www.leginot.de/ Prof. Dr. Rita Haverkamp Stiftungsprofessorin Universität Tübingen Juristische Fakultät, Lehrstühle Strafrecht Kontakt: rita.haverkamp@uni-tuebingen.de Ina Hennen Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Tübingen Juristische Fakultät, Lehrstühle Strafrecht Kontakt: ina.hennen@uni-tuebingen.de Anne-Marie Jambon Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Tübingen Juristische Fakultät, Lehrstühle Strafrecht Kontakt: anne-marie.jambon@uni-tuebingen.de Marie Kaltenbach Wissenschaftliche Mitarbeiterin Universität Tübingen Juristische Fakultät, Lehrstühle Strafrecht Kontakt: marie.kaltenbach@uni-tuebingen.de AUTORINNEN LITERATUR [1] Brand, U.: Die Multiple Krise: Dynamik und Zusammenhang der Krisendimensionen, Anforderungen an politische Institutionen und Chancen progressiver Politik. Berlin, (2009) S. 1. [2] Tyler, T.: Procedural Justice, Legitimacy, and the Effective Rule of Law. Crime and Justice 30(1), (2003) S. 283 - 357. [3] Sunshine, J., Tyler, T. R.: The role of procedural justice for legitimacy in shaping. Law & Society Review 37 (3), (2003) S. 513 - 548. [4] Bundesministerium des Inneren: Leitfaden Krisenkommunikation. Berlin, (2014) S 13. [5] Jäger, T.: Strategische Führung in Krisen. In: Jäger, T., Daun, A., Freudenberg, D. (Hrsg.): Politisches Krisenmanagement: Wissen, Wahrnehmung, Kommunikation. Berlin, (2016) S. 7. [6] Boin, A., McConnell, A., t ‘Hart, P.: Governing the Pandemic: The Politics of Navigating a Mega-Crisis. Basingstoke, (2021) S. 54. [7] Taylor, S.: Die Pandemie als psychologische Herausforderung: Ansätze für ein psychosoziales Krisenmanagement. Gießen, (2020) S. 124. [8] Aitkenhead, E., Clements, J., Lumley, J., Muir, R., Redgrave, H., Skidmore, M.: Policing the Pandemic. London, 2022. 46 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Datenbasierte kommunale Resilienzbewertung in Krisen Bewertung und Steigerung der Krisenfestigkeit für die Anwendungsfälle Pandemie und Extremwetter Datenbasierte kommunale Resilienzbewertung, Bewertung und Steigerung der Krisenfestigkeit, Kommunaler Datenraum Kai Fischer, Jet Hoe Tang, Martin Huschka, Yu-Sheng Tang, Michael Dlugosch, Jonas Stilling, Tobias Leismann, Alexander Stolz Gegenwärtig führen unterschiedliche Gefahrensituationen, wie zum Beispiel die Covid-19 Pandemie oder Extremwettereignisse, zu Krisen und Katastrophen. Die Konsequenzen sind für eine hochgradig technisierte und global handelnde Gesellschaft deutlich komplexer geworden. Diese steigende Komplexität und die damit verbundenen kaskadierenden Effekte erfordern eine Bewertung und Erhöhung der kommunalen Resilienz. Belastbare Informationen liefern einen maßgebenden Beitrag für Entscheidungsunterstützer im Krisenfall. Jedoch unterliegt die Verfügbarkeit sowie die Strukturierung verschiedener Daten im Krisenfall ebenfalls einer steigenden Komplexität. Mit Hilfe eines Datenraumkonzepts stellt dieser Beitrag eine innovative Methodik vor, um eine kommunale Bewertung von Resilienz zu ermöglichen. Verschiedenste Datenquellen einer Kommune werden digital zusammengeführt und statistische oder heuristische Methoden liefern ein Verständnis zu Ursache, Wirkung sowie zur Effektivität von Gegenmaßnahmen. Hierbei wird Resilienz quantitativ charakterisiert und ermöglicht eine Analyse vor, während und nach dem Auftreten einer Katastrophe. Die Methodik bewertet einzelne Resilienz-Phasen wie Vorbereitung, Prävention, Schutz, Reaktionsschnelligkeit und Wiederaufbau. Ein Dashboard fasst die Resultate zusammen und liefert Entscheidungsunterstützung für kommunale Krisenstäbe. © Jenkyll auf Pixabay 47 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Gegenwärtig führen unterschiedliche Gefahrensituationen zu komplexen Krisen und Katastrophen. Die Konsequenzen sind für eine hochtechnisierte und in den globalen Handel verflochtene Gesellschaft deutlich herausfordernder oder anspruchsvoller geworden. Die seit 2020 grassierende Covid-19 Pandemie oder die Flutkatastrophe im Juli 2021 stellen beispielhaft gravierende Ereignisse dar, welche Gesellschaft und Politik wesentlich beeinflusst haben und nach wie vor verändern [1]. Konfrontiert mit potenziellen Krisen und Katastrophen, steht das vielschichtige und föderalistische Hilfeleistungssystem vor enormen Herausforderungen. Beispielhaft genannt sei hier die Etablierung von Methoden, um Konsequenzen zu verringern, schnellstmöglich auf diese zu reagieren sowie einen Wiederaufbau effizient einzuleiten. Diese Aspekte erfordern eine Bewertung und Erhöhung von Resilienz. Unterschiedliche Informationen aus der Kommune charakterisieren Resilienz, erfordern jedoch die Verfügbarkeit und die Strukturierung verschiedenster Daten, die auch eine komplexe Aufgabe darstellen. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe fordert „fest vereinbarte Wege des Daten- und Informationsaustauschs“, welche „evaluiert und verbessert“ werden müssen [2]. Basierend auf den genannten Gesichtspunkten, befasst sich das, vom BMBF geförderte, Projekt HERAKLION 1 mit der Entwicklung eines Datenraums, welcher die Bewertung der Resilienz einer Kommune für die Anwendungsfälle Extremwetter und Pandemie ermöglicht. Die grundlegenden Fragen sind hierbei: Wie lässt sich eine Methodik zur Messung und Erhöhung der Resilienz einer Kommune entwickeln? 1 www.heraklion-projekt.de Wie kann ein datenbasierter Prozess zur Entscheidungsunterstützung im Krisenfall etabliert werden? Zur Gewährleistung der bedarfsgerechten Umsetzung und der Anwendungstauglichkeit sind mit dem jeweiligen Amt für Katastrophenschutz oder der Feuerwehr aus vier verschiedenen Bundesländern Kommunen als assoziierte Partner im Projekt involviert. Baden-Württemberg: Stadt Freiburg, Landkreis (LK) Lörrach, LK Breisgau-Hochschwarzwald; Bayern: Stadt Nürnberg; Rheinland-Pfalz: LK Altenkirchen, LK Neuwied, Westerwaldkreis; Thüringen: Stadt Gera. Als staatliche Mittelbehörde ist auch die Abteilung für Katastrophenschutz des Regierungspräsidiums Freiburg mit einbezogen. Insgesamt wird mit den assoziierten Partnern eine repräsentative Menge hinsichtlich deren Einwohnerzahl und Fläche mitberücksichtigt. In diesem Artikel werden die Methodik des Vorhabens sowie erste Resultate vorgestellt. Sie bilden die Basis, um sich auf zukünftige Krisen und Katastrophen besser vorzubereiten und quantitativ die Resilienz einer Kommune zu beschreiben und zu steigern. Definition von Resilienz und das Konzept der kommunalen Bewertung Gemäß Bristow [3] ist nach einem disruptiven Ereignis eine schnelle Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit von Infrastruktur ein wichtiger Bestandteil des Wohlstands einer Bevölkerung und der Wirtschaft, was eine Bewertung und Steigerung der Resilienz motiviert. Basierend auf Ansätzen aus der Psychologie [4], hat sich das Konzept der Resilienz Bild 1: Zyklische Phasen von Resilienz (links) und deren quantitative Bewertung mittels der Leistung über die Zeit (rechts). © Fischer et al. 48 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen interdisziplinär entwickelt und einzelne Beiträge [5] haben einen Transfer in die Sicherheitsforschung bewirkt. Bedingt durch die interdisziplinäre Anwendung [6], liegen verschiedene Definitionen des Begriffs Resilienz vor. Im Rahmen von HERAKLION orientiert sich der Begriff Resilienz an einer etablierten Definition und den fünf zyklischen Phasen, Prepare, Prevent, Protect, Response und Recover, nach [7], wie es auf der linken Seite von Bild 1 gezeigt ist. Demnach beschreibt Resilienz die Fähigkeit, „tatsächliche oder potenziell widrige Ereignisse abzuwehren, sich darauf vorzubereiten, sie einzukalkulieren, sie zu verkraften, sich davon zu erholen und sich ihnen immer erfolgreicher anzupassen. Widrige Ereignisse sind menschlich, technisch sowie natürlich verursachte Katastrophen oder Veränderungsprozesse, die katastrophale Folgen haben“ [7]. Orientiert an [8] und [9], wird ein Leistungskriterium über die Zeit betrachtet, um das System unter Auftreten einer Störung hinsichtlich der Resilienz quantitativ zu bewerten. Dieser Zusammenhang ist konzeptionell erfasst und funktional beschrieben [10]. Beispiele finden sich in der Bewertung von urbanen Gebieten [11, 12]. Einzelne Resilienz-Phasen können der Leistungs-Zeit-Relation vor, während und nach dem Ereignis zugeordnet werden, siehe Bild 1 rechts. Im Rahmen von HERAKLION werden maßgebende Leistungskriterien identifiziert, durch welche eine Kommune unter Auftreten der Anwendungsfälle Pandemie und Extremwetter charakterisiert wird. Hierzu wird ein Verständnis zu funktionalen Zusammenhängen einzelner Attribute aufgebaut, welche die übergeordneten Leistungskriterien beschreiben, wie es skizzenhaft in Bild 2 gezeigt ist. Zur Quantifizierung der Attribute werden Daten aus verschiedenen Bereichen der Kommune herangezogen, welche über einen zu entwickelnden Datenraum zur Verfügung gestellt werden. Die Sozialstruktur der Bevölkerung, Informationen zur Bebauung, Freiflächen und kritischen Infrastrukturen sowie Klima- oder Wetterdaten und Informationen zum Pandemiegeschehen sind nur einige Datenbeispiele, welche in die Bewertung mit einfließen. Bei einem Datenraum handelt es sich um eine dezentrale digitale Infrastruktur, welche standardisiert das Management von digitalen Assets, zum Beispiel Daten oder Modellen, ermöglicht [13]. Einheitlich geregelte Prozesse authentifizieren die Anwender, vermitteln Daten zwischen einheitlichen Schnittstellen und stellen die Einhaltung individueller Nutzungsbedingungen technisch sicher. Somit ist eine Datensouveränität gewährleistet, die regelt, welche Daten von wem zu welchen Zwecken verwendet werden dürfen. Die International Data Space (IDS) Association stellt ein Referenzarchitekturmodell zur Implementierung von vertrauensvollen Datenräumen zur Verfügung, welches sich am Dezentralitätsprinzip orientiert und als wesentliche Kernfunktion dem Dateneigentümer maximale Datensouveränität zusichert [14]. Dieser Aspekt soll potenzielle Teilnehmer zum Teilen von Daten motivieren. Der IDS-Standard wird zur Entwicklung des Resilienz- Datenraums berücksichtigt. Identifizierung von Leistungskriterien und Anwendungsbeispiel Die Identifizierung von Attributen zur Charakterisierung zeitabhängiger Leistungskriterien legt erforderliche Datenquellen und Anforderungen an den Datenraum fest. Eine umfassende Recherche nach Publikationen, Projekten, eine Auswertung historischer Ereignisse sowie verschiedene Workshops mit den assoziierten Partnern resultieren in einer ersten Übersicht von Leistungskriterien, welche datenbasiert untersucht werden. Tabelle 1 gibt eine Übersicht ausgewählter Leistungskriterien. Teilweise können diese für beide Anwendungsfälle betrachtet werden. Nach der Festlegung der Leistungskriterien muss geprüft werden, welche Attribute zur Charakte- Bild 2: Konzept des HERAKLION Demonstrators zur kommunalen Resilienzbewertung. © Fischer et al. Pandemie Extremwetter Verfügbarkeit kritischer Infrastrukturen Ökonomischer Schaden (direkt/ indirekt) Bettenbelegung/ -kapazität Pflegekraft pro Patienten/ Einrichtung Verfügbarkeit Katastrophenschutz Anzahl Test, Genesene, Todesfälle Anzahl betroffener Personen Inzidenz Anzahl Haushalte/ Einrichtungen mit Stromversorgung Arbeitslosigkeit Gebrauchstauglichkeit von Gebäuden Steuereinnahmen Anzahl Einsätze Katastrophenschutz Tabelle 1: Ausgewählte Leistungskriterien zur Resilienzbewertung in Abhängigkeit des Anwendungsfalls. 49 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen risierung verwendet werden können. Bild 3 zeigt beispielhaft verschiedene Attribute, die entsprechenden Gruppierungen zugeordnet sind. Hierbei handelt es sich um einen Auszug aus dem Parameterraum, welcher iterativ erweitert wird. Mit Hilfe verschiedener Datenquellen werden die aufgelisteten Attribute charakterisiert. Darauf aufbauend werden statistische Methoden angewandt, um einen funktionalen Zusammenhang zwischen einzelnen Attributen und Leistungskriterien zu identifizieren. Die Anwendung von Korrelations- und Kausalitätstests liefert ein Verständnis zur Wechselwirkung zwischen einzelnen Variablen und zeigt auf, wenn Kaskadeneffekte einsetzen. Die statistische Analyse zeigt, wie mit kommunalen Daten die Resilienz eines komplexen Systems beschrieben werden kann. In einem ersten Anwendungsbeispiel wurden wirtschaftliche und soziodemografische Daten sowie Informationen zum Pandemiegeschehen ausgewertet. In der Analyse wurden Daten von Destatis 2 , Genesis-Destatis 3 , RKI 4 , DIVI-Intensivregister 5 und dem Statistikamt 6 analysiert. Die Auswertung gibt ein Verständnis zur gesellschaftlichen Verwundbarkeit oder wie sich verschiedene Schutzmaßnahmen auf Gesellschaft und Wirtschaft auswirken. Bild 4 zeigt einen Auszug dieser Analyse, in der mit den Daten aus Genesis-Destatis der Umsatzindex über die Zeit als Leistungskriterium abgebildet ist. Dieser Index wird durch den Umsatz im Gaststättengewerbe monatlich charakterisiert und ist zur Vergleichbarkeit in Relation zum ersten Dateneintrag normalisiert dargestellt. In der zeitlichen Gegenüberstellung Corona-bedingter Schutzmaß- 2 https: / / www.destatis.de 3 https: / / www-genesis.destatis.de 4 https: / / www.rki.de/ DE/ Content/ InfAZ/ N/ Neuartiges_Coronavirus/ Fallzahlen.html 5 https: / / www.intensivregister.de/ 6 https: / / www.statistikportal.de/ de nahmen lässt sich datenbasiert der typische Verlauf einer Resilienzkurve feststellen, wie sie allgemein in Bild 1 eingeführt ist. Bedingt durch die Lockdowns, lassen sich Einbußen von teilweise über 50 % mit anschließender Erholung feststellen. Solche Erkenntnisse können beispielsweise mitberücksichtigt werden, um sich auf potenzielle zukünftige Krisen vorzubereiten. Die Resultate in Bild 4 basieren auf bundesweiten Daten. In weiteren Untersuchungen werden kommunale Daten verwendet und so wird ein Vergleich gezogen, welche Regionen eine erhöhte Verwundbarkeit besitzen. Diese Erkenntnisse geben Aufschluss, unter welchen Rahmenbedingungen eine Kommune eine erhöhte Robustheit besitzt. Zusammenfassung und Ausblick Dieser Artikel gibt eine Übersicht, wie datenbasiert mit multivariaten Leistungskriterien mehrdimensional kommunale Resilienz charakterisiert wird. Die Entwicklung eines Datenraums ermöglicht, dass mit Hilfe eines dezentralen Tools Daten strukturiert und vereinheitlicht zur Analyse zur Verfügung gestellt werden. Die extrahierten Daten werden mit statistischen Methoden analysiert, um ein Verständnis zur Wechselwirkung verschiedener Indikatoren herzustellen. In Bezug auf die Anwendungsfälle Pandemie und Extremwetter werden die Erkenntnisse in einem Resilienz-Dashboard zusammengeführt. Somit wird datenbasiert eine schnelle und möglichst Bild 3: Gruppierung verschiedener Attribute zur Charakterisierung einer Kommune. © Fischer et al. Bild 4: Normalisierte bundesweite monatliche Auswertung des Umsatzindexes im Gaststättengewerbe und die Gegenüberstellung von Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens. © Fischer et al. 50 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen ganzheitliche Übersicht generiert, um potenzielle Schwachstellen zu identifizieren, Krisen besser zu erkennen, sich besser vorzubereiten und schneller zu reagieren. Danksagung Diese Veröffentlichung resultiert aus Fördermitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen des Programms „Forschung für die zivile Sicherheit“ der Bundesregierung. HERAKLION (Förderkennzeichen 13N16293) ist ein bewilligtes Projekt im Rahmen der Corona-Sondermaßnahme. LITERATUR [1] Bundesregierung: Deutsche Strategie zur Stärkung der Resilienz gegenüber Katastrophen: Umsetzung des Sendai Rahmenwerks für Katastrophenvorsorge (2015 - 2030) - Der Beitrag Deutschlands 2022 - 2030, 2022. [2] Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe: Stärkung des Bevölkerungsschutzes durch Neuausrichtung des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, 2021. [3] Bristow, D.N.: How Spatial and Functional Dependencies between Operations and Infrastructure Leads to Resilient Recovery, J. Infrastruct. Syst. 25 (2019) 1. [4] Gander, H.-H., Perron, W., Poscher, R., Riescher, G., Würtenberger, T. (Eds.): Resilienz in der offenen Gesellschaft: Symposium des Centre for Security and Society, 1. Aufl., Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden, 2012. [5] Holling, C.S.: Resilience and Stability of Ecological Systems, Review of Ecology and Systematics 4 (1973) S.1 - 23. [6] Hiermaier, S., Scharte, B., Fischer, K. (Eds.): . Resilience Engineering: chances and challenges for a comprehencive concept, 2019. [7] Thoma, K. (Ed.): Resilien-Tech: „Resilience-by-Design“; Strategie für die technologischen Zukunftsthemen, Utz, München, 2014. [8] Kröger, W., Zio, E.: Vulnerable Systems, Springer London, London, 2011. [9] Bruneau, M., Chang, S.E., Eguchi, R.T., Lee, G.C., O‘Rourke, T.D., Reinhorn, A.M., Shinozuka, M., Tierney, K., Wallace, W.A., Winterfeldt, D. von.: A Framework to Quantitatively Assess and Enhance the Seismic Resilience of Communities, Earthquake Spectra 19 (2003) S. 733 - 752. [10] Cimellaro, G.P., Reinhorn, A.M., Bruneau, M.: Framework for analytical quantification of disaster resilience, Engineering Structures 32 (2010) S. 3639 - 3649. [11] Fischer, K., Hiermaier, S.: Resilience quantification of urban areas. Dissertation, Univ. [12] Fischer, K., Hiermaier, S., Riedel, W., Häring, I.: Morphology Dependent Assessment of Resilience for Urban Areas, Sustainability 10 (2018) S. 1800. [13] Franklin, M., Halevy, A., Maier, D.: From databases to dataspaces, SIGMOD Rec. 34 (2005) S. 27 - 33. [14] Otto, B., Jürjens, J., Schon, J., Auer, S., Menz, N., Wenzel, S., Cirullies, J., Cirullies, J.: Industrial Data Space. Digitale Souveränität über Daten, München, 2016. Dr.-Ing. Kai Fischer Gruppenleiter Robustheits- und Resilienzanalysen Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik Kontakt: Kai.Fischer@emi.fraunhofer.de Dr. Jet Hoe Tang Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik Kontakt: info@emi.fraunhofer.de Martin Huschka Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik Kontakt: martin.huschka@emi.fraunhofer.de Yu-Sheng Tang Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik Kontakt: info@emi.fraunhofer.de Dr.-Ing. Michael Dlugosch Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik Kontakt: michael.dlugosch@emi.fraunhofer.de Jonas Stilling Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik Kontakt: Jonas.Stilling@isst.fraunhofer.de Dr. Tobias Leismann Stellvertretender Institutsleiter Leiter Hauptabteilung Resilience, Safety & Security Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik Kontakt: Tobias.Leismann@emi.fraunhofer.de Prof. Dr.-Ing. Alexander Stolz Professur Resilienz Technischer Systeme Uni Freiburg, Inst. für nachhaltige technische Systeme Fraunhofer-Institut für Kurzzeitdynamik Kontakt: Alexander.Stolz@emi.fraunhofer.de AUTOREN 51 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Wenn die Rede auf das Thema öffentliche Sicherheit fällt, denkt man unweigerlich an naturbedingte Katastrophen wie das Hochwasserereignis im Ahrtal vor knapp zwei Jahren, extreme Wetterereignisse, Hitze und Trockenheit oder natürlich das globale Pandemiegeschehen. Zusätzlich fordern auch von Menschen gemachte Unglücke die öffentliche Sicherheit immer wieder heraus, beispielsweise Was wäre, wenn? Neue Simulationen sollen die Auswirkungen von KRITIS- Ausfällen erlebbar machen. Öffentliche Sicherheit, Infrastruktur, Krisenprävention, Kaskadeneffekt, KRITIS Niklas Reinhardt Moderne und komplexe Gesellschaften sind immer mehr der Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ausgesetzt und sind immer öfter von Störungen der technischen Infrastrukturen betroffen. Die Auswirkungen schon kleinster Schocks können wie Kaskaden ganze Versorgungsnetze lahmlegen und die Gesellschaft in ihrem Kern treffen. Mit Hilfe neuer Modelle und gekoppelter Simulationen wird es zukünftig möglich, das Zusammenwirken von Technik, Infrastruktur, Einsatzkräften und Bevölkerung zu erforschen, Auswirkungen zu simulieren und Handlungsoptionen abzuleiten sowie vor allem die gewonnenen Erkenntnisse auch auf andere oder neue Bedrohungen zu übertragen. Bild 1: Komplexe Großstadt - ohne die nötige Datenbasis, neue Modelle und gekoppelte Simulationen sind die Auswirkungen von natürlichen oder menschengemachten Schadenslagen kaum abzuschätzen. © Philip Plum / Fraunhofer FOKUS 52 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen bei Großveranstaltungen mit Paniksituationen wie 2010 in Duisburg oder letztes Jahr in Seoul, grenzüberschreitende Cyber-Verbrechen, die Behörden, Kommunalverwaltungen und andere staatliche Stellen teilweise ausschalteten, sowie der andauernde Krieg in der Ukraine mit seinen indirekten und auch direkten Auswirkungen auf die globale Versorgungslage. Die Krisen werden zum Normalzustand, viele dauern an, sie werden immer komplexer und sind von vielen Faktoren abhängig, denn in so gut wie allen Lebensbereichen sind Mensch und Technik heute hoch vernetzt. In der Forschung sprechen wir daher über die moderne Gesellschaft als „soziotechnisches System“. Und in einem solchen System, in dem (fast) alles miteinander zusammenbzw. voneinander abhängt, können sich Krisen und sogar punktuelle Störungen rasend schnell entwickeln und über das ganze System verbreiten in sogenannten Kaskaden oder sogar Multi-Kaskaden. Eine Herausforderung für den Umgang mit dieser Situation ist, dass viele der vorhandenen und zum Teil hoch spezialisierten Lösungsansätze und -technologien sich vor allem auf die Abwehr und Behebung lokaler Störungen in der einzelnen Domäne richten. Die Grundidee: Wenn eine Störung eintritt, dann muss sie möglichst umfassend abgewehrt und der Schaden schnell behoben werden, damit das betroffene System insgesamt in seinem Ausgangszustand erhalten bleibt. Was für überschaubare Systeme ohne technische Durchdringung ein probates Vorgehen ist, stößt in Zeiten der digitalen Vernetzung und in hochtechnisierten Gesellschaften an seine Grenzen. Betrachtet man zum Beispiel die Bedrohungen durch Klimawandel, Pandemie oder Kriegsfolgen, so sind heute die Ausmaße und Entwicklungen der zu behebenden Schäden nur schwer im Voraus zu identifizieren und singuläre Lösungen, damit alles wieder in gewohnten Bahnen verläuft, unmöglich. Die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen Menschen und Technik und die Wirkungsmechanismen der Störungen sind zu komplex. Immer mehr Menschen stellen zum Beispiel fest, dass die Welt nach der Pandemie nicht mehr die gleiche ist wie vorher. Eine Frage, die sich die Forschung also stellen muss, ist, wie die Ausbreitung eines lokalen Ereignisses auf die Gesamtbevölkerung zukünftig besser prognostiziert werden kann und wie Abhängigkeiten über die Grenzen einer Domäne oder einer Verantwortlichkeit hinweg mit anderen zusammenhängt und sich auf andere auswirkt. Hier spielen neue Modelle und genauere Simulationen eine wichtige Rolle. Potenzielle Schäden und Risiken zu verstehen heißt, das System in seiner Komplexität zu verstehen und abzubilden. Durch das Modellieren komplexer Logistiknetze und Warenketten wird etwa nachvollziehbar oder auch prognostizierbar, welche Auswirkungen Dürren in Nordchina und Taiwan auf die Lieferketten für Halbleiter haben und wie sie letztlich zu einem Chip-Mangel bei der deutschen Automobilindustrie führen bzw. diese fast lahmlegen können. Realistische Szenarien für die Forschung Zwei fiktive, aber durchaus mögliche Szenarien in einer Großstadt sollen diese sozio-technischen Abhängigkeiten noch einmal verdeutlichen: Erstens eine kaskadierende Situation durch schwere Gewitter, die mit hohen lokalen Niederschlagsmengen das öffentliche Leben massiv stören. Durch die Auswirkungen von solch lokal konzentrierten Niederschlägen kommt es zu Störungen der technischen Infrastrukturen, beispielsweise der Stromversorgung. Weitere Auswirkungen folgen und betreffen am Ende sogar die Gas-, Wasser-, Abwasser- und die Telekommunikationsversorgung. Die Konsequenzen sind Versorgungsengpässe nicht nur bei den direkt betroffenen, sondern auch den mittelbar betroffenen Güter und Ressourcen, zum Beispiel: verderbende Lebensmittel im Supermarkt, weil die Kühlung versagt oder weil LKWs wegen Ausfall der elektrischen Pumpen an Tankstellen nicht mehr fahren und liefern können. Auch der ÖPNV ist betroffen, Menschen müssen auf Bahnhöfen ausharren oder die Nacht im Zug verbringen. Viele weitere Beeinträchtigungen folgen und lokale Lösungsansätze können hier allenfalls punktuell für Abhilfe sorgen. Ein zweites Beispiel: Eine Explosion auf einer bzw. auf mehreren parallelen Veranstaltungen im Stadtgebiet mit vielen tausend Besucher*innen sorgt für teils chaotische Zustände. Durch panikartige Fluchtbewegungen einiger Besucher*innen und gleichzeitig einem unkontrollierten Zulauf von Schaulustigen, die für Handyfotos sich selbst und andere in Gefahr bringen, entsteht auch hier eine komplexe soziotechnische Gemengelage aus Besucherströmen, verletzten und verunsicherten Veranstaltungsgästen, Schausteller*innen, Budenbesitzer*innen und Sicherheitspersonal sowie Veranstaltungstechnik, baulichen Gegebenheiten, ÖPNV, Straßenverkehr und vieles mehr. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob es sich bei der Explosion um eine technische Panne oder einen geplanten Anschlag handelt. Relevant für den systemischen Blick ist vor allem, dass die in die Breite wachsende Gefährdungssituation eine so hohe Dynamik und Unübersichtlichkeit entwickelt, dass die Abwehr und Behebung der ursächlichen Störungen und ihren direkten Folgen nicht weit genug trägt. 53 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen PREPARE Vorbereiten Politik und Verwaltung Forschung und Entwicklung (FuE) Interaktive, virtuelle Lagevisualisierung Neue Modelle und agentenbasierte Simulationen Kritische Infrastrukturen (KRITIS) Sicherheitsindustrie Resilienz & Sicherheit IMPACT TRANSFER SIMULATION RECOVER Regenerieren PREVENT Vorsorgen RESPOND Reagieren PROTECT Schützen Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) Digitale Gebäude- und Infrastrukturzwillinge Sichere Versorgungsnetze und Infrastrukturen Kommunikations- Schutz und Reaktionsfähigkeit von Einsatzkräften, Helfern und Bevölkerung Agentenbasierte Simulationen von Kaskadeneffekten und Menschenströmen Mapping von Drohnenbildern auf Landschaftsmodellen Nutzung von Echtzeitsensordaten und interpretierten Daten 3-dimensionale »Multi-User Virtual Reality«-Umgebungen Ereignis Entscheidungsunterstützung und Handlungsoptionen Simulations- und Demonstrationsplattform Geschäftsmodelle und Technologieberatung Workshops und Veranstaltungen Trainings und Schulungen Wissenschaftliche Analysen Um diesen systemischen Gesamtblick auf komplexe Schadenslagen zu ermöglichen, nahm Anfang des letzten Jahres das neue Fraunhofer-Zentrum für die Sicherheit Sozio-Technischer Systeme (kurz: Fraunhofer SIRIOS) seine Arbeit auf. Für fünf Jahre gefördert von Bund und Land Berlin soll das Forschungszentrum die Bedarfsträger*innen der öffentlichen Sicherheit, wie beispielsweise Sicherheitsbehörden und -organisationen (BOS), Betreiber*innen kritischer Infrastrukturen (KRITIS), Veranstalter*innen von großen Events sowie Städteplaner*innen und Sicherheitsbeauftragte mit Hilfe neuer Simulationswerkzeuge dabei unterstützen, die gesellschaftliche Resilienz zu stärken und sich auch für unerwartete Risiken zu rüsten. Die genannten Szenarien bilden dafür einen wichtigen Anknüpfungspunkt. Konkret heißt dies, dass neuralgische Gebäude in der Stadt, kritische Infrastrukturen wie Bahnhöfe, Krankenhäuser und Strom-, Gas-, Wasser- und Telekommunikationsnetze digital nachgebildet werden. Auch Kommunikationsstrukturen zwischen Behörden und zur Bevölkerung sowie das Verhalten von Menschen, deren Fluchtbewegungen und Kommunikationsfähigkeit in kritischen Situationen, fließen in die Modelle ein. Dabei kann zwar nie die gesamte Realität in allen Details erfasst werden, aber zumindest für die Krisenbewältigung relevante Ausschnitte. Und je besser die Datenlage ist, desto genauer können auf Basis dieser Modelle Krisenlagen simuliert und erprobt werden. Innerhalb der nächsten Jahre sollen so gekoppelte Simulationen, also die Verbindung verschiedener Einzelsimulationen von urbanen Lebensräumen und Infrastrukturen, entstehen und schließlich in einer Trainings- und Schulungsumgebung sowie für die Entscheidungsunterstützung in Krisensituationen oder die Veranstaltungsplanung eingesetzt werden. Damit können nicht nur bekannte Krisenszenarien erneut trainiert und vorhandene Schwächen in deren Bewältigung identifiziert und beseitigt, sondern auch das Unerwartete, ja Undenkbare in vielfältigen „Was-wärewenn“-Szenarien vorbereitet, durchgespielt und virtuell erlebt werden - perspektivisch auch jenseits von Extremwetter- und Großveranstaltung. Forschungsperspektiven für Simulationen Auf vier Schwerpunkte zielen die initialen Forschungs- und Entwicklungsarbeiten von Fraunhofer SIRIOS ab und stellen die Basis für eine perspektivische Erweiterung des gesamten Forschungsspektrums in den nächsten Jahren dar. So sollen Simulationswerkzeuge für sichere Versorgungsnetze und Infrastrukturen ermöglichen, Gebäudeschäden oder auch den Kollaps von Infrastrukturen und Bild 2: Simulation - Transfer - Impact: Der systematische Austausch zwischen Forschung und Anwendung soll Chancen und Schwachstellen identifizieren, um die gesellschaftliche Resilienz zu stärken. © Fraunhofer SIRIOS 54 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Netzen abzuschätzen und zu visualisieren. Im Zentrum stehen dabei einerseits Fragen zur baulichen Vulnerabilität, Funktionsbeeinträchtigung und Schadensprognose, also zum Beispiel welche Straßenzüge bei Starkregen zuerst für Rettungseinheiten unpassierbar werden und welche Gebäude so kritische Zustände erreichen, dass eine sofortige Evakuierung der Bewohner*innen nötig ist. Andererseits werden dafür Versorgungsnetze (Strom, Gas, Wasser) digital erfasst, um physikalische Schäden bis hin zum Ausfall zu prognostizieren und deren Ausbreitungsgeschwindigkeiten von einer Netzinfrastruktur auf die andere zu quantifizieren. Neben der Prognose und Analyse spielen hier auch Maßnahmen zum Umgang mit den Schäden eine wichtige Rolle, wie zum Beispiel Vorgehensweisen für eine unterbrechungsfreie Stromversorgung mittels Notstromsystemen oder Lösungen für (neue) Warnmethoden und -systeme, um auch kurzfristig mit betroffenen Bevölkerungsgruppen interagieren zu können. Ein anderer Schwerpunkt stellt den Schutz und die Reaktionsfähigkeit von Einsatzkräften, Helfer*innen und der Bevölkerung in den Mittelpunkt. Ziel ist es, die Einsatzführung bei zeitkritischen operativ/ taktischen Entscheidungen mit Simulationen und Visualisierungen der Lage zu unterstützen und eine intelligente Entscheidungshilfe anzubieten. Damit können die potenzielle Lageentwicklung, Kaskadeneffekte, Beschädigungen an Gebäuden, Strommasten oder Bäumen vorab analysiert und bewertet werden. Offene Schnittstellen für andere Modelle, Algorithmen und Sensoren machen das System adaptierbar für weitere naturbezogene oder anthropogene Schadenszenarien (zum Beispiel: Waldbrände oder Cyberangriffe). Ein weiterer Forschungsschwerpunkt liegt auf der interaktiven, virtuellen Lagevisualisierung, so dass mehrere Personen an einer gemeinsamen Simulation teilnehmen, ohne dass sie sich real in dieser Umgebung oder auch nur am selben Ort befinden. Dafür wird eine vernetzte dreidimensionale Multi-User Virtual Reality-Umgebung geschaffen, in der zum Beispiel Schadenslagen mit Massenpaniken simuliert und visualisiert sowie in der realen Welt unsichtbare Informationen (zum Beispiel: unterirdische Versorgungsleitungen) eingeblendet, physische Schutzmaßnahmen (zum Beispiel: mobile oder stationäre Zufahrtsschutzsperren) konzipiert und mit den realen Begebenheiten (zum Beispiel: Flucht- und Rettungswege) abgeglichen werden können. Beim Schwerpunkt der Kommunikations- und Handlungseffizienz schließlich geht es um die Planung von Warnmitteln, das Testen und Optimieren der Krisenkommunikation sowie die virtuelle Bewertung von Sicherheitskonzepten speziell bei Großveranstaltungen. Auf Basis menschlicher Verhaltensparameter werden dafür im virtuellen dreidimensionalen Raum Besucherströme und deren Reaktionen auf kritische Vorkommnisse durchgespielt. Um die Wirkungen von Warnmitteln wie Sirenen, Lautsprechern und Apps zu bewerten, können hier mit Hilfe intelligenter Bild- und Videoauswertungen sowie Lagevisualisierungen die Personendichte, individuelle Handlungen, die Hör- und Sichtbarkeit von Warnungen usw. modelliert und simuliert werden. Soweit die Verhaltensmodelle und Warnmittel auch auf andere Szenarien übertragbar sind, können perspektivisch zum Beispiel auch kritische Situationen an Flughäfen, Bahnhöfen oder in Krankenhäusern untersucht werden. Gesamtheitliche Simulationen und systematischer Austausch Um all die beschriebenen Ansätze den Bedarfsträger*innen zugänglich zu machen, arbeitet eine Gruppe von Expert*innen in einem Querschnittsprojekt an der Integration der verschiedenen entwickelten Modelle, Simulationen und Systemkomponenten. Auf diese Weise sollen die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in einer oder mehreren gekoppelten (Gesamt-)Simulationen zusammengeführt werden, um dem Anspruch des systemischen Gesamtblickes zu entsprechen. Darüber hinaus wird eine offene Systemarchitektur auch die Anbindung externer (kommerzieller und nicht- Das Fraunhofer-Zentrum für die Sicherheit Sozio- Technischer Systeme (kurz: Fraunhofer SIRIOS) in Berlin macht komplexe Sicherheitsszenarien erleb- und beherrschbar, um die Sicherheit und Resilienz in der Gesellschaft zu erhöhen. Das im Jahr 2022 gegründete Fraunhofer-Zentrum bündelt die Expertise der Fraunhofer-Institute EMI, FOKUS, IOSB und IVI. Die Forschungsschwerpunkte liegen dabei in den Bereichen digitaler Gebäude- und Infrastrukturzwillinge, sicherer Versorgungsnetzte und Infrastrukturen, kollaborativer Mithelfersysteme, virtueller Lagevisualisierung und der Kommunikations- und Handlungseffizienz in Krisensituationen. Die Vision ist es, für seine PartnerInnen und BedarfsträgerInnen in der öffentlichen Sicherheit eine in Europa einzigartige Forschungs-, Test- und Trainingsumgebung für gekoppelte Simulationen komplexer Sicherheitsszenarien aufzubauen. Fraunhofer SIRIOS verfügt über eine fünfjährige Anschubfinanzierung durch den Bund und das Land Berlin. FRAUNHOFER SIRIOS 55 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen kommerzieller) Systeme ermöglichen, um perspektivisch gemeinsam mit den Anbieter*innen technischer Systeme vorhandene Schwachstellen und technisch-organisatorische Synergien zu erkennen, und zwar schon bevor die Simulationen für echte Schulungen und Trainings durchgeführt werden. Szenario-orientierte Simulation muss als technologieoffene und ressortübergreifende Methodik für alle beteiligten Stakeholder gesehen werden. Die Forschungsarbeiten werden daher fest in einem Anwendungs-Netzwerk mit Partner*innen aus Behörden, Industrie, Forschung, Politik und Gesellschaft verankert, so dass der systematische Austausch mit allen direkt und indirekt betroffenen gesellschaftlichen Gruppen von Anfang an sichergestellt ist. Im Rahmen dieses Netzwerkes sollen erste Teillösungen und Komponenten bereits Ende dieses Jahres in einem sozio-technischen Transfer- Lab am Standort Berlin implementiert und getestet werden. Diese Demonstrationsumgebung hilft dabei, Bedarfe zu erfassen und in die Forschung einzubringen, damit die Technologieentwicklung nicht als „Selbstzweck im Elfenbeinturm“ endet. Denn ganz im Gegenteil muss Systementwicklung und anwendungsorientierte Forschung immer in einem Kontext aus rechtlichen Rahmenbedingungen, Arbeitsweisen von Behörden und Organisationen, Geschäftsmodellen von Technologieunternehmen und natürlich auch im Kontext von anderen schon im Einsatz befindlichen Lösungen stattfinden. Desweiteren sorgt das Transfer-Lab auch für Transparenz und hilft die Akzeptanz neuer Technologien in der Bevölkerung frühzeitig zu adressieren. Nur gemeinsam mit allen Partner*innen können nachhaltige und anwendungsorientierte Systeme entstehen und sich bewähren. Erfahrungen von und mit KRITIS Um den Austausch von Perspektiven, Bedarfen und technischen Möglichkeiten dreht es sich auch bei den Fachworkshops, die Fraunhofer SIRIOS regelmäßig mit Praktikern, Behörden und Wissenschaftler*innen durchführt, zuletzt Ende Januar mit rund 20 Teilnehmer*innen unter anderem aus den Bereichen Elektrizität und Stromnetze, Wasserversorgung, Mobilität, Telekommunikation, Rettungswesen bzw. Krankenhaus sowie pharmazeutische Industrie. Neben der fachlichen Vernetzung zwischen Forschung und Anwender*innen hinaus entstand dabei auch ein produktiver Austausch zwischen den verschiedenen KRITIS-Domänen selbst und es konnten übergreifende Problemlagen und Fragestellungen aufgezeigt werden, mit denen die Sicherheitsverantwortlichen umzugehen haben. So wurde zum Beispiel das Thema Kommunikation - sowohl in technischer, organisatorischer als auch personeller Hinsicht - als ein zentrales Thema diskutiert. Störung oder gar Ausfall der Kommunikationsinfrastrukturen treffen alle Domänen hart. Dabei reicht das Thema über die jeweils einzelne Organisation hinaus und betrifft auch das Zusammenspiel der Domänen. Nach dem Motto: In Krisen Köpfe kennen, wurde der Wert eines übergreifenden Austauschs und die Möglichkeit, Synergieeffekte zwischen den KRITIS-Anwender*innen zu finden, von vielen Teilnehmer*innen des Workshops für besonders wichtig erachtet. Auf technischer Ebene besteht vor allem der Wunsch nach Interaktion: So gebe es schon vielfach ausgereifte Simulationen in Infrastrukturbetrieben, doch seien zum einen die Werkzeuge oftmals nicht kompatibel und zum anderen stünden dem Datenaustausch rechtlich, organisatorisch und betriebswirtschaftlich große Hürden im Wege. Die Folge: Gerade die so wichtige Betrachtung von übergreifenden Kaskaden bleibe vielfach auf der Strecke und die Frage, wie alle Beteiligten für das Krisenmanagement zu einem gleichen Verständnis kommen, oftmals unbeantwortet. Da die Vernetzung auf der persönlichen Ebene vielfach der organisatorischen, fachlichen und technischen Zusammenarbeit vorweggeht, will Fraunhofer SIRIOS als neutrale und anbieterunabhängige Plattform auch diesen Weg des persönlichen Austauschs in Zukunft weiterverfolgen und allen Netzwerk- PartnerInnen den Rahmen für weitere Gespräche und Brainstorming anbieten. Niklas Reinhardt Leiter Kommunikation und Netzwerk Fraunhofer-Zentrum für die Sicherheit Sozio-Technischer Systeme (Fraunhofer SIRIOS) Kontakt: niklas.reinhardt@sirios.fraunhofer.de AUTOR 56 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Hochwasser und die Modellierung Kritischer Infrastrukturnetzwerke Chancen und Herausforderungen für Hochwasserschutzmaßnahmen im Bereich der KRITIS-Versorgung Kritische Infrastruktur, Hochwasser, Hochwasserrisiko, Kaskadeneffekte, Netzwerkanalyse, modellbasiert Roman Schotten, Daniel Bachmann Hochwasser (HW) haben neben Konsequenzen für Mensch und Gesundheit und ökonomischen Folgen auch erheblichen Einfluss auf die kritische Infrastruktur (KRITIS) und deren Dienstleistungen. KRITIS ist in engmaschigen Netzen organisiert, in denen einzelne Ausfälle zu Kaskadeneffekten oft mit weitreichenden Folgen führen. KRITIS-Netzwerk-Modellierungen helfen dabei, Ausfälle, ausgelöst durch HW, zu überblicken, zu quantifizieren und Maßnahmen zu planen. Datenverfügbarkeit und limitierte intersektorielle Zusammenarbeit sind wesentliche Voraussetzungen dafür, KRITIS-Netzwerke zu modellieren und die Vorteile greifbar zu machen. In unserer modernen Welt sind wir es gewohnt, dass beispielsweise Strom oder Wasser fast immer und überall vorhanden sind und Telekommunikation jederzeit möglich ist. Dafür sorgen die Kritischen Infrastrukturen (KRITIS), die die Lebensadern unserer modernen Gesellschaft bilden. In normalen Zeiten © Markus Distelrath auf Pixabay funktionieren kritische Infrastrukturen in Deutschland sehr zuverlässig; Krisenzeiten und Extremereignisse hingegen decken Schwächen im System auf. Hochwasserereignisse aus der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass die Versorgung durch kritische Infrastruktur und und deren Bereitstellung 57 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Versorgungsausfall die Funktionsfähigkeit anderer Sektoren ein oder verhindert diese vollständig. Ein Beispiel zeigt Bild 1, wenn ein Stromausfall zur Disruption von Telekommunikationsanlagen führt, was beides wiederum zur Funktionsunfähigkeit von Wasseraufbereitungsanlagen führt. In einem solchen Fall ist die Zivilbevölkerung gleich mehrfach betroffen. Das Beispiel zeigt auch, wie die Disruption eines anliegenden Telekommunikationsmasts durch eine redundante Verbindung mit einem weiteren höher liegenden Umspannwerk vermieden werden könnte. Während des Hochwassers in Magdeburg im Jahr 2013 wurde für das Umspannwerk in Rothensee ein solcher Kaskadeneffekt befürchtet. Unter enormen Anstrengungen wurde das Umspannwerk mit Sandsäcken vor eindringendem Wasser geschützt. Denn das Umspannwerk war unter anderem verantwortlich für die Energieversorgung von Hochwasserentlastungspumpen, die das Wasser aus der Innenstadt fernhielten. Ein Ausfall der Stromversorgung hätte so zu erheblichen Folgen für die Innenstadt geführt. Modellierung von KRITIS -Netzwerken Eine Herausforderung, der sich die Forschungsarbeit im Bereich Hochwasser und KRITIS derzeit stellt, ist die Identifizierung und Abbildung solcher potenzieller Kaskadeneffekte für verknüpfte KRITIS- Sektoren. Um die komplexen Interaktionen der KRI- TIS-Elemente und ihre Kaskaden zu quantifizieren, werden Ansätze entwickelt, die aus einer Kombination von numerischer Modellierung des Hochwassers und und einem KRITIS-Netzwerkmodell bestehen. Mit Hilfe von Informationen und Daten werden KRI- TIS-Versorgungspunkte, Verbindungen und dazugehörige Versorgungsflächen in einem schematischen Netzwerkmodell zusammengesetzt. Modelle sind ein vereinfachtes Abbild der Natur mit dem Vorteil, dass unterschiedliche Randbedingungen oder Maßnahmen leicht getestet, analysiert und bewertet Bild 1: Ausschnitt eines fiktiven Versorgungsnetzwerks zur Versorgung einer dörflichen und städtischen Siedlung. Ein am Fluss gelegenes Umspannwerk (rot umkreist) gibt einen Ausfall durch Hochwasser an weitere Elemente anderer Sektoren weiter. Funktionsfähige Elemente sind grün umrandet. © Schotten von zentraler Wichtigkeit ist. Ein Beispiel sind die Schwierigkeiten bei der Versorgung durch KRITIS im Ahrtal nach den Hochwasserereignissen 2021. Über Wochen und Monate gab es Ausfälle und auch Ende 2022 ist eine komplette Wiederherstellung noch nicht erreicht. Die Effekte zu Auswirkungen des Hochwassers auf kritische Infrastrukturelemente sorgten für den Ausfall von Transportwegen, Telekommunikation, Strom-, Wasser- und Energieversorgung. Diese Ausfälle sind dabei nicht gleichmäßig an einem Ort zu finden, sondern können sich entsprechend der Versorgungsnetzgestaltung unterschiedlich und für jedes Gebiet individuell verteilen. Daraus ergeben sich Herausforderungen für die Planung von Versorgungsnetzen, aber auch für die akute Krisenbewältigung in hochwassergefährdeten Lagen. In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich aufgrund der EU-Hochwasserrahmenrichtlinie ein strukturiertes Vorgehen für ein Hochwasserrisikomanagement in Europa etabliert: Hochwassergefahrenkarten, Hochwasserrisikokarten und Hochwasserrisikomanagementpläne sind seitdem gesetzlich vorgeschrieben und werden entsprechend entwickelt und aktualisiert. So werden technische Maßnahmen wie Deiche oder Talsperren, die Stärkung des natürlichen Wasserrückhalts und Hochwasservorsorgemaßnahmen unterstützt. Kritische Infrastrukturen bilden dabei jedoch noch eine untergeordnete Rolle. Liegen beispielsweise Einrichtungen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder kritische Versorgungsinfrastrukturen im Überflutungsgebiet? In der Wissenschaft werden daher Ansätze gefordert und entwickelt, um die systemische Versorgungsleistung von KRITIS im Rahmen von Hochwasserrisikoanalysen, aber auch anderen Gefährdungsereignissen besser beurteilen zu können [1, 2]. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe unterscheidet die KRITIS-Sektoren in Energie, Ernährung, Finanz- und Versicherungswesen, Gesundheit, Informationstechnik und Telekommunikation, Medien und Kultur, Siedlungsabfallentsorgung, Staat und Verwaltung, Transport und Verkehr sowie Wasser. Die Funktionsfähigkeit der kritischen Infrastrukturen ist in diesem System von KRITIS-Sektoren mit einer Reihe von Abhängigkeiten organisiert, die ein Netzwerk bilden. Einen Einblick in die Verflechtung und Vielfalt dieser Netzwerke erhält man schon bei einem Blick auf die Versorgungsleitungen unter der Straßenoberfläche (Bild 1). Die Abhängigkeiten dieser Sektoren untereinander können im Falle einer Disruption, wie zum Beispiel durch Hochwasser, für eine kaskadenartige Folge von Ausfällen sorgen. Dann schränkt der 58 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen werden können. Eine Modellierung bietet sich also auch bei KRITIS-Netzwerken an. Für die modellbasierte Darstellung eines KRITIS-Netzwerkes muss zunächst der Detaillierungsgrad des Netzwerkes im Modell passend zur Fragestellung festgelegt werden. Das Stromversorgungsnetz muss nicht zwangsläufig bis zum Haushaltsanschluss abgebildet sein, sondern auch eine Darstellung auf Ebene der Umspannwerke kann von hinreichender Genauigkeit sein. Um ein Netzwerk abzubilden, sind neben der Lage und Funktionsweise der Netzwerkversorgung weitere Kennzahlen und Prozessinformationen wichtig: Welche Redundanz haben einzelne Elemente? Wie viele Verbraucher sind an Strukturen angeschlossen? Wie lang dauert es, eine beschädigte Struktur instand zu setzen? Ab welchem Wasserstand ist eine Funktion nicht mehr oder nur eingeschränkt möglich? Die Beantwortung dieser Fragen benötigt partizipative Ansätze mit Vertretern aller KRITIS-Sektoren und Behörden, um ein umfassendes und multi-sektorielles Netzwerkmodell erstellen zu können. Neben den verschiedenen Anlaufstellen für die individuellen Sektoren besteht eine weitere Herausforderung in der Daten- und Informationsbeschaffung. KRITIS-Daten und Informationen sind aus datenschutzrechtlicher Sicht nicht verfügbar oder nur schwer von KRITIS-Betreibern zu bekommen. Gründe dafür sind die Sensibilität von Nutzerdaten, das Gefahrenpotenzial solcher Daten in den falschen Händen, aber auch die Bewahrung von Betriebsgeheimnissen der KRITIS-Betreiber. Es gilt jedoch: Je besser die Datenlage, umso höher die Chance, ein qualitativ hochwertiges und aussagekräftiges Modell erstellen zu können und die Möglichkeiten, die im Bereich der Netzwerkmodellierung bestehen, zu heben und zu validieren. Für die Zukunft ist zu empfehlen, dass sich Behörden für organisierte Zusammenarbeit verschiedener KRITIS-Betreiber vor dem Hintergrund von Extremwetterereignissen und der Datenverfügbarkeit engagieren. Für vergangene Katastrophenfälle sollten in klar abgesteckten Zeiträumen und Gebieten Datensätze zusammengetragen werden, die verschiedene Sektoren und ihre Ausfälle parallel darstellen. Des Weiteren wird der verstärkte Datenaustausch zwischen KRITIS-Betreibern und Ersteinsatzkräften im Katastrophenfall mit Berücksichtigung der Nutzeranonymisierung empfohlen. Eingangsdaten und Modellergebnis Der an der Hochschule Magdeburg-Stendal entwickelte Modellierungsansatz ist anhand von Modellen in Accra und der Weißen Volta in Ghana sowie in Teheran, Iran oder auch in Stolberg bei Aachen getestet, plausibilisiert und erweitert worden [2]. Bild-2 zeigt das Untersuchungsgebiet in Accra inklusive der KRITIS-Elemente verschiedener Sektoren und ihrer zugehörigen Verbindungen. Als Eingangsdaten für eine erste Modellversion sind Daten aus der OpenStreetMap Datenbank verwendet worden. Diese Modellversion wurde in bilateralen Gesprächen mit lokalen Experten aller KRITIS-Sektoren weiterentwickelt. In einem finalen Iterationsschritt der Modellerstellung wurden Vertreter aller berücksichtigten Sektoren gemeinsam eingeladen, um die letzten Detailinformationen hinzuzufügen und das bisherige Modellgerüst zu validieren. Das Modell wird genutzt, um den aktuellen Ist-Zustand für das Hochwasserrisiko der KRITIS-Elemente anhand der Personenzahl multipliziert mit der Dauer der Ausfälle von KRITIS in Accra zu identifizieren. Damit kann auf besonders gefährdete Elemente hingewiesen werden, die ein hohes Potenzial haben, Kaskadeneffekte auszulösen. Bild 2 zeigt einen Ausschnitt aus dem Untersuchungsgebiet in Accra und die Verteilung von Telekommunikationsmasten sowie die stromversorgenden Umspannwerke. Rot überlagerte Icons deuten auf ausgefallene Infrastrukturelemente hin. Die schraffierten Polygone zeigen dann die Bereiche des Telekommunikationssektors an, die durch ein Hochwasserszenario abgeschnitten sind. Dieses Beispiel zeigt, wie sich die Einwirkung von Hochwasser direkt auf ein Umspannwerk und indirekt auf die Telekommunikationsversorgung auswirkt, also von einem in den nächsten Sektor kaskadiert. Diese Dynamik ist in dem Modell für weitere voneinander abhängige Sektoren zu beobachten. Neue Hochwasserschutzmaßnahmenmöglich durch berücksichtigung der KRITIS Netzwerke Nach der Beschreibung des Ist-Zustandes können im Modell verschiedene Anpassungsmaßnahmen getestet werden. Grundsätzlich bietet sich ein Bild 2: Übersicht des KRITIS-Netzwerkmodells nach Sektoren aufgeschlüsselt für das Untersuchungsgebiet Accra, Ghana. © Roman Schotten Hintergrund: ESRI Satellite (ArcGIS - World_Imagery), Input Daten: Roman Schotten & map data copyrighted OpenStreetMap contributors and available from https: / / www.openstreetmap.org 59 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen breites Spektrum an, um das Hochwasserrisiko zu verändern und die möglichen Konsequenzen für KRITIS-Nutzer gering zu halten. Zum einen können die bereits erwähnten „klassischen“ Hochwasserschutzmaßnahmen geprüft werden; zum anderen wird eine Analyse von neuen Maßnahmentypen, die das KRITIS-Versorgungsnetz stärken, möglich. Beispiele sind mehr redundante Verbindungen im Netz, Schutz oder Verlegung von betroffenen Elementen oder die Anschaffung von Notfallstrukturen wie Generatoren. Damit wird wird ein neuer Typ von Maßnahmen dem aktiven Hochwasserrisikomanagement hinzugefügt. Auch klimatische Veränderungen können durch solche Modelle evaluiert werden. Eine Veränderung durch den Klimawandel kann über Faktoren für die Niederschlagsmengen und damit schließlich auf die Hochwasserabflüsse berücksichtigt werden. Zum einen erlaubt dies eine Aussage über die Hochwasserkonsequenzen in verschiedenen möglichen Klimawandelszenarien, zum anderen die Prüfung der Wirksamkeit von Maßnahmen in einem vom Klimawandel betroffenen Untersuchungsgebiet. Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass KRITIS- Netzwerk-Modellierungen großes Potenzial haben, die Infrastruktur auf Hochwasser vorzubereiten, den möglichen Handlungsspielraum durch weitere Maßnahmen zu vergrößern und mit den KRITIS- Betreibern weitere Akteure in das Thema Hochwasserrisikomanagement einzubeziehen. KRITIS- Netzwerkmodelle berücksichtigen nicht nur die individuelle Versorgungsleistung eines Elements, sondern ziehen die Funktion und Auswirkung auf weitere Sektoren mit in Betracht. Im Zuge eines sich verändernden Klimas und der steigenden Anzahl prognostizierter Extremwetterereignisse ist dies eine lohnende Perspektive, die uns umgebende Infrastruktur systemischer wahrzunehmen. Zudem hat die Zusammenarbeit individueller KRITIS-Sektoren vor dem Hintergrund des Hochwasserrisikomanagements auch einen Mehrwert für andere Krisenereignisse, die unsere Versorgungssysteme unter Stress setzen. Beispiele solcher Krisen sind andere Arten von Naturkatastrophen, Pandemien, physische oder Cyber-Angriffe. Diese Forschungsarbeit wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Zuge des Forschungsprojekts PARADeS („Participatory assessment of flood disaster prevention and development of an adapted coping system in Ghana“) gefördert. LITERATUR [1] Kuhlicke, C., Albert, C., Bachmann, D., Birkmann, J., Borchardt, D., Fekete, A., Greiving, S., Hartmann, T., Hansjürgens, B., Jüpner, R., Kabisch, S., Krellenberg, K., Merz, B., Müller, R., Rink, D., Rinke, K., Schüttrumpf, H., Schwarze, R., Teutsch, G. et al.: Fünf Prinzipien für klimasichere Kommunen und Städte, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, 2021. [2] Schotten, R., Bachmann, D.: Critical Infrastructure Network Modelling for Flood Risk Analysis: Approach and Proof of Concept in Accra, Ghana, Journal of Flood Risk Management (in Revision), vol. TBA, 2023. [3] Bachmann, D.: ProMaIDes - Knowledge Base, 2022. https: / / promaides.myjetbrains.com (Letzter Zugriff: 7.1.2023). Dipl.-Ing. Roman Schotten Wissenschaftlicher Mitarbeiter Arbeitsgruppe Hochwasserrisikomanagement Hochschule Magdeburg-Stendal Kontakt: roman.schotten@h2.de Prof. Dr.-Ing. Daniel Bachmann Hochschule Magdeburg-Stendal Kontakt: daniel.bachmann@h2.de AUTOREN Bild 3: Rot markierte Telekommunikationsmasten werden direkt und indirekt von Hochwasser betroffen. Rot markierte und betroffene Umspannwerke leiten Ihren Ausfall ebenfalls an Telekommunikationsmaster weiter und sind mit gelbem Pfeil markiert. Der Ausfall der Telekommunikation in der Fläche wird von den schraffierten Gebieten markiert. © Roman Schotten Hintergrund: ESRI Satellite (ArcGIS - World_Imagery) Input Daten: Roman Schotten & map data copyrighted OpenStreetMap contributors and available from https: / / www.openstreetmap.org 60 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen „Lessons Learned“ aus dem Hochwasser 2021 Die Überschwemmungen im Ahrtal im Sommer 2021 brachten eine Reihe von Herausforderungen für den deutschen Katastrophenschutz zum Vorschein. Vor allem im Bereich der Koordination der Stäbe mit der Zivilbevölkerung, den Einsatzkräften und den politisch Verantwortlichen zeigten sich Defizite. Der Beitrag benennt die Defizite und illustriert die Bedeutung einer gut funktionierenden Koordination und eines organisierten Schnittstellenmanagements zwischen diesen Beteiligten. Dabei liegt der Fokus auf der Koordinierung der Krisenstäbe mit den drei Akteuren Zivilgesellschaft, Einsatzkräfte und politisch Verantwortliche. Gemeinsam sorgen diese Schlüsselakteure des Katastrophenmanagements für die Bewältigung eines Ereignisses. Im Rahmen einer Defizitanalyse, die auf der Grundlage verschiedener (Zwischen-)Berichte und Experteninterviews durchgeführt wurde, werden zuerst zentrale Koordinationsprobleme identifiziert. Krisenmanagement im Ahrtal 2021 Katastrophenschutz, Krisenmanagement, Zivilbevölkerung, Spontanhelfer, Stabsarbeit Eva Katharina Platzer, Michèle Knodt Die Überschwemmungen im Ahrtal im Sommer 2021 zeigten die Herausforderungen für den Katastrophenschutz bei der Koordination der Stäbe mit der Zivilbevölkerung, den Einsatzkräften und den politisch Verantwortlichen als zentrale Akteure für die Bewältigung eines Ereignisses. Der Beitrag zeigt die Notwendigkeit einer funktionierenden Koordination zwischen diesen Beteiligten. Auf Grundlage von Berichten und Experteninterviews werden Koordinationsprobleme identifiziert und Optionen formuliert: Verbesserte Koordination zwischen Stäben und Zivilgesellschaft sowie zwischen Stäben und Einsatzkräften und die Befähigung politisch Verantwortlicher zur Gesamtkoordination. © fesikreporter auf Pixabay 61 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Basierend auf dieser Analyse werden drei Empfehlungen formuliert, die bei der Umstrukturierung und Neuausrichtung des Katastrophenschutzes berücksichtigt werden sollten: (1) Etablierung eines klaren Schnittstellenmanagements zwischen Stäben und Zivilgesellschaft, (2) verbesserte Koordination der Stäbe mit den Einsatzkräften und (3) die Befähigung politisch Verantwortlicher zur Gesamtkoordination. Koordination im Katastrophenfall Bei einem Ereignis wie einem Starkregen übernehmen die Krisenstäbe auf der Grundlage der Feuerwehr-Dienstvorschrift FwDV 100 die Führung bei der Bewältigung der Lage. [1] Sie veranlassen notwendige operative und administrative Maßnahmen. In Abhängigkeit von der Phase der Krise stößt dieses staatliche Krisenmanagement auf unterschiedliche Herausforderungen. Gerade in den ersten beiden von insgesamt vier Phasen einer Krise, der Reaktions- und der Bewältigungsphase, zeigen sich Defizite in der Koordination. In der Präventions- und Härtungsphase gilt es einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess zur Vorbereitung (Preparedness) auf zukünftige Ereignisse anzustoßen. [2] In Deutschland wurde in solchen Prozessen bereits auf das Problem effektiver Koordination im Katastrophenschutz aufmerksam gemacht. Grundlegende Strukturen der Koordination im Katastrophenschutz haben sich in den letzten Jahrzehnten jedoch nur marginal verändert. [3] Zwischen den am Krisenmanagement beteiligten Akteuren finden sich multiple Schnittstellen, an denen Koordination notwendig ist (Bild 1). Die Stäbe müssen die Arbeit der Einsatzkräfte und der Zivilbevölkerung koordinieren und sich eng mit den politischen Verantwortlichen abstimmen. Das Starkregenereignis im Juli 2021 im Ahrtal veranschaulicht dies. In der Anfangszeit lag die Verantwortung für den Katastrophenschutz beim Landkreis Ahrweiler. Örtliche Einsatzkräfte der Feuerwehren, der Hilfsorganisationen (HiOrg) und des Technischen Hilfswerks (THW) rückten an. Ergänzend unterstützten spontan Helfer*innen die betroffene Bevölkerung. Die Stäbe des Landkreises sollten die Maßnahmen koordinieren und versuchten, sich mit der politischen Führung abzustimmen. Die Leitung des Einsatzes wurde in den folgenden Tagen durch die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD) auf Wunsch des Landkreises übernommen. Die von der ADD eingerichteten Stäbe nahmen ihre Arbeit auf und mussten sich ebenfalls mit den politischen Verantwortlichen sowie den Einsatzkräften koordinieren. Diese Koordinationsprozesse waren entscheidend für den operativen Ablauf der Gefahrenabwehrmaßnahmen. Defizitanalyse der Koordination im Katastrophenschutz Durch die Analyse der Ereignisse im Juli 2021 lassen sich vielfältige Defizite in der Koordination des Katastrophenschutzes ausmachen. Diese zeigen sich in allen oben dargestellten Koordinationsdimensionen und traten nicht zum ersten Mal auf. [4] Die folgende Defizitanalyse der Reaktions- und Bewältigungsphase beim Juli-Hochwasser widmet sich dem Schnittstellenmanagement zwischen Stäben und Zivilgesellschaft, der Koordination der Stäbe mit den Einsatzkräften sowie der Befähigung der politisch Verantwortlichen. In allen drei Bereichen werden mögliche Verbesserungen aufgezeigt sowie Anpassungsoptionen gegeben. Schnittstellenmanagement zwischen Stäben und Zivilgesellschaft In Katastrophen spielt die Zivilgesellschaft eine immer wichtigere Rolle, insbesondere in Form der spontanen Helfer*innen. Unmittelbar nach dem Starkregenereignis 2021 reisten spontan Freiwillige ins Ahrtal. Sie koordinierten sich über soziale Medien (zum Beispiel: Homepage „AHRhelp“), über Netzwerke oder vor Ort. Dazu schufen sie eine Infrastruktur, die Einsatzpläne, Ausrüstungsmanagement und einen Shuttle-Service umfasste. Während der Reaktions- und Bewältigungsphase verlief die Koordination zwischen Stäben und der Zivilgesellschaft suboptimal. Obgleich es im Katastrophenschutz an Personal mangelte, wurden die Ressourcen der spontanen Helfer*innen kaum effektiv genutzt. So wurden zwischen Stäben und Helfer*innen Informationen nicht regelmäßig und nicht in ausreichendem Maß ausgetauscht. Die Helfer*innen entwickelten eigene Lagebilder, leiteten Prioritäten ab und arbeiteten diese unabhängig von den Stäben ab. Im Verlauf des Einsatzes bildeten sie im Ahrtal stabsähnliche Strukturen, um sich mit den staatlichen Stabsstrukturen zu koordinieren. [5] Doch die Stäbe richteten keine zuverlässige Schnittstelle ein und nutzten die Verbindung zum Helferstab tagelang kaum. Die Verwaltung und der Katastrophenschutz Bild 1: Zwischen den am Krisenmanagement beteiligten Akteuren gibt es multiple Schnittstellen, an denen Koordination notwendig ist. © Platzer, Knodt Politisch verantwortliche Zivilgesellschaft/ Spontanhelfende Einsatzkräfte Einsatzleitungen Stäbe 62 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen initiierten erst nach fast einer Woche feste Schnittstellen für gemeinsame Prozesse bei Situationen wie Leichenfunden oder Schuttbeseitigungen (Interview am 05.08.2021). Die freiwilligen Helfer*innen übernahmen in der Zwischenzeit eigenverantwortlich zentrale Aufgaben bei der Beseitigung von Gefahrenstellen im Einsatzgebiet, während die Einsatzkräfte des Katastrophenschutzes an anderen Orten gebunden waren. Die Kommunikation im Ahrtal 2021 ist symptomatisch für die unzureichende Koordination mit spontanen Helfer*innen im bestehenden Krisenmanagementsystem. Es fehlte an ständigen Ansprechpartnern im Stab zum Austausch von Informationen. Die Krisenkommunikation von Behörden mit Helfer*innen erfolgte dagegen fast ausschließlich einseitig. Tritt eine Krise ein, werden vor allem Gefahrenmeldungen kommuniziert. Die Zivilgesellschaft wird somit bisher lediglich als Adressat für Warn- und Suchhinweise nicht aber als Teil des Krisenmanagements wahrgenommen.[6] In Zukunft muss dieses Defizit durch ein optimiertes Schnittstellenmanagement behoben werden. Die Koordination zwischen den freiwilligen Helfer*innen und dem Katastrophenschutz muss überprüft werden, um eine zeitnahe Einbindung zu gewährleisten. Die Zivilgesellschaft leistet einen wichtigen Beitrag zur Krisenbewältigung. Vor allem spontane Helfer*innen agieren oft schneller und unkomplizierter als institutionalisierte Organisationen. Als solche sind sie eine Ressource, die es zu nutzen gilt. Als Schnittstelle zwischen den Stäben und der Zivilgesellschaft in der Reaktions- und Bewältigungsphase kann ein Single Point of Contact eine Lösung sein. Dies setzt voraus, dass Spontanhelfer*innen oder Vertreter*innen in gemeinsame Lagebesprechungen einbezogen werden und ein Austausch von Lageberichten mit den Stäben ermöglicht wird. Spontanhelfer*innen könnten so durch die Stäbe gezielter eingesetzt werden. Koordination der Stäbe mit den Einsatzkräften Für eine effiziente Bewältigung einer Katastrophe ist eine funktionierende Kommunikation zwischen den Stäben und den Einsatzkräften vor Ort unumgänglich. Bei einem Ausfall dieser Schnittstelle ist es schwierig, die Kräfte gezielt einzusetzen. Im Juli 2021 sah sich das Krisenmanagement mit einem großflächigen und andauernden Ausfall der Telekommunikationsinfrastruktur konfrontiert. Die Zerstörung von Masten machte beispielsweise den Einsatz des Digitalfunks zeitweise unmöglich und verhinderte die Kommunikation über vorgesehene Meldewege. Die Verbindung zu den Einsatzkräften war infolgedessen gestört. Organisationsprobleme zwischen Stab und Einsatzkräften waren die Folge. Die temporäre Unterbrechung der Infrastruktur führte zur Bildung von alternativen Kommunikationsstrukturen. Über persönliche Kontakte wurden bekannte Einsatzkräfte involviert (Interview am 05.08.2021). Damit wurden die etablierten hierarchischen Meldewege im Krisenmanagement überlagert. Die Benachrichtigung der Einsatzleitung darüber fehlte teilweise. Eine Folge: Aufträge wurden doppelt oder gar nicht ausgeführt. Verschärft wurde das Problem durch das Fehlen eines Gesamtüberblicks über die verfügbaren Kräfte (Interview am 20.07.2021). Eine wirksame Einsatzplanung durch die Stäbe wurde erschwert - so verbrachten die Kräfte nicht selten mehr Zeit im Bereitstellungsraum als im Einsatz. Beispielsweise standen Einsatzkräfte aus Schleswig- Holstein - obwohl dringend benötigt - mehrere Tage in Bereitschaft außerhalb des Einsatzgebietes, ohne zum Einsatz zu kommen.[7] In Großschadenslagen bedarf es anderer Führungsstrukturen als bei örtlichen und zeitlich begrenzten Einsätzen. Man spricht hier von „rückwärtiger Führung“. Das bedeutet, dass die einsatztaktischen Entscheidungen nicht vor Ort getroffen werden, sondern zentral durch einen Stab. Die zentralisierte Struktur ist notwendig, da der Stab einen Überblick über die Gesamtlage und mögliche Abhängigkeiten haben sollte. Die Kommunikations- und Informationswege werden dadurch länger und Entscheidungen werden verlagert. Für Einsatzkräfte können Entscheidungen damit jedoch langwieriger und intransparenter erscheinen. Gerade die rückwärtige Führung durch Stabsstrukturen war für viele Einsatzkräfte im Ahrtal neu, denn ein Katastropheneinsatz dieses Ausmaßes ist für sie vergleichsweise selten. Teilweise fehlte das Bewusstsein für diese Art der Führung, ebenso wie das Vertrauen in die Zusammenarbeit mit den Stäben. Daher ist eine bessere und intensivere Vorbereitung der Einsatzkräfte auf den Katastropheneinsatz erforderlich. Wissensvermittlung zu den Besonderheiten der Einsatzführung durch die Stäbe bei Großschadensereignissen ist notwendig. Die Vorbereitung sollte bereits bei der Ausbildung der Einsatzkräfte durch die örtlichen (freiwilligen) Feuerwehren und die Ortsgruppen der HiOrgs geplant und durchgeführt werden. Die Befähigung politisch Verantwortlicher Das Starkregenereignis hatte landesweite Auswirkungen. Zwar liegt die politische Verantwortung für das Krisenmanagement primär auf der Kreisebene, jedoch wurde die Entscheidungskompetenz 63 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen in den ersten Tagen kaum ausgeübt. Das Verhalten des Landrats und die Verantwortungsübertragung an den Brand- und Katastrophenschutzinspekteur standen dabei im Zentrum der öffentlichen Diskussion. [8] Notwendige Entscheidungen von großer Tragweite (wie Evakuierungen oder die Ausrufung des Katastrophenfalls) wurden nicht oder nur verspätet getroffen. Unklar ist, welche Zuständigkeiten und Entscheidungsbefugnisse bei der Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz und ihren zuständigen Minister*innen lag und ob hier eigentlich ein Krisenstab hätte gegründet werden müssen. [9] 1 Politisch Verantwortliche haben für die Gesamtkoordination zu sorgen, Maßnahmen einzuleiten und wichtige Entscheidungen zu treffen. [10] Die Stäbe arbeiten dann diese Entscheidungen und Maßnahmen ab. Die Hochwasserkatastrophe hat gezeigt, dass es an Bewusstsein und an Akzeptanz für diese Verantwortung fehlte. Verursacht wird dies unter anderem dadurch, dass die Teilnahme an Übungen und Schulungen zum Katastrophenschutz und Krisenmanagement für die politisch Verantwortlichen nicht verpflichtend ist. Daher mangelt es an Kenntnissen über die Arbeitsmethoden und Strukturen in Katastrophen- und Großschadenslagen. Um diese Situation zu verbessern, sollten politische Führungskräfte verpflichtend in die Ausbildung im Katastrophenschutz einbezogen werden. Ohne die aktive Teilnahme an Übungen und Ausbildungsmaßnahmen kann bei den politischen Entscheidungsträgern kein Bewusstsein über die Komplexität der Situation und ihre eigene Verantwortung erzeugt werden. Schlussbemerkung Aktuell wird verstärkt über das Verbesserungspotenzial des deutschen Bevölkerungs- und Katastrophenschutzes diskutiert. Dieser Artikel soll dazu einen Beitrag im Bereich der koordinierten Zusammenarbeit im deutschen Bevölkerungs- und Katastrophenschutz leisten. Die Lessons Learned aus dem Starkregenereignis zeigen, dass eine Stärkung der Koordination aller Akteure für die Bewältigung von Katastrophen überaus relevant ist. Eine verbessertes Schnittstellenmanagement, mehr Schulung und Ausbildung sowie eine tiefergreifende Integration der Zivilgesellschaft würde den Katastrophenschutz verbessen und die „Preparedness“ auf zukünftige Katastrophen und Krisen erhöhen. 1 In diesem Beitrag wird das Augenmerk allerdings auf strukturelle Defizite in der Rolle der politischen Verantwortlichen und nicht auf die persönliche Leistung gelegt. LITERATUR [1] Pfohl, T. N.: Katastrophenmanagement in Deutschland. Eine Governance-Analyse. Berlin: Lit.: 83, 2014- [2] Hollick, M., Hofmeister, A., Engels, J. I., Freisleben, B., Hornung, G., Klein, A., Knodt, M., Lorenz, I., Mühlhäuser, M., Pelz, P., Rudolph-Cleff, A., Steinmetz, R., Steinke, F., v. Stryk, O,: EmergencCITY: A Paradigm Shift towards Resilient Digital Cities. World Congress on Resilience, Reliability and Asset Management: (2019) S. 136 - 39. https: / / www.sim.informatik.tu-darmstadt.de/ publ/ download/ 2019_emergenCITY_WCRRAM.pdf, abgerufen am 15.12.2022 [3] Lamers, C.: Stabsarbeit im Bevölkerungsschutz. Historie, Analyse und Vorschläge zur Optimierung. Edewecht: S+K Verlagsgesellschaft, 2021. [4] Knodt, M., Platzer, E.: Lessons Learned: Koordination im Katastrophenmanagement. Policy Paper. Darmstadt, 2023. [5] Helfer-Stab Ahrtal: Wir über uns. URL: https: / / helferstab.de/ ueber-uns/ , abgerufen am: 15.12.2022. [6] FwDV 100: Feuerwehr-Dienstvorschrift 100 - Führung und Leitung im Einsatz. Arbeitskreis V der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder: 53, 1999. [7] Report Mainz (3.0.2021): https: / / www.ardmediathek. de/ video/ repor t-mainz / repor t-mainz-vom-3 -august-2021/ das-erste/ Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzE1MDc2MTI, abgerufen am: 15.12.2021 [8] Maskan, O.: Hat die Landesregierung von Rheinland- Pfalz beim Hochwasser versagt? Neue Züricher Zeitung, 2021. https: / / www.nzz.ch/ international/ hat-die-landesregierung-von-rheinland-pfalz-beimhochwasser-versagt-ld.1645741, abgerufen am: 15.12.2022 [9] Rodenkirch, D.: Dreyer vertraut in Flutnacht auf Katastrophenschutz in RLP, 2022. https: / / www.swr.de/ swraktuell/ rheinland-pfalz/ dreyer-und-lewentz-alszeugen-im-untersuchungsausschuss-flutkatastrophe-100.html, abgerufen am: 15.12.2022. [10] Pfohl, T. N.: Katastrophenmanagement in Deutschland. Eine Governance-Analyse, 2014. siehe Fußnote [1] Eva Katharina Platzer, M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin LOEWE-Zentrum emergenCITY TU Darmstadt Kontakt: platzer@kritis.tu-darmstadt.de Prof. Dr. Michèle Knodt Institut für Politikwissenschaft TU Darmstadt Kontakt: knodt@pg.tu-darmstadt.de AUTORINNEN 64 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Vermehrt veranlassen seit September 2022 nicht nur KRITIS-relevante Unternehmen sondern auch Kreis- (Landkreis-) und Stadtverwaltungen Untersuchungen zu deren Durchhaltefähigkeiten (Stichwort „Resilienz“) bei Ausfall oder Versorgungsengpässen. Erste Gutachten liegen bereits vor, die den Verwaltungen notwendige Optimierungsmaßnahmen aufzeigen, die selbst noch kurzbis mittelfristig machbar sind. Verstärkt wird dieser Trend durch das neue „KRITIS-Dachgesetz“ vom 7. Dezember 2022 (BMI), welches auch den Staat und die Verwaltungen immer mehr in den Fokus rückt, als eine existenzielle KRITIS-Sparte, um die gemeinsamen Lebensgrundlagen aufrechtzuerhalten. Gefahrenlage: Kritische Infrastrukturen und Blackouts Eine neue Aufgabe für das Krisenmanagement von Krisen- und Verwaltungsstäben Kritische Infrastrukturen, Versorgungssicherheit, Resilienz, Krisenmanagement Hans-Walter Borries Wie sind Krisen- und Verwaltungsstäbe auf Gefahrenlagen vorbereitet und wie kann deren Prävention optimiert werden? Spätestens seit Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs auf die Ukraine am 24. Februar 2022 mit den auch für uns sichtbaren Auswirkungen eines Gaslieferstopps von Russland im Spätsommer 2022 werden in den Medien fast täglich Themen wie „Fragen zu Blackout- Gefahren“ und zur „Versorgungssicherheit mit Strom und Gas“ ausführlich diskutiert. © Jan auf Pixabay 65 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Zentral stellt sich dabei die Frage, wie das öffentliche Krisenmanagement von Krisen-/ Verwaltungsstäben (und Stäben SAE) ausgelegt ist und wie resilient diese Strukturen sind, wenn unsere kritischen Infrastrukturen bei Versorgungsmängeln, Angriffen im Cyberbereich und im Rahmen von Naturkatastrophenlagen betroffen sind und wie man das Krisenmanagement von Krisen-/ Verwaltungsstäben von Landkreisen/ Kreisen, kreisfreien Städten einschließlich kreisangehöriger Städte/ Gemeinden noch verbessern kann. Gemäß der gültigen Brancheneinteilung „Kritische Infrastrukturen“ vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) und dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) vom Juli 2021 zählen unter die Oberkategorie „Staat (Regierung) und Verwaltung“ neben Justizeinrichtungen und den Notfall-/ Rettungsorganisationen auch die wichtigen Einrichtungen des Katstrophenschutzes - hier die Verwaltungsstäbe („Krisen- oder Katastrophenschutzstäbe“). KRITIS- Definition der Bundesressorts: „Kritische Infrastrukturen (KRITIS) sind Organisationen oder Einrichtungen mit wichtiger Bedeutung für das staatliche Gemeinwesen, bei deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe, erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit oder andere dramatische Folgen eintreten würden.“ Die innere Stärke von Organisationen - hier der Verwaltungen und ihrer zeitlich befristeten Sondereinrichtungen mit Stabsbereichen als Krisen-/ Verwaltungsstäben - bezieht sich auf deren Handlungsfähigkeit auch in längeren Krisensituationen: Bei einer langanhaltenden und flächendeckenden „KRITIS-Lage“ (zum Beispiel: Gasmangel-Lage in der letzten „Notfallstufe“ und bei einem folgenden Stromausfall für große Teile einer Stadt, eines ganzen Stadtgebiets oder auch einer Region), muss eine Organisation in der Lage sein, die vom Gesetzgeber geforderten Anforderungen zu erfüllen und darüber hinaus Einsatzkräfte und BOS-Organisationen im Sinne des Schutzes und der Versorgung der Einwohner zu unterstützen. Ein flächendeckender Ausfall der Gas-/ Strom- und Wasserversorgung stellt die Bevölkerung und die Behörden vor besondere Herausforderungen. Es ist daher besonders wichtig, für ein derartiges Ereignis angemessene Vorkehrungen zu treffen, damit die Vitalfunktionen des Gemeinwesens im erforderlichen Umfang bis zur Wiederherstellung der Versorgungsleistungen aufrechterhalten werden können und die Verwaltungen ihren Aufgaben als wichtige Sicherheits- und Versorgungsorganisationen wieder nachkommen. Da sich selbst bei bester Planung von Vorsorgemaßnahmen neue Schadensszenarien nicht zu 100 Prozent ausschließen lassen, muss im Rahmen eines sorgfältigen Krisenmanagements eine möglichst optimale Vorbeugung im Sinne einer Krisenprävention gefordert werden. Strategisches Handeln richtet sich dabei auf die Vorsorge vor Katastrophen/ Schadenslagen sowie auf die Bewältigung eingetretener Lagen. Letztendlich geht es um ein „gutes“ Krisenmanagement, dass möglichst optimal alle möglichen Schadensereignisse und deren Eintrittswahrscheinlichkeit auflistet, beschreibt und bewertet, um daraus Folgerungen für die anstehenden Phasen der Prävention, der Intervention und auch der Postvention zu gewinnen. „Schlechtes“ Krisenmanagement sollte stets vermieden werden, bedeutet es doch, dass keine, oder nur eine eingeschränkte vorausschauende Vorbereitung (Planung) für den Ernstfall stattfindet, bevor dieser Fall systemrelevant eintritt. Leider zeigt die nachträgliche Analyse zur Bewältigung eingetretener Schadenslagen oftmals das Entscheidungen nicht optimal waren, ja das ein „schlechtes“ Krisenmanagement häufig in großflächigen Schadenslagen, wie zum Beispiel bei Naturkatastrophen (Dauer-Starkregenflut Mitte Juli 2021), vorherrschte. Entscheidungen wurden zu langsam getroffen, sie waren teilweise zu stark vom Versagen der politischen Leitung geprägt und/ oder basierten auf falschen Annahmen. Rückschlüsse waren zudem zu sehr taktisch und operativ ausgerichtet gewesen, so dass die „Gesamtfolgen“ nicht umfassend erkannt wurden. Das Credo des strategischen Lösungsansatzes in der Planung („so schnell wie möglich wieder vor die Lage zu kommen“) wurde oftmals wenig berücksichtigt! Im Schwerpunkt eines anzustrebenden „guten“ Krisenmanagements steht immer das innovative Forschen nach neuen Präventionsstrategien, die das bestehende Krisenmanagement und vorhandene (alte) Präventionsstrategien jederzeit neu optimieren. Es gilt der eherne Grundsatz, die bestehenden Konzepte zukunftsorientiert wertneutral zu analysieren und neu den aktuellen Gefahrenlagen anzupassen und so die Krisenreaktion deutlich zu verbessern. Zum Glück, oder zum Nachteil gereichend, weil damit leider keine echten „Praxiserfahrungen“ vorliegen, ist der Umstand eines Blackout-Schadensfalles noch nicht großflächig und langanhaltend dauerhaft eingetreten, aber die Abwägung der Wahrscheinlichkeit für einen solchen Fall lassen sich nicht gegen Null bestimmen, so dass der Fall des Eintritts und seine Auswirkungen ernsthaft geprüft und umfangreiche Präventionsmaßnahmen getrof- 66 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen fen werden sollten. Nur so kann man sich auf den möglichen Schadensfall ausrichten, um besser vorbereitet zu sein. Am Beispiel des Stromausfalls in der Bundeshauptstadt Berlin vom 19. Februar 2019, im Stadtteil Berlin-Köpenick, der etwas über 30 Stunden dauerte und rund 70 000 Einwohner betraf (betroffen waren unter anderem zwei Kliniken), haben sich in einer von „KRITIS-Forschungsvorhaben“ gut geprägten Region katastrophale Defizite der Krisenvorsorge und des handelnden Krisenmanagements gezeigt. Zum Glück war das Ereignis lokal und zeitlich begrenzt, aber es zeigte zugleich die mögliche Dimension bei einer landesweiten Flächenlage auf. Unter dem Aspekt eines flächendeckenden Ausfalls der Versorgung mit Strom und Gas in Deutschland muss daher die „Blackout-Resilienz“ von Verwaltungen und Unternehmen in enger Zusammenarbeit mit den heimischen Stadtwerken und Versorgungsunternehmen geprüft werden. Es stellt sich den mit Sicherheitsfragen betrauten Fachleuten die Frage, wie steht es eigentlich um die Resilienz der jeweiligen Behörden und Organisationen selbst und wie sind auch die mit den Sicherheitsaufgaben vertrauten BOS-Organisationen im Detail aufgestellt? Verwaltungen und alle BOS leisten bislang jeden Tag einen wichtigen Beitrag für die Daseinsfürsorge und das Gemeinwohl der Bevölkerung in Sachen Sicherheit und Versorgung und dürften - in die Zukunft geblickt - auch in größeren Notlagen (Krisen) ihre Organisationstruktur und Leistungsfähigkeit nicht verlieren. Damit stellt sich im Rahmen einer allgemeinen Lagebeurteilung die Frage, wie sich bislang die Verwaltungen von Kreisen und Städten mit ihren Krisenstabselementen/ -Organisationen auf einen solchen Schadensfall vorbereitet haben, wie deren Vorsorgekonzepte im Notfall über mehr als 72 Stunden aussehen und welche Vorsorgemaßnahmen im Rahmen eines vorausschauenden Krisenmanagements einer Prävention getroffen worden sind oder noch beachtet werden müssen. Besondere Beachtung findet die Tatsache, dass in Deutschland die Übertragungsnetzbereichsbetreiber mit dem Übertragungsnetz bzw. Höchstspannungsnetz (380/ 400 KV bzw. 220 KV) den Regionalnetzen und Stadtwerken als Teilnetzbetreiber mit deren Mittel- und Niederspannungsnetz (20 KV bis 110 KV) mitteilen können, dass ein „unverzögerter Lastabwurf“ in Stromkrisenlagen innerhalb von wenigen Minuten (evtl. noch bis zu 30 Minuten bzw. zwei Stunden Vorlaufzeit) zu erwarten ist. Damit steigt der Termindruck, in den wenigen verbleibenden Minuten zu handeln und die ersten richtigen Maßnahmen zu treffen. Bereits in der Vergangenheit kam es immer wieder in solchen „Mangellagen“ dazu, dass größere Industrieunternehmen (hier: Aluminiumhütten) als stromintensive Abnehmer kurzfristig vom Netz genommen wurden, um das gesamte Stromnetz zu stabilisieren. Während dies über Verträge vorgeplant werden konnte, sind landesweite Abschaltungen über mehrere Versorgungswaben bislang nicht in der Praxis erprobt worden und kamen über den Status von simulierten Modellaktionen eines sogenannten„Brown Out“ (eng begrenzte Stromabschaltung für wenige Stunden zur Lastminderung) nicht hinaus. Aus diesem Grunde muss untersucht werden, wie die Lage aussähe, wenn weite Teile Deutschlands von einem langanhaltenden mehrtägigen „Blackout“, betroffen wären? Verfügen die Verwaltungsorganisationen (Krisenstäbe) über ausreichende und leistungsfähige Stromersatzanlagen (fest installierte oder mobile Notstromaggregate) mit ausreichend Reserven an Treibstoffen, Frisch- und Brauchwasser sowie an Lebensmitteln und wie sieht die schichtweise Arbeitsfähigkeit der Krisen-/ Verwaltungsstäbe bei Schadenslagen von mehreren Tagen aus? Hinzu kommt die Frage nach stabilen und verlässlichen Kommunikationsmöglichkeiten, um den Kontakt zu Einsatzkräften und anderen BOS zu halten und auf Bürgergesuche in Notlagen zeitnah reagieren zu können. Hierzu werden derzeit viele Satellitentelefone angeschafft, aber es kommen auch Überlegungen zu Tage, wieder auf alte Analogfunk-Apparate, CB-Funk sowie auf Melder zurückzugreifen. Das Krisenmanagement wird dadurch weiter erschwert, dass wichtige KRITIS-Bereiche wie Kliniken, Altenpflegeeinrichtungen, die häusliche und ambulante Pflege, Arztpraxen, Apotheken und Labore, aber insbesondere auch ältere und pflegebedürftige Personen (hier: Dialyse-/ Beatmungspatienten), sowie die für die Entsorgung von Abwässern wichtigen Kläranlagen einen hohen Bedarf an Notstromaggregaten (sowie an Treibstoffen) aufweisen und somit alles zusammen Teil eines gemeinsames Logistikkonzeptes für die Stabsarbeit im Verwaltungsstab werden muss. Während in kalten Winterlagen vorrangig die Wärmeversorgung der oben genannten Personengruppen mit „Wärmeinseln“ und „Kat-Leuchttürmen“ und die Versorgung mit warmen Mahlzeiten im Vordergrund der Stabsarbeit steht, können in einem Hitzesommer die Ventilation und Raumkühlung (Klimatisierung) für besonders betroffene Alters- und Personengruppen und deren Versorgung mit Kaltgetränken und medizinischen Mitteln zu einem großen Problem werden. 67 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Was gilt es daher im Rahmen der noch machbaren Prävention zu tun, um mit einer weit vorausschauenden Präventions- und Krisenmanagementstrategie Vorsorge für den nicht ausschließbaren Fall der Fälle zu treffen? Zuallererst sollte einmal die Schadenslage „Blackout“ mit Ausfall der Strom- und Gasversorgung in ihrer Dimension der wahren Eintrittswahrscheinlichkeit und ihren Auswirkungen (Risiko-Analyse) auf alle KRITIS-Bereiche einschließlich UBI-KRITIS für eine jegliche Gebietskörperschaft überprüft und hinterfragt werden. Die Erkenntnisse aus kleineren Strom- und Gasausfall-Schadenslagen müssen vertiefend analysiert und auf den Fall hinsichtlich einer Blackout-Prävention für 72 Stunden und mehr und der draus ableitbaren Intervention übertragen werden. Parallel zu diesen Maßnahmen sollten alle mit der Krisenbewältigung betroffenen Einrichtungen und Institutionen (speziell auch alle BOS-Organisationen) für den Ernstfall „gehärtet“ werden. Dies meint, dass hier die Vorsorgemaßnahmen in Form von Notstromersatzanlagen (NEA) für die Stromerzeugung sowie - wenn machbar - mit Flüssiggasanlagen (für die Gasheizung) mit ausreichendenden Vorräten an Treibstoffmengen vorzuhalten sind. Gleiches gilt für ausreichend Wasser, hier sowohl Trink- und als auch Brauchwasser sowie Maßnahmen für eine geregelte Abwasserentsorgung (zum Beispiel: mobile Toiletten). Neben der Vorsorge einer materiellen „Grundausstattung“ gilt es das „Führungs- und Funktionspersonal“ hinsichtlich der Schadensfälle und einer strategischen sowie der operativ-taktischen Bewältigung zu trainieren. Dies geht nur durch spezielle Ausbildungsvorhaben möglichst in deren Liegenschaftskonzepten („Inhouse“-Schulungen vor Ort) und der Kernaufgabe, dem „Üben“ solcher Schadenslagen als wichtiger Bestandteil von immer wiederkehrenden Katastrophenschutzübungen. Bislang wenig beachtet sind die Auswirkungen der Blackout-Lage auf die Bediensteten der Verwaltungen (Krisenstäbe) selbst, die alle auch ein „Privatleben“ haben. In extremen Lagen, zum Beispiel im kalten Winter bei Ausfall der Gasheizungen, der Fernwärme etc., können sie nicht nur selbst, sondern auch ihre Angehörigen (speziell ältere Menschen wie Eltern/ Großeltern oder Kleinkinder) massiv psychisch und physisch betroffen sein. Es wird in dieser Lage in besonderem Maße auf die Führungskräfte ankommen, im Sinne von positivem „Leadership“ vorbildhaft die Mitarbeiter*innen zu führen und zugleich auch stets verständnisvoll zu motivieren, um die Lage gemeinsam zu bewältigen. Da Erfahrungen über solche Krisenlagen nicht vorliegen, wird man in der Not eigene Lösungsvorschläge suchen und finden. Erste Ansätze, dass Angehörige von in Krisen-/ Verwaltungsstäben und in den Einsatzorganisationen aller BOS tätigen Stabsmitglieder ebenfalls Teil einer Versorgungssicherheit werden, deuten auf vielversprechende Lösungsansätze hin, müssen aber noch im Detail geprüft und ausgeplant werden. Im Allgemeinen gilt, dass die Mitglieder von Krisen-/ Verwaltungsstäben sowie von Einsatzleitungen sich in Ausbildungen und Übungen mit realistischen Lagemeldungen der Thematik „langanhaltender Stromausfall und Gasmangel-Lage als möglichem Blackout und seinen Auswirkungen auf die Kritische Infrastruktur“ beschäftigen sollten. Im Sinne „wer den Erfolg nicht plant, plant den Misserfolg“ wäre es ratsam, lieber heute als morgen das Szenario anzugehen, denn übermorgen könnte es bereits zu spät sein. Fazit Blackout-Schadenslagen mit einem Ausfall der Gas- und Stromversorgung können - wenn sie eintreten und eine Prävention versagt hat - sowohl Unternehmen als auch das öffentliche Leben nachhaltig treffen und zu hohen Todesraten und Schadenssummen in Milliardenhöhe führen. Es müsste daher wichtigstes Ziel eines strategisch ausgerichteten Krisenmanagements und einer Präventionsplanung sein, schon jetzt vor einer Krise - und nicht erst dann, wenn bereits die Krisenlage eingetreten ist - die Auswirkungen der möglichen Schadenslage in einer Krise zu erkennen und zu überlegen, wie sich entsprechende Folgewirkungen weitgehend abfedern lassen, damit eine Lage sich nicht zu einer Katastrophe ausweitet. In diesem Sinne ist zu fordern, dass erste Handreichungen entwickelt werden, die Bürgerinnen und Bürger informieren, wie sie sich selbst im Rahmen ihrer persönlichen Vorsorgeplanung mit lang haltbaren Lebensmitteln (besonders mit ausreichend Trinkwassermengen), mit Hilfsmitteln und Medikamenten ausstatten. Hieraus lassen sich vier Zentralforderungen und Anforderungen an ein gutes und angepasstes Krisenmanagement ableiten: Analyse der vorhandenen Alarmierungs- und Notfallpläne sowie vorhandener Pandemie- und Hygieneschutzkonzepte Aufzeigen und Bewerten der bisher eingeleiteten Maßnahmen in Verwaltung und Unternehmen mit deren Krisen-/ Notfallstäben Bewertung der Effektivität der getroffenen Entscheidungen und der eingeleiteten Maßnahmen zum Krisen-/ Notfallmanagement Ableiten von Folgerungen für ein zukünftiges optimiertes Krisen- und Notfallmanagement 1 2 3 4 Bild 1: Zentralforderungen und Anforderungen an ein gutes und angepasstes Krisenmanagement. © Borries 68 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen 1. Vorurteilsfreie Analyse der vorhandenen Alarmierungs- und Notfallpläne sowie vorhandener Gefahrenabwehrpläne bis auf Stadt-Gemeindeebene mit besonderer Beachtung von spezifischen Blackout-Vorsorgemaßnahmen. 2. Aufzeigen und Bewerten der bisher eingeleiteten Maßnahmen in Verwaltung und Unternehmen mit deren Krisen-/ Notfallstäben anhand von Fakten (getätigte Maßnahmen des Krisenmanagements). Dabei sind Zwischenziele und deren Erreichbarkeit im Verhältnis zum Einsatz der Mittel (Personalbedarf) und den Kosten abzuwägen. 3. Bewertung und stetiges Hinterfragen der Effektivität der getroffenen Entscheidungen (insbesondere bei Lageänderungen) und der eingeleiteten Maßnahmen zum Krisen-/ Notfallmanagement. − a) Beurteilung, ob bestehende Blackout-Vorsorgepläne entsprechend angewandt wurden; − b) Vorschläge zur Besetzung der bestehenden Krisen-/ Notfallteams (Struktur des Krisen- und Notfallstabes); − c) Überprüfung der Zielvorgaben für den eingeschlagenen „Business-Continuity-Plan“ (BCP) und des Grades seiner Umsetzung in der Praxis, auch bei kurzfristigen Lageänderungen; − d) Prüfung der Entscheidungsgrundlagen, auf deren Basis Entscheidungen auch im Verhältnis zur Kompetenz getroffen wurden; − e) Reaktion auf außergewöhnliche, nicht vorhersehbare Entwicklungen und Rückmeldungen von nächst höheren Organisationen; − f) Prüfung der durchgeführten Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und der Rückmeldung von Bürgerinnen/ Bürgern und Kunden; − g) Überlegungen zum effektiven Einsatz von Stabs- und Führungssystemen (EDV-Technikeinsatz) und ob sich bei Ausfall der Technik, zum Beispiel durch erfolgreiche Cyberangriffe, dann (noch) auf manuellen Wegen kurzfristig auch sichere Entscheidungen ableiten lassen; − h) Generelles Abwägen, was hat „gut“ funktioniert und welche Maßnahmen bzw. Handlungen haben „erschwerend“ und/ oder sogar „hinderlich“ für das Krisen-/ Notfallmanagement gewirkt. 4. Folgerungen für ein zukünftiges optimiertes Krisen- und Notfallmanagement − a) Abwägung der bestehenden und sich wandelnden Risiken weiterer Gefahrenlagen (und deren Veränderungen); − b) Aufzeigen von konkreten Handlungsoptionen mit Schwerpunkt auf neue „Chancen“, die sich aus der derzeitigen Krise für Verwaltungen und Unternehmen ergeben. Unter Anwendung der genannten vier Punkte und dem spezifischen Ableiten von gemeinsamen Vorstellungen zu vorhandenen und neuen strategischen Überlegungen können Verwaltungen/ Behörden mit deren Krisen-/ Verwaltungsstäben sowie wichtige KRITIS-relevante Unternehmen mit deren Notfallstäben besser für die Zukunft aufgestellt und somit in die Lage versetzt werden, gestärkt auf Krisenlagen reagieren zu können. Die Krisenprävention, und damit die planbare Krisenreaktion besser im Vorfeld anzupassen, bleibt eine Kernaufgabe für die Phase der Prävention. Die Krisen-Resilienz von Behörden und deren Krisen-/ Verwaltungsstäben ist eine Daueraufgabe, die Gelder für Investitionen in präventive Maßnahmen erfordert. Mögen diese Kosten jetzt auch sehr hoch erscheinen und die kommunalen Haushalte stark belasten oder gar übersteigen, so sind diese finanziellen Mittel doch gut angelegt. Eine angestrebte gute Krisenprävention wird deutlich kostengünstiger als eine zu kurz greifende lückenhafte und schlechte Krisenbewältigung und Mangelverwaltung sein. Für eine Stärkung der machbaren Resilienz sollten stets Finanzmittel eingeplant werden. Dr. rer. nat. Diplom Geograph Hans-Walter Borries Direktor des Instituts für Wirtschafts- und Sicherheitsstudien FIRMITAS im FEZ Universität Witten. Lehrauftrag Energiesicherheit, HS Magdeburg - Stendal Stellv. Vorstandsvorsitzender BSKI e.V. Vorstandsmitglied DEB e. V. Kontakt: hwb@firmitas.de AUTOR Call for Papers 2023 Themen und Termine auf: www.transforming-cities.de Ihre neuen Ergebnisse aus Forschung, Wissenschaft und Praxis in Lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 1|2023 von Internationales Verkehrswesen: Digitalisierung - Chance mit Risiko? Abläufe automatisieren, Künstliche Intelligenz nutzen, Daten zentral in der Cloud vorhalten - das Potenzial konsequenter Digitalisierung im Verkehrsbereich erscheint unerschöpflich. Und doch birgt diese Technologie Risiken, wenn Smartphones, Fahrzeug-Assistenzsysteme oder Verkehrsleitzentralen Ziel von Cyber-Angriffen werden. Überhaupt: Wie sicher kann Kritische (Verkehrs-)Infrastruktur eigentlich sein? Der Themenfokus der Ausgabe 1|2023 liegt auf Optionen und Herausforderungen der forcierten Digitalisierung - gerade auf dem Feld von Mobilität, Transport und Verkehr - und auf Strategien und Lösungen für die effiziente Implementierung digitaler Technologie ohne „unliebsame Überraschungen“. Inhalte im Überblick: Wie Digitalisierung unseren Alltag verändert Kritische Prozesse mit Künstlicher Intelligenz optimieren Mensch oder Maschine: Sind autonom fahrende Autos wirklich die besseren Fahrer? Was Nutzer über die Sicherheit vernetzter Autos denken Regionale Mietrad-Systeme unter der Lupe Multimodale Mobilitäts-Plattformen in öffentlicher Hand Automatisierter Öffentlicher Verkehr in Grenzregionen … und vieles mehr … Erscheinungsdatum 17. Februar 2023. Jetzt kaufen und lesen: www.internationales-verkehrswesen.de/ einzelheft-bestellen 2023 | Heft 1 Februar Wie Automatisierung den Alltag verändert - und warum der Fokus auf Sicherheit liegen muss Digitalisierte Mobilität Heft 1 | Februar 2023 75. Jahrgang POLITIK Automatisierung - Vertrauen oder Unbehagen? INFRASTRUKTUR Mehr Künstliche Intelligenz für die Straße? MOBILITÄT Digitale Verkehrsangebote auf dem Prüfstand TECHNOLOGIE Wie Verkehr wirklich „intelligent“ werden soll INTERNATIONAL Where we stand in logistics and public transport www.internationales-verkehrswesen.de TR ANSPOR T UND MOBILITÄT IM WANDEL : DA S NEUE UNTERW EGS . ANZEIGE 70 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Resilienz 1 als Teil der Arbeitskultur in öffentlichen Verwaltungen? Das System Stadt ist geprägt von einem Zusammenspiel verschiedener Sektoren. Sind innerhalb eines Sektors (zum Beispiel: Gesundheitswesen, Wirtschaft) Schwächen zu erkennen, dann wirkt sich das im Bereich Resilienz auf weitere Sektoren aus. So kann eine übermäßige Belastung der Sektoren zur Schwächung der Resilienz einer Stadt führen. Deshalb braucht es ein grundlegendes Verständnis 1 Gunderson und Holling (2002) definieren Resilienz als die Fähigkeit eines Systems, Schocks oder Störungen zu absorbieren, bevor Strukturen oder Prozesse sich ändern, die das Verhalten des Systems steuern, das heißt bevor es kollabiert. für das Funktionieren eines Stadtsystems, um die Eigenschaften innerhalb der Sektoren und ihre Prozesse zu kreieren und zu erhalten. Zentral ist hierbei immer die Stadtverwaltung als der maßgebende Player. Der Begriff Resilienz im Hinblick auf die Arbeitskultur in öffentlichen Verwaltungen bezieht sich auf die Widerstandsfähigkeit gegenüber Regeln und Risiken [2, 3]. Ein guter Zusammenhang zwischen Arbeitskultur und Resilienz bedeutet, „aus einer Krise für die nächste zu lernen, statt anzunehmen, dass nun alles wieder beim bewährten Alten wäre“ [3]. Am Beispiel der Digitalisierung und des Home- Office-Phänomens kann dieser Zusammenhang Krisen begegnen: Mit digitalen Lösungen zu einer besseren Arbeitskultur Wie hängen Resilienz, Arbeitskultur und Digitalisierung zusammen? Koordination, Kommunikation, Kommunale Prävention Rebecca Nell, Alberto Sánchez, Fatma Cetin Pandemie, demografischer Wandel, Klimakrise oder Inflation - die Komplexität gesellschaftlicher Herausforderungen hat zugenommen. Dabei übernehmen insbesondere Kommunen als Schnittstelle zwischen Staat und Bürger*innen eine besondere Rolle. Sie sind verpflichtet, Lösungsstrategien zu erarbeiten, Maßnahmen zur Prävention als auch insgesamt zur Resilienz umzusetzen und schließlich zwischen verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteuren zu vermitteln. Die Bewältigung von Herausforderungen während Krisenzeiten und Katastrophen ist für die Kommunalverwaltungen somit immens und komplex - die Digitalisierung und die Anpassung von Arbeitsstrukturen können hierbei ein Lösungsbaustein sein. Nachfolgend werden hierzu Ansätze aus verschiedenen Projekten vorgestellt (Kommunales InnovationsCenter (KIC@bw), Stadt.Land.Digital und SMARTilienceGoesLive). Im Vergleich zum vorangegangenen Artikel [1], welcher die Kommunikation in den Fokus gestellt hat, werden nachfolgend vor allem die Bereiche Arbeitskultur, Überwindung von Silodenken und digitalisierte Prozesse im Kontext Resilienz thematisiert. © StartupStockPhotos auf Pixabay 71 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen folgendermaßen erläutert werden: Die Digitalisierung hat während der Covid-19-Pandemie zügig an Bedeutung gewonnen. Eine komplette Abschaffung der neu entwickelten Methoden und flexiblen Konditionen nach dieser außergewöhnlichen Situation würde kein gutes Verhältnis zwischen Arbeitskultur und Resilienz darstellen. Somit ist für eine starke Resilienz einer Kommunalverwaltung mit ihren Mitarbeitenden notwendig, unter anderen folgende Bausteine zu fördern, um für Krisen und Risiken gewappnet zu sein: (Kontinuierliche) Weiterbildung und Wissensmanagement, offene Arbeitskultur, Überwindung von Silodenken und digitalisierte Prozesse. Resilienz - Arbeitskultur - Digitalisierung Ebenso wie die Resilienz verlangt die Digitalisierung von Stadt und Gesellschaft eine neue Art der Zusammenarbeit. Die öffentlichen Verwaltungen in Deutschland befinden sich aktuell im Wandel. Aspekte wie der demografische Wandel oder die digitale Transformation beschleunigen den Übergang zu neuen zukünftigen Zuständen, die mehr Transparenz und Effizienz erfordern [4]. Eine transparente Kommunikation ist ein wesentliches Werkzeug für Kommunalverwaltungen - um den Wissens- und Praxistransfer zu gewährleisten. Hinzu kommt die Förderung von Akzeptanz, Vertrauen und Motivation innerhalb der eigenen Organisation, aber auch gegenüber den Bürger*innen, die beispielsweise die angebotenen digitalen Services von Behörden nutzen [5]. Schließlich haben sich Kommunikationsformen, aber auch das Informations- und Nutzungsverhalten der Bevölkerung stark verändert [6]. Das heißt, mit einer digitalen Transformation braucht es auch eine angepasste Arbeitskultur zur Zusammenarbeit und Vernetzung, auch zum Zweck der Usability und der Kundenbetreuung. Dadurch, dass die Digitalisierung ein schnelles Abrufen von Daten oder eine schnelle Erreichbarkeit von Personen mit sich bringt [7, S. 39], erfordert sie eine Flexibilisierung von Zeit, Ort, Funktionen, Rollen oder Kompetenzen in öffentlichen Verwaltungen [7, S. 34]. Die Vernetzung von Daten, Mitarbeitenden oder Prozessen gewährleistet Flexibilität in der Lebensführung der Mitarbeitenden [7,- S. 35], da mehr digitale Prozesse eingeführt werden, wird eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ermöglicht, wie beispielsweise durch das Home-Office [8]. Für die Arbeitskultur bedeutet das nicht nur die Schaffung neuer Standardisierungen und Fortbildungen, sondern auch Veränderungen von Arbeitsmitteln oder die Ausgewogenheit zwischen Leistungs- und Entwicklungsdynamik [8,-S.-40f]. Zusammenfassend kann behauptet werden, dass die Digitalisierung die Arbeitskultur der öffentlichen Verwaltung verbessern kann, indem neue Kompetenzen, Flexibilität, Mitarbeiterwohlstand und Globalisierung in den alltäglichen Verwaltungsbetrieb eingeführt werden. Zudem kann durch aktive Kommunikation (zum Beispiel via Social Media) und Partizipation mit Einwohner*innen ein Wir-Gefühl zwischen Kommunalverwaltung und Bürgerschaft aufgebaut werden, sodass damit das Vertrauen in öffentliche Institutionen und in die Verwaltungsarbeit verbessert wird. Insbesondere in Krisensituationen (zum Beispiel: Pandemie, Überschwemmungen usw.) sind schnelle und vertrauenswürdige Informationsbeiträge, die Einbindung und Koordination von Spontanhelfenden via soziale oder andere Medien unabdingbar [9]. Wie kann die Forschung dabei unterstützen? Nachfolgend werden verschiedene Tools und Initiativen aufgeführt, die Arbeitskultur, Resilienz und Digitalisierung gemeinsam denken. Praxisbeispiel: Kommunales InnovationsCenter (KIC@bw) Ergebnisse der Studie „BW-Kommunen vs. Corona“ vom Juni 2020 haben gezeigt, dass digitale Lösungen bei entsprechender Gestaltung einen wertvollen Beitrag in Krisenzeiten leisten können oder die Reaktionsfähigkeit von Organisationen erhöhen. Das KIC@bw trägt vorhandenes Wissen und erfolgreiche Praxisbeispiele der Digitalisierung von Kommunen in die Breite, vernetzt innovationsfreudige Akteure und schafft attraktive Formate für den Austausch. Im KIC@bw werden die Innovationsfähigkeit, Bedarfe und Potenziale von Kommunen und Landkreisen in Bezug auf digitale Transformation untersucht und darüber hinaus Werkzeuge und Methoden entwickelt, um Innovationen im öffentlichen Sektor zu fördern. Ein Netzwerk aus regionalen Expert*innen gibt Impulse zu aktuellen Entwicklungen und trägt sie in die Verwaltungen. Weiterhin werfen Zukunftsstudien einen Blick in die Welt von Übermorgen [10]. Ein weiteres Werkzeug des KIC@bw ist der sogenannte Resilience Quick Check, mit dem Ziel die Unterstützung von Kommunen und Landkreisen zur Stärkung von Resilienz in der Digitalisierung durch die Kombination von Open-Innovation-Formaten und Vor-Ort-Support inklusive Quick-Checks zur Statusbestimmung der Behörden. In der bedarfsgerechten Erweiterung der Digitalisierung um Resilienzaspekte können sich Kommunal- und Landesverwaltungen in Baden-Württemberg besser in einer Post-Corona-Ära mit veränderten 72 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Anforderungen behaupten. Mit dem entwickelten Quick-Check werden konkrete Hilfestellungen für kommunale Entscheidungen zur Resilienzsteigerung präsentiert (Fokus: Risiko- und Krisenkommunikation). In einem strukturierten Kriterienansatz wurden vorhandene Pandemiepläne und die Krisenorganisation insbesondere auf betriebliche und personelle Organisation, Identifikation kritischer Bereiche und Prozesse, Auswirkungen auf die Aufrechterhaltung eines Minimalbetriebs und die richtige Kommunikation mit Stakeholdern bewertet und gewichtet. Praxisbeispiel: Urban Governance Toolbox (SMARTilienceGoesLive) Wie reagiert man auf vom Klimawandel hervorgerufene Herausforderungen wie Hitzeinseln oder Starkregenereignisse? Wer kann bei den Themen Klimaschutz und Klimafolgenanpassung miteinbezogen werden? Welche Geodaten sind hierbei nützlich? Um Städte und Gemeinden bei diesen und weiteren Fragen im Bereich Klimaschutz und Klimaanpassung zu unterstützen, ist ein integriertes, sozio-technisches Steuerungsmodell für die klimaresiliente Stadtentwicklung - die sogenannte „Urban Governance Toolbox“ - im Rahmen des Forschungsprojektes SMARTilienceGoesLive konzipiert worden. In der (kostenlosen) Datenbank: Urban Governance Toolbox (UGT) 2 finden sich somit zahlreiche Maßnahmen zur Prävention und Reaktion auf den Klimawandel. Die UGT richtet sich an Entscheidungs- und Handlungsträger*innen, welche sich im Rahmen der klimaresilienten Stadtentwicklung informieren möchten, und an Interessierte im Kontext kommunaler Klimaschutz und Klimaanpassung. Die UGT ist eine online-basierte Datenbank im Open Access-Format zur Systematisierung des Wissens hinsichtlich Steuerungspraktiken und Umsetzungsmaßnahmen zum Klimaschutz und zur Klimafolgenanpassung in Städten. Die verschiedenen Maßnahmen wurden in den Reallaboren Halle (Saale) und Mannheim erprobt, entsprechend den Praxiserfahrungen und Erkenntnissen daraus weiterentwickelt. Die Toolbox stellt für Städte und Gemeinden Werkzeuge zur Verfügung, die je nach Bedarf, Rahmenbedingungen und Voraussetzungen zur Steuerung von Klimaresilienz-Strategien und -Projekten eingesetzt werden können, und dabei die verschiedenen Aspekte von Klimaresilienz adressiert [11]. Die UGT wurde im Projektverlauf aus der Planungspraxis mithilfe von Planungs-, Umsetzung- und Bewertungsinstrumenten im Bereich Klimaschutz und Klimafolgenanpassung zusammengetragen 2 Mehr Informationen unter: https: / / klimawerkzeugkasten.smartilience.de/ und systematisiert. Das integrierte Systemmodell, das gemeinsam mit den Projektpartner*innen und Expert*innen im Rahmen einer Syntegration konzipiert wurde und Ergebnisse in Bezug auf die Systemzusammenhänge bzw. beeinflussende Faktoren des Klimahandeln von Städten liefert, füllten die UGT mit weiteren Inhalten [12]. Praxisbeispiel: Stadt.Land.Digital Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz unterstützt mit der Initiative Stadt.Land.Digital Kommunen bei ihrem Weg zur smarten Stadt oder digitalen Region. Die Initiative begleitet Städte, Gemeinden und Landkreise bei der Erarbeitung von Digitalisierungsstrategien und vernetzt sie in lokalen Workshops sowie überregionalen Veranstaltungen mit strategischen Partner*innen und anderen Kommunen. Stadt.Land.Digital untersucht in regelmäßigen repräsentativen Befragungen deutscher Kommunen die Fortschritte in der digitalen Transformation, welche Unterstützungsbedarfe Kommunen haben und welche Themenbereiche ihnen besonders wichtig sind. Über die Hälfte der deutschen Kommunen berücksichtigt 2022 bereits Klimaschutzaspekte in ihren Digitalisierungsstrategien [1]. Dass die Integration von Klimaschutzzielen in kommunale Strategien große Potenziale birgt, zeigen die guten Beispiele im Smart City Navigator. Der Smart City Navigator ist eine kostenlose, digitale Sammlung erfolgreicher Projekte aus smarten Städten und digitalen Regionen. Stadt.Land.Digital stellt dort Ergebnisse von erfolgreichen Digitalisierungsprojekten im Sinne von Blaupausen zur Verfügung. Interessierte Kommunen erhalten mit den ausführlichen und anschaulichen Projektbeschreibungen praxisnahe Einblicke in die Arbeit anderer Kommunen und können von ihren Erfahrungen profitieren. Zu jedem Projekt wird zudem eine kommunale Kontaktperson angegeben, um die interkommunale Zusammenarbeit zu fördern. Sensoren zur Frühwarnung - Schwerpunkt Kommunikation, BY Im Juli 2016 führte ein Starkregenereignis in Passau zu einem Todesopfer, über 300 Schadensmeldungen und einem Gesamtschaden von 15 Mio. EUR. Seitdem hat die Stadt verschiedene Maßnahmen zur besseren Vorsorge und zur Warnung der Bevölkerung umgesetzt. Ein Starkregen-Frühalarmsystem berechnet mit Wettersensoren und Pegelmessern an verschiedenen Bachläufen die genaue Niederschlagsmenge und warnt die Bevölkerung mit einer Vorlaufzeit von 20 bis 30 Minuten in drei Warnstufen per SMS, E-Mail oder Sprachanruf. Das lässt den 73 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Rebecca Nell, M.A. Teamleiterin Urban Governance Innovation Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO Kontakt: rebecca.nell@iao.fraunhofer.de Alberto Sánchez Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO Kontakt: alberto.sanchez@iao.fraunhofer.de Fatma Cetin, M.A. Senior Consultant Digital Business Consulting Fichtner IT Consulting GmbH Kontakt: fatma.cetin@fit.fichtner.de AUTOR*INNEN Menschen Zeit, Vorkehrungen zu treffen oder bei hohen Warnstufen sichere Orte aufzusuchen. VoluMap - Schwerpunkt Koordination, NRW Die VoluMap bringt Spontanhelfende zusammen. Die Idee dazu entstand bei einem Hochwassereinsatz. Viele Leute waren bereit, spontan zu helfen. Sie wussten aber nicht, wo, wann und welche Hilfe gesucht wurde. Die VoluMap zeigt diese Angaben übersichtlich auf einer Karte an. Hilfsangebote werden hier gebündelt und zielgerichtet weitergeleitet. Ist passende Hilfe für das Anliegen gefunden, wird dies direkt auf der App angezeigt. So wird nur die Hilfe geschickt, die auch tatsächlich benötigt wird. Wie geht es in Zukunft weiter? Die technologischen Entwicklungen als auch der Anpassungszwang aufgrund des Klimawandels sind unaufhaltsame Trends für Städte und ihre Einwohner*innen. Die Kommunen samt ihrer Organisationseinheiten müssen mit der Digitalisierung als auch mit Krisen Schritt halten, noch stärker als vor der Pandemie auf die Bedürfnisse ihrer Mitarbeitenden achten, um gegen mögliche Fluktuation anzukommen. Der öffentliche Dienst ist verpflichtet den Arbeitsplatz attraktiver zu gestalten, unter anderem mobiles Arbeiten flächendeckend als Standard einzuführen und eine moderne Verwaltungskultur zu etablieren. Jedoch stehen Landkreise, Städte oder Gemeinden nicht allein da - sie können von Forschungsergebnissen, (wissenschaftlichen) Kooperationen, von anderen kommunalen Akteuren profitieren und Synergien gemeinsam nutzen. Die Nutzung von digitalen Werkzeugen oder öffentlich zugänglichen Datenplattformen sind unumgänglich. Umso wichtiger ist eine offene Arbeitskultur im Sinne eines Peer-to-Peer-Learnings, die gegenseitige Unterstützung auf lokaler und überregionaler Ebene, die interdisziplinäre Arbeit. Das Teilen von Wissen und Erfahrungen bedeutet schließlich voneinander zu lernen, um krisenresilienter zu werden. LITERATUR [1] Nell, R., Cetin, F., Renz, R.: Digitalisierung und Resilienz - Welche Potenziale ergeben sich hier für öffentliche Verwaltungen in Deutschland? Transforming Cities Nr. 2 (2022) S. 37 - 41. [2] Teuber, S., Dickes, I.: RESILIENZ - neuer Modebegriff anstelle von Stressmanagement? . Loquenz Unternehmensberatung GmbH. (2013) S. 1 - 9. [3] Frank, M.: Dank (Digitaler) Resilienz besser arbeiten und leben, 2021. In: https: / / www.dashoefer.de/ newsletter/ artikel/ dank-digitaler-resilienz-besser-arbeiten-undleben.html? nl=97658. Zugriff am: 16.12.2022. [4] Kulturwandel: Wandel und Reform der öffentlichen Verwaltung. In: https: / / www.regisafe.de/ kulturwandel-inder-oeffentlichen-verwaltung/ . Zugriff am: 16.12.2022. [5] Cetin, F., Feldwieser, M., Braun, S., Narr, R., Polst, S.: Abschlussbericht für die Begleitforschung zum Landeswettbewerb „Digitale Zukunftskommune@bw“. Bauer, W., Riedel, O. (Hrsg.): Stuttgart: Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO, 2021. Verfügbar unter: https: / / publica.fraunhofer.de/ eprints/ urn_ nbn_de_0011-n-6362539.pdf, Zugriff am 07.04.2022. [6] Karutz, H., Geier, W.,; Mitschke, T.: Bevölkerungsschutz: Notfallvorsorge und Krisenmanagement in Theorie und Praxis. Berlin, Heidelberg: Springer, 2017. https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-662-44635-5_1 [7] Widuckel, W.: „Arbeitskultur 2020 - Herausforderungen für die Zukunft der Arbeit “. In: Widuckel, W., De Molina, K., Ringlstetter, M. J. (Hrsg.): Arbeitskultur 2020 - Herausforderungen und Best Practices der Arbeitswelt der Zukunft. (2015) S 27 - 44. [8] Z’Rotz, J., Gisin, L., Magnin, C.: Homeoffice in öffentlichen Verwaltungen: Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Arbeitskultur in Gemeinden und Kantonen. Hochschule Luzern - Wirtschaft, Institut für Betriebs- und Regionalökonomie IBR. (2021) S. 1 - 26. [9] Becker, A., Böcker, N., Nell, R., Cetin, F.: Bürger*innen als Freunde? Wie soziale Medien das Verhältnis zwischen öffentlichen Verwaltungen und ihren Followern verändern. In: Forum Wohnen und Stadtentwicklung, 5 (2021) S. 270 - 274. [10] KIC 2023: KIC@BW - Unsere Module. In: KIC@BW - Digitalakademie@bw (digitalakademie-bw.de) [11] Zettl, V., Pfau-Weller, N.: Steuerungsmodell für eine klimaresiliente Smart City. Planung und Entwicklung klimaresilienter Städte mit Hilfe sozio-technischer, smarter Instrumente. Transforming Cities 1 (2018), S. 40 - 43. [12] Nell, R., Cetin, F., Izdebska, O., Kretschmann, N., Narr, R.: Neue Hilfestellung für Kommunen: Urban Governance Toolbox, 2022. In: https: / / www.nachhaltige-zukunftsstadt.de/ downloads/ SynVerZ_Sammelband_Reallabore. pdf 74 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Öffentliche Verwaltungen unter ungewohnter Aufmerksamkeit Ob innere Sicherheit und Ordnung, Bildung und Kultur, im Gesundheitswesen oder im Bereich Energie: Aufgaben und Funktionen öffentlicher Verwaltungen erstrecken sich über alle gesellschaftlichen Teilsysteme. Das ist nichts Neues, vielmehr - zumindest in Deutschland - etwas Selbstverständliches, worüber vermutlich selten nachgedacht wird. Aus- Öffentliche Verwaltungen im Krisenmodus Herausforderungen durch eine Doppelrolle Krisenmanagement, öffentliche Verwaltung, Flüchtlingslage, COVID-19-Pandemie, Kritische Infrastrukturen Patricia M. Schütte, Yannic Schulte, Malte Schönefeld In den letzten Jahren sind Teile der öffentlichen Verwaltungen beim Krisenmanagement nahezu im Dauereinsatz. Dies bezieht sich auf zweierlei Felder: Zum einen ist das interne Krisenmanagement gemeint, da öffentliche Verwaltungen als Teil der Kritischen Infrastruktur ihre eigene Handlungsfähigkeit aufrechterhalten müssen; zum anderen sind sie in Krisenlagen selbst Teil des staatlichen Krisenmanagements und damit betraut, die Funktionsfähigkeit von Teilsystemen zu garantieren. Die Flüchtlingslage 2015/ 16 und die COVID-19-Pandemie haben gezeigt, wie herausfordernd diese Doppelrolle sein kann. nahmen bilden Situationen, in denen die „Mühlen der Verwaltung“ in exzeptioneller Weise gefordert, manchmal auch an ihre Grenzen gebracht werden. Dazu gehören Krisen, das heißt Zeiten und Umstände, in denen gesellschaftliche Grundstrukturen, grundlegende Werte und Normen sowie die Funktionsfähigkeit von (Teil-)Systemen bedroht und (kritische) Entscheidungen über Maßnahmen unter Zeitdruck und unsicheren Bedingungen erforderlich © Malachi Witt auf Pixabay 75 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen liche Krisenmanagement zum Erhalt der staatlichen Funktionsfähigkeit. Der folgende Abschnitt geht auf diese Doppelrolle vor dem Hintergrund zweier Forschungsprojekte ein. Doppelrolle öffentlicher Verwaltungen im Krisenmanagement (Kommunal-)Verwaltungen finden sich in kritischen Zeiten oft in einer Doppelrolle wieder. Wie im Projekt „Sicherheitskooperationen und Migration (SiKoMi)“ deutlich wurde, übernahmen sie in der Flüchtlingslage 2015/ 16 Aufgaben, wie die Registrierung und Unterbringung von Geflüchteten, und waren zentraler Ansprechpartner für die örtliche Bevölkerung (nähere Informationen unter [5]). So organisierten Verwaltungen Hilfsangebote von der lokalen Bevölkerung für Geflüchtete und hielten gleichzeitig Infoabende in der Gemeinde ab, um in der Bevölkerung für die fordernde Situation der Kommune Verständnis zu erzeugen. Zudem erhielten Kommunalverwaltungen Presseanfragen zur Situation in den Aufnahmeeinrichtungen, obwohl diese im Zuständigkeitsbereich des Landes lagen. Aber auch hiermit musste in der Krisensituation umgegangen werden. Im Sinne des staatlichen Krisenmanagements informierten Kommunalverwaltungen während der COVID-19-Pandemie über geltende Regelungen und setzen diese um und durch. Gleichzeitig waren Gesundheitsämter als Teil der Verwaltung besonders gefordert und beispielsweise für die Kontaktnachverfolgung verantwortlich. Als Kontaktpunkt für die Bevölkerung informierten Kommunalverwaltungen über die Medien und mittels Telefonangeboten über Quarantäneregelungen, Impfzentren und weitere sich permanent ändernde Umstände und Regelungen. Kommunalverwaltungen waren in diesem Sinne als Krisenmanager an der Schnittstelle direkt zu den Bürger*innen gefordert, um das staatliche Gemeinwesen aufrecht zu erhalten. In beiden Situationen waren Verwaltungen auch nach innen hin stark gefordert, um die eigene Handlungsfähigkeit im Sinne der Gewährleistung alltäglicher Funktionen aufrechtzuerhalten. Hier wird die zweite Rolle der Verwaltung ersichtlich - die der „von der Krise selbst betroffenen Organisation“. So mussten trotz der erheblichen Anstrengungen in der Rolle als Krisenmanager auch die alltäglichen Prozesse beispielsweise im Bereich der Einwohner- und Meldeangelegenheiten, des Verkehrswesens oder auch der Sozial-, Jugend- und Gesundheitsverwaltung unabhängig von der COVID-19-Pandemie oder der Versorgung von Geflüchteten aufrechterhalten werden. sind [1]. Während in Katastrophen bzw. (ausgerufenen) Katastrophenfällen die klassischen Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS) den Takt angeben, das heißt, insbesondere Blaulichtorganisationen wie Polizei und Feuerwehr gefordert sind, verschiebt sich der Blick in Krisenlagen wie der COVID-19-Pandemie, der Flüchtlingslage oder der Energiekrise in Richtung betroffener Verwaltungsstrukturen, -ämter und oder -ressorts. Das lokale Krisenmanagement in Deutschland unterscheidet dabei traditionell zwischen administrativen und operativ-taktischen Krisenstäben [2]. Dem operativ-taktischen Stab, der sich aus Vertretern von BOS aus den Bereichen Zivil- und Katastrophenschutz zusammensetzt, wie zum Beispiel dem Technischen Hilfswerk (THW), den Feuerwehren, den Rettungsdiensten und der Polizei, kommt dann eine große Bedeutung und Federführung zu, wenn es zum Beispiel zu Katastrophen, polizeilichen und Großschadenslagen kommt sowie bei (mehr oder weniger) außergewöhnlichen Ereignissen, die noch zum Tagesgeschäft zählen wie etwa Präventivmaßnahmen bei Großveranstaltungen. BOS sind in der Regel erfahren im Krisenmanagement, da es bereits Teil ihrer Ausbildung ist und dies regelmäßig praktiziert wird. Sie zählen zu den etablierten Akteuren in dem Feld und sind als „Krisenmanager“ anerkannt. In Krisen - rechtlich oft weit weniger eindeutig geregelt als bei Katastrophenfällen - sind BOS definitiv wichtige Akteure. In verantwortlichen Positionen stehen allerdings die öffentlichen Verwaltungen aller Ebenen. Auf Bundes-, Länder- und Kommunalebene werden in Krisen entsprechende Koordinierungs- und Krisenstäbe hochgefahren, um gemeinsam mit allen Verwaltungsakteuren angemessene Lösungen für schwierige Situationen zu finden [3]. In den wenigen Katastrophen, die Deutschland - glücklicherweise - zu verzeichnen hatte [4], standen daher meist die BOS im Zentrum der Aufmerksamkeit. Öffentlichen Verwaltungen und insbesondere Kommunalverwaltungen wurde dabei relativ wenig Beachtung geschenkt, trotz ihrer Bedeutung im örtlichen Notfallmanagement. Krisenhafte Phänomene wie die Flüchtlingslage 2015/ 16 und die COVID- 19-Pandemie änderten das massiv und versetzten verschiedene Teile der öffentlichen Verwaltungen in eine ungewohnte Aufmerksamkeit und nahezu dauerhaft in einen Krisenmodus. Mit letzterem Begriff werden hier zwei Seiten einer Medaille betrachtet: einerseits das interne Krisenmanagement, da öffentliche Verwaltungen als Teil der Kritischen Infrastrukturen (KRITIS) ihre eigene Handlungsfähigkeit aufrechterhalten müssen; andererseits das öffent- 76 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Zusätzlich sind durch die genannten Krisenlagen auch weitere Probleme entstanden. Im Rahmen der Flüchtlingslage 2015/ 16 wurde ersichtlich, dass Verwaltungen organisationsintern einige Problemfelder zu bearbeiten hatten. Die bürokratischen Strukturen, die die alltägliche Arbeitsweise bestimmen, waren teilweise hinderlich bei der durch die Krisenlage notwendigen schnellen Entscheidungsfindung. So wurde Kritik von anderen BOS an den Verwaltungen geübt, dass diese trotz Krise ihre Erreichbarkeiten nicht über ein „9 to 5“ hinaus ausbauten. Die Flüchtlingslage, aber auch die Corona-Pandemie erforderten das flexible Umschichten, Anwerben und Anlernen von Personal. Gerade in der Pandemiezeit kamen noch Personalengpässe durch erhöhte Krankenstände bzw. Abordnungen in krisenbearbeitende Organisationseinheiten zum Tragen. Weiterhin wurden strukturell bedingte „Organisationskrisen“ (wie beispielsweise Digitalisierungslücken) [6, 7] ersichtlich, gerade im Hinblick auf die Erfassung von zum Beispiel Corona-Erkrankten, sowie in Bezug auf den Datenaustausch zwischen den verschiedenen Behörden. Die Doppelrolle als Krisenmanager und „von der Krise selbst betroffene Organisation“ mit wichtigen Aufgaben für die gesellschaftliche Funktionsfähigkeit geht mit zentralen Herausforderungen einher, die das Forschungsteam am Fachgebiet Bevölkerungsschutz, Katastrophenhilfe und Objektsicherheit (BuK) der Bergischen Universität Wuppertal bereits im oben angesprochenen Projekt SiKoMi identifizierte. Im Forschungsprojekt „Kommunalverwaltungen im Krisenmodus (KoViK)“, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) bis Ende 2024 gefördert wird (nähere Informationen unter [8]), untersuchen die BuK-Forscher*innen nun unter anderem die Entwicklung der skizzierten Doppelrolle im Rahmen der COVID-19-Pandemie und suchen nach Hinweisen, inwiefern sich in den letzten Jahren etwas geändert hat, vielleicht sogar aus vergangenen Krisen wie der Flüchtlingssituation 2015/ 16 gelernt wurde. Projekt KoViK - Struktur und Verlauf Während des 36 Monate laufenden Forschungsprojekts werden verschiedene inhaltliche Schwerpunkte gesetzt, die mit entsprechenden Methoden hinterlegt sind (Bild 1). Im ersten Jahr des Projekts wurde Wert auf eine fundierte Grundlage für die weiteren Erhebungen gelegt. Zum einen wurden verschiedene Ansätze des kommunalen Krisenmanagements identifiziert. Auf dieser Grundlage können Vergleiche der Verwaltungsansätze mit den ungleich besser untersuchten Krisenmanagementkonzepten der BOS gezogen werden. In einem zweiten Schritt befassen wir uns mit einer grundlegenden Aufarbeitung unseres Schwerpunktszenarios „COVID-19-Pandemie“: Gerade in bürokratischen Organisationen wie Verwaltungen spielen offizielle Dokumente auch im Krisenmanagement eine herausragende Rolle und schaffen Realitäten. Relevante Dokumente aus der COVID-19-Pandemie wie etwa Verordnungen, Organigramme und andere, werden identifiziert und bezüglich ihres Inhalts analysiert, sodass wiederkehrende Muster ebenso erkennbar werden wie ungewöhnliche Vorgänge. Begleitet wird dies durch eine Medieninhaltsanalyse zur Berichterstattung über die Qualität und Leistungsfähigkeit des kommunalen Krisenmanagements - vornehmlich in Lokalzeitungen, Bild 1: Arbeitsplan im Forschungsprojekt KoViK. © Schütte et al. 77 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen deren Berichtsgebiet die Fallstudienkommunen umfasst. Die Kombination dieser Ergebnisse aus Dokumentenanalyse und Medienanalyse wird auf mögliche (Nicht-)Übereinstimmungen von offiziell kommunizierten und tatsächlich praktizierten Ansätzen hinweisen. Den Kern des Forschungsprojekts bilden Fallstudien in Zusammenarbeit mit Kommunen, die sich aus Gründen der Vergleichbarkeit allesamt in Nordrhein-Westfalen befinden. Im Zentrum stehen Interviews mit Vertreter*innen des kommunalen Krisenmanagements. Dabei werden Strategien im Umgang mit der pandemischen Lage, Handlungsspielräume und -begrenzungen sowie die Selbstwahrnehmung als Krisenakteur erhoben. Die Daten zur internen sowie zur externen Wahrnehmung im Hinblick auf (praktiziertes) kommunales Krisenmanagement und Krisenkommunikation ermöglichen die Identifikation dringlicher Handlungsfelder, aber auch von guten Praktiken, die sich als vorteilhaft bewiesen haben. In ihrer Gesamtschau werden die geleisteten Arbeiten eine Grundlage für die Umsetzung von konzeptionellen, technischen, organisatorischen und sozialen Optimierungspotenzialen bestehender Modelle des Krisenmanagements und der Krisenkommunikation liefern, die im finalen dritten Jahr des Forschungsprojekts von kommunalen Stakeholdern getestet und bewertet werden können, insbesondere natürlich von jenen, die das Projekt durch ihre Offenheit und Expertise unterstützt haben. Abschließend werden Transferstrategien entwickelt, um die Erkenntnisse für alle interessierten Kommunen zu öffnen, bevor das Projekt mit Ablauf des Jahres 2024 enden wird. LITERATUR [1] Rosenthal, U., Charles, M. T., t Hart, P. (Hrsg.): Coping with crises: The management of disasters, riots and terrorism. Charles C Thomas Publisher,1989. [2] Ausschuss für Feuerwehrangelegenheiten, Katastrophenschutz und zivile Verteidigung (Hrsg.): Führung und Leitung im Einsatz: Führungssystem. Feuerwehr-Dienstvorschrift 100 (FwDV 100), 1999. Dr. Patricia M. Schütte Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Forschung & Lehre, Leiterin der Forschungsgruppe Management und Organisation in der Gefahrenabwehr Bergische Universität Wuppertal Kontakt: schuette@uni-wuppertal.de Yannic Schulte, M. Sc. Sicherheitsingenieur Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter Bergische Universität Wuppertal Kontakt: yschulte@uni-wuppertal.de Malte Schönefeld, M.A. Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter Bergische Universität Wuppertal Kontakt: schoenefeld@uni-wuppertal.de AUTOR*INNEN [3] Bundesministerium des Innern: System des Krisenmanagements in Deutschland. Berlin, 2015. Abrufbar unter: https: / / www.bmi.bund.de/ SharedDocs/ downloads/ DE / publikationen/ themen/ bevoelke rungsschutz / krisenmanagement-in-deutschland. pdf%3F_ _blob%3DpublicationFile%26v%3D1. [4] Dombrowsky, W. R.: Gesellschaftliche Bedingungen eines adäquaten Katastrophenmanagement. In: O. Grün und A. Schenker-Wicki (Hg.): Katastrophenmanagement, Springer Gabler, Wiesbaden, (2014) S. 23 - 38. [5] SiKoMi-Projektseite: https: / / www.sikomi.uni-wuppertal.de/ de/ [6] Schütte, P. M., Schulte, Y., Schönefeld, M., Fiedrich, F. (Hrsg.): Krisenmanagement am Beispiel der Flüchtlingslage 2015/ 2016: Akteure, Zusammenarbeit und der Umgang mit Wissen. Wiesbaden: Springer VS, 2022. [7] Schulte, Y., Schönefeld, M., Schütte, P. M., Fiedrich, F.: Herausforderungen des Krisenmanagements für öffentliche Verwaltungen. In: A. Karsten und S. Voßschmidt (Hg.): Resilienz und Pandemie. Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer, (2022) S. 130 - 137. [8] KoViK-Projektseite: https: / / www.kovik.uni-wuppertal.de All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren w 78 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Wir betrachten hier nicht bereits manifeste und messbare urbane Risiken, sondern wir wollen die Risikoentwicklung bzw. Risikoevolution in Smart Cities betrachten. Dazu stellen wir unsere Konzeption von systemischen Risikotreibern vor, die den bereits manifesten und im Sinne der klassischen Risikodefinition klassifizierbaren Risiken zeitlich vorgelagert sind. Im Kontext von Smart Cities und urbaner Digitalisierung werden wir die spezifische Risikotreiberin digitale Massifizierung betrachten, die sich derzeit in einer fortschreitenden Entwicklung befindet, jedoch zugleich noch im blinden Fleck langfristiger Governance-Betrachtungen für Smart Cities liegt. 2 Digitale Risikotreiber in Smart Cities Ein neues regulatorisches Anforderungsfeld Urbane Resilienz, Smart City, Risikotreiber, Risikoevolution, digitale Massifizierung Ulrich Ufer, Sadeeb Simon Ottenburger 1 Resiliente Stadtplanung muss schädliche oder kritische Umweltbedingungen und drohende Gefahren erkennen, um sie zu reduzieren oder sogar zu verhindern. Das Idealbild einer Smart City ist, mit diesem Ziel möglichst viele Dienstleistungen, Ressourcennutzungen und Interaktionen zu digitalisieren. Allerdings zeigt ein historisch vergleichender Blick auf urbane Risikotreiber, dass ein stetiger Anstieg der Nutzerinnen und Nutzer wie auch der eingesetzten technischen Geräte innerhalb einer im Grunde endlichen und dadurch immer stärker belasteten Infrastruktur zu langfristigen Schäden systemischen Ausmaßes beitragen kann. 1 Beide Autoren haben mit gleichem Anteil zu diesem Aufsatz beigetragen. © Gerd Altmann auf Pixabay 2 Eine umfassendere Version der hier dargelegten Argumentation wurde publiziert in der Zeitschrift Risk Analysis: http: / / doi.org/ 10.1111/ risa.14102 79 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Digitale Massifizierung Die wissenschaftliche Literatur befasst sich nur sehr eingeschränkt mit Treibern systemischer Risiken, wenn überhaupt finden wir dazu Spuren in der Finanz- und Gesundheitsforschung [1, 2]. Generell fehlt ein analytischer Ansatz, um inkrementelle, schleichende und kontinuierliche Verschlechterungsprozesse innerhalb einer langfristigen Risikoevolution in den Blick zu nehmen, die gerade aufgrund dieser Merkmale von gesellschaftlichen Gewöhnungs- und Anpassungsphänomenen über mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte begleitet wird. Allerdings kann diese ungehinderte Risikoevolution schließlich eine Risikoschwelle überschreiten, also zur Risikotransition führen. Ist diese Schwelle überschritten, dann entfalten bislang als einzelne Unannehmlichkeiten oder Komfortverluste wahrgenommene Phänomene schließlich ihre Eigenschaften als manifeste Risiken mit potenziell auch systemischen Auswirkungen. Abstrakt betrachtet ist der evolutionäre Langzeitprozess von Risikoevolution in Smart Cities also die stetige und unregulierte Zunahme von Marktteilnehmern, Verbrauchern und Internet of Things (IoT)-Geräten bzw. -Anwendungen (Bild 1). Massifizierung im Straßenverkehr Eine kurze historische Analogie zwischen Stauphänomenen im Straßen- und Datenverkehr vermag die sich anbahnenden Risiken der digitalen Massifizierung für Smart Cities zu verdeutlichen. Deutschland wird international als der Idealtyp einer autofreundlichen Gesellschaft angesehen. Intra- und interurbane Verkehrsinfrastrukturen wurden über Jahrzehnte kontinuierlich erweitert, dennoch hat aus systemischer Sicht die Massifizierungsdynamik das deutsche Straßen- und Autobahnsystem immer wieder an seine physikalischen Grenzen geführt, einhergehend mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Anpassung und Gewöhnung an den Stau: Nach gut drei quasi staufreien Jahrzehnten auf deutschen Autobahnen entstand im Jahr 1963 der erste registrierte Stau, die gesamte Staulänge in diesem Jahr betrug 33 km. Springen wir in das Jahr 2020: Trotz massiver Infrastrukturinvestitionen stößt das soziotechnische System „Straßenverkehr“ in Deutschland an seine Grenzen, da die Ressource Land zur Bereitstellung von Straßenraum im Wettstreit mit anderen Flächennutzungen begrenzt ist und die Anzahl der technischen Objekte in diesem System unreguliert angestiegen ist. Auf deutschen Autobahnen betrug die Staulänge im Jahr 2021 aufgrund der Zunahme von Fahrzeugen und Fahrern 850 000 km, es wurden rund 685 000 Stauereignisse gezählt, und die Deutschen verbrachten fast 350 .000 Stunden im Autobahnstau [3]. Dieser historische Fall ist in zweierlei Hinsicht lehrreich. Erstens veranschaulicht er den Prozess der Massifizierung eines soziotechnischen Systems Bild 1: Langfristige Risikoevolution in Smart Cities unter Einfluss der Risikotreiberin digitale Massifizierung hin zu einer Risikotransition. © Ottenburger, Ufer, 2023 [4] 80 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen mit anfänglich inkrementellen Verschlechterungen, schleichendem Komfortverlust und gesellschaftlicher Gewöhnung an daraus hervorgehende Unannehmlichkeiten aufgrund einer kontinuierlichen Zunahme von Nutzern und technischen Geräten in einem physisch begrenzten soziotechnischen System. Zweitens zeigt er, wie auf dieser Basis ungebremste Risikoevolution und schließlich Risikotransition zu direkten und systemischen Schäden führen können: Neben manifesten staubedingten gesundheitlichen Risiken stehen auch negative wirtschaftliche Auswirkungen von Staus, insbesondere in urbanen Kontexten, seit einigen Jahren im Fokus der internationalen Forschung [5, 6]. Massifizierung im Datenverkehr Auf Basis der rückblickend betrachteten Risikoevolution durch Massifizierung im Straßenverkehr können wir uns nun prospektiv unseren Überlegungen zur Risikoevolution in zukünftigen Smart Cities durch digitale Massifizierung und Datenstau zuwenden. Ähnlich wie Verkehrsteilnehmende und Fahrzeuge von Stau betroffen sind, können auch Datenpakete daran gehindert werden, rechtzeitig ihr Ziel zu erreichen. Gleich dem Straßenverkehr operiert auch der Datenverkehr innerhalb eines schlussendlich physisch begrenzten Systems. Und ebenso können Datenverkehrsstaus direkte und sekundäre Schäden auf Systemebene verursachen, wenn kritische Dienste betroffen sind. Dem Ausbau des Straßenverkehrssystems vergleichbar haben Steigerungen von Bandbreite, Rechenkapazität und andere technische Innovationen die physikalischen Grenzen von Volumen und Geschwindigkeit bei der Datenübertragung kontinuierlich verschoben: von den erstmals 1993 in Deutschland installierten und rasch als „Datenautobahn“ bezeichneten Glasfasernetzen hin zu aktuellen 5G- und zukünftigen 6G-Funktechnologien. Aber selbst die neuesten technologischen Innovationen stoßen an physikalische Grenzen, zum Beispiel an den Commodity-Switches, die mit begrenzter Rechenleistung zu Engstellen an Knotenpunkten des Datentransfers werden, oder im Falle baulicher Blockaden für Funkwellenübertragungen in einem sich verändernden Stadtbild. Laut einer Studie von Ericsson könnte die Gesamtzahl der mit dem Internet verbundenen Geräte weltweit bis zum Jahr 2050 24 Milliarden überschreiten [7]. Ganz offensichtlich generiert die stetige Zunahme an Marktteilnehmern, Verbrauchern und IoT-Geräten in Smart Cities immer größere Datenmengen und geht auch mit einer Zunahme datenintensiver Anwendungen einher, vollzieht sich allerdings schlussendlich ebenfalls innerhalb eines begrenzten physikalischen Systems. Bereits seit den ersten datenstaubedingten Zusammenbrüchen des Internets im Oktober 1986 arbeiten Netzwerkingenieure an dem auch 36 Jahre später weiterhin aktuellen Problem, die tolerierbare maximale Anzahl von Geräten für ein stabiles Netzwerk zu bestimmen und kontinuierlich zu erweitern. Aktuelle Studien weisen darauf hin, dass die erwartete Zunahme von IoT-Geräten zu schweren Überlastungen führen kann und sogar ein hohes Risiko eines Zusammenbruchs durch Überlastung birgt [8]. Dies gilt insbesondere für datenintensive und zugleich latenzsensible kritische IoT-Anwendungen in Smart Cities, bei denen der unverzögerte und kontinuierliche Transfer von Datenpaketen entscheidend ist, bei denen aber zugleich die enorme Heterogenität von Geräten und Software hohe technische Komplexität verursacht. Als Beispiele seien hier das intelligente Transportwesen, die Telemedizin oder andere kritische Echtzeitdienste genannt, die nicht unter Störungen, Verzögerungen oder Datenstaus leiden dürfen. Neben der Netzkapazität sind somit auch niedrige Latenzzeiten zu einem wichtigen Quality-of-Service-Parameter für Smart Cities geworden [9]. Fazit Jüngste Trends in der Erforschung und Entwicklung verlässlicher Netzwerktechnik unterstreichen, dass unsere Analyse digitaler Massifizierung als Risikotreiberin für Smart Cities sehr konkrete und drängende Probleme in den Blick nimmt. Hier entsteht ganz eindeutig ein neues soziotechnisches regulatorisches Anforderungsfeld. Technikseitig stehen aktuell Verbesserungen bei Paketplanungsalgorithmen und -protokollen, Edge-Computing- Technologien oder Priority Queuing im Zentrum der Lösungsversuche, um die komplexen IoT-Systeme in Smart Cities vor Zusammenbrüchen zu schützen. Innovative Technologien zur Vermeidung von Verarbeitungs- und Warteschlangenverzögerungen beim Transfer von Datenpaketen gehen allerdings auch mit sozialen Fragen der Fairness einher, wenn zum Beispiel in Krisensituationen für die Aufrechterhaltung kritischer Infrastrukturen Auswahlkriterien zur Priorisierung des einen Teils der Netzteilnehmer greifen müssen, die gleichzeitig Komforteinbußen bzw. wirtschaftliche und weitere Benachteiligungen eines anderen Teils bedingen. Wir befinden uns derzeit in einer vergleichsweise frühen Phase der durch digitale Massifizierung vorangetriebenen Risikoevolution in Smart Cities. Diese Phase ähnelt der Phase früher Staus im Straßenver- 81 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen kehrssystem, als Massifizierung und bevorstehende Risikotransition noch nicht ersichtlich waren bzw. aufgrund von Gewöhnungseffekten noch nicht in das gesellschaftliche Bewusstsein und in regulatorische Maßnahmen vorgedrungen waren. Mit zunehmender Digitalisierung und der zu erwartenden weiteren Zunahme von Marktteilnehmern, Verbrauchern und IoT-Geräten in Smart Cities scheint die Risikotransition - der Übergang von einer risikotreibenden Dynamik hin zu manifesten und messbaren Risiken - aus unserer analytischen Perspektive nur eine Frage der Zeit zu sein. Erschwerend kommt hinzu, dass - im Gegensatz zum soziotechnischen System Straßenverkehr - weder eine Begrenzung der Anzahl von Marktteilnehmern und Nutzern durch Lizenzen oder Führerscheine, noch eine Begrenzung der Anzahl von Geräten durch ein TÜV-Äquivalent oder andere Qualitätskontrollen gegeben ist. Aktuell vollzieht sich die digitale Massifizierung in einem nahezu vollständig liberalisierten Markt für urbane Digitalisierung [10]. Und sie birgt potenziell systemische Gefahren [11], da digitale Infrastrukturen selbst das Rückgrat komplexer und hochgradig vernetzter kritischer Infrastruktursysteme, wie zum Beispiel urbane Smart Grids, in zukünftigen Smart Cities bilden werden. Die globale Covid-19-Pandemie hat zweifelsohne das Potenzial aufgezeigt, wie rasch sich Aktivitäten aus nicht-digitalen in digitale Bereiche verlagern können. Zugleich sind hier Überlastungseffekte der digitalen Netzwerke bereits deutlich hervorgetreten. Der liberale Smart City-Markt verspricht, reibungsfrei ablaufende, effizienzsteigernde und unkomplizierte Lösungen für urbane Herausforderungen durch ubiquitäre urbane Digitalisierung bereitzustellen. Eingedenk der hier angestellten Überlegungen zur digitalen Massifizierung sollte jedoch die mit urbaner Digitalisierung einhergehende Risikoevolution gesellschaftlich wahrgenommen und regulatorisch adressiert werden. Eine Sensibilisierung für systemische Risikoevolution scheint uns eine Grundvoraussetzung für den Aufbau resilienter Smart Cities zu sein. LITERATUR [1] Halden, R. U., Rolsky, C., Khan, F. R.: Time: A Key Driver of Uncertainty When Assessing the Risk of Environmental Plastics to Human Health. Environmental Science & Technology, acs.est.1c02580, 2021. https: / / doi.org/ 10.1021/ acs.est.1c02580 [2] Weiß, G. N. F., Bostandzic, D., Neumann, S.: What factors drive systemic risk during international financial crises? Journal of Banking & Finance, 41, (2014) S. 78 - 96. https: / / doi.org/ 10.1016/ j.jbankfin.2014.01.001 [3] Statista: Themenseite: Straßen in Deutschland. Statista, 2022. https: / / de.statista.com/ themen/ 1199/ strassen-in-deutschland/ . [4] Ottenburger, S. S., Ufer, U.: Smart cities at risk: Systemic risk drivers in the blind spot of longterm governance. Risk Analysis, risa.14102, 2023. https: / / doi. org/ 10.1111/ risa.14102. [5] Levy, J. I., Buonocore, J. J., von Stackelberg, K.: Evaluation of the public health impacts of traffic congestion: A health risk assessment. Environmental Health, 9 (1), (2010) S. 65. https: / / doi.org/ 10.1186/ 1476-069X-9-65. [6] Weisbrod, G., Vary, D., Treyz, G.: Measuring Economic Costs of Urban Traffic Congestion to Business. Transportation Research Record: Journal of the Transportation Research Board, 1839(1), (2003) S. 98 - 106. https: / / doi.org/ 10.3141/ 1839-10. [7] Khanh, Q. V., Hoai, N. V., Manh, L. D., Le, A. N., Jeon, G.: Wireless Communication Technologies for IoT in 5G: Vision, Applications, and Challenges. Wireless Communications and Mobile Computing, 2022, (2022) S. 1 - 12. https: / / doi.org/ 10.1155/ 2022/ 3229294. [8] Bouzouita, M., Hadjadj-Aoult, Y., Zangar, N., Tabbane, S.: On the risk of congestion collapse in heavily congested M2M networks. 2016 International Symposium on Networks, Computers and Communications (ISNCC), (2016) S. 11 - 5. https: / / doi.org/ 10.1109/ ISNCC.2016.7746063. [9] Briscoe, B., Brunstrom, A., Petlund, A., Hayes, D., Ros, D., Tsang, I.-J., Gjessing, S., Fairhurst, G., Griwodz, C., Welzl, M.: Reducing Internet Latency: A Survey of Techniques and Their Merits. IEEE Communications Surveys & Tutorials, 18(3), (2016) S. 2149 - 2196. https: / / doi.org/ 10.1109/ COMST.2014.2375213 [10] Parag, Y., Sovacool, B. K.: Electricity market design for the prosumer era. Nature Energy, 1(4), (2016) S. 16032. https: / / doi.org/ 10.1038/ nenergy.2016.32 [11] Helbing, D.: Systemic Risks in Society and Economics. In Helbing, D. (Ed.): Social Self-Organization (2012) pp. 261 - 284. Springer Berlin Heidelberg. https: / / doi. org/ 10.1007/ 978-3-642-24004-1_14 Dr. Ulrich Ufer Senior Researcher Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Kontakt: ulrich.ufer@kit.edu Dr. rer. nat. Sadeeb Simon Ottenburger Abteilungsleiter Institut für Thermische Energietechnik und Sicherheit (ITES) Karlsruhe Institut für Technologie (KIT) Kontakt: sadeeb.ottenburger@kit.edu AUTOREN 82 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Eine Citymaut ist die Erhebung eines Entgelts für den Straßenverkehr in stark verkehrsbelasteten Innenstadträumen. In europäischen Städten werden aktuell verschiedene Citymaut-Modelle betrieben. Der geografische Geltungsbereich wird häufig mithilfe von Ringen, sogenannten Kordons, um ein bestimmtes (Innen-)Stadtgebiet definiert. Beim Kordonsystem, wie beispielsweise in Oslo oder Stockholm, fallen für die Einund/ oder Ausfahrt der Ringe Kosten an. Eine Alternative ist ein Gebietssystem wie zum Beispiel in London, bei dem alle Fahrten innerhalb des Geltungsbereichs bepreist werden [1]. Teilweise werden die Nutzungsentgelte nur zu bestimmten Tageszeiten (Hauptverkehrszeiten) oder an Werktagen erhoben [2]. Die städtischen Mautsysteme unterscheiden sich außerdem in der Art der Gebührenerhebung, zum Beispiel durch automatische Nummernschilderkennung, Transpondertechnologie im Fahrzeug oder GPS-basierte Überwachung. Die Mautkonzepte umfassen auch Verkehrsmanagement-Instrumente, die über die reine Bepreisung des Straßenverkehrs hinausgehen [3]. In Bologna und Mailand gibt es zum Beispiel ein Einfahrverbot für Fahrzeuge mit niedrigen Emissionsklassen - entsprechend den in Deutschland verbreiteten Umweltzonen [2]. Vorteile einer Citymaut Eine Citymaut hat gegenüber anderen Maßnahmen den Vorteil, dass sie nicht nur eine verkehrliche Lenkungswirkung hat, sondern auch eine wirtschaftliche Komponente mit finanzieller Sicherheit für die Kommune durch Mauteinnahmen bietet. Die Benutzung der öffentlich bereitgestellten Straßeninfrastruktur verursacht gesamtwirtschaftliche Kosten, die den Verursachern normalerweise nicht angelastet werden, sogenannte „Externalitäten“ oder externe Kosten. Diese umfassen Umweltkosten (zum Beispiel: Gesundheitsschäden durch Abgase, Lärm und Klimawandel), Stau- und Infrastrukturkosten. Die Implementierung von Mautsystemen führte in mehreren Städten zu einer Reduzierung des fließenden Verkehrs im Geltungsbereich um 15 bis 22 % [5]. Einerseits reduziert die Einführung einer Citymaut die externen Kosten des Verkehrs. Auch die Verkehrssicherheit steigt, wenn weniger PKW und andere Fahrzeuge in Innenstädten fahren. Andererseits können die Einnahmen aus der Citymaut zum Ausgleich der externen Kosten des Motorisierten Individualverkehrs (MIV) verwendet werden. Häufig werden mit den Einnahmen Investitionen in das urbane Verkehrssystem, insbesondere in den Ausbau des ÖPNV, finanziert [5]. Die operativen Kosten sowie die Kosten für die Implementierung der Mautsysteme variieren je nach Ausgestaltung. Voraussetzung für ein praktikables Mautsystem ist, dass neben der direkten Lenkungswirkung Nettoeinnahmen generiert werden, welche zur Finanzsicherheit beitragen und ins Verkehrssystem reinvestiert werden können. So unterscheiden sich die Systeme in Singapur, London, Stockholm und Mailand hinsichtlich der Kosten- und Einnahmenstruktur deutlich, sind aber alle profitabel [5]. Auf der Einnahmenseite ist eine adäquate Bepreisung, beispielsweise in Anlehnung an ÖPNV-Tarife, notwendig. Neben der Prüftechnik fallen operative Kosten für technische und administrative Aufgaben an, die mit zunehmender Komplexität des Systems steigen. Zu nennen sind zum Beispiel die Befreiung bestimmter Fahrzeuge oder Nutzer*innen (Taxis, Busse, mobilitätseingeschränkte oder finanzschwache Finanzsicherheit durch Citymaut? Zielkonflikt zwischen fiskalischer und verkehrlicher Wirkung Citymaut, Kommune, Externalität, Finanzsicherheit, Zielkonflikt Rafael Oehme, Christian Scherf, Cornelia Emmerich, Wolfgang Schade Im Rahmen von Verkehrskonzepten haben Kommunen die Möglichkeit, den öffentlichen Raum nachhaltig umzugestalten, was auch der Verkehrssicherheit und der Gesundheit dient. Für die Beeinflussung des Verkehrs stehen verschiedene Anlagen und Maßnahmen, wie zum Beispiel Ampeln, Fahrrad-, Fußgänger- oder Umweltzonen zur Verfügung. Zudem besteht die Möglichkeit, die Finanzsicherheit der Kommunen durch Instrumente mit finanziellen Einnahmen, namentlich Parkraumbewirtschaftung oder Citymaut, zu erhöhen. Wichtig ist dabei die Beachtung möglicher Zielkonflikte. 83 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Nutzer*innen), die zeitliche Differenzierung oder die unterschiedliche Bepreisung verschiedener Fahrzeugklassen (differenziert nach Schadstoffausstoß etc.) [5]. Mögliche Zielkonflikte beachten Wichtig bei der Entwicklung eines City Maut-Konzepts ist die Beachtung möglicher Zielkonflikte. So kann die Einnahmengenerierung der Steuerungswirkung entgegenstehen: Verkehrsreduktion verursacht sinkende Einnahmen. Komplexere Mautsysteme sind mit höheren Kosten verbunden, generieren dadurch weniger Nettoeinnahmen, haben aber die Möglichkeit einer spezifischen Zielsetzung. Anstelle oder neben der Finanzsicherheit bestehen hier (auch) Ziele wie der Gesundheitsbzw. Klimaschutz oder die Steigerung der Verkehrssicherheit. So besitzt eine fahrleistungsabhängige Maut eine große Lenkungswirkung, ist aber sehr kostenintensiv, da der technische und administrative Aufwand entsprechend groß ist. Nicht-fahrleistungsabhängige Mautsysteme bieten hingegen geringere Anreize zur Verkehrsvermeidung. Zudem ist bei der Ausgestaltung darauf zu achten, dass die Differenzierungen im Einklang mit den definierten Zielen stehen und für die Nutzer*innen akzeptabel sind. Eine zeitliche Mautdifferenzierung eignet sich insbesondere zur Staureduktion. Ist die Zielsetzung der Klimaschutz, müsste eine Maut hingegen nicht nur an Werktagen oder zu Stoßzeiten, sondern dauerhaft erhoben werden [3]. Besonders nach Emissionsart gestaffelte Mautsysteme fördern die Nutzung emissionsarmer Verkehrsmittel. Allerdings müssen alternative (umweltfreundliche) Transportmöglichkeiten ausreichend vorhanden sein bzw. geschaffen werden, wozu die Mauteinnahmen verwendet werden können. Allgemein ist im Blick zu behalten, dass die Akzeptanz in der Bevölkerung vor Einführung einer City Maut eher bei lediglich 40 % liegt. Nach der Einführung wendet sich dies und sie liegt häufig bei 60 % (5). Fazit Jedes Citymaut-System ist einzigartig, da jeweils unterschiedliche Verkehrskonzepte und besondere Ausgangslagen bestehen. Bei der Konzeption sollten Wirtschaftlichkeit sowie potenzielle Zielkonflikte stets Beachtung finden, um unerwünschte Effekte bzw. Zielverfehlungen zu vermeiden. Im Rahmen eines Verkehrskonzepts eignet sich eine City-Maut zusammen mit anderen Maßnahmen für eine effektive und nachhaltige Gestaltung des städtischen Verkehrssystems sowie zur Absicherung der kommunalen Finanzen. LITERATUR [1] Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (Hrsg.): Verkehrssteuerung in europäischen Städten durch eine City-Maut. Aktenzeichen WD5- 3000-147/ 18, 27.11.2018, online: https: / / t1p.de/ wdcitymaut. [2] ADAC (Hrsg.): Zufahrtsbeschränkungen in Italien. Online: https: / / t1p.de/ adac-citymaut. [3] Hautzinger, H., Fichert, F., Fuchs, M., Stock, W.: Eignung einer City-Maut als Instrument der Verkehrs- und Umweltpolitik in der Freien und Hansestadt Hamburg. IVT, Mannheim/ Heilbronn 2011. Online: https: / / t1p.de/ hh-citymaut. [3] Knie, A., Canzler, W.: Die Citymaut - Neuer Freiraum für die Verkehrspolitik in Zeiten des Wandels. Oekom, München 2020. [5] Blanck, R., Zimmer, W., Mottschall, M., Göckeler, K., Keimeyer, F., Runkel, M., Kresin, J., Klinski, S.: Mobilität in die Zukunft steuern - Gerecht, individuell und nachhaltig. Umweltbundesamt, Dessau-Roßlau 2021. Online: https: / / t1p.de/ uba-mobil-gerecht. Rafael Oehme Wissenschaftlicher Mitarbeiter M-Five GmbH Mobility, Futures, Innovation, Economics Kontakt: rafael.oehme@m-five.de Dr. phil. Christian Scherf Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Mobilitätsexperte M-Five GmbH Mobility, Futures, Innovation, Economics Kontakt: christian.scherf@m-five.de Cornelia Emmerich, LL.M. (LLS) Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Rechtsexpertin M-Five GmbH Mobility, Futures, Innovation, Economics Kontakt: cornelia.emmerich@m-five.de Dr. rer. pol. Wolfgang Schade Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter M-Five GmbH Mobility, Futures, Innovation, Economics Kontakt: wolfgang.schade@m-five.de AUTOR*INNEN 84 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Was macht leistungsfähige Schienenverkehrssysteme aus? Sie sollen stets sicher betrieben werden - ohne Störungen, an 365 Tagen im Jahr. Dies rückt die Verfügbarkeit automatisierter Zugbeeinflussungssysteme in den Vordergrund. Verfügbarkeit bezeichnet hierbei „die Fähigkeit eines Produkts, in einem Zustand zu sein, in dem es unter vorgegebenen Bedingungen zu einem vorgegebenen Zeitpunkt oder während einer vorgegebenen Zeitspanne eine geforderte Funktion erfüllen kann unter der Voraussetzung, dass die geforderten äußeren Hilfsmittel bereitstehen“ [1]. In technischer Hinsicht lässt sich eine Maximierung der Verfügbarkeit herunterbrechen in die folgenden drei beitragenden Faktoren. Wie wird sichergestellt, dass eine ausgefallene Betrachtungseinheit innerhalb kürzester Zeit wieder in den betriebsfähigen Zustand überführt werden kann? Dieses Teilziel wird durch die Verbesserung der Instandhaltbarkeit der jeweiligen Betrachtungseinheit (englisch: Maintainability) erreicht. Wie wird sichergestellt, dass eine intakte Betrachtungseinheit möglichst selten ausfällt? Dieses Teilziel wird durch die Verbesserung der Zuverlässigkeit der jeweiligen Betrachtungseinheit (englisch: Reliability) erreicht. Wie kann sichergestellt werden, dass die für die Betriebsführung automatisierter Schienenverkehrssysteme erforderlichen Systeme trotz Verfügbarkeit des städtischen Verfügbarkeit des städtischen Schienenverkehrs Schienenverkehrs Spezifikation und Nachweis von Zuverlässigkeit, Instandhaltbarkeit und Verfügbarkeit im Lebenszyklus Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit, Instandhaltbarkeit, Redundanz Lars Schnieder Leistungsfähige Schienenverkehrssysteme sind das Rückgrat unserer Städte. Schienenverkehrssysteme sollen sicher und verfügbar sein. Diese Ziele lassen sich nur dann verwirklichen, wenn die Zuverlässigkeits- und Instandhaltbarkeitsanforderungen ständig erfüllt und die laufenden langfristigen Instandhaltungsarbeiten sowie das betriebliche Umfeld überwacht werden. Die Verfügbarkeit beruht auf der Kenntnis von Zuverlässigkeit, basierend auf Systemausfallraten, Wahrscheinlichkeiten des Eintretens eines Ausfalls und auf Kenntnis der Instandhaltbarkeit und Reparaturzeiten. © Pexels auf Pixabay 85 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen möglicher Beeinträchtigung einzelner Komponenten ihre Funktion dennoch erfüllen? Dieses Teilziel wird durch die Gestaltung der Fehlertoleranz (englisch: fault tolerance) erreicht. Die zuvor genannten Aspekte der zur Verfügbarkeit beitragenden Faktoren Instandhaltbarkeit, Zuverlässigkeit und Fehlertoleranz müssen bereits in der Entwicklung und Konstruktion hochautomatisierter Nahverkehrssysteme mitberücksichtigt werden. Maßnahmen zur Verbesserung der Instandhaltbarkeit Instandhaltbarkeit bezeichnet die „Fähigkeit, unter gegebenen Anwendungs- und Instandhaltungsbedingungen in einem wie geforderten funktionsfähigen Zustand erhalten bzw. in ihn zurückversetzt werden zu können [1].“ Die Instandhaltbarkeit kann über die mittlere Dauer bis zur Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit (englisch: Mean Time to Repair, MTTR) beschrieben werden. Je kürzer diese Zeit ist, desto besser ist die Instandhaltbarkeit der Betrachtungseinheit. Die Zeit zur Wiederherstellung setzt sich aus verschiedenen Bestandteilen zusammen (Bild 1), die nachfolgend mit konkreten Ansatzpunkten ihrer Reduktion beschrieben werden. Reduktion der Dauer des unentdeckten Fehlzustands: Die Zeit zur Wiederherstellung beginnt mit der Entdeckung des Fehlzustandes. Oftmals ist der Fehlzustand im Betrieb bereits eingetreten. In diesem Fall geht es in der Auslegung des Systems darum, durch entsprechende Diagnosemechanismen und Diagnoseabdeckungsgrade den Fehler möglichst kurzfristig zu offenbaren. Idealerweise gelingt über eine Erfassung des aktuellen Zustandes der Einheit hinaus eine Prognose zukünftiger Fehlzustände [2]. In diesem Fall würde dieser komplette Zeitanteil entfallen. Reduktion der administrativen Verzugsdauer: Ist ein Fehlzustand offenbart, wird ein Instandhaltungsauftrag in der Instandhaltungsorganisation des Verkehrsunternehmens erzeugt und einem Bearbeiter zugewiesen. Möglicherweise informieren Service- und Diagnosesysteme automatisch das Instandhaltungspersonal, sodass es hier zu keiner zeitlichen Verzögerung kommt. Mit der Zuweisung des Instandhaltungsauftrags an das Instandhaltungspersonal beginnt die korrektive Instandhaltung. Reduktion der logistischen Verzugsdauer: Dieser Zeitanteil umfasst die Zeit zur Anreise des Instandhaltungspersonals zur gestörten Einheit. Bei Zugsicherungsanlagen handelt es sich naturgemäß um eine räumlich verteilte Infrastruktur. Daher wirkt sich hier neben der räumlichen Lage der Instandhaltungsstützpunkte im Netz des Verkehrsunternehmens auch das Konzept der Ersatzteilbevorratung (zentrale Lagerung der kleinsten tauschbaren Einheiten, dezentrale Lagerung der kleinsten tauschbaren Einheiten, Mitführen kleinster tauschbarer Einheiten auf den Werkstattfahrzeugen der Instandhalter) unmittelbar auf diesen Zeitanteil aus. Reduktion der technischen Verzugsdauer: Ist das Instandhaltungspersonal am Ort der Störung angekommen, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass unmittelbar mit der Entstörung begonnen werden kann. In der Regel sind hier weitere Tätigkeiten durchzuführen. In der Regel sind betriebliche Maßnahmen zu ergreifen, damit das Instandhaltungspersonal sicher im Gleisbereich arbeiten kann. So wird beispielsweise in der Leitstelle der betroffene Gleisbereich für das Befahren von Zügen gesperrt und erst danach dem Instandhaltungspersonal die Erlaubnis zum Betreten des Gleisbereichs erteilt. Durch die Ausrüstung des Instandhaltungspersonals mit mobilen Endgeräten [3] kann dieser Betriebsprozess optimiert werden. Reduktion der Reparaturdauer: Die Durchführung der eigentlichen korrektiven Instandsetzung wird unter anderem auch durch die instandhaltungsgerechte Konstruktion der technischen Systeme beeinflusst. Hierbei sollten die kleinsten tauschbaren Einheiten gut zugänglich angeordnet sein, bzw. ohne Spezialwerkzeug zu tauschen sein. MTBF MUT AUSFALL BETRIEBSBEREIT AUSFALL MTTR Dauer unentdeckter Fehlerzustände Verzugsdauer Verzugsdauer Technische Verzugsdauer Reparaturdauer MUFT MAD MLD MTD MRT Nicht betriebsfähiger Zustand BEGINN DER KORREKTIVEN INSTANDHALTUNG Betriebsfähiger Zustand >_ Betriebsfähiger Zustand Bild 1: Zeitanteile der Zeit zur Wiederherstellung (MT TR) nach [1]. 86 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Auch hat die Qualifikation des Instandhaltungspersonals hier einen großen Einfluss, wodurch entsprechende Anforderungen an dessen initiale Ausbildung, bzw. kontinuierliche Weiterbildung gestellt werden [4, 5]. Maßnahmen zur Verbesserung der Zuverlässigkeit Die Zuverlässigkeit bezeichnet die „Fähigkeit, unter gegebenen Bedingungen und für ein gegebenes Zeitintervall wie gefordert ohne Ausfall zu funktionieren [1].“ Hierauf hat unter anderem auch die Instandhaltung eine Auswirkung. Ein Beispiel hierfür ist die Verzögerung der Abnutzung einer mechanischen Komponente durch regelmäßige Wartungsaktivitäten wie das Ersetzen von Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffen (beispielsweise Schmieren des Getriebes eines Weichenantriebs). Jedoch wird die Zuverlässigkeit wesentlich in der konstruktiven Durchbildung der Betrachtungseinheit bestimmt: Einsatz betriebsbewährter Komponenten: Eine Komponente gilt als betriebsbewährt, wenn eine entsprechend dokumentierte Untersuchung ergeben hat, dass Nachweise aus früheren Einsätzen belegen, dass die Komponente für den Einsatz in einem sicherheitstechnischen System geeignet ist. Hierbei werden hohe Anforderungen an die Dokumentation von Felderfahrungen gestellt. So muss beispielsweise die Spezifikation unverändert sein und es dürfen keine oder nur unbedeutende Fehler aufgetreten sein. Außerdem müssen die Beobachtungen auf einer ausreichenden Anzahl an Betriebsstunden beruhen [6]. Einsatz qualifizierter Komponenten: Dieser Ansatz ist insbesondere in der Automobilindustrie ausgeprägt. Die Qualifizierung elektronischer Komponenten kann Branchenstandards folgen. Um eine Qualifizierung gemäß dieser Standards zu erhalten, muss eine Komponente einen strengen Prozess mit unterschiedlichen Prüfungen bestehen (zum Beispiel: Klimatests). Derating: Die Zuverlässigkeit einer Betrachtungseinheit hängt wesentlich von ihrem Beanspruchungsprofil ab. Das Beanspruchungsprofil ist nach [1] das Ausmaß und die Anzahl der externen Einflüsse, denen ein System während der Erfüllung seiner geforderten Funktionalität widerstehen kann. Hier kann für die Auslegung der Betrachtungseinheit ein hinsichtlich mechanischer Beanspruchungen (beispielsweise mechanische Vibrationen), chemischer Beanspruchungen oder klimatischer Bedingungen (zum Beispiel: Temperaturzyklen) höheres Beanspruchungsprofil als betrieblich notwendig berücksichtigt werden. Somit ist ein Bauteil oder System, dass unterhalb seiner Auslegungsgrenze betrieben wird, zuverlässiger als ein Bauteil, das an oder oberhalb seiner Auslegungsgrenze betrieben wird. Durch Derating kann also die Zuverlässigkeit erhöht, bzw. die Lebensdauer einer Komponente gesteigert werden. Gestaltung fehlertoleranter Systeme Technische Systeme, die trotz Beeinträchtigung einzelner Komponenten ihre Funktion weiterhin erfüllen, werden als fehlertolerant bezeichnet. Redundanz bezeichnet hierbei das Vorhandensein von mehr als für die sichere Ausführung der vorgesehenen Aufgabe notwendigen Mittel. Die Anwendung von Redundanz führt dazu, dass eine Betrachtungseinheit ihre vorgesehene Aufgabe auch bei einer begrenzten Anzahl von Ausfällen weiterhin ausführen kann. Betrachtungseinheiten, für die diese Eigenschaften zutreffen, heißen fehlertolerant. In Bezug auf die Umsetzung der Fehlertoleranz können verschiedene Redundanzkonzepte unterschieden werden, welche exemplarisch anhand einer Systemarchitektur hochautomatisierter Nahverkehrssysteme (englisch: Communications Based Train Control Systems, CBTC) verdeutlicht werden können: Funktionsbeteiligte Redundanz (heiße Redundanz, englisch: active redundancy): Während des fehlerfreien Betriebs sind alle mehrfach vorhandenen Systemkomponenten an der Funktionserfüllung beteiligt. Im Fehlerfall übernehmen die intakten Komponenten unverzüglich die Aufgabe der defekten Komponente. Ein Beispiel hierfür sind die zentralen Streckeneinrichtungen von CBTC-Systemen (als ATP 1 -wayside in Bild 2 bezeichnet), die mehrkanalig ausgelegt sind. In den zentralen Streckeneinrichtungen werden - je nach Hersteller - beispielsweise 2-von-3 Rechnersysteme eingesetzt. Für den Fall, dass ein Rechnerkanal ausfällt, sind nach wie vor zwei Rechnerkanäle für die Bearbeitung der sicherheitstechnischen Funktionen im Betrieb. Nicht funktionsbeteiligte Redundanz (Standby-Redundanz, englisch: passive redundancy): Redundanz, bei der die zusätzlichen Mittel eingeschaltet, aber erst bei Störung oder Ausfall an der Ausführung der vorgesehenen Aufgabe beteiligt sind. Ein Beispiel für diese Art der Redundanz kann in der Betriebsleittechnik (englisch: Automatic Train Supervision, ATS) gefunden werden. Die Server, an denen die Bedienplatzrechner angeschlossen 1 ATP - Automatic Train Protection; technische Komponente zum Schutz vor Gegenfahrten, Folgefahrten und Flankenfahrten durch sicherungstechnische Abhängigkeiten. 87 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen sind, sind redundant ausgelegt. Beide Server arbeiten im „hot standby“. Hierbei wird zwischen dem prozessführenden Server (aktiver Server) und einem nicht prozessführenden Server unterschieden (passiver Server). Der aktive und der passive Server überwachen sich hierbei gegenseitig. Es erfolgt eine automatische Übernahme der Funktion des aktiven Servers durch den zuvor passiven Server, nachdem der zuvor passive Server den Ausfall des aktiven Servers erkannt hat. Es erfolgt eine Aktualisierung des jetzt passiven Servers durch den aktiven nach Wiederanlaufen des passiven Servers [8]. Kalte Redundanz (englisch: cold redundancy): Redundanz, bei der die zusätzlichen Mittel zur Ausführung der vorgesehenen Aufgabe erst bei Störung oder Ausfall eingeschaltet werden. Ein Beispiel für diese Art der Redundanz finden sich auch hier in der Betriebsleittechnik (englisch: Automatic Train Supervision, ATS). Die Arbeitsplatzrechner der Fahrdienstleiter arbeiten im „cold standby“. Das bedeutet, dass es in der Leitstelle eines Verkehrsunternehmens in der Regel mehr Arbeitsplatzrechner als Bediener gibt. Fällt ein Arbeitsplatzrechner aus, wechselt der Bediener den Arbeitsplatz und loggt sich dort wieder ein. Weitere Beispiele finden sich im Bereich der unterbrechungsfreien Stromversorgung (USV, bzw. englisch: Uninterruptible Power Supply, UPS). Diese Systeme dienen der Sicherstellung der Stromversorgung kritischer elektrischer Geräte bei Störungen im Stromnetz, wie beispielsweise kurzfristigen Stromausfällen und Stromschwankungen in Form von Über- oder Unterspannungen. Konkret springt ein Notstromaggregat (Dieselmotor) erst bei der Störung oder dem Ausfall der regulären Stromversorgung ein, nach Ablauf einer durch die Kapazität der eingesetzten Pufferbatterien bestimmten Zeitdauer (Stützzeit). redundantes Glasfaser-Backbone HMI HMI Funkantennen Antenne Odometrie Supervisory Control and Data Acquisition (SCADA) Traktionsstromversorgung Gebäudeautomation standardisierte Im- und Exportschnittstellen VDV 45x Odometrie Transponder (Strecke) Fahrer Fahrer Leitstellenpersonal Access Points überlappende Funkabdeckung Automatic Train Protection Automatic Train Operation Automatic Train Control (ATC) HMI - Human Machine Interface bidirektionale IP-basierte Funkkommunikation für ATP und ATO Ermittlung von Fahrterlaubnissen Sicherung von Fahrwegen ATP Wayside Ermittlung von Fahrterlaubnissen Sicherung von Fahrwegen ATP Wayside Weichensteuerung reduzierte Gleisfreimeldung optionale Signale generische Ein- und Ausgabe redundantes Glasfaser-Backbone Weichensteuerung reduzierte Gleisfreimeldung optionale Signale generische Ein- und Ausgabe Kupferkabel Glasfaserkabel Funkantennen CBTC-Fahrzeuggerät (redundant) Zugsteuerung Bedienung und Anzeige (Fahrzeug und Infrastruktur) Zuglenkung Zuglaufverfolgung Konflikterkennung Konfliktlösung Fahrplanmanagement Fahrgastinformation Operation Control System (ATS) Prozessdaten - Stellbefehle ATP - Führungsgrößen ATO Bild 2: Fehlertoleranz in der Architektur hochautomatisierter Nahverkehrssysteme [7]. 88 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Umsetzung eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses zur Steigerung der Verfügbarkeit Die disziplinierte Umsetzung eines geschlossenen Regelkreises aus Fehlerberichten, -analysen und korrektiven Maßnahmen ist ein Schlüssel für ein frühes und nachhaltiges Erreichen der gewünschten Sicherheits- und Verfügbarkeitseigenschaften technischer Systeme [9]. Ein System zur Fehlererfassung, -registrierung und -meldung (englisch: failure reporting, analysis and corrective action system, FRACAS) liefert dabei die erforderliche Grundlage: Daten, die zur Analyse und Verbesserung des Systems dienen sollen, werden direkt während der Test-Inbetriebnahme und frühen Betriebsphase des hochautomatisierten Nahverkehrssystems erhoben und analysiert [10]. Ergebnisse fließen somit direkt in eine Optimierung des gesamten hochautomatisierten Nahverkehrssystems. Der Ansatz eines solchen so genannten FRACAS hat zum Ziel, eine Vielzahl an Fehlerberichten zu verwalten und eine auswertbare Historie von Fehlern und Fehlerkorrekturen vorzuhalten. Hierfür werden die mit einem Produkt zusammenhängenden Probleme und deren Ursachen im FRACAS dokumentiert, um korrektive Maßnahmen zu planen und umzusetzen. Beispielsweise erfasst FRACAS Informationen zur genauen Identifizierung und Beseitigung von Designfehlern, Problemen mit Komponenten und Schnittstellen, Montagefehlern, falsch durchgeführter Instandhaltung sowie nicht sachgerechter Nutzung der Fahrzeuge [10]. Für den Betreiber liegt der Nutzen eines FRACAS in der nachhaltigen Beseitigung von Störungen und damit einer Erhöhung der Verfügbarkeit durch die Beeinflussung der drei zuvor dargestellten Stellhebel der Zuverlässigkeit, der Instandhaltbarkeit und der Fehlertoleranz. Zusammenfassung und Fazit Die Verfügbarkeit hochautomatisierter Nahverkehrssysteme endet nicht mit der Entwicklung, sie muss vielmehr über den gesamten Lebenszyklus betrachtet werden. Der Lebenszyklus ist hierbei nach [1] die „Abfolge identifizierbarer Stufen, die eine Einheit durchläuft von ihrer Konzeption bis zur Entsorgung“. So erstreckt sich beispielsweise ein üblicher Lebenszyklus von: Konzept und Pflichtenheft; Entwurf und Entwicklung; Aufbau sowie Installation und Inbetriebnahme; Betrieb und Instandhaltung; der Verlängerung der Brauchbarkeitsdauer bis hin zur Außerbetriebnahme und Entsorgung. In jeder dieser Phasen sind dedizierte Aktivitäten erforderlich. Stehen zunächst spezifizierende Aktivitäten (Definition zuverlässigkeits- und instandhaltbarkeitsbezogener Anforderungen) im Vordergrund, verlagert sich der Fokus im weiteren Verlauf auf den Nachweis der zugesicherten Verfügbarkeit. Dieser Nachweis kann zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme zunächst nur analytisch sein, wird sich aber mit ersten betrieblichen Erfahrungen auch auf reale Felddaten stützen. Hersteller und Betreiber eint das gemeinsame Interesse, die geforderte Verfügbarkeit auch in der Praxis zu erreichen. Hierbei ist - wie in diesem Beitrag dargestellt - die Verfügbarkeit Gegenstand dedizierter Managementaktivitäten. Auf Grundlage von Fehlermeldungen kann hier der Weg in Richtung eines kontinuierlichen Verbesserungsprozesses beschritten werden. LITERATUR [1] DIN EN 50126-1: 2018: Bahnanwendungen - Spezifikation und Nachweis von Zuverlässigkeit, Verfügbarkeit, Instandhaltbarkeit und Sicherheit (RAMS) - Teil 1: Generischer RAMS-Prozess; Deutsche Fassung EN 50126-1: 2017. [2] Schnieder, L., Bock U.: Predictive Maintenance von Schienenfahrzeugflotten. In: Verband Deutscher Eisenbahningenieure e. V. (Hrsg.), Eisenbahningenieurkompendium 2 (2022), S. 128 - 146. [3] Ortloff, A., Aust, F.: Controlguide OCS - Sicherung von Baustellen im Gleisbereich mit mobilen Geräten. In: Signal + Draht 108, 12 (2016), S. 39 - 49. [4] Verband Deutscher Verkehrsunternehmen: VDV- Schrift 352: Rahmen-Ausbildungsplan für das technische Personal von Signal- und Zugsicherungsanlagen (BOStrab). VDV 08/ 1999. [5] Rüffer, M., Schmidt, C., Jung, C., Schnieder, L.: Innovationen und Digitalisierung - Herausforderungen für die Aus- und Fortbildung im Signal- und Zugsicherungsdienst. In: Der Nahverkehr 37 7+8 (2019), S. 46 - 50. [6] Birolini, A.: Zuverlässigkeit von Geräten und Systemen. Springer (Berlin) 1997. [7] Schnieder, L.: Communications-Based Train Control (CBTC) - Komponenten, Funktionen, Betrieb. (3. Auflage). Springer Verlag (Berlin) 2022. [8] Mücke, W.: Betriebsleittechnik im öffentlichen Verkehr. Eurailpress (Hamburg) 2005. [9] United States Department of Defense. 1995. MIL- HDBK-2155: Failure Reporting, Analysis and Corrective Action System. Washington D.C. [10] Wolberg, J., Kiefer, J.: Der FRACAS-Prozess - Felddatenerfassung und Verfügbarkeitsoptimierung. Signal + Draht 93, 10 (2001), S. 25 - 29. Priv.-Doz. Dr.-Ing. habil. Lars Schnieder Geschäftsführer (Chief Executive Officer, CEO) ESE Engineering und Software-Entwicklung GmbH Kontakt: Lars.schnieder@ese.de AUTOR 89 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Energietransformation und Zukunftsfähigkeit „Die Energie von morgen ist Wasser, das durch elektrischen Strom zerlegt worden ist. Die so zerlegten Elemente des Wassers, Wasserstoff und Sauerstoff, werden auf unabsehbare Zeit hinaus die Energieversorgung der Erde sichern.“ So Jules Verne im Jahre 1870 [1]. Mehr als 100 Jahre später sprachen Justi, Brennecke und Kleinwächter in den „Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft“ über den Mehrzweck-Universal-Energie- ©Roman auf Pixabay Am Beispiel eines konkreten Use-Case Energietransformation, Dekarbonisierung, grüne Wasserstofftechnologie, Dezentralisierung, H2DemoLab Georg Brunauer, Maria-Christina Brunauer, Harald Rettenegger, Stefan Netsch Die Transformation unserer Gesellschaft in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht ist eine der zentralen Herausforderungen unserer Generation. Gerade die Ereignisse in jüngster Zeit zeigen die Notwendigkeit zukunftsfähiger Lösungen, die eine transformierte Lebens- und Wirtschaftsweise auf Basis erneuerbarer Energien erfordern. Damit einher geht die Frage, wie moderne Gesellschaften, die sich in einem Zustand struktureller Nicht-Nachhaltigkeit befinden, sich derart verändern können, dass sie zu einem nachhaltigen Zustand gelangen. Die Umwandlung unseres Energiesystems spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Im Zuge dieses Beitrags wird zunächst die Ausgangslage - am Beispiel des derzeitigen Österreichischen Energiesystems - dargestellt. Es folgt die Vorstellung einer Studie, welche die grundsätzliche Machbarkeit eines vollständig umgewandelten Energiesystems zeigt. An der FH Salzburg entsteht ein H2DemoLab, welches als Blaupause für lokal angesiedelte, regional verankerte Energiesysteme dienen soll. träger Wasserstoffgas als „einzige radikale Heilung unserer Energie-Syndrom-Beschwerden“, insbesondere der kontinuierlich steigenden CO 2 -Konzentration in der Erdatmosphäre [2]. Es dauerte neuerdings etwa 30 Jahre, bis endlich „alle Welt [...] von erneuerbaren Energien [redet], mit Sympathie wie für schönes Wetter. Kaum jemand bestreitet noch, dass erneuerbare Energien die Perspektive für die Energieversorgung der Menschheit darstellen“, konstatierte Hermann Scheer in seinem Buch „100 % Jetzt! Der Energethische Imperativ“ [3]. Wasserstoff-integrierte Energiesysteme 90 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen Nun endlich scheint die Zeit reif geworden zu sein, den schon so lange für notwendig erachteten Wandel auch tatsächlich einleiten zu können. Beginnen wir mit einer wichtigen heuristischen Unterscheidung zwischen zwei ideal-typischen Formen radikalen Wandels: Transformation versus Transition [4]. Die Unterscheidung zwischen diesen zwei Formen des Wandels ist zentral für das Verständnis der vor uns liegenden „Energiewende“. Der Begriff Transition beschreibt in diesem Zusammenhang einen kontrollierten Übergang zu ex ante definierten Zielen auf Basis bestehender Grundstrukturen. Dieser Übergang wird oft von technologischer Innovation angetrieben, begleitet und kontrolliert durch politische Steuerung und vordefinierte Rahmenbedingungen. Im Gegensatz dazu steht der Begriff Transformation für einen viel tiefer gehenden strukturellen Wandel, hervorgerufen durch soziale und technologische Innovation, jedoch verknüpft mit Zieloffenheit und der Bereitschaft zur Änderung von gesellschaftlichen Grundstrukturen. Derart grundlegende Änderungen bedeuten eine Neugestaltung der Art zu wirtschaften und zu leben. Derzeitige Bemühungen um den Energiewandel lassen allerdings darauf schließen, dass wir es bisher eher mit einer Transition zu tun haben - eine Fortführung des „alten Wirtschafts- und Gesellschaftssystems“ im neuen, grünen Kleide. Die vor uns liegenden Herausforderungen verdeutlichen jedoch die Notwendigkeit, zu einem nachhaltigen Zustand zu gelangen, der das wirtschaftliche und soziale Leben in übergeordnete, natürliche Ökosysteme eingebettet betrachtet. Diese Wieder-Einbettung gesellschaftlicher Systeme in natürliche Ökosysteme wird dann möglich, wenn in die Tiefenverhältnisse der Produktion und Reproduktion eingegriffen wird [5]. Die Umwandlung unseres Energiesystems spielt hierbei eine Schlüsselrolle. Wie gelingt es nun, durch eine Transformation unseres Energiesystems zu einer Wiederherstellung der sogenannten natürlichen oder „göttlichen Ordnung“ der Natur“ zu gelangen, um mit den Worten Justis zu sprechen, also zu einem geschlossenen Energiekreislauf ohne Vergiftung der Umwelt? Diesen Fragen wollen wir uns in diesem Beitrag widmen. Energiewende - Das Potenzial Im Folgenden wird eine Studie bzw. ein Forschungsprojekt vorgestellt, welche zum Ziel hatte, unter Verwendung eines leistungsfähigen energieökonomischen Optimierungsmodells ein volkswirtschaftlich optimiertes dekarbonisiertes Energiesystem zu entwerfen, in dem mit einer umweltverträglichen Nutzung von ausschließlich erneuerbaren Energiequellen und dem Einsatz CO 2 -neutraler Technologien der gesamte Energiebedarf Österreichs dauerhaft, leistbar und versorgungssicher gedeckt werden kann. Die Studie ONE 100 wurde von der Wagner & Elbling GmbH (www.wecom.at) im Auftrag von AGGM Austrian Gas Grid Management AG, Austrian Power Grid AG, Energienetze Steiermark GmbH, Gas Connect Austria GmbH, Netz Burgenland GmbH, Netz Niederösterreich GmbH, Netz Oberösterreich GmbH, Salzburg Netz GmbH, TIGAS Erdgas Tirol GmbH, Trans Austria Gasleitung GmbH, Vorarlberger Energienetze GmbH, Wiener Netze GmbH erstellt [6]. Ohne vorab definierte Szenarien festzulegen, wurde ein idealtypisches, hundertprozentig dekarbonisiertes und optimiertes Energiesystem für Österreich unter den folgenden Prämissen berechnet: Greenfield Ansatz: keine Berücksichtigung vorhandener energietechnischer Anlagen und Infrastruktur - die Prämisse der Neu-Errichtung zeigt damit einen dauerhaft optimalen Zielzustand für das dekarbonisierte Energiesystem Inputparameter für die Berechnung des dekarbonisierten Energiesystems ONE 100 durch das energieökonomische Optimierungsmodell − Regionalisierter Nutzenergiebedarf der Haushalte, des Gewerbes, der Industrie, der Landwirtschaft und der Mobilität − Realistische regionalisierte Potentialeinschätzungen für erneuerbare Energiegewinnung in Österreich − Kosten und Wirkungsgrade für mehr als 140 Technologieoptionen für Energieproduktion, -umwandlung, -speicherung, -transport und -verbrauch − Rohstoff- und Importpreise für erneuerbare Energieträger Bild 1: Gewinnung des H 2 aus H 2 O und Recycling des Verbrennungsproduktes H 2 O durch die Biosphäre. Nach Seifritz. [2] Biosphäre Energie- Input bei H 2 - Produktion O 2 H 2 H 2 O O 2 H 2 O Rezykliert Energie-Output beim Verbraucher 91 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen − Produktions- und Bedarfsprofile eines repräsentativen Klimajahres, sodass jeder Bedarf zu jeder Zeit mit erneuerbarer Energie versorgungssicher gedeckt werden kann Simultane Optimierung des gesamten Energiesystems in einem integrierten Modell (alle Energieträger, gesamte Wertschöpfungskette, regionalisiert, optimale Nutzung der energietechnischen Anlagen, sektorgekoppelt) mit dem Optimierungskriterium der Minimierung der volkswirtschaftlichen Kosten Technologie- und Ergebnisoffenheit - keine ex ante Vorgaben hinsichtlich Energieträgereinsatz, Endanwendungstechnologien, etc. Berechnungsergebnisse: − regionale Kapazitäten je Technologie für Produktion, Umwandlung, Speicherung und Verbrauch sowie für Verteil- und Transportnetze für Strom, Gas und Fernwärme − volkswirtschaftliche Kosten des dekarbonisierten Systems Die Berechnungsergebnisse aus der Studie ONE 100 liefern hinsichtlich des Umbaus des Energiesystems wesentliche Entscheidungs- und Diskussionsgrundlagen, wie beispielsweise die Dekarbonisierungsziele kostenneutral erreicht werden können. Neben dem Nachweis der volkswirtschaftlichen Sinnhaftigkeit der Nutzung aller regionaler erneuerbarer Energiepotenziale wurden auch die entsprechenden Größenordnungen für den erforderlichen Ausbau der erneuerbaren Energiequellen und der notwendigen Etablierung von effizienten Umwandlungs-, Transport-, Speichersowie Endanwendungstechnologien erhoben. Auf Basis einer das gesamte Energiesystem betrachtenden simultanen Optimierungsrechnung und des gewählten „Grüne-Wiese-Ansatzes“ zeigt diese Studie erstmals in einer gesamthaften Betrachtung auf, welche Energieträger, Produktions-, Speicher- und Anwendungstechnologien inklusive der dafür erforderlichen Transportinfrastruktur jedenfalls Teil eines volkswirtschaftlich optimierten, dekarbonisierten und versorgungssicheren Energiesystems sein müssen (Bild 1). Das bestehende Energiesystem muss demnach durch ein deutlich umgebautes Energiesystem abgelöst werden. Die berechneten Kosten des Energiesystems sind mit dem heutigen BIP-Anteil von 9 % am Energiesystem vergleichbar. ONE 100 beweist somit, neben der technischen Machbarkeit, auch dessen grundsätzliche Leistbarkeit. Die Kostenstruktur verschiebt sich allerdings, insofern eine wesentliche Senkung des Energieeinsatzes mit einer deutlichen Steigerung der Kosten je Energieeinheit gekoppelt ist. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass die Kosten des neuen Energiesystems aufgrund der Investitionskosten am Weg zur vollständigen Dekarbonisierung zuerst steigen, bevor sie langfristig sinken. Ausblick Das Potenzial der bisherigen Ergebnisse lässt sich wie folgt darstellen: In Kombination mit den Netzdaten des Energieversorgers wäre es nun in einem nächsten Schritt möglich, die Energieflüsse im gesamten Gemeindegebiet inklusive der Industriebetriebe abzubilden, um den gesamten Energiestatus der Gemeinde darzustellen. Über das Lastprofil kann in Folge ein wasserstoff-integriertes Energiesystem ausgelegt werden, um Überschüsse aus Photovoltaik-Anlagen zu speichern und bei Bedarf rückzuverstromen. Zu diesem Zweck wird nun an der FH Salzburg die Demonstrationsanlage H2DemoLab-Smart Region (Bild 2) errichtet, um erstmals ein wasserstoff-integriertes Energiesystem mit Anbindung an die eigene Photovoltaikanlage in seiner Gesamtheit zu untersuchen. Dadurch soll es möglich werden, einerseits reale Systemdaten über die elektrochemische Wasserzerlegung und Rückverstromung zu erhalten, um in Folge auf die Anwendbarkeit in Energieanlagen schließen zu können. Neben der Wissensgenerierung im Aufbau eines wasserstoffbasierenden Energiesystems und der Abbildung und Charakterisierung des Systemverhaltens liegt der Innovationsprozess in der Entwicklung eines Optimierungsmodells zur Szenarienanalyse, Bild 2: H2-DemoLab auf dem Campus Kuchl. © Fachhochschule Salzburg GmbH 92 1 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Krisen managen IMPRESSUM Transforming Cities erscheint im 8. Jahrgang Herausgeber Eberhard Buhl, M.A. Verlag Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22, D-72270 Baiersbronn-Buhlbach Tel. +49 7449 91386.36 · Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de · www.trialog.de Redaktionsleitung Dipl.-Ing. arch. Christine Ziegler VDI (verantwortlich) Tel: +49 7449 91386.43 Fax: +49 7449 91386.37 christine.ziegler@transforming-cities.de Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 8 vom 01.01.2023 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 vertrieb@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist zum Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. Es ist untersagt, die Inhalte digital zu vervielfältigen oder an Dritte weiterzugeben, sofern nicht ausdrücklich vereinbart. Bezugsgebühren JahresAbo Plus - Inland (Print+ePaper+Archiv): 4 x gedruckte Ausgabe + elektronische Web-Ausgabe + Zugang zu allen bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 172,- (inkl. MwSt., zzgl. EUR 12,- Versandkosten) JahresAbo Plus - Ausland (Print+ePaper+Archiv): 4 x gedruckte Ausgabe + elektronische Web-Ausgabe + Zugang zu allen bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 172,- (mit UID ohne VAT, zzgl. EUR 25,- Versandkosten) JahresAbo ePlus - Inland (ePaper+Archiv): 4 x elektronische Web-Ausgabe + Zugang zu allen bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 160,- (inkl. 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KG, Schierling, www.koessinger.de Herstellung Trialog, Baiersbronn-Buhlbach, www.trialog.de Titelbild Hochwasserschutz. © ClipDealer Copyright Vervielfältigungen durch Druck und Schrift sowie auf elektronischem Wege, auch auszugsweise, sind verboten und bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Abbildungen übernimmt der Verlag keine Haftung. Eine Publikation der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, Baiersbronn-Buhlbach ISSN 2366-7281 (print) www.trialog.de/ agb mit dem die Leistungsfähigkeit der Anlage abgeschätzt, ihre Anbindung an das Energienetz simuliert und das Sektorkopplungspotenzial evaluiert werden kann. Es kann dafür eingesetzt werden, unter Berücksichtigung von Bedarfs- und Wetterprognosen sowie dem Anlagenverhalten, optimale Fahrpläne und Betriebszustände zu berechnen. Resumée Zurück zum Anfang - wir hatten die Frage gestellt, wie die Transformation zu einem neuen, auf regenerativen Energiequellen basierenden Energiesystem gelingen kann. Für die Beantwortung dieser Frage wurde im Zuge dieses Beitrags zunächst die Ausgangslage - am Beispiel des derzeitigen Österreichischen Energiesystems - dargestellt, sowie auf die grundsätzliche Machbarkeit eines umgewandelten Energiesystems verwiesen, vorgestellt durch die Studie ONE 100 . Transformation - in ihrem Wortsinn - bedeutet jedoch mehr: sie steht für eine Neu-Anordnung, eine Umwandlung der inneren Struktur. Die Umwandlung unseres derzeitigen Energiesystems bedeutet also nicht nur, bestehende Technologien durch neue zu ersetzen, sondern unsere gesamten Denk- und Handlungsmuster zu erneuern. Es gilt also, zu einem völligen Umdenken, von linearen, verbrauchsorientierten Denkmustern zurück zu naturgegebenem Kreislaufdenken, zu gelangen. Ein umgewandeltes Energiesystem wird veränderter Handlungsmuster bedürfen, und solche auch hervorbringen. Ziel unserer Anstrengungen muss es also sein, nicht nur die technologischen Herausforderungen zu meistern, sondern zu einer Wiederherstellung der natürlichen Kreisläufe zu gelangen. Kurzum: zu einer Wiedereinbettung unserer gesellschaftlichen Struktur in deren übergeordnete ökologische Systeme. LITERATUR [1] Diekmann B., Rosenthal E.: Schlussbetrachtungen. In: Energie. Springer Spektrum, Wiesbaden, 2014. [2] Justi, E., Brennecke, P., Kleinwächter, J.: Die Funktion der Wasserstoff-Druckgas- Transport- und Speicherleitung in einer Wasserstoff-Wirtschaft. Veröffentlicht in: Abhandlungen der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft Band 32, (1981) S. 153 - 185. [3] Scheer, H.: 100% JETZT! Der Energethische Imperativ. Wie der vollständige Wechsel zu erneuerbaren Energien zu realisieren ist. Kunstmann Verlag, München, 2010. [4] Stirling, A.: Emancipating Transformations: from controlling „the transition“ to culturing plural radical progress. In: Scoones, I./ Leach, M./ Newell, P. (eds.): The politics of Green Transformations. London: Routledge, 2014. [5] Sommer, B., Welzer, H.: Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. Transformationen Band 1, oekom Verlag, München, 2014. [6] Austrian Gas Grid Management AG (AAGM): Projekt „ONE 100 - Österreichs nachhaltiges Energiesystem - 100 % dekarbonisiert“, 2021. Dr.rer.soc.oec. Maria-Christina Brunauer Leiterin der Initiative Zukunft NOVAPECC GmbH Kontakt: mc.brunauer@novapecc.com FH-Prof. Dr.-Ing. DI M.eng. Stefan Netsch Fachbereichsleiter Städtebauliche Planung, Smart Buildings in Smart Cities Fachhochschule Salzburg GmbH Kontakt: stefan.netsch@fh-salzburg.ac.at FH-Prof. Univ.Lektor DI DI (FH) Dr.rer.nat. Georg Chr. Brunauer Fachhochschule Salzburg GmbH Techn. Universität Wien Kontakt: georg.brunauer@fh-salzburg.ac.at Harald Rettenegger NOVAPECC GmbH Kontakt: harald.rettenegger@novapecc.com AUTOR*INNEN Gemeinschaftsprojekt Stadt Am 5. Juni 2023 erscheint die nächste Ausgabe von Transforming Cities mit dem Themenschwerpunkt Stadtentwicklung Urbane Zukunftsvisionen Innovative Planungsmethoden Bürgerbeteiligung und Teilhabe Zivilgesellschaft stärken Demokratie im Quartier Reallabore Governance Projektmanagement
