Transforming cities
tc
2366-7281
2366-3723
expert verlag Tübingen
65
2023
82
Wie sich die urbane Transformation schaffen lässt Wie sich die urbane Transformation schaffen lässt Zivilgesellschaft | Partizipation | Reallabore | Governance | Zukunftsvisionen Zivilgesellschaft | Partizipation | Reallabore | Governance | Zukunftsvisionen 2 · 2023 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Gemeinschaftsprojekt Stadt All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Baiersbronn | service@trialog.de 1 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, vor rund 2 500 Jahren brachte es der Athener Staatsmann Perikles auf den Punkt: „Die Menschen, nicht die Häuser machen die Stadt.“ Ein Gedanke, der auch heute gut und stimmig klingt: Eine Stadt der Menschen als Rahmen für vielfältiges gesellschaftliches Miteinander, inspirierendes Pflaster für Kreative und Vordenker, Freiraum für genussvolles Erleben. So weit, so ideal. Gegenwärtig sieht es leider ganz anders aus: Moderne Innenstädte sind eher selten Orte für entspanntes urbanes Leben. Sie sind anstrengend, überfordernd, zu voll, zu laut, zu teuer und dabei gleichzeitig eintönig - die hundertfach geklonten Einkaufsmeilen allerorts sind austauschbar. Wenig Besonderes, kaum Überraschendes: Stattdessen dominieren Verkehr, Konsum und Event-Kultur den Stadtraum. Kein Wunder also, wenn der Einkaufsbummel lieber gleich zuhause am Computer stattfindet. Und die Pizza dazu kommt bequem mit dem Liefer-Service. Die Frage also: Wer ist für diesen Zustand unserer Städte eigentlich verantwortlich? Mächtige Investoren und Immobilienunternehmen, Fast Food- und Handelsketten, die nur an Profit interessiert sind? Oder die Menschen, denen das „Machen“ ihrer Städte völlig entglitten ist. Viele überlegen, das Leben in der Innenstadt aufzugeben und das Glück außerhalb zu suchen, wo die Mieten günstiger sind und die Luft viel besser. Dabei geht es auch ganz anders, wie die Beiträge in dieser aktuellen Ausgabe von „Transforming Cities“ zeigen. Mit Gemeinsinn und bürgerschaftlichem Engagement lassen sich auch große Herausforderungen anpacken. Nicht allein und einzeln, sondern indem viele aktive Menschen und Organisationen vor Ort ihre Interessen formulieren und ihre Vorstellungen in die Tat umsetzen. Etwa mit dem Netzwerkprogramm „Engagierte Stadt“, das bundesweit Kooperationen zwischen Städten und Gemeinden fördert, oder mit Stadtlaboren zur Vitalisierung von Innenstädten. Oder mit dem Projekt „iResilience“, bei dem Bevölkerung und Verwaltung in Köln und Dortmund auf Quartiersebene gemeinsam Wege zur Klimaanpassung suchen, oder mit der Entwicklung eines Leitbildes, das in benachteiligten Stadtteilen Berlins für Umweltgerechtigkeit sorgen soll. Lesen Sie einfach selbst, wie auch heute engagierte Menschen, ganz im perikleischen Sinne, ihre Stadt „machen“. Christine Ziegler Redaktionsleitung „Transforming Cities“ Gemeinschaftsprojekt Stadt 2 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES INHALT 2 · 2023 FORUM Veranstaltungen 4 Kenntnisse auffrischen durch Firmenseminare Schulungsangebote der Gütegemeinschaft Kanalbau PRA XIS + PROJEKTE Energie 6 Dekarbonisierung: Pilotprojekt mit Vorbildcharakter Maßgeschneiderte Zukunftsstrategie für die Energieversorgung in Uelzen Leif Jannis Röttger 10 Wärmenetze im Wandel Umbau à la Carte Joachim Kelz Infrastruktur 12 Bei Starkregen bestens aufgestellt Mehring trifft Vorsorge gegen Folgen des Klimawandels Stadtraum 14 Zusammen für mehr Lebensqualität mit Grün Bürgerschaftliches Engagement in Städten Peter Menke Kommunikation 17 So nutzen Kommunen Breitbandnetze profitabel im Eigenbetrieb Sascha Fiedler 20 Design von Smart City- Applikationen Leitlinien und Best Practices für Partizipation, Motivation und Data Sharing Jakob Ossmann, Kasra Seirafi, Larissa König, Tobias Hagen 24 Dank Digitalisierung Städte nachhaltig planen Wie datengestützte Stadtsteuerung dabei hilft, Städte grün und gemeinwohlorientiert zu gestalten Jonas Merbeth, Anne-Marie Pellegrin THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt 28 Zivilgesellschaft stärken Andreas Grau 32 Graffiti - Pro und Contra Antje Flade 35 Lebensqualität in Großwohnsiedlungen Mehr als vier Wände und ein Dach über dem Kopf Natalie Heger, Ruth Schlögl 40 Gehört Hochhäusern die Zukunft? Die vertikale Stadt als nachhaltiger Begegnungs-, Wohn- und Produktionsort Simon Dietzfelbinger, Stefanie Lütteke 44 Das Einfamilienhaus als gesellschaftliche Herausforderung Verena Marie Loidl, Valerie Rehle, Anja Reichert-Schick, Christina Simon-Philipp Seite 14 Seite 28 Seite 32 © NED.WORK ©Nina Strehl on unsplash © Flade 3 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES INHALT 2 · 2023 48 Mit digitalen Tools Leerstand bekämpfen Digitales Leerstands- und Ansiedlungsmanagement als Schlüssel für lebendige Innenstädte Ariane Breuer 52 Mit gemeinsamer Laborarbeit Innenstädte vitalisieren Von Kommunen für Kommunen: LeAn als Prozessinnovation für Leerstands- und Ansiedlungsmanagement Eva Stüber 56 Umweltgerechtigkeit im Quartiersmanagement Höhere Lebensqualität in mehrfach belasteten Berliner Quartieren schaffen Larissa Donges, Alina Beigang 61 Organisation des Hitzeschutzes in Kommunen Institutionelle Verankerung eines Hitzeaktionsplans am Beispiel der Stadt Mannheim Olga Izdebska, Jörg Knieling, Franziska Ulrich, Alexandra Idler, Stephanie Müller 66 Nur gemeinsam kann Klimaanpassung gelingen Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt iResilience Stephanie Bund, Christine Linnartz, Rick Hölsgens 70 Wissenstransfer für Klimaanpassung Ergebnisse einer Kommunalbefragung in Hessen Thomas Friedrich, Verena Rossow 74 Das Reallabor Nordbahnhof Wie die Mobilitätswende gelingen kann Dennis Dreher, Lutz Gaspers, Rebecca Heckmann, Tom Kwakman 78 Radfahrende und Fußgänger*innen auf gemeinsamen realen und virtuellen Flächen Das CapeReviso- Projekt des Nationalen Radverkehrsplans NRVP Peter Zeile, Thomas Obst, Céline Schmidt-Hamburger, Nina Haug, Johanna Drescher, Uwe Wössner FOKUS Fachliteratur 84 Überflutungs- und Rückstauschutz - aktuell wie nie Ratgeber Rückstauschutz jetzt in aktualisierter 3. Auflage 84 Impressum Seite 48 Seite 56 © Sven Brandsma on unsplash Seite 66 © iResilience © SenUMVK/ Dagmar Schwelle 4 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen Grundsätzlich werden im Rahmen der RAL-Gütesicherung Kanalbau vergleichbare Fortbildungen anderer Bildungsträger wie zum Beispiel der DWA (Deutsche Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e. V.) als Schulungsnachweise akzeptiert. Gleichfalls besteht als unterstützende Maßnahme insbesondere bei größeren Unternehmen die Möglichkeit, unter klar definierten Randbedingungen interne Fortbildungen des Personals mit eigenen Referenten durchzuführen und anhand der Dokumentation die Schulung des Fachpersonals nachzuweisen. Auch in diesem Jahr bietet die Gütegemeinschaft Kanalbau eine Vielzahl von Weiterbildungsmaßnahmen für die Mitarbeiter der Gütezeicheninhaber an - sowohl online, aber verstärkt auch wieder als Präsenzveranstaltungen. „Während das Frühjahr 2022 noch durch die Auflagen der Covid-19-Pandemie geprägt war, gestalteten sich der Sommer und das zweite Halbjahr bereits wieder deutlich entspannter“, wirft Dipl.-Ing. Jörg Junkers, Güteschutz Kanalbau, einen Blick zurück auf das vergangene Jahr. Offene Firmenseminare - ursprünglich von Januar bis März 2022 geplant und mit Blick auf das Infektionsgeschehen als Präsenzveranstaltung abgesagt - konnten teilweise als Online-Seminare durchgeführt werden. Darüber hinaus fanden viele ausgefallene Inhouse-Seminare im Zeitraum von April bis Dezember wieder als Präsenz-Veranstaltung statt. Hohe Nachfrage Dieser Trend setzt sich 2023 fort, wobei sich die Nachfrage auf einem hohen Niveau befindet. Diese vollumfänglich zu befriedigen - insbesondere mit Blick auf die Anzahl der Prüfingenieure, die die Seminare in der Regel durchführen - stellt eine regelrechte Herausforderung dar. „Unsere Firmenseminarreihe bieten wir - soweit es die Umstände zulassen - von Januar bis Ende März an“, so der Leiter Bereich Grundlagen weiter. „Aufgrund der starken Nachfrage und der beschränkten Kapazitäten werden allerdings Anfragen bevorzugt berücksichtigt, die eine Veranstaltung zum Nachweis der regelmäßigen Schulung innerhalb der RAL-Gütesicherung benötigen.“ Kenntnisse auffrischen durch Firmenseminare Schulungsangebote der Gütegemeinschaft Kanalbau Das umfangreiche Angebot an Schulungen und Veranstaltungen für Gütezeicheninhaber ist neben der Prüfungstätigkeit ein wichtiger Bestandteil des Dienstleistungspaketes RAL-Gütesicherung Kanalbau. Gütezeicheninhaber sichern durch überbetriebliche Fortbildung die Qualifikation der Mitarbeiter, die damit auf dem aktuellen Kenntnisstand der allgemein anerkannten Regeln der Technik sind. Bild 1: Auch in diesem Jahr bietet die RAL-Gütegemeinschaft ausführenden Unternehmen mit RAL-Gütezeichen Kanalbau eine Vielzahl an Firmenseminaren zur überbetrieblichen Fortbildung an. © Güteschutz Kanalbau 5 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen Offen oder Inhouse Über das Bundesgebiet verteilt finden sogenannte Offene Seminare statt, welche zu bestimmten Terminen an einem Ort in der Nähe besucht werden können. Bei einer Mindestanzahl von zwölf Teilnehmern und nach Absprache mit dem Güteschutz Kanalbau ist auch ein Termin vor Ort bei den Unternehmen möglich. Bei diesen „Inhouse-Seminaren“ kann noch gezielter und individueller auf gewünschte Schwerpunkte eingegangen werden. Vorgestellt werden unter anderem Neuerungen und Entwicklungen zur Gütesicherung, Neuerscheinungen im Regelwerk und Leitfäden zur Eigenüberwachung. Die Diskussion über Qualitätssicherung sowie Erfahrungen und Hinweise zur fachgerechten Bauausführung runden die Veranstaltungen inhaltlich ab. Folgende Offene Seminare im Präsenzbzw. im Online-Format werden 2023 angeboten: 88 Firmenseminare „Allgemeiner Kanalbau“ (in Präsenz) 8 Firmenseminare „Kanalbau kompakt für Bauleiter“ (Online) 5 Firmenseminare „Kanalbau von Entwässerungssystemen auf Grundstücken“ (Online) 5 Firmenseminare „Rohrvortrieb“ (in Präsenz) 9 Firmenseminare „Kanalsanierung kompakt für Bauleiter“ (Online) 5 Firmenseminare „Inspektion“ (Online) 5 Firmenseminare „Reinigung“ (Online) 5 Firmenseminare „Dichtheitsprüfung“ (Online) Hinzu kommen rund 500 Inhouse-Veranstaltungen bis zum Ende des Jahres. Angebote wie diese fördern die Qualifikation des Personals und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur Sicherheit auf den Baustellen und zur geforderten Ausführungsqualität. Gleichzeitig sind Unternehmen, die über gut ausgebildete Mitarbeiter verfügen, die ihre Qualifikation kontinuierlich aktualisieren, deutlich wettbewerbsfähiger. Ein Indiz hierfür ist das Gütezeichen Kanalbau, mit dem Unternehmen ihre Zuverlässigkeit, technische Leistungsfähigkeit und Erfahrung zu einem bestimmten Leistungsbereich gegenüber dem Auftraggeber dokumentieren. Der Güteausschuss der Gütegemeinschaft prüft in diesem Zusammenhang, dass Unternehmen mit Gütezeichen für das gesamte dem Ausführungsbereich zugeordnete Fachpersonal über Schulungsnachweise verfügen, die nicht älter als vier Jahre sind. Weitere Angebote Darüber hinaus hat die Gütegemeinschaft Kanalbau in den letzten Jahren eine Reihe weiterer Angebote zur Qualifizierung des Fachpersonals ins Leben gerufen. Sie stehen auf der Homepage www.kanalbau.com unter dem Begriff AKADEMIE zur Verfügung. Hierzu gehören neben dem Veranstaltungsangebot diverse fachbezogene Arbeitshilfen, Übersichten und Volltextversionen zum Technischen Regelwerk sowie ein E-Learning-Kurs, der zur zeit- und ortsunabhängigen Weiterbildung im Selbststudium genutzt werden kann. Er richtet sich an Ingenieure, Techniker, Meister und Poliere und bietet erfahrenen Mitarbeitern die Möglichkeit, bestehendes Wissen zu festigen und zu erweitern. Neuen Mitarbeitern und Quereinsteigern bietet der Kurs die Chance, Grundlagenkenntnisse im Kanalbau zu erlangen oder aufzufrischen. Sechs Monate freigeschaltet Die Arbeit mit dem E-Learning-Modul umfasst 40-Unterrichtseinheiten à 45 Minuten. Einfache Strukturen, eine übersichtliche Menüführung sowie aussagekräftige Visualisierungen und Erläuterungen erleichtern das Lernen. Die Kursteilnehmer können ihren individuellen Lernfortschritt prüfen und erhalten eine Rückmeldung innerhalb des E-Learnings, ob Fragen richtig beantwortet wurden. „Der beantragte Zugang wird für sechs Monate freigeschaltet“, so Junkers, „Unternehmen mit Gütezeichen AK1, AK2, AK3 können zeitgleich bis zu zehn Zugänge beantragen und kostenfrei nutzen.“ Als zusätzliche Arbeitshilfe enthält das E-Learning-Modul ein umfangreiches PDF- Teilnehmerskript im Download. RAL-Gütegemeinschaft Güteschutz Kanalbau, Bad Honnef E-Mail: info@kanalbau.com, www.kanalbau.com KONTAKT Bild 2: Einen Überblick über das umfangreiche Angebot an Schulungen und Veranstaltungen für Gütezeicheninhaber gibt die Broschüre „Überbetriebliche Fortbildung 2023“. Sie steht unter www.kanalbau. com unter den Stichworten „Veröffentlichungen“ , „Infoschriften“ als PDF-Datei zum Herunterladen bereit. © Güteschutz Kanalbau 6 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Um die Energiewende in der Bundesrepublik voranzutreiben, ist es unerlässlich, dass unter anderem kommunale Unternehmen, wie die Stadtwerke Uelzen, das Thema Nachhaltigkeit zielgerichtet regional weiter ausbauen. In enger Zusammenarbeit mit Becker Büttner Held, einer der führenden Kanzleien für die Energie- und Infrastrukturwirtschaft, wurde nun ein detailliertes Konzept für die CO 2 -freie Energieversorgung der Hansestadt Uelzen entwickelt. Es enthält konkrete Maßnahmen für den Umbau des Energiesystems im Zeitraum von 2023 bis 2045. Seit langem engagieren sich die Stadtwerke Uelzen für mehr Nachhaltigkeit in ihrer Region. Seit über zwanzig Jahren agieren sie unter der Dachmarke mycity und haben bereits im Jahr 2008, als einer der ersten Energieversorger bundesweit, die gesamte Strombelieferung für Privatkunden auf 100 % Ökostrom umgestellt - und ihr Engagement seitdem stetig vorangetrieben. Dabei setzt mycity auf einen breiten Mix an Themenfeldern. Eine zentrale Rolle spielen unter anderem der Ausbau von E-Mobilität und der Ausbau regenerativer Energien, wie beispielsweise Photovoltaik oder Windkraft. Auch das Potenzial zur Nutzung von Geothermie wird gerade untersucht. In diesem Jahr konnten bereits zwei Meilensteine erfolgreich abgeschlossen werden. Dekarbonisierung: Pilotprojekt mit Vorbildcharakter Maßgeschneiderte Zukunftsstrategie für die Energieversorgung in Uelzen Klimaneutralität, Energieerzeugung, Energiewende, Stadtwerke, Elektromobilität, Photovoltaik Leif Jannis Röttger Klimaneutralität bis 2045 - so lautet die Marschroute der Bundesregierung. Insbesondere Energieversorgern kommt hier eine Schlüsselrolle zu. Die Stadtwerke Uelzen nehmen diese Herausforderung an und entwickeln aktuell konkrete und maßgeschneiderte Maßnahmen, um ihr Versorgungsgebiet zu dekarbonisieren. Hierfür sind eine umfassende Transformation von Energieerzeugung und innovative Konzepte für die künftige Wärmeverteilung nötig. Ein Konzept zur Dekarbonisierungstrategie liegt den Stadtwerken Uelzen bereits vor. Bild 1: Uelzens Stadtbuslinien fahren komplett elektrisch. © Stadtwerke Uelzen 7 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Projekt Elektromobilität: Uelzens Stadtbuslinien fahren elektrisch Ursprünglich angegangen wurde das Thema E-Mobilität bereits vor ein paar Jahren. So nahmen die Stadtwerke Uelzen 2019 zehn High Power Charger in Betrieb. Damit setzte das Unternehmen deutschlandweit ein Zeichen und nahm eine klare Vorreiterrolle in Sachen E-Mobilität ein. Denn nur eine gute Ladeinfrastruktur bietet Anreize für den Umstieg auf Elektrofahrzeuge. Seitdem stehen die Zeichen auf E-mobil und nun wird es in Uelzen noch leiser. Und noch sauberer. Grund dafür sind sieben neue Elektrobusse, die seit Ende März auf den Stadtbuslinien eingesetzt werden - und damit die bisherigen Dieselbusse ersetzen. Der Strom, mit dem die neuen Busse beladen werden, stammt ausschließlich aus regenerativen Energien. Der Startschuss für noch mehr Nachhaltigkeit fiel in der Hansestadt in feierlichem Rahmen: Hier haben der Staatssekretär Matthias Wunderling- Weilbier vom Niedersächsischen Ministerium für Bundes- und Europaangelegenheiten und Regionale Entwicklung, Uelzens Bürgermeister Jürgen Markwardt, Norman Einfeldt, Geschäftsführer der Regionalbus Braunschweig GmbH sowie Markus Schümann, Geschäftsführer der Stadtwerke Uelzen ihre Grußworte gehalten. Als Betreiber des ÖPNV in der Hansestadt hat mycity diese Umstellung geplant und umgesetzt. Rund 411 Tonnen CO 2 sollen so jährlich eingespart werden. Staatssekretär Wunderling- Weilbier unterstrich die Bedeutung für die Region und den Modellcharakter, den das Projekt für andere Städte haben kann: „Die E-Busse sind ein wichtiger Baustein für eine nachhaltige Mobilität in der Hansestadt und eine zukunftsweisende Gestaltung des öffentlichen Personennahverkehrs. Die Stadtwerke und die Hansestadt Uelzen erfüllen dabei zudem eine wichtige Vorbildfunktion für die Bürgerinnen und Bürger und die Wirtschaft vor Ort. Für die Umsetzung des „Green Deal“ der EU kann die Region Uelzen künftig eine zentrale Rolle spielen! “ Hintergrund zum Projekt Erste Berührungen mit einem E-Bus, der eine brauchbare Reichweite für den Stadtbusverkehr hat, hatten die Stadtwerke bereits 2019. Da entstand der konkrete Ansatz, Uelzen auf eine rein elektrisch betriebene Busflotte umzustellen. Intern haben die Verantwortlichen den Gedanken dann weiterentwickelt und eine Machbarkeitsstudie in Auftrag gegeben: Zwei Wochen lang wurden mit den alten Dieselbussen mittels GPS-Sender Daten gesammelt. Bei der Auswertung ging es um Fragen wie: Welche Steigungen gibt es auf den Strecken? Und wie lange sind die Standzeiten an Ampeln? Informationen wie diese waren wichtig, um den benötigten Stromverbrauch einschätzen zu können. Denn immerhin legte der Fuhrpark in der Vergangenheit jährlich eine Strecke von etwa 450 000 km zurück. Entstanden ist dabei ein Modell mit sieben E-Bussen, die rollierend eingesetzt werden - zwei Dieselbusse verbleiben als Ersatzund/ oder zur Verstärkung in der Hinterhand. Das Modell stand - nun musste noch der passende Hersteller gefunden werden. Aufgrund des Projektvolumens haben die Stadtwerke das Projekt europaweit ausgeschrieben. Letztendlich fiel die Entscheidung auf einen der größten Anbieter: VDL Bus & Coach, einen renommierten niederländischen Hersteller von E-Bussen mit Produktionsstätten in Belgien und den Niederlanden. Vorgesehen war die Einführung der neuen Modelle ursprünglich für Mitte letzten Jahres, das hatte sich jedoch coronabedingt auf Herstellerseite verzögert. Ende November war es dann (fast) soweit: Im Rahmen der Einweihung des neuen ZOB am Rathaus in Uelzen enthüllte Jürgen Markwardt, Bürgermeister der Hansestadt Uelzen, als Überraschung den ersten von sieben Elektrobussen. So konnten sich die Gäste vor Ort schon mal einen ersten Eindruck verschaffen - vom eindrucksvollen Design, über die moderne Innenausstattung, bis hin zur ersten Probenutzung der Sitzplätze. Die Investitions- und Förderbank Niedersachsen (NBank) fördert das Projekt in Form einer Anteilsfinanzierung mit einem Satz von 90 %. Dabei wurde die Zuwendung in Höhe von 3,7 Mio. Euro aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) zur Verfügung gestellt. Eine Investition in Hinblick auf das übergeordnete Ziel: Mit dem Einsatz der E-Busse stärkt mycity zukunftsweisende Themenfelder für die Hansestadt und Umgebung. Drei Aspekte stehen dabei im Fokus: Klimaschutz: Laden mit 100 % Ökostrom trägt erheblich zur Energie- und Ressourceneffizienz bei. Damit passt dieser Schritt zum nachhaltigen Mobilitätskonzept in Uelzen - und stärkt die notwendige unabhängige Energieversorgung. Infrastruktur: Grundvoraussetzung zur Entwicklung der Region ist ein leistungsfähiger und umweltfreundlicher ÖPNV - dies leistet die Umstellung auf eine elektrisch betriebene Busflotte. 8 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Vorreiterfunktion: Die Ergebnisse und Erkenntnisse lassen sich auf vergleichbare Städte übertragen - so kann das Projekt als Modell für weitere Konzepte dienen. Dabei stellt sich vielen aber auch die Frage: „Immer mehr Elektrofahrzeuge: Wird das Stromnetz reichen? “ Nach jetzigem Stand reichen die Kapazitäten aus. Doch natürlich ist nicht auszuschließen, dass das Netz irgendwann an seine Grenzen stoßen wird. Dabei wird nicht unbedingt die Menge, sondern eher die gleichzeitige Belastung der Netze problematisch. Zum Beispiel dann, wenn alle Menschen ihr Auto zur gleichen Zeit nach der Arbeit ans Netz anschließen. Solche Szenarien haben die Stadtwerke Uelzen in ihrem Versorgungsgebiet aber im Blick und steuern mit vorausschauender Ausbauplanung frühzeitig dagegen. Meilensteinprojekt Photovoltaik: PV-Park an der Justizvollzugsanstalt Uelzen Grüne Energie für etwa 2 400 Haushalte und eine Einsparung bis zu 2,5- Mio. kg CO 2 jährlich: Das leistet der neue Solarpark auf über 30 000 m 2 an der Justizvollzugsanstalt Uelzen ( JVA). Dieser PV-Park ist ein Pilotprojekt des Landes Niedersachsen, um landeseigene Liegenschaften für Photovoltaik zu nutzen. Mitte August 2022 haben die Justizvollzugsanstalt Uelzen und mycity den Pachtvertrag unterzeichnet. Anfang Dezember 2022 ist die Anlage dann in den Testbetrieb gestartet. Die offizielle Inbetriebnahme fand Ende Januar 2023 in feierlichem Rahmen statt. Dazu haben unter anderen die niedersächsische Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann, der Niedersächsische Finanzminister Gerald Heere sowie Uelzens Bürgermeister Jürgen Markwardt ihre Grußworte gesprochen. Hintergrund zum Projekt Vorbildlich waren insbesondere die schnelle Umsetzung und damit die gute Zusammenarbeit über verschiedene Institutionen hinweg. Denn Krisensituationen, wie Lieferengpässe oder steigende Materialkosten, stellten den Bau vor große Herausforderungen. Schnelle Abstimmungen und Teamwork brachten dennoch in nur sieben Monaten alle wichtigen Entscheidungen auf den Weg. Gleiches galt für die konkrete Bauphase: Vom ersten Spatenstich bis zur Inbetriebnahme brauchte es nur vier Monate. Drei Mittelspannungsstationen auf dem Gelände sorgen nun für die Umwandlung von 800 V in 20 000 V, um die Solarenergie ins Netz zu speisen. Aufgrund der Grundstückswahl an der Justizvollzugsanstalt galt es außerdem, beim Bau spezielle Sicherheitsmaßnahmen zu berücksichtigen. Inzwischen bringen unter anderem 5 000 Sicherheitsschrauben und 900 Meter Sicherheitsdraht zusätzlichen Schutz. Als Pilotprojekt des Landes Niedersachsen ist dieser PV-Park ein Symbol der konstruktiven und ergebnisorientierten Zusammenarbeit zwischen Land, Behörden und Kommunen auf dem aktiven ÜBER DIE STADTWERKE UELZEN mycity - unter dieser Dachmarke agiert das regionale Energieversorgungsunternehmen seit 2001. Es versorgt seine Kundschaft in und um Uelzen mit Ökostrom, Erdgas und sauberem Trinkwasser. Zudem verantwortet es den öffentlichen Personennahverkehr sowie das lokale Hallen- und Freibad (BADUE). Nachhaltige Zukunft leben: Das steht hier im Fokus. Daher engagieren sich die Stadtwerke Uelzen mit Nachdruck in Bereichen wie: Ökostrom: rund 9 000 Haushalte beliefert mycity mit Ökostrom Windenergie: Beteiligung am Trianel Windpark Borkum E-Mobilität: Inbetriebnahme von zehn High Power Chargern und Umstellung der kompletten Stadtbusflotte auf E-Fahrzeuge Photovoltaik: mehrere Photovoltaik-Anlagen und -Parks Wasserkraft: Wasserkraftanlage an der Ilmenau Bild 2: Photovoltaik auch auf dem Dach des Hundertwasser- Bahnhofs. © Stadtwerke Uelzen 9 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Leif Jannis Röttger, M.A. Prokurist Stadtwerke Uelzen GmbH l.roettger@stadtwerke-uelzen.de AUTOR Weg zur Energiewende. Gerald Heere unterstrich noch einmal die Bedeutung der Anlage für die Energiewende: „Unser Ziel ist es, alle öffentlichen Liegenschaften bis 2035 in der Gesamtbilanz klimaneutral zu bewirtschaften. Mit einer jährlichen CO 2 -Einsparung von mehr als 2,5- Mio.- kg bringt uns diese Anlage dem Ziel einen Schritt näher.“ Die Stadtwerke Uelzen betreiben zudem mehrere weitere Photovoltaik-Anlagen an öffentlichen Orten, wie beispielsweise dem Hundertwasser-Bahnhof, der Woltersburger Mühle, dem Badeland Uelzen (BADUE) sowie an Gebäuden der Polizei und des Roten Kreuzes. Zusätzlich sorgen noch PV-Parks im Ortsteil Holdenstedt sowie auf dem eigenen Gelände für mehr regenerative Energie. Solche großen PV-Parks bilden unter anderem die Grundlage für den Ausbau der Elektromobilität. Hier hat sich in den letzten Jahren auch einiges getan: Zahlreiche Ladestationen bieten den Bürger*innen in Uelzen eine wachsende Ladeinfrastruktur, neue Bauprojekte, wie das Stadtwaldpalais, werden direkt von Beginn an mit Lademöglichkeiten ausgestattet und Wallboxen wurden gefördert. Weitere Projekte für die Zukunft: Geothermie im Blick Auf dem Weg hin zu Klimaneutralität könnte auch Tiefengeothermie eine tragende Rolle spielen, indem man die Wärme durch den Einsatz von Großwärmepumpen nutzbar macht. Zum 1. Dezember 2022 hat das Landesamt für Bergbau, Energie und Geologie (LBEG) mycity eine Aufsuchungserlaubnis von Erdwärme zu gewerblichen Zwecken erteilt. Das Ziel dabei ist es, die vermuteten hervorragenden geothermischen Verhältnisse im sogenannten Uelzener Becken zu validieren. Aber das dauert: Entsprechende wissenschaftliche Ergebnisse erwarten die Stadtwerke Uelzen innerhalb von 24 Monaten. Erst dann können hieraus konkrete Schritte abgeleitet werden. Aber es besteht eine große Chance für Uelzen: Größere Wohngebäude, beheizte Gewerbeobjekte oder Einzelobjekte mit ganzjähriger Nutzung, wie das Schwimmbad BADUE sind nur einige Beispiele, die künftig durch geothermische Energie nachhaltig versorgt werden könnten. Da mehr als 40 % der genutzten Primärenergie bei Geothermie-Nutzung für das Heizen von Gebäuden verwendet wird, wäre das ein riesiger Schritt in Richtung Klimaneutralität und Unabhängigkeit in der Energieversorgung. Die Wichtigkeit letzterer haben zuletzt die Ereignisse rund um die Energiekrise unterstrichen. Mit diesem potenziellen Projekt würden die Stadtwerke Uelzen ein Stück Lebensqualität für die Hansestadt sichern: Die Nutzung von Geothermie verringert den CO 2 -Ausstoß enorm und kann so die Energiebilanz verbessern. Natürlich gibt es hierzu auch viele Fragen und Menschen, die Bedenken haben, dass ein Geothermie-Projekt in ihrer Region umgesetzt wird. Die heutige Technik ist allerdings sehr weit entwickelt und laut Umweltbundesamt sind keine Schäden durch die Bohrung zu befürchten. Viele Unsicherheiten entstehen aus Unwissen oder kursierenden Halbwahrheiten und können durch richtige Aufklärung relativiert werden. Sicher sind Bürger*innen auch in Bezug auf die Preise: Trotz hoher Anfangsinvestitionen wird durch die kommunale Kontrolle der Stadtwerke sichergestellt, dass die Preise dauerhaft fair und ausgewogen bleiben. Zukunftsstrategie für die Energieversorgung der Hansestadt Uelzen Klimaneutralität bis 2045 - in Uelzen wurde dafür bereits viel bewegt, es gibt aber mindestens noch genauso viel zu tun. Nicht außer Acht gelassen werden darf auch der Kostenpunkt: Denn ein Umbau der kompletten Infrastruktur sowie der Ausbau der erneuerbaren Energien sind mit enormen Investitionskosten verbunden. Fest steht hierbei: Für die Energiewende bedarf es politischer Unterstützung, wie im Falle der E-Busförderung von mycity. Zudem bedeutet eine Umstellung der Energieversorgung auch beispielweise eine einschneidende Veränderung für die einzelnen Haushalte, die vielleicht ihr Heizsystem komplett umrüsten müssen. Der Weg ist also äußerst komplex - denn von der Mobilität bis hin zur Energieversorgung müssen alle Lebensbereiche einbezogen werden. Hier setzen die Stadtwerke Uelzen mit ihrer über hundert Seiten starken Zukunftsstrategie an - mit dem Ziel, die Lebensqualität vor Ort zu fördern und Nachhaltigkeit zu leben. Bild 3: Neuer Photovoltaik-Park an der Justizvollzugsanstalt Uelzen. © Stadtwerke Uelzen 10 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie Es ist noch nicht lange her, dass ein Wärmenetz als klimafreundlich zählte, wenn die Wärme vor allem aus Holzhackschnitzeln kam. Doch heute ist es nicht mehr so einfach. Ein Konzept wie das Bioenergiedorf, das in bestimmten Fällen gut funktioniert, kann nicht die Lösung sein, wenn es darum geht, die Wärmenetze ganzer Länder zu dekarbonisieren. Vielmehr gilt es, die jeweiligen lokalen Ressourcen zu erschließen. In vielen Fällen muss man dafür auch unkonventionell denken. Manche Ressourcen lassen sich nur dezentral an bestimmten Standorten einbinden, andere fluktuieren zeitlich und erfordern neue Wärmespeicher, wieder andere eine Anpassung der Regelungen. In kurzer Zeit das jeweils beste Konzept zu finden und einzubinden, wird eine Schlüsselaufgabe für die Wärmewende sein. Im Großforschungsprojekt ThermaFLEX hat ein transdisziplinäres Team von 28 Partnern unter der Leitung von AEE INTEC die Erfahrungen aus zehn Demo- Projekten an unterschiedlichen Standorten zusammengetragen. ThermaFLEX wurde aus Mitteln des Klima- und Energiefonds gefördert und stand unter dem Schirm des Green Energy Lab als Teil des Programms „Vorzeigeregion Energie“. In den einzelnen Demo-Projekten geht es um sehr unterschiedliche Aspekte der Integration innovativer Wärmeerzeuger, die jeweils zum Gelingen eines Projektes nötig sind. Im Gegensatz zu vielen anderen Projekten stand bei ThermaFLEX nicht die Entwicklung eines klassischen Leitfadens im Vordergrund, der sich Schritt für Schritt abarbeiten ließe. Vielmehr bietet ThermaFLEX eine Auswahl an, aus der sich Wärmenetzbetreiber die für ihr Netz passenden Ansätze zusammenstellen und Wärmenetze im Wandel: Umbau à la Carte Wärmewende, Wärmenetze, Abwärme, Bioenergie, erneuerbare Energien Joachim Kelz Ein Wärmenetz schrittweise für einen klimafreundlichen Betrieb umzugestalten, ist immer eine individuelle Aufgabe. Das österreichische Leitprojekt ThermaFLEX hat zehn innovative Demo-Projekte in kleinen, mittleren und großen Fernwärmenetzen begleitet und ausgewertet. Herausgekommen ist eine Sammlung von Technologien und Methoden, aus denen sich die Wärmeversorger je nach den Anforderungen ihres Netzes ein eigenes Wärmewendemenü zusammenstellen können. Bild 1: Die Koordination der Stakeholder war bei ThermaFLEX ein zentrales Thema, wie hier bei der Planung der Sektorkoppelung mit der Kläranlage am Standort in Gleisdorf. Hier ist mittlerweile eine Wärmepumpe zur Nutzung der Energie aus Abwasser installiert. © Klimafonds / Krobath Bild 2: Grüne Energien werden auch in der Fernwärme- Versorgung immer wichtiger. Entsprechend isolierte Fernwärmerohre minimieren dabei die Wärmeverluste. © Klimafonds / Krobath 11 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie bei Bedarf noch weiter variieren können. Statt einer festen Speisenfolge gibt es sozusagen eine Wärmewende à la carte, bei der wie in jedem guten Restaurant obendrein noch Anpassungen an die individuellen Bedürfnisse möglich sind. Drei Dimensionen der Wärmewende Die verschiedenen Aspekte stellt ThermaFLEX in einer Art Kleeblatt dar. Jedes der drei Teilblätter steht für eine Dimension der Wärmewende. Die technischen Komponenten, wie Wärmepumpen oder Speichertechnologien, bilden das erste Teilblatt. Sie lassen sich vergleichsweise einfach von einem Projekt auf andere übertragen, sofern sich physikalische Randbedingungen ähneln. Ein Beispiel hierfür ist die Modernisierung und Integration einer Wärmepumpe in einem Bioenergie-Netz, wie in Saalfelden. Dabei war es wichtig, im ersten Schritt Effizienzpotenziale im Netz zu heben und die Wärmepumpe erst danach auf das optimierte Netz hin anzupassen. Es gibt in Österreich hunderte dörfliche Wärmenetze mit hohem Bioenergie-Anteil, für die das Konzept in ähnlicher Weise nutzbar wäre. In einem anderen Demo-Projekt bezog sich eine Fragestellung auf die Nutzung von Wärme aus einem Abwasserkanal. Der Betreiber der Kläranlage fürchtete, die Reinigungsleistung der Bakterien im Klärbecken könnte durch das kühlere Abwasser sinken. Das Monitoring zeigte, dass die Abwärmenutzung mit den gegebenen Rahmenbedingungen unproblematisch ist. Diese Erkenntnis lässt sich mit den passenden Parametern auch auf andere Projekte übertragen. Im zweiten Teil des Kleeblatts untersuchte ThermaFLEX nichttechnische Maßnahmen wie die Integration von Stakeholdern und innovative Geschäftsmodelle. Das ist zum Beispiel für die Nutzung von unterschiedlichen Abwärmequellen aus Industrie und Gewerbe sowie Infrastrukturen wichtig. Meistens fällt diese schließlich in Betrieben an, die mit dem Wärmenetz nicht unmittelbar zu tun haben. Dann ist es zentral, ein Geschäftsmodell zu finden, das allen beteiligten Parteien einen Vorteil bietet. Ein Beispiel hierfür ist die Nutzung von Abwärme aus Thermen, wie im Projekt in Wien. Hier galt es nicht nur, Thermeneigentümer und Wärmenetzbetreiber an einen Tisch zu holen, sondern auch den Kanalnetzbetreiber, denn sie sind die Besitzer des Abwassers. Der dritte Teil des Kleeblatts zeigt systemische Ansätze. Dazu gehört zum Beispiel die Energieraumplanung, die Sektorkopplung oder eine intelligente, individuell angepasste Regelungstechnik. Ein Beispiel hierfür ist die Einbindung großer Solarthermie-Anlagen, wie in Mürzzuschlag. Die Solarthermie- Anlage beginnt morgens mit der Wärmelieferung. Wenn diese nicht sofort im Netz Abnehmer findet, muss es freie Kapazitäten in den Pufferspeichern geben, um sie aufzunehmen. Sorgt die Regelung des Netzes dafür, dass Pufferspeicher auch nachts auf einen hohen Sollwert beladen werden, hat die Sonnenwärme keine Chance. Die Regelung muss also für die Nutzung der Solarthermie angepasst werden. Im Zentrum steht das flexible Zusammenspiel Gemeinsam betrachtet führen die drei Teilblätter zu deutlich mehr Freiraum und Flexibilität in der Fernwärme-Planung. Denn wenn man einzelne Rahmenbedingungen, zum Beispiel die möglichen Abwärmequellen oder die zeitliche Verfügbarkeit, von vornherein komplett festzurrt, schränkt das die Freiheitsgrade bei der Optimierung des Systems ein. Indem man stattdessen das System als Ganzes optimiert, lässt sich der Einsatz fossiler Energieträger nachhaltig minimieren. Dadurch sinken nicht nur die Emissionen, sondern auch die laufenden Kosten. Im Gegenzug wachsen die Versorgungssicherheit und der Mehrwert für die Stakeholder. Indem diese von Anfang an eingebunden sind, verkürzen sich im späteren Prozess zudem die Planungs- und Abstimmungszeiten, da nicht immer wieder zusätzliche Interessen berücksichtigt werden müssen. So war es möglich, in den vier Jahren Projektlaufzeit auch große Demo-Projekte zügig voranzubringen. Der Ansatz, auf eine komplexe Aufgabenstellung mit einem flexiblen Vorgehen zu reagieren, ist für ein schnelles Umsetzen der Wärmewende unverzichtbar. AEE - Institut für Nachhaltige Technologien (AEE IN- TEC) wurde 1988 gegründet und ist heute eines der führenden europäischen Institute der angewandten Forschung auf dem Gebiet erneuerbarer Energie und Ressourceneffizienz. In den drei Zielgruppenbereichen „Gebäude“, „Städte & Netze“ und „Industrielle Systeme“ sowie drei technologischen Arbeitsgruppen „Erneuerbare Energien“, „Thermische Speicher“ sowie „Wasser- und Prozesstechnologien“ reicht die Palette der durchgeführten F&E-Projekte von grundlagennahen Forschungsprojekten bis hin zur Umsetzung von Demonstrationsanlagen. Seit 2015 ist AEE INTEC Mitglied von Austrian Cooperative Research - ACR. ÜBER AEE INTEC Joachim Kelz Wissenschaftlicher Mitarbeiter Institut für Nachhaltige Technologien - AEE INTEC Kontakt: j.kelz@aee.at AUTOR 12 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Die rheinland-pfälzische Gemeinde Mehring liegt im Einzugsbereich von Trier. Selbst die luxemburgische Hauptstadt ist nur eine knappe Autostunde entfernt. Diese strategisch günstige Lage macht den Weinort an der Mosel insbesondere für junge Familien attraktiv. Um der steigenden Nachfrage nach Baugrundstücken gerecht zu werden, lassen die Ortsgemeinde Mehring und die Verbandsgemeindewerke Schweich gerade das Neubaugebiet „Lehmkaul“ erschließen, das sich in zwei Teilbereiche gliedert. Auf einer Fläche von rund 1,7- ha sollen am nördlichen Rand von Mehring rund 26 Grundstücke für Einfamilienhäuser und Doppelhaushälften entstehen. Das Gebiet ist bislang überwiegend für den Weinanbau genutzt worden. Charakteristisch ist seine Hanglage mit einem durchschnittlichen Nord-Süd-Gefälle von 10,5 %. Im Plangebiet Ost beträgt die Neigung an der steilsten Stelle sogar fast 20 %. Für das Entwässerungskonzept war dies eine Herausforderung, vor allem da das Plangebiet West durch eine Senke in der Goldkuppstraße getrennt wird. 400 m 3 Regenrückhaltung „In Mehring haben wir ein Trennsystem. Da in den letzten Jahren die Niederschlagsmengen deutlich zugenommen haben, war die bestehende Regenwasserkanalisation schon mehrfach überlastet. Vor diesem Hintergrund war es uns wichtig, für künftige Niederschlagsspitzen im Neubaugebiet Vorsorge zu treffen“, fasst der Werkleiter der Verbandsgemeindewerke Schweich, Dipl.- Ing. (FH) Harald Guggenmos, die Ausgangsvoraussetzungen zusammen. Wegen der Topographie konnte das Niederschlagswasser jedoch nicht auf den Grundstücken zurückgehalten werden. Bei Starkregen bestens aufgestellt Mehring trifft Vorsorge gegen Folgen des Klimawandels Mit D-Raintank 3000 ® -Rigolen von Funke Kunststoffe wappnet sich die Gemeinde Mehring gegen immer häufiger auftretende Starkregenereignisse. Im Neubaugebiet „Lehmkaul“ lassen die Verbandsgemeindewerke Schweich und die Ortsgemeinde Mehring zwei Rückhaltesysteme mit einem Volumen von jeweils 200 m 3 einbauen. So beugen sie einer Überlastung der Regenwasserkanalisation vor. Bild 1: Im Neubaugebiet „Lehmkaul“ werden D-Raintank 3000 ® -Elemente zweilagig verbaut. © Funke Kunststoffe GmbH Bild 2: Die verschweißten Kunststoffdichtungsbahnen werden mit einer weiteren Lage Vliesstoff umhüllt. © Funke Kunststoffe GmbH 13 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Deshalb wurde eine Lösung mit zwei Mulden-Rigolen-Systemen erarbeitet. Die Wahl hierfür fiel auf zwei D-Raintank 3000 ® -Rigolen mit einem Volumen von jeweils 200 m 3 , aus denen eine gedrosselte Ableitung in bestehende Systeme erfolgen soll. „Wir haben eine unterirdische Anlage geplant, da sie weniger Platz beansprucht als eine offene“, so Guggenmos weiter. „Letztere wäre zulasten der bebaubaren Grundstücksfläche gegangen. Die D-Raintank 3000 ® -Elemente befinden sich dagegen unter den öffentlichen Grünflächen bzw. wie im Bereich der verlängerten Goldkuppstraße innerhalb der Straßenverkehrsfläche.“ Vorteil der D-Raintank 3000 ® -Blöcke von Funke ist, dass sie dank der statisch optimalen Konstruktion schon bei einer Mindestüberdeckung von 0,8 m einer Verkehrslast von SLW 60 standhalten. Außerdem lässt sich die Rigole flexibel und platzsparend anordnen. In Mehring wurden pro Rigole 926 aus PVC-U bestehende Einzelelemente zweilagig eingebaut. Schnelle Verlegung Die einzelnen Rigolenelemente sind 60 x 60 x 60 cm groß. Durch das geringe Eigengewicht und die praktischen Abmessungen ging die Verlegung sehr schnell voran. Da die D-Raintank 3000 ® -Elemente in Mehring zu Retentionszwecken eingesetzt werden, wurde der Rigolenkörper zuerst mit einem Filtervlies ummantelt, dann mit einer Kunststoffdichtungsbahn (KDB) und abschließend noch einmal mit einem Filtervlies, um die Folie vor Beschädigungen zu schützen. Außerdem wurden die Rigolen mit Entlüftungen und mit D-Raintank 3000 ® -Inspektionsblöcken mit Domaufsatz ausgestattet. Ebenfalls eingesetzt wurden Spülrohre DN/ OD 315, die in die Mitte des jeweiligen Rigolenkörpers führen. „In den beiden D-Raintank 3000 ® -Retentionsräumen vorgeschalteten Reinigungsschächten der Nennweite DN 1000 werden Feinsedimente und auch in den Niederschlagswasserabflüssen mitgeführtes Laub zurückgehalten“, erklärt Funke-Fachberater Peter Frenzle. Nur einmal im Jahr muss der Schlammfang im Reinigungsschacht leer gesaugt werden - ein geringer Wartungsaufwand bei gleichzeitig hoher Funktionssicherheit der Retentionsanlage. Zuverlässige Entwässerung mit System „Die D-Raintank 3000 ® -Blöcke besitzen eine Speicherfähigkeit von 97 %. Das ist deutlich mehr als eine übliche Schotter- oder Kiesrigole erreicht. Daher müssen sich die künftigen Bewohner des Neubaugebietes „Lehmkaul“ keine Sorgen wegen einer Überlastung der Regenwasserkanalisation bei Starkregen machen“, so Guggenmos. Nicht nur, dass die beiden Funke-Rigolen das Regenwasser zuverlässig zurückhalten, die eingesetzten Drosselschächte sorgen außerdem für einen kontrollierten Ablauf. Auch hier hat Funke Kunststoffe an alles gedacht: Ein innenliegender Notüberlauf verhindert ein Versagen des Systems. Mit Blick auf die Sammler und die Hausanschlussleitungen vertrauen die Verbandsgemeindewerke übrigens seit Jahren ebenfalls auf Funke-Produkte. Hier wurden HS ® -Kanalrohre in den Farben blau für Regenwasser und braun für Schmutzwasser verbaut - alles in allem also eine Entwässerung mit System. Funke Kunststoffe GmbH www.funkegruppe.de info@funkegruppe.de KONTAKT Bild 3: Im Rigoleninneren sind keine Seitenplatten erforderlich. Damit sind eine Kamerabefahrung und Inspektion in alle Richtungen durchgehend möglich. © Funke Kunststoffe GmbH Bild 4: Neben den D-Raintank 3000 ® -Rigolen werden Reinigungsschächte DN 1000, Kontrollschächte DN 400 und Drosselschächte von Funke eingesetzt. © Funke Kunststoffe GmbH 14 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Pro Düsseldorf mit platzgrün! Seit 2002 gibt es in der NRW- Landeshauptstadt den Verein „Pro Düsseldorf“, der mit Aktionen wie der Hochzeitswiese, dem Blauen Band (mehr als 10- Mio. Krokusse in den Rheinwiesen) oder dem „Dreck-weg-Tag“ für Aufmerksamkeit und Engagement im öffentlichen Raum sorgt (Mehr unter www.pro-duesseldorf. de). Erklärtes Ziel ist es, die Stadt liebens- und lebenswerter zu machen. Um das zu erreichen, führt der Verein die Stadt und ihre Institutionen, die Wirtschaft und die Bürgerschaft zusammen. Vor einigen Jahren ist mit „platzgrün! “ ein neues Projekt von Pro- Düsseldorf entstanden, das sich dafür stark macht, dass die Quartiere grüner, klimafreundlicher und kommunikativer werden. Dahinter steht die Erkenntnis, dass es überall in der Stadt Orte gibt, wo sich Menschen treffen, ausruhen, austauschen, ihren Gedanken nachhängen oder einfach nur die Sonne oder die frische Luft genießen können - wenn die Plätze denn entsprechend gestaltet sind. Und es gibt Bürgerinnen und Bürger, die bereit sind, gemeinsam dazu beizutragen und anzupacken. Die Initiative platzgrün! lädt dazu ein, dass Menschen, die einen Ort in ihrem Quartier mit mehr Grün verschönern wollen, sich melden und in Abstimmung mit dem Gartenamt der Stadt Düsseldorf aktiv werden können. So werden inzwischen in mehreren Stadtteilen Plätze, Beete, Baumscheiben etc. gepflegt und begrünt. Das Startprojekt war der Carl-Mosterts-Platz im Stadtteil Pempelfort. Der Platz liegt im Schatten einer Kirche, im Kreuzungsbereich von sechs Straßen und ist für viele Menschen ein täglicher Durchgangsraum. Aber von seinem einstigen Charme als Stadtplatz war nicht mehr viel zu Zusammen für mehr Lebensqualität mit Grün Bürgerschaftliches Engagement in Städten gefragt Klimawandel, Stadtraum, Stadtgrün, Urban gardening, Dach- und Fassadenbegrünung, Peter Menke Klimawandel, Corona-Pandemie, Mobilitätswende, Artensterben, Naturerleben … Die Liste der Themen ist lang, die mit dem öffentlichen Stadtraum zu tun haben: Wie können wir uns an den Klimawandel anpassen? Wie gelingen sozialer Austausch und Begegnung auch unter Pandemiebedingungen? Wie gehen wir mit dem begrenzten Stadtraum um? Welchen Beitrag können Städte zum Erhalt von Lebensräumen bieten? Wie gelingt Naturerfahrung vor allem für Kinder in der Stadt? Das Grün in der Stadt ist vielfältig: Straßenbegleitgrün, kleine Parks, Uferbepflanzungen, Friedhöfe, Sport- und Spielflächen, Pflanzkübel auf Plätzen, nicht zu vergessen das gebäudenahe, zumeist private Grün der Gärten und Hinterhöfe oder die Dach- und Fassadenbegrünung. Insbesondere Menschen, die keinen eigenen Garten haben, sind auf das Grün im öffentlichen Freiraum der Städte und Dörfer angewiesen und viele Bürgerinnen und Bürger zeigen Interesse daran, sich praktisch einzubringen. Auch Städte und Gemeinden sind dafür offen - viele haben beispielsweise in den Hitzesommern dazu aufgerufen, dass Anwohner die Bäume in ihrer Straße wässern, Baumscheiben pflegen oder bieten andere Formen des „Urban gardening“ an. In diesem Beitrag sollen zwei Beispiele spezieller Aktionen in Nordrhein-Westfalen vorgestellt werden: Die Initiative „platzgrün! “ in Düsseldorf und das Projekt „Tag des guten Lebens“ in Wuppertal. Beide sind zur Nachahmung empfohlen! Bild 1: Frühlingsgrün in der Stadt. © NED.WORK 15 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum sehen, die Aufenthaltsqualität auf nahe Null gesunken. Um das zu ändern, hat platzgrün! mit Unterstützung des am Standort ansässigen Katholischen Jugendhauses im Oktober 2018 zu einem Treffen der Anwohner eingeladen, alle Wünsche und Anregungen aufgenommen und schließlich in eine Planung umgesetzt. Nach vielen Gesprächen mit den unterschiedlichen Fachämtern war es im Oktober 2019 soweit: platzgrün! erhielt offiziell die Erlaubnis zur Neugestaltung und unterzeichnete einen Pflegevertrag mit dem Gartenamt. Dann ging es Schlag auf Schlag: das Gartenamt rodete drei vertrocknete Schneeballsträucher und einige durchgewachsene Heckenstücke. Bürgerinnen und Bürger frästen zwei der drei Hochbeete, sammelten Müll und Unrat (den die Stadt entsorgte), pflanzten große Gehölze, mehr als 500 Stauden und rund 1 000 Blumenzwiebeln. Die Finanzierung der Pflanzen und der notwendigen Werkzeuge war möglich mit dem großzügigen Sponsoring durch die Deutsche Postcode-Lotterie, deren Engagement insbesondere darauf abzielt, Nachbarn bei gemeinsamem Tun zu helfen (https: / / www.postcode-lotterie.de). Das Ergebnis lässt sich sehen, im Frühjahr sind die Plätze begehrte Fotomotive und die lebendig und naturnah gestalteten Flächen werden ganzjährig wieder genutzt. Auch für Kinder und Jugendliche gibt es geeignete Angebote für Spiel und Austausch. Damit bürgerschaftliches Engagement in immer mehr Stadtteilen wirksam wird, ist eine gute Kommunikation vor Ort von besonderer Bedeutung: platzgrün! tritt mit einem wiedererkennbaren Logo auf, in der Lokalpresse und in den Sozialen Medien wird berichtet, bei besonderen Aktionen werden Anwohner oder die benachbarte Wirtschaft gezielt eingeladen. Mehr Informationen, auch Bilder, stehen auf https: / / w w w.pro due s seldor f.de / pla t zgruen-plaetze zur Verfügung. Tag des guten Lebens in Oberbarmen In Wuppertal ist das bürgerschaftliche Engagement für mehr Grün in der Stadt Teil eines größeren Projektes mit dem Titel „Tag des guten Lebens“. Die Vorbereitungen dafür begannen bereits 2022 im Teilprojekt „Oberbarmen auf der Suche nach dem guten Leben“. In Bürgerforen, speziellen Aktionen mit Kindern, Veranstaltungen mit Wissenschaft und Politik galt es, die Inhalte und Ausgestaltung für den Tag des guten Lebens zu entwickeln. Mit Fragen wie: Wie können wir unsere Stadt neu gestalten? Was muss jetzt und in Zukunft passieren, für eine positive und nachhaltige Stadtentwicklung? wurde das Konzept von sechs Zukunftswerkstätten zu verschiedenen Themen konkretisiert. In je zwei Werkstätten erarbeiteten Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaft und Politik Ideen und Maßnahmen zu den Themen Soziales Miteinander, Grün in der Stadt, Energie, Mobilität, Ernährung und Neue Ökonomie. Für die Vorbereitung und Moderation der Werkstätten wurden jeweils Fachleute engagiert. Zur Bearbeitung inhaltlicher Schnittstellen wurden regelmäßige Treffen, teilweise Online-Meetings, zwischen den Werkstadtleiterinnen und -leitern organisiert. Im Oktober 2022 fand die erste Zukunftswerkstatt „Grün in der Stadt“ statt, die zweite im Februar 2023. Dazwischen lag im Januar 2023 eine Auftaktveranstaltung, in der sich alle Werkstätten der Öffentlichkeit vorstellten, um Querbezüge zu erkennen und in der Teilnehmende weitere Ideen einbringen und sich mit anderen austauschen und vernetzen konnten. Weitere Informationen zum Gesamtprojekt und zu den einzelnen Werkstätten unter: https: / / guteslebenwuppertal.de Erklärtes Ziel der beiden Zukunftswerkstätten zum Grün in der Stadt war es, das Bewusstsein für den Wert von Grün zu schärfen, aber auch Möglichkeiten und Chancen zu entwickeln, wie die Stadt durch gestaltete Grün- und Freiräume lebenswerter, gesünder und sicherer wird. Themenbezogen lagen die Schwerpunkte in den anderen fünf Werkstätten natürlich anders, aber im Kern ging es immer um die Frage, welche Beiträge die Bürgerinnen und Bürger von ihrer Stadt erwarten, aber auch darum, was die Stadtgesellschaft selbst leisten kann. Das Gesamtprojekt wurde ermöglicht durch eine Förderung im Verfügungsfonds der Sozialen Stadt / Sozialer Zusammenhalt durch das Bundesministerium des Innern und für Heimat, das NRW-Ministerium für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung sowie die Städtebauförderung. Bild 2: Bürger engagieren sich für ihr Stadtgrün. © NED.WORK 16 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Im Rahmen der zweiten Zukunftswerkstatt im Februar 2023 wurde intensiv ein mögliches Kommunikationskonzept diskutiert. Dahinter stand die Erkenntnis, dass für jegliche Weiterentwicklung, aber auch für die praktische Umsetzung von Projekten, ein zielgerichteter Informationsfluss hilfreich ist, damit möglichst viele Menschen sich beteiligen können. Vor allem aber wurden fünf konkrete Projekte vereinbart, in denen öffentliche Grünflächen durch bürgerschaftliches Engagement in Abstimmung mit dem Gartenamt der Stadt neu gestaltet werden sollen. Ähnlich wie in Düsseldorf ist auch in Wuppertal angestrebt, dass Bürgerinnen und Bürger für bestimmte Räume in der Stadt (Teil-) Verantwortung übernehmen und von ihrem Engagement direkt vor Ort profitieren - dabei aber auch wertvolle Beiträge zur Lebensqualität und zum Wohlbefinden der Stadtgesellschaft insgesamt leisten. Ende März 2023 werden die sechs Zukunftswerkstätten in Wuppertal ihre Ergebnisse in einem gemeinsamen Termin mit der Kommunalpolitik und -verwaltung diskutieren. Ziel ist es, das bürgerschaftliche Engagement zu würdigen und über die Projektlaufzeit hinaus zu verstetigen. Der „Tag des guten Lebens“ Anfang Juni 2023 wird ein Fest! In den Lokalmedien und auf der Website wird er so angekündigt: „Am 4. Juni 2023 feiern wir das gute Leben in Oberbarmen! Mit Musik, Tanz und vielfältigen Angeboten wird die Transformation in Wuppertal sichtbar und erfahrbar gemacht. Der Tag des guten Lebens steht für Nachbarschaft, bürgerschaftliches Engagement, Demokratie und Nachhaltigkeit.“ Wir sind die Stadt Das übergeordnete Ziel aller Engagements im öffentlichen Raum verbindet: Die Grünflächen in der Stadt sind wichtige Orte für Naturerfahrung, zur Begegnung für alle Bevölkerungsgruppen, sie sind Lebensräume für Pflanzen und Tiere und nicht zuletzt wirksame Beiträge zur Klimaanpassung. Wo es gelingt, Möglichkeiten und Chancen zur Zusammenarbeit zu entwickeln, die Stadt durch gestaltete Grün- und Freiräume lebenswerter, gesünder und sicherer zu gestalten, gewinnen alle. Es gilt, im direkten Lebensumfeld der Menschen nutzbare Areale für Flora und Fauna, aber auch für die Menschen zu schaffen. Teilhabe und Mitgestaltung sind die Stichworte, unter denen immer mehr Städte und Gemeinden sich für bürgerschaftliches Engagement öffnen und spezielle Angebote entwickeln. Insbesondere in Stadtentwicklungsprozessen und bei Anpassungen an sich verändernde Raumnutzungen - zum Beispiel Umbau oder Neugestaltung von ehemaligen Industrie- oder Verkehrsinfrastrukturen - hat sich in den letzten Jahrzehnten nach positiven Erfahrungen in Politik und Verwaltung eine möglichst frühzeitige Bürgerinformation und -beteiligung bewährt. Nicht zuletzt ist dies auch die Reaktion auf den zunehmenden Wunsch der Bürgerinnen und Bürger nach Beteiligung und Inklusion. Die vielfältigen Aufgaben und Herausforderungen heutiger Stadtgesellschaften werden stärker als in der Vergangenheit als Gemeinschaftsaufgabe verstanden. Intakte Grünzonen haben - wissenschaftlich nachgewiesen - eine wichtige Gesundheits- und Sozialfunktion. Es geht nicht darum, kommunale Aufgaben zu sozialisieren, sondern neue Formen für eine gemeinschaftliche Verantwortung zu entwickeln. Die Stärkung der Identifikation mit dem Ort, der Spaß am gemeinsamen Tun und der Stolz auf das Ergebnis wirken positiv auf die Stadtgesellschaft: Viele kleine Maßnahmen tragen dazu bei, den öffentlichen Raum aufzuwerten, soziales Miteinander zu leben und dabei das Klima und unsere Umwelt zu schützen. NED.WORK Agentur + Verlag GmbH ist eine inhabergeführte PR-Agentur in Düsseldorf. Seit über 30 Jahren ist sie in den Themenfeldern Gartenbau, Niederlande, Umwelt und Stadtentwicklung, Gesundheit und Ernährung tätig. NED.WORK steht für journalistisch klare, content-basierte und langfristig wirksame PR-Konzepte und Kampagnen im gesamten Spektrum von klassischer Public Relations bis zu Social Media. Zentrale Instrumente sind www.gruenes-presseportal.de, der podcast CHLORO- PHYLL-der Wirkstoff Grün und verschiedenste Veranstaltungsformate, Vorträge, Symposien, Workshops. Für die Düsseldorfer Initiative platzgrün! betreibt NED.WORK die Social-Media und ist beratend sowie gelegentlich auch praktisch aktiv. Das Wuppertaler Projekt begleitet NED. WORK als externer Berater und Moderator mit Schwerpunkt auf die Werkstatt „Grün in der Stadt“. Mehr unter www.nedwork.de. ÜBER NED.WORK Peter Menke NED.WORK Agentur + Verlag GmbH peter.menke@die gruene-stadt.de AUTOR 17 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Die Digitalisierung ist flächendeckend im Alltag angekommen. Die zunehmenden Datenmengen, die im privaten und wirtschaftlichen Alltag generiert werden, benötigen leistungsfähige Netze. Daher ist der flächendeckende Ausbau der Glasfasernetze ein erklärtes Ziel der Bundesregierung. Inzwischen hat sich der Fokus von den Ballungsräumen und Großstädten hin zu einzelnen Kommunen oder Stadtwerken verschoben. Denn diese haben zunehmend die Vorteile erkannt, die ihnen der Breitbandausbau bietet. Leistungsfähige Breitbandverbindungen sind ein wichtiger Standortfaktor, ebenso wie das Angebot neuer Anwendungen und digitaler Geschäftsmodelle für den kommunalen Raum. Die Investition in die entsprechenden leistungsfähigen Netzwerke liefert Kommunen und Stadtwerken die Möglichkeit, eine doppelte Strategie zu fahren. Einerseits können sie somit eine leistungs- und zukunftsfähige Infrastruktur bereitstellen. Auf der anderen Seite sind sie in der Lage, eigene Produkte oder Dienstleistungen für ihre Bürger*innen bereitzustellen. Kommunen und Stadtwerke im Breitband-Dilemma Bei allen Zukunftschancen, die sich durch den Ausbau der digitalen Infrastruktur eröffnen: Hier gilt, wie überall in der Wirtschaft, dass die ihnen zugrundeliegenden Geschäftsmodelle profitabel sein müssen. Und gerade diese Profitabilität zu erreichen, fällt Kommunen und Stadtwerken noch schwer. Denn zunächst müssen sie die notwenige Breitband-Infrastruktur aufbauen. Die Kosten hierfür amortisieren sich jedoch zunächst kaum. Der Grund: Bisher standen den Betreibern nur zwei Möglichkeiten offen. Die eine ist, die Breitband- Infrastruktur selbst zu betreiben. Damit sind jedoch weitere Investitionen in Technik und Fachpersonal notwendig. Diese Ausgaben schmälern die Einnahmen, die durch eigene Produkte generiert werden können, und der Return on Investment (ROI) rückt in die Ferne. Hinzu kommt, dass die Einführungszeit am Markt lange Zeit in Anspruch nimmt. So nutzen Kommunen Breitbandnetze profitabel im Eigenbetrieb Digitalisierung, Infrastruktur, Kommunen, Breitbandausbau, Broadband as a Service (BaaS), Netzbetreiber Sascha Fiedler Flächendeckende Breitbandverbindungen bilden die Grundlage, um Deutschland den Anschluss an die Digitalisierung zu sichern. Für Städte und Gemeinden bedeuten sie einen unverzichtbaren Standortvorteil, da Bürger*innen seit der Novelle des Telekommunikationsgesetzes ein Recht auf schnelle, sichere Internetverbindungen haben. Das Modell Broadband as a Service (BaaS) ermöglicht Kommunen und Stadtwerken, selbst als Breitbandanbieter zu fungieren, während ein Managed Service Provider sich um die Planung, Einrichtung und den Betrieb des Breitbandnetzes kümmert. Die Lösung bedeutet einen schnelleren Return on Investment, attraktive Margen und große Flexibilität. Vorstellung BaaS und Diskussion der Breitbandplanungen beim Kunden Erstellung einer individuellen Kosten- und ROI-Kalkulation Aufnahme und Umsetzung der kundenspezifischen Anforderungen Prüfung und Bewertung der aktiven und passiven Beitband- Infrastruktur Demonstration und PoC auf Basis der Kundengegebenheiten Umsetzung, Rollout und Betriebsüberführung Co Managed / Managed Service Migrationspfad Broadband as a Service Bild 1: Der Umstieg auf Broadband as a Service (BaaS) kann in sechs einfachen Schritten durchgeführt werden. © Axians PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation 18 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Die andere Möglichkeit ist, das eigene Netz an einen Telekommunikationsanbieter zu vergeben. Dies spart zwar Betriebskosten, jedoch sind aufgrund der deutlich geringeren Erlöse auch geringere Einnahmen zu verzeichnen. Der goldene Mittelweg wäre, die Verwaltung der Breitband-Angebote in Eigenregie zu übernehmen. Nur dann sind Stadtwerke und Kommunen langfristig von hohen laufenden Kosten entlastet und können in Sachen Breitband wirklich wirtschaftlich arbeiten. Der goldene Mittelweg für den Breitbandbetrieb Diesen goldenen Mittelweg eröffnet den Betreibern das Konzept Broadband as a Service (BaaS). Aufbau und Betrieb einer Breitbandarchitektur werden hier dank der Einbindung eines externen Dienstleisters deutlich vereinfacht, ebenso wie die Entwicklung digitaler Produkte und Tarife. Der externe Partner übernimmt die Planung und Einrichtung des Breitbandnetzes und kümmert sich im Servicemodell um den Betrieb der jeweiligen Angebote. Die Servicekosten werden mit einer Basisgebühr und entsprechend der Leistungen unkompliziert im Pay-per-Use- Modell abgerechnet. Kosten sparen und flexibel agieren dank BaaS Ein Broadband as a Service-Modell bietet nicht nur die Möglichkeit, das Breitbandnetz individuell an den Bedürfnissen des Betreibers auszurichten. Es ist auch deutlich günstiger zu realisieren als herkömmliche Breitband-Betreibermodelle. So rechnet der ICT-Spezialist Axians vor, dass sich mit BaaS im Vergleich zum reinen Eigenbetrieb ein erheblicher Anteil der üblichen Kosten einsparen lässt. Die Abrechnung im Pay-per- Use-Modell hilft zusätzlich, die Kosten des Breitbandprojektes überschaubar zu halten, denn die Gebühren richten sich nach der Anzahl der Kundenverträge und weiterer Leistungen wie etwa der Einrichtung von Cloudzugängen. Diese Flexibilität ist vor allem zu Beginn eines Breitbandprojekts sehr hilfreich und führt rascher zu einem Return on Investment. Darüber hinaus profitieren Stadtwerke und Kommunen vom Know-how eines erfahrenen Managed Service Providers, der ihnen auch beratend zur Seite steht - etwa dann, wenn es um den Aufbau des Breitband-Geschäftsmodells geht oder wenn die aktive und passive Breitbandstruktur bewertet werden soll. Sie profitieren damit von einer schnelleren Time-to-Market und einer konsequenteren Erschließung neuer Geschäftsmodelle. Externes Know-how entlastet kommunale Breitbandanbieter Der Managed Service Provider kann innerhalb des BaaS-Modells alle Aufgaben begleiten, die die Einrichtung und Verwaltung des Breitbandangebots betreffen. Dazu gehört der Rollout ebenso wie die regelmäßige Weiterentwicklung und Skalierung von Software und Endgeräten im Rahmen von Innovationszyklen. Der externe Dienstleister steht zudem für weitere Beratungsleistungen zur Verfügung, etwa in Bezug auf die Entwicklung von Betriebskonzepten oder die Anpassung an geltende Compliance-Regeln. Das entlastet Breitbandanbieter deutlich, sodass sie Kapazitäten für die Entwicklung neuer digitaler Produkte und deren Vermarktung nutzen und sich auf den Aufbau eines umfassenden Kundenservice konzentrieren ISP EIGENBETRIEB ISP FREMDBETRIEB Kompetenz und Technologie beim ISP Fremdbewirtschaftung durch Provider Weitgehende Unabhängigkeit Transparente Kostenstruktur Starke Anbindung an interne Prozesse und Systeme Ende-zu-Ende Kontrolle Hohe Sichtbarkeit der eigenen Marke Verfügbarkeit von individuellen Förderungen Sofortiger Übergang in den Betrieb Geringe Komplexität in Prozessen und Systemen Geringe Aufwände für Personalbeschaffung/ -Ausbildung Fokussierung auf das bisherigen Geschäftsmodell Hohe Komplexität der Gesamtlösung Hoher Investitionsaufwand in Systeme und Prozesse Sehr lange Time-to-Market (2 bis 3 Jahre) Herausforderungen in der Personalbeschaffung Keine Sichtbarkeit der eigenen Marke als ISP Geringe Marge im Vergleich zum Eigenbetrieb Einschränkung von Eigennutzung und eigenen Produkten Langfristige Bindung an Verträge mit Bewirtschafter + + + + + + + + + + - - - - - - - - Bild 2: Broadband as a Service (BaaS) verbindet die Vorteile aus ISP- Eigenbetrieb und Fremdbetrieb © Axians 19 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation können. Und nicht zuletzt lässt sich das Breitbandangebot durch eine zentrale Shared-Service- Plattform ganz einfach verwalten. Zum eigenen Breitbandbetrieb in sechs Schritten Wie sieht nun der Einstieg in Breitband mit BaaS aus? Eigentlich sehr einfach. Im Prinzip sind es sechs Schritte, die für die Einführung notwendig sind. Im ersten Schritt ermittelt der externe Dienstleister die bereits bestehende Breitbandplanung, um im zweiten Schritt die aktive und passive Breitband-Infrastruktur zu prüfen. Der dritte Schritt umfasst die Erstellung einer individuellen Kalkulation, in der Kosten und Return on Investment gegenübergestellt sind. Die Demonstration der geplanten Struktur basierend auf den aktuellen kommunalen Gegebenheiten folgt im vierten Schritt im Rahmen eines Proof of Concept (PoC). Im fünften Schritt nimmt der Dienstleister die eigentliche praktische Arbeit auf und setzt die spezifischen Anforderungen für den Breitbandbetrieb um. Im sechsten und letzten Schritt erfolgt schließlich der Rollout des kommunalen Breitbandnetzes und die Umsetzung des Managed Service durch den Dienstleister. Die Dauer eines solchen Projektes hängt von den individuellen Anforderungen des Breitbandbetreibers ab. Ein grundlegender Faktor dabei ist das geplante Geschäftsmodell. Steht dieses fest und sind alle Voraussetzungen dafür erfüllt, ist ein BaaS-Projekt in der Regel nach neun bis achtzehn Monaten abgeschlossen. Auf das eigene Geschäftsmodell konzentrieren Um Kommunen und Stadtwerke als Netzbetreiber wirtschaftlich zu machen, ist Broadband as a Service (BaaS) das Mittel der Wahl. Dieses Konzept bietet ihnen den notwendigen Freiraum, um sich auf das eigene Geschäftsmodell zu konzentrieren und rasch den Return on Investment (ROI) zu erreichen. Dank der Einbindung externer Spezialisten profitieren kommunale Breitbandbetreiber von einer schnelleren Umsetzung ihres Projekts. Der ICT-Spezialist übernimmt zudem die Verwaltung und technische Betreuung des Netzes und steht auch als Sparringspartner für dessen Weiterentwicklung bereit. Die Abrechnung im Pay-per- Use-Modell hält die Kostenstruktur transparent - auch bei einer geringen Anzahl an Endkunden. Das Projekt Breitband wird somit transparenter, einfacher und rentabler. Jahr 1 Jahr 2 Jahr 3 Jahr 4 Jahr 5 Jahr 6 1.000 10.000 20.000 30.000 40.000 50.000 Kunden Kunden Kunden Kunden Kunden Kunden 1.400.000 1.200.000 1.000.000 800.000 600.000 400.000 200.000 0 Netzinfrastruktur: Betrieb & Unterhalt passive Infrastruktur (PON, FTTH, DSL..) Netzbetrieb Fix: Fixkosten Personal, aktive Technik, passive Technik Netzbetrieb Var: Variable Kosten Personal, aktive Technik, passive Technik abhängig von der Portanzahl inkl. Support Umsatz: Annahme Erlöse auf Basis 25€ / aktiver Anschluss Kommerzielles Modell und ROI 1.400.000 1.200.000 1.000.000 800.000 600.000 400.000 200.000 0 Jahr 1 Jahr 2 Jahr 3 Jahr 4 Jahr 5 Jahr 6 1.000 10.000 20.000 30.000 40.000 50.000 Kunden Kunden Kunden Kunden Kunden Kunden Sascha Fiedler Business Unit Leiter Carrier & Service Provider und Broadband & Utilities Axians Deutschland Kontakt: axians@akima.de AUTOR Bild 3: Mit Broadband as a Service (BaaS) erzielen Stadtwerke und Kommunen einen schnelleren Return on Investment. © Axians 20 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Smart City-Applikationen haben das Potenzial, Städte resilienter zu machen und das Leben ihrer Bewohner*innen zu verbessern [1]. Parksuch-Apps, Klimavisualisierungen, Zustandsreportings, Verkehrsoptimierungen oder Wissensvermittlungen für die Stadt funktionieren dabei jedoch meistens erst, wenn User*innen aktiv bereit sind, sich durch das Teilen der von ihnen aktiv oder passiv generierten Daten zu beteiligen. Während eine große Bereitschaft zur Nutzung von Smart City-Applikationen beobachtbar ist, sind Bürger*innen jedoch oftmals zurückhaltend, wenn es um Daten-Sharing geht. So zeigt sich in einer repräsentativen Umfrage vom Dezember 2022 [2], dass fast zwei Drittel der Deutschen einer Nutzung ihrer personenbezogenen Mobilitätsdaten kritisch gegenüberstehen. Auch Kosten- oder Emissionsreduktionen können nur eine Minderheit zum Teilen von persönlichen Mobilitätsdaten bewegen. Ein Misstrauen im Hinblick auf den Datenschutz geht auch damit einher, dass nur jeder achte überhaupt Shared-Mobility-Dienstleistungen nutzt [2]. Technische Konzepte, welche User*innen Ängste vor dem Teilen ihrer Daten nehmen können [3], oder Data Governance-Konzepte für Smart Cities, welche ethische Fragen der „Data Value Chain“ behandeln [4], wurden bereits erforscht. Die vor allem Design von Smart City-Applikationen Leitlinien und Best Practices für Partizipation, Motivation und Data Sharing UX Design, Datenerhebung, Smart City, Technology Acceptance Model, Rewardsystem Jakob Ossmann, Kasra Seirafi, Larissa König, Tobias Hagen Smart City-Applikationen haben das Potenzial, das Leben in der Stadt nachhaltig zu verbessern. Die Use Cases dieser neuen Technologien lassen sich aber meist nur realisieren, wenn User*innen sich aktiv über das Teilen von Daten beteiligen. Welche User Experience-Funktionen dazu animieren, ist bisher nicht hinreichend erforscht. Zur Bewertung von Designs für Datenerhebungsfunktionen kann das Technology Acceptance Model (TAM) eingesetzt werden. Anhand des Forschungsprojekts start2park sowie weiterer Smart City-Projekte wird auf Basis des TAM ein Katalog mit Best Practices und Leitlinien für die Praxis vorgestellt. Bild 1: Green Living Augmented Reality App. ©fluxguide 21 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation für Expert*innen aus der Praxis relevante Frage, welche User- Experience-Funktionen Benutzer*innen dazu animieren Daten zu teilen, ist dagegen nicht hinreichend erforscht. Das vorliegende Paper beschreibt Gestaltungs-Prinzipien, die User*innen dazu motivieren können, sich über das Teilen von Daten an Smart City-Applikationen zu beteiligen und dadurch die Qualität sowohl ihres eigenen Lebens als auch das Leben ihrer Mitmenschen zu verbessern. User*innen werden dabei als rationale Akteure betrachtet, welche sich zu einer Beteiligung an Services und zum Teilen von Daten entscheiden, wenn sie für sich selbst einen Nutzengewinn erkennen. Dieser Untersuchungsansatz beruht auf dem etablierten Technology Acceptance Model (TAM), das wiederum von der Theory of Planned Behaviour [5] abgeleitet ist und bereits mehrfach erfolgreich bei der Evaluation von Smart City- Technologien eingesetzt wurde [6, 7]. Das TAM geht davon aus, dass Benutzer*innen neue Technologien einsetzen und an deren Verbreitung partizipieren, wenn 1. der „perceived value” höher ist als die „perceived costs“, also ein Nutzengewinn („perceived usefulness“) wahrgenommen wird und 2. „perceived ease of use“ sicherstellt, dass keine zu komplexen Funktionen die Verwendung im Alltag behindern. In der Folge werden User Interface Best-Practices aus Smart City-Praxisprojekten im DACH- Raum vorgestellt, die einen Einfluss auf das value costs-Verhältnis haben und Data sharing bei Smart City-Applikationen positiv motivieren. Ein Fokus liegt dabei auf dem Projekt start2park, ein durch das BMDV gefördertes Projekt, welches über eine neue App Autofahrten und Parksuchverhalten aufzeichnet. Die gesammelten Daten sollen die Prognose von Reisezeiten verbessern, um Stress und Emissionen zu reduzieren. Die applikationsübergreifende Kategorien-Erstellung basiert auf über zehn Jahren Erfahrung der Autoren im Smart City-Bereich. Den Autoren entsteht keinerlei monetärer Nutzen durch weitere Downloads oder die Nutzung der hier vorgestellten, beispielhaften Applikationen. Onboarding Einführende Tutorials haben sich bewährt, um die „perceived usefulness” gleich am Anfang der Verwendung positiv zu beeinflussen. Das vierstufige Onboarding-Tutorial aus der start2park App besteht aus 1) Begrüßung, 2) Funktionsbeschreibung, 3) Menü-Übersicht und 4) Nutzen. Dabei liegt der Fokus anfänglich auf der Informationsvermittlung, um die Funktionsweise der App transparenter zu machen und Hemmnisse zur Aufzeichnung der persönlichen Fahrten zu reduzieren. Je simpler und intuitiver das Design der Applikation, desto kohärenter kann die Funktionsbeschreibung gehalten und Abwanderung während des Onboardings verhindert werden. Im letzten Schritt des Onboarding Tutorials wird auf kleine Preise für regelmäßige Nutzer*innen verwiesen, um von Beginn an eine extrinsische Motivationsquelle zu bieten. Ein weiteres Beispiel findet sich in der App Green Living Augmented Reality (Bild 2), welche Mikroklimadaten mittels Augmented Reality in der Stadt visualisiert. Interaktive Inhaltskarten beschreiben im Onboarding Flow den Nutzen der App und die Relevanz des Themas für das eigene Leben in der Stadt. Transparency Werden Daten von User*innen eingeholt, sollte die Applikation auch von sich aus Daten zur Verfügung stellen. Dieses Gleichgewicht zwischen geben und nehmen kann nutzungspsychologisch entscheidend sein und den „perceived value“ steigern. So kann etwa die Datenbasis für Entscheidungsprozesse transparent gemacht werden. Im Projekt Green Valuation (Bild 3) werden multiple Daten (CO 2 -Belastung, Hitzeentwicklung, Wasserverbrauch, ökonomische Metriken) interaktiv und verständlich visualisiert und in den Kontext von Immobilienbewertung und Stadtbegrünungs-Maßnahmen gestellt. Bild 2: GL ARA App. © fluxguide 22 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Die App Green Living Augmented Reality visualisiert Mikroklimadaten direkt vor Ort in Straßenzügen und macht dadurch den Vorteil von Begrünungsmaßnahmen „on the spot“ sichtbar. Bild-1 zeigt, wie die Nutzung mobiler Endgeräte ohne weiteres Equipment einen möglichst breiten, hürdenlosen Zugang für interessierte Nutzer*innen ermöglicht. Darüber hinaus sollte eine Applikation explizit aufzählen, welche Daten erhoben werden und wie mit diesen Daten verfahren wird. Die Einhaltung der DSGVO ist dabei noch nicht hinreichend. Zusätzlich sollte den Nutzer*innen ein Gefühl der Sicherheit vermittelt werden, dass nur wirklich relevante Daten gesammelt werden, und kein „Data Grabbing“ stattfindet, also das Datensammeln ohne für die User*innen zu erkennenden Grund. In der start2park App erhalten die Nutzer*innen nach jeder Nutzung eine interaktive Visualisierung der soeben von ihnen aufgezeichneten Daten. Dabei werden sie aktiv in die Datengeneration einbezogen und ihnen wird die Möglichkeit eingeräumt, wichtige Datenpunkte zu korrigieren. Bild- 4 zeigt eine Beispielfahrt; in der intuitiv gestalteten Kartendarstellung können Nutzer*innen ohne großen Aufwand ihre Route nachvollziehen und bearbeiten. Data-Ownership Datenbesitz ist meist ein zweistufiger Prozess, der transparent gemacht werden sollte: 1.) lokales Einholen von Daten (etwa in einer lokalen Mobile-App) und 2.) Übertragung an einen Dritten (etwa dem App-Betreiber). Die App SimRa sammelt während des Fahrradfahrens GPS- und Geschwindigkeitsdaten, um Rückschlüsse auf die Fahrtsicherheit zu gewinnen. Die Daten werden nicht automatisch an die Herausgeber gesendet, sondern User*innen entscheiden in dem Menü in Bild 5 manuell, wann sie welche Datenpakete hochladen. Dabei wird die Data-Ownership transparent gemacht und die Kontrolle des Data-Sharing dem User übergegeben. Durch ein mehrstufiges System der Datenfreigabe fühlen sich die Nutzer*innen in ihrer Datensouveränität bestärkt und sehen dadurch geringe bis keine Kosten, die mit der Applikationsverwendung verbunden sind. Rewardsystem Das Sammeln von Daten scheitert oft nicht am Unwillen der User, sondern schlicht an fehlender Motivation. Naturgemäß ist der „perceived value“ beim bloßen Teilen von Daten gering, da kein direkter Benefit entsteht. Durch Belohnungs- und Sammellogiken kann ein intrinsisches Interesse für Nutzung und Daten-Sharing erzeugt werden. Gamification, etwa mittels integrierter Rätsel oder Clicker-Interaktion, und Ranglisten, die einen Vergleich zu anderen User*innen herstellen, sind weitere Möglichkeiten, um durch ein Rewardsystem Anwender*innen einen Nutzen zu liefern. Die start2park App sammelt Daten über das Parksuchverhalten. Um dies zu incentivieren wurde ein einfaches Levelsystem mit interaktiven Fortschrittsanzeigen und Erfolgs-Feedback umgesetzt, sowie mit Gutscheinen und Rabatten verknüpft. Um einen Gutschein zu erhalten, kann sich die User*in nach Freischaltung des Bonus per E-Mail beim Konsortium des Forschungsprojekts melden. Aus dieser Kommunikation sind keinerlei Rückschlüsse auf die gesammelten Daten möglich. Bild 3: Green Valuation Plattform. © fluxguide Bild 4: - Screenshot aus der start2park App. © Relut Frankfurt University of Applied Sciences 23 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Jakob Ossmann, MSc. Digital Concepts fluxguide GmbH Kontakt: jakob@fluxguide.com Dr. Kasra Seirafi Gründer und R&D Consultant fluxguide GmbH Kontakt: kasra@fluxguide.com Larissa König, M.Phil. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Research Lab for Urban Transport (ReLUT) Frankfurt University of Applied Sciences Kontakt: larissa.koenig@fb3.fra-uas.de Prof. Dr. Tobias Hagen Professor für Volkswirtschaftslehre und Quantitative Methoden Frankfurt University of Applied Sciences Kontakt: thagen@fb3.fra-uas.de Die Energieführerschein-App arbeitet mit einem Level-basierten Rewardsystem, wobei sich eine animierte Insel, wie die in Bild 6, mit nachhaltigen Energieträgern schrittweise zusammensetzt. Die oft repetitive Aktivität der App-Nutzung und des Datensammelns wird somit in einen kurzweiligen Kontext und Motivationszusammenhang gestellt und die „perceived costs“ der Nutzung reduziert. Fazit Damit User*innen sich über das Teilen von Daten bei Smart City-Applikationen beteiligen, müssen ihnen diese Anwendungen einen Nettonutzengewinn liefern. Aus Smart City Projekten der letzten Jahre lassen sich Best Practices für User Interface- Funktionen ableiten, welche zum Teilen von Daten animieren. Im ersten Schritt muss der persönliche Nutzen direkt über ein verständliches Onboarding vermittelt werden. Transparenz bei den gesammelten Daten sollte damit einhergehen, dass auch den Daten teilenden User*innen etwas zurückgegeben wird. Über „Data Ownership“-Funktionen wird Vertrauen erhöht, „perceived costs“ werden gesenkt. Regelmäßiges Feedback und kleine „virtuelle“ oder materielle Belohnungen im Rahmen eines Rewardsystems, motivieren zu regelmäßiger Nutzung. LITERATUR [1] Al Nuaimi, E., Al Neyadi, H., Mohamed, N., Al-Jaroodi, J.: Applications of big data to smart cities. J. Internet Serv. Appl. 6, (2015) S. 25. https: / / doi.org/ 10.1186/ s13174-015-0041-5 [2] eco - Verband der Internetwirtschaft e. V.: Data Sharing als Hemmschuh für smarte Mobilität: eco Umfrage zeigt: Mehrheit der Deutschen hat nach wie vor große Vorbehalte bei Freigabe ihrer Mobilitätsdaten, Pressemeldung vom 11. Januar 2023. ht tp s : / / w w w.e co.de / pre s s e / data-sharing-als-hemmschuhf uersmar te mobilit a ete co umfrage -zeig tmehrheitderdeut schen-hat-nach-wie -vorgrosse-vorbehalte-bei-freigabe-ihrer-mobilitaetsdaten [3] Braun, T., Fung, B.C.M., Iqbal, F., Shah, B.: Security and privacy challenges in smart cities. Sustain. Cities Soc. 39, (2018) S. 499 - 507. https: / / doi. org/ 10.1016/ j.scs.2018.02.039 [4] König, P.D.: Citizen-centered data governance in the smart city: From ethics to accountability. Sustain. Cities Soc. 75, (2021) S. 103308. https: / / doi. org/ 10.1016/ j.scs.2021.103308 [5] Ajzen, I.: The Theory of Planned Behavior. Organ. Behav. Hum. Decis. Process. 50, (1991) S. 179 - 211. [6] Choi, J.: Enablers and inhibitors of smart city service adoption: A dual-factor approach based on the technology acceptance model. Telemat. Inform. 75, (2022) S. 101911. [7] Sepasgozar, S.M.E., Hawken, S., Sargolzaei, S., Foroozanfa, M.: Implementing citizen centric technology in developing smart cities: A model for predicting the acceptance of urban technologies. Underst. Smart Cities Innov. Ecosyst. Technol. Adv. Soc. Chall. 142, (2019) S. 105 - 116. https: / / doi.org/ 10.1016/ j.techfore.2018.09.012 Bild 5: SimRa App. © MCC TU Berlin Bild 6: Animiertes Rewardsystem. © Die Umwelt- Beratung AUTOR*INNEN 24 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Ungenutzte Potenziale urbaner Lebensräume Viele Potenziale urbaner Lebensräume sind derzeit ungenutzt. Allein beim Thema Individualverkehr lässt sich feststellen, welche nachhaltigen Gestaltungsräume es noch gibt. Beispielsweise werden durch die autozentrierte Flächennutzung vitale Nachbarschaft und nachhaltige Mobilität innerhalb städtischer Quartiere erschwert und öffentliche Räume durch Feinstaub belastet. Diese Probleme sind seit Jahrzehnten bekannt - und dennoch sind sie weitestgehend ungelöst. Ein Hindernis: Wissen und Kenntnis über gegebene Potenziale sind nicht oder nur begrenzt vorhanden. Es gibt zahlreiche Wissenslücken: Wo werden Fahrradwege am dringendsten gebraucht? An welchen Stellen ist die Luftbelastung am höchsten? Wodurch wird sie ausgelöst - durch Individualverkehr oder andere Faktoren? Umgekehrt erzeugt die Digitalisierung einer Stadt große Mengen unterschiedlichster Daten. Diese bieten theoretisch die Möglichkeit zu verstehen, wie, wann und wo der öffentliche Raum genutzt wird, welche Handlungsbedarfe und -optionen bestehen und welche Eingriffe in die bebaute Umgebung den erwünschten Effekt erzielen - oder eben nicht. Daten als nüchterne Helfer Um diese Möglichkeiten zu nutzen, hilft ein datengestütztes städtisches Management - oder Data Driven Urban Management (DDUM), das als übergeordnetes Konzept zur Ergänzung von Stadt- und Regionalplanung verstanden werden kann. Dabei geht es um die Analyse des urbanen Raums auf konzeptioneller Ebene, aus der Handlungsempfehlungen für diverse Planungsebenen vom globalen bis zum lokalen Level generiert werden. Der Begriff Data Driven bezeichnet daneben die Erhebung von quantitativen Daten mit diversen Technologien. Eine nachhaltige Planungsentscheidung ohne solide Datengrundlage zu treffen, ist ebenso schwierig, wie im Alltagsleben eine gute Entscheidung zu fällen, ohne dabei alle relevanten Fakten zu berücksichtigen: Daten sind deswegen für das Urban Management ergänzend zu weiteren Analysemethoden ein wichtiges Werkzeug. Ein Prozess Dank Digitalisierung Städte nachhaltig planen Wie datengestützte Stadtsteuerung dabei hilft, Städte grün und gemeinwohlorientiert zu gestalten Urbane Daten, Smart City, Nachhaltigkeit, Datenplattform, Urban Management Jonas Merbeth, Anne-Marie Pellegrin Während Städte früher häufig kleinteilig geplant wurden, ist es durch das enorme städtische Wachstum und zunehmend komplexe urbane Kontexte notwendig, ganzheitlich und mit Blick über regionale Grenzen hinaus zu planen und zu bauen. Dafür fehlt es jedoch oft an Informationen und Wissen zu Potenzialen der Stadtgebiete. Urbane Daten könnten hier helfen - werden bislang aber noch zu selten eingesetzt. Dabei ist oft eine Vielzahl von Daten zu städtischen Indikatoren wie Verkehr, Wirtschaft, Flächennutzung und weiteren städtischen Bereichen bereits vorhanden. Sie könnten dazu beitragen, evidenzbasierte Planungsentscheidungen zu treffen sowie Fehlentscheidungen und die Entwicklung fehlgeleiteter Planungs- und Bauprozesse zu minimieren. Wie das geht, zeigt das Data Driven Urban Management (DDUM): Es liefert Ansätze und Ideen, um städtische Planungsprozesse mittels datengestützter Technologien wie urbanen Datenplattformen zu optimieren und Planungsabläufe und -prozesse deutlich zu vereinfachen. Darauf setzen Unternehmen wie das Daten- Kompetenzzentrum Städte und Regionen DKSR. mit Data Driven Management setzt sich, wie in Bild 1 zu sehen, aus vier zentralen Schritten zusammen: Beobachtung, Potenzialanalyse, Maßnahmenergreifung und Bewertung. Datenplattform als Basis für Analyse und Auswertung Die Funktionsweise der Offenen Urbanen Datenplattform (OUP) lässt sich beispielsweise anhand der Verknüpfung von Verkehrsinfrastruktur und Verkehrsdaten zeigen. Durch die Zusammenführung und Verarbeitung von Daten, etwa der Verkehrsflüsse einer Stadt, kann analysiert werden, wie Verkehr nachhaltiger zu gestalten ist (Bild 2). Ein gutes Beispiel ist der Radverkehr. Damit er als alternative Mobilitätsmöglichkeit zielführend gefördert werden kann, ist für die Planung der notwendigen Infrastruktur eine Analyse der bestehenden Gegebenheiten sinnvoll. Mittels Sensoren und Kameras in der bebauten Umgebung werden dafür regelmäßig Daten zum Verkehrsfluss erfasst, ausgewertet und über eine Schnittstelle an ein Beobachtungstool weitergegeben. Auf einer Website können 25 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation die erhobenen Informationen dargestellt und so wiederum ausgewertet werden. Die Daten fließen in naher Echtzeit, also kontinuierlich und in regelmäßigen Zeitabständen, auf die Plattform. Sowohl eine Bewertung des aktuellen Zustands als auch die Auswertung vergangener Ereignisse ist so möglich. Prozessschritte des DDUM: 1. Beobachtung des Verkehrsflusses im ausgewählten Stadtgebiet mittels Kameraauswertungen in naher Echtzeit 2. Identifikation von Problemstellungen des aktuellen Verkehrs, Erkennen von Potenzialflächen für zukünftige Radinfrastruktur 3. Ableitung städtischer Maßnahmen auf Grundlage der quantitativen Erhebungen und Entwicklung eines Planungskonzepts für zukünftige innerstädtische Verkehrsleitführung und Re-Klassifikation von Verkehrsflächen zugunsten des Radverkehrs 4. Kontinuierliche Überprüfung der umgesetzten Planung in naher Echtzeit und Überführung der Ergebnisse in eine langfristige Stadtentwicklung Die Vorteile datengestützter Analysen des bebauten Raums werden hier deutlich: Planungsentscheidungen können auf quantitativer Basis getroffen, Diskussionsgrundlagen für diverse am Planungsprozess beteiligte Stakeholder geschaffen und Auswirkungen der planerischen Maßnahmen kontinuierlich beobachtet werden. Dabei werten Auswertungstools die gewonnenen Daten in vielfältigen Darstellungsmethoden aus. Die Darstellungen können je nach Bedarf in der Form konzipiert und ausgestaltet und mit Zugriffsrechten versehen werden, sodass nur gewünschte Nutzer*innen darauf zugreifen können. Verschiedene Einsatzbereiche urbaner Daten Aber funktioniert Planung im realen Leben wirklich nach Schema DDUM? In Wirklichkeit müssen Fakten meist langwierig erarbeitet - Entscheidungen aber oft schnell und ad-hoc getroffen werden. Das ist auch auch bei den Projekten, die DKSR begleitet, festzustellen. Deshalb sind Urbane Datenplattformen hilfreich, um vorhandene Daten schnell oder sogar in Echtzeit zu erfassen und auszuwerten. Urbane Datenplattformen werden zur Analyse und Bewertung für eine Vielzahl städtischer Indikatoren verwendet; der Handlungsspielraum ist aufgrund der verschiedenen Verschneidungsmöglichkeiten von Daten enorm. Angefangen bei der Analyse des städtischen Verkehrs über die Bewertung städtischer Grün- und Naherholungsflächen bis hin zur konkreten Optimierung von Gebäuden geben Daten eine Menge Einblicke und liefern unterschiedliche Erkenntnisse zur städtischen Umgebung. Zu den Bereichen, die davon durch Hebung neuer Potenziale profitieren, gehören sowohl Umwelt, Verkehr und Gebäude als auch Wirtschaft und Soziales. Der Beitrag von Daten zur Mobilitätswende Im Bereich Verkehr können auch über den Radverkehr hinaus Daten und Datenplattformen für ein nachhaltigeres Verkehrsmanagement und die Verkehrssteuerung eingesetzt werden. Bei einer Verkehrsraumanalyse erlauben Kameras und Sensoren, die im entsprechenden Stadtgebiet installiert sind, automatisiertes und einfaches Zählen von Fahrzeugen und Verkehrsteilnehmenden. Die erhobenen Daten können unterteilt nach Verkehrssektor von städtischen Verkehrsämtern ausgewertet werden. Die Verschneidung mit weiteren Daten spielt hier eine große Rolle: Spezielle Ereignisse wie OBSERVATION Beobachtung der bebauten Umgebung durch Daten. START IDENTIFIKATION Identifikation von Potenzialen auf Basis der vorherigen Maßnahmen und der ausgewerteten Daten. HYPOTHESEN- BILDUNG MASSNAHME Ableitung einer städtischen Handlungsempfehlung aus der Auswertung und Analyse der erhobenen Daten. ANALYSE BEWERTUNG Analyse der erhobenen Daten, Problemspezifikation und Überführung in eine langfristige Planung. ABLEITUNG ZIEL KONTINUIERLICHE KONTINUIERLICHE OPTIMIERUNG Bild 1: Data Driven Management, (DDUM). © Merbeth, Pellegrin (DKSR) 26 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Veranstaltungen können gemonitort und auftretende Spitzenlasten beispielsweise bei Fußballspielen, Konzerten und Events ausgewertet werden. Auch hier lohnt sich die Verschneidung von bestehenden Verkehrsdaten mit durch Kameras und Sensoren erhobenen Daten. Daten der Anbieter von Sharing Mobility können zusätzlich verwendet werden: So erheben Anbietende wie TIER, NextBike oder Lime bereits heute Verkehrsdaten zu zurückgelegten Wegen, Standzeiten und Nutzungszeiten der jeweiligen Fahrzeuge wie Autos, Rollern oder Fahrrädern. Durch einen Abgleich mit bestehenden Verkehrsanlagen wie Mobility- Hotspots erkennt die öffentliche Hand neue Potenziale für Verkehrsangebote. Insbesondere Bau- und Verkehrsplanungsämter können dadurch zukünftige Maßnahmen entsprechend des Bedarfs einschätzen und entsprechende Handlungskonzepte erstellen. Ein Monitoring der Auslastung, Belegung und Nutzung von E-Ladesäulen hilft insbesondere Landes- und Bundesbehörden bei Anpassung und Ausbau der bestehenden Ladesäuleninfrastruktur. Da viele der neu errichteten E-Ladesäulen privat betrieben werden, hilft hier eine gezielte Datenanalyse, um Angebot und Nachfrage stärker durch administrative Ebenen überwachen zu lassen. Auch der dringende Bedarf neuer Ladesäulen kann erkannt und daraus ableitend eine einheitliche Ladesäuleninfrastruktur entwickelt werden. Gezieltes Umweltmonitoring für eine saubere Stadt Die Umweltsituation einer Stadt kann auf Datenbasis umfassend analysiert werden. Daten zu Gewässern können genutzt werden, um Hochwasser genauer vorherzusagen: Dabei übermitteln an Flüssen, Bächen und Seen angebrachte Sensoren Live- Daten zum aktuellen Wasserstand. Durch Verschneidung mit aktuellen Wetterprognosedaten können kurzfristige präventive Maßnahmen, aber auch langfristige planerische Handlungsempfehlungen zur Minimierung von Schäden getroffen werden. Ein weiteres Beispiel ist die Überwachung und das Monitoring des städtischen Baum- und Grünflächenbestands. Dabei erfolgt eine kartografische Darstellung aller innerstädtischer Bäume in einem sogenannten Baumkataster, durch Abgleich mit an den Bäumen angebrachten Sensoren lässt sich somit optimal der benötigte Wasserbedarf erkennen. So haben Stadtverwaltungen, insbesondere städtische Grünflächenämter die Möglichkeit, Bewässerungsmaßnahmen, gerade in warmen Sommern, einzuleiten. Auch die innerstädtische Luftqualität kann mittels Sensoren erhoben werden. Die Sensoren erfassen Daten zu Luftver- Bild 2: Offene Urbane Datenplattform/ Plattformarchitektur. © Merbeth, Pellegrin (DKSR) 27 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation schmutzung, Luftfeuchtigkeit, Luftdruck und Temperatur. Diese Daten können in einer digitalen Karte abgebildet und mit anderen städtischen Indikatoren wie Verkehr oder Bebauung abgeglichen werden. Insbesondere Stadtplanungsämter und Verkehrsämter können von diesen Informationen profitieren und städtebauliche Maßnahmen, wie die Planung von Freiluftschneisen, Grünflächen und angepasste Verkehrskonzepte, ableiten. Dieselben planerischen Maßnahmen können zur Vorbeugung von urbanen Hitzeinseln getroffen werden. Hier können Sensoren innerstädtische Hotspots frühzeitig erkennen und auswerten. Die Darstellung der gewonnen Daten über einen gewissen Zeitraum erlaubt nicht nur Rückschlüsse über den Temperaturverlauf, sondern auch die Ableitung städtebaulicher Maßnahmen durch diverse Beteiligte. Smarte Stadtplanung: Von Gebäudemanagement bis Grünflächenentwicklung Auch für die konkrete Bauleitplanung und das Gebäudemanagement können Daten genutzt werden. Das gängigste Beispiel hierfür ist der „digitale Zwilling“. Durch die kartografische Darstellung aller in einer Stadt befindlicher Gebäude in 3D wird ein digitales Abbild der Stadt erzeugt; diverse Daten aus den Bereichen Umwelt, Verkehr, Wirtschaft und Sozialem können ergänzt werden. Darüber hinaus erlaubt ein digitaler Zwilling, dass die Bauleitplanung beispielsweise Bebauungs- und Flächennutzungspläne direkt in einem einheitlichen System darstellt. Mittels eines ausgefeilten Rollen- und Rechtemanagements können diese Pläne dann den einzelnen Beteiligten zur Verfügung gestellt werden. Ein weiterer Anwendungsfall ist die smarte Planung von Solar- und Photovoltaikanlagen. So kann eine Software analysieren und bewerten, welche Dachflächen besonders für die Stromgewinnung aus Solar- und Photovoltaik geeignet sind. Stadtplanungsämter können durch solche und weitere Potenzialanalysen gezielter Vorranggebiete für erneuerbare Energien ausweisen. Auch für die Planung, den Bau und die Überwachung von Fassadenbegrünung an Gebäuden eignen sich Datenanalysen. So können an den Gebäuden angebrachte Sensoren erkennen, wo beispielsweise eine schlechte Luftqualität in einer Stadt mittels Fassadenbegrünung verbessert werden kann. Das hilft privaten Hauseigentümer*innen wie städtischen Grünflächenämtern. Datenbasierte Lösungen: Für die Stadt von morgen Trotz der Unterschiedlichkeiten all dieser Anwendungsfälle haben alle Beispiele einen Punkt gemein: Sie tragen über den Einsatz einer offenen Datenplattform zu einer optimierten und evidenzbasierten Stadtplanung der Zukunft bei. Viele der Daten existieren dabei bereits - liegen jedoch häufig noch in Silos von Verwaltung, freier Wirtschaft oder Forschungseinrichtungen. Ziel von Unternehmen wie dem Daten- Kompetenzzentrum Städte und Regionen DKSR ist es, diese Silos aufzubrechen und die Daten auf Open Source-Basis effizient miteinander zu verschneiden - das kommt allen datenbereitstellenden Parteien und vor allem dem Gemeinwohl zugute. Durch Data Driven Urban Management ist es Städten möglich, mittels datengestützter Technologien einfacher, effizienter und vor allem evidenzbasierter Planungsentscheidungen zu treffen. Auswirkungen der getroffenen Maßnahmen lassen sich kontinuierlich überwachen. Die zunehmende Interaktion von Bürger*innen, diversen administrativen Ebenen und privaten Unternehmen kann durch eine Vernetzung von Daten mittels neuer Technologien unterstützt werden. Planerische Handlungsempfehlungen basieren damit auch in dieser Hinsicht vermehrt auf Analysen und Auswertungen. DKSR bietet eine Urbane Open Source-Datenplattform an, über die verschiedene Anwendungen wie der oben beschriebene Fall zur Verkehrsflussanalyse bereits umgesetzt sind. Möglich sind Anwendungsfälle in vielen weiteren weiteren städtischen Bereichen. Städte und Regionen können ihre Daten an die Plattform anschließen und durch das integrierte Analyse- und Monitoringtool auswerten lassen. Die automatische Analyse von Near Realtime- Daten ermöglicht faktenbasierte Entscheidungen bei der Stadt- und Regionalplanung. Durch die Open Source-Technologie der Plattform bieten darauf laufende Umsetzungen einfache Anknüpfung für weitere Städte und Gemeinden. Jonas Merbeth Consultant Smart City Daten-Kompetenzzentrum Städte und Regionen DKSR Kontakt: jonas.merbeth@dksr.city Anne-Marie Pellegrin Communication Manager Daten-Kompetenzzentrum Städte und Regionen DKSR Kontakt: anne-marie.pellegrin@dksr.city AUTOR*INNEN 28 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt „Die Zeit ist aus den Fugen geraten“ heißt es schon in Shakespeares Hamlet. In jedem Fall ist die Welt komplex geworden. Neue vielschichtige Phänomene wie Pandemie(n), kollabierende Ökosysteme, Finanzkrisen, Verschwörungserzählungen sowie Hass und gezielte Desinformation, insbesondere in digitalen Medien, fordern uns in unserem Denken und Handeln heraus. Wie können wir als Menschen bzw. als demokratisch verfasste Gesellschaft damit umgehen sowie einen Beitrag leisten, das Miteinander zu verbessern und Kommunen lebenswert gestalten? Neue Wege der Zusammenarbeit Offensichtlich ist: Die großen Herausforderungen unserer Zeit und die immer schnellere Abfolge von unvorhersehbaren Krisen lassen sich nicht mehr alleine lösen. Sie betreffen alle und können deshalb nur gemeinsam von Staat, Wirtschaft sowie Zivilgesellschaft und zwar zusammen mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern bewältigt werden. Hierfür Bedarf es starker Partnerschaften und eine klare Struktur, wenn nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen erreicht werden sollen. Der Gemeinsam-Wirken-Ansatz (Bild 1) kann hier hilfreich sein, um eine solche klare Struktur für gemeinsames Handeln auf kommunaler Ebene zu etablieren: Für erfolgreiche Kooperationen braucht es - wenig überraschend - eine gemeinsame Zielsetzung, die alle Kooperationspartner mittragen und unterstützen. Nur so können die Beteiligten ihre Erfahrungen und ihre Ressourcen so einsetzen, dass Synergien entstehen sowie komplementäre Ressourcen fruchtbar gemacht werden, die dann Wirkungen entfalten, die allein nicht erreichbar wären. Ohne Koordinierung der Akteure, und damit verbunden der Aktivitäten, kann das nicht gelingen. Hierfür braucht es eine gut ausgestattete und möglichst unabhängige Koordinierungsstelle, die über ausreichend Ressourcen verfügt, um alle Aktivitäten der Gemeinsam-Wirken-Initiative effektiv zu koordinieren. Die Koordinierungsstelle stärkt den Zusammenhalt zwischen allen beteiligten Akteuren, Zivilgesellschaft stärken Engagement, Zivilgesellschaft, Zusammenhalt, Beteiligung Andreas Grau Die Städte in Deutschland sind mit zahlreichen und in immer kürzerer Abfolge auftretenden Herausforderungen konfrontiert. Zusätzlich nimmt die Komplexität dieser Herausforderungen zu, was dazu führt, dass sich diese nicht mehr alleine bewältigen lassen. Sie müssen deshalb gemeinsam von Staat, Wirtschaft sowie Zivilgesellschaft und zwar zusammen mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern angegangen werden. Hierfür bedarf es starker Partnerschaften und einer klaren Struktur, wenn Städte lebenswert sein sollen. ©Nina Strehl on unsplash 29 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt sorgt durch ihre neutrale Rolle für gutes Gelingen und wird von allen Beteiligten als moderierende Kraft akzeptiert. Damit die Aktivitäten auf Wirksamkeit überprüft und Anpassungen vorgenommen werden können, ist ein gemeinsames Wirkungs-Analyse-System erforderlich. Hierzu ist es notwendig, die in der Zielformulierung implizit enthaltenen Erfolgsindikatoren so herunterzubrechen, dass sie konkret und messbar sind. Hilfreich kann hier die so genannte Wirkungstreppe [1] sein, die es ermöglicht Wirkungsziele zu formulieren und damit auch deren Erreichen zu messen sowie zu analysieren, wenngleich sich insbesondere zivilgesellschaftliche Aktivitäten nicht in ein einziges Raster pressen lassen. Sind die Wirkungsziele konkret und messbar formuliert, ist eine Einigung darüber erforderlich, welche Daten zu ihrer Messung durch wen erhoben werden sollen. Auf diese Weise können Maßnahmen auf ihre Wirkung hin überprüft und gegebenenfalls, nach Absprache mit den beteiligten Akteuren, angepasst werden. Dadurch werden Lernprozesse und eine wirkungsorientierte Ausrichtung der Aktivitäten ermöglicht. Wirklich erfolgreich ist eine Gemeinsam-Wirken Initiative insbesondere dann, wenn durch verzahnte Aktivitäten komplementäre Ressourcen eingesetzt werden und Synergien Wirkung entfalten. Es Bedarf also sich gegenseitig verstärkender Aktivitäten unter Wahrung der Autonomie der einzelnen Institutionen und Akteure. Gerade beim sektorübergreifenden Ansatz mit Akteuren aus Politik/ Verwaltung, Zivilgesellschaft und Unternehmen ist dies in hohem Maße erforderlich, da die Handlungslogiken, aber auch die rechtlichen Handlungsspielräume sehr verschieden ausgeprägt sind. Durch sich gegenseitig ergänzende Aktivitäten, die gut koordiniert sind und einer gemeinsamen Zielsystematik unterliegen, werden Ressourcen zielgerichtet eingesetzt und Förderlücken geschlossen bzw. Parallelstrukturen abgebaut. Alle beteiligten Akteure entwickeln hierdurch eine klare Vorstellung davon, wie sie zum Erfolg der Kooperation beitragen. Auch wird deutlich, welchen Beitrag andere Akteure leisten. Durch dieses bessere Verständnis der gemeinsamen Arbeit werden unnötige Redundanzen vermieden und gegenseitiges Lernen wird möglich. Damit sich gegenseitig verstärkende Aktivitäten überhaupt möglich sind, müssen alle Beteiligten über die relevanten Informationen hinsichtlich der Wirkungsziele sowie der Aktivitäten auch der anderen Partner verfügen. Hierfür bedarf es kontinuierlicher Kommunikation, die regelmäßig alle relevanten Akteure einbezieht und zwar auch unabhängig von vorgegebenen Kommunikationsanlässen. Dieser Informationsfluss fokussiert auf die unterschiedlichen Aktivitäten im Hinblick auf das Erreichen der gemeinsamen Wirkungsziele. Gerade bei einer Vielzahl an Akteuren ist es immer wieder erforderlich, die Ausrichtung der Aktivitäten mit Blick auf die Wirkungsziele anzupassen und so Lernpotenziale sowie Verbesserungsmaßnahmen zu implementieren. Gleichzeitig schafft die regelmäßige Kommunikation vertrauen unter den Beteiligten. Sind die zuvor erläuterten und in Bild 1 dargestellten fünf Faktoren gemeinsamen Wirkens erfüllt, erhöht dies enorm die Wahrscheinlichkeit, auch großen Herausforderungen mit einer heterogenen Zusammensetzung von Akteuren nachhaltig sowie erfolgreich zu begegnen. Ein Modell für wirkungsorientierte Zusammenarbeit in Kommunen Bürgerschaftliches Engagement ist ein Grundpfeiler der Demokratie, ist Ausdruck von Freiheit und Eigeninitiative, schafft Lebensqualität und stärkt den Gemeinsinn. Unsere Gesellschaft lebt von Menschen, die sich für gemeinschaftliche Belange einsetzen, die neue Ideen entwickeln und umsetzen sowie ihre Zeit und ihre Erfahrungen in die Gesellschaft einbringen. Engagement ist der Kern unseres demokratischen Zusammenlebens. Eine starke Zivilgesellschaft ist ein Garant dafür, dass wir die Herausforderungen unserer Zeit bewältigen und ein Wir-Gefühl in der Gesellschaft entwickeln können. Seit 2015 unterstützt das Programm Engagierte Stadt den Aufbau kommunaler Infrastruktur für Engagement und Beteiligung in Städten und Gemeinden in Deutschland, es unterstützt Kooperationen statt Projekte. Das Konstruktionsprinzip des Programms basiert auf dem zuvor skizzierten Gemeinsam-Wirken-Ansatz. Die Engagierte Stadt begleitet Menschen und Organisationen vor Ort auf ihrem gemeinsamen Weg zu starken Verantwortungsgemeinschaften. Ein weiteres Merkmal des Gemeinsame Zielsetzung Die fünf Erfolgsfaktoren von Gemeinsam Wirken Gut ausgestattete Koordinationsstelle Gemeinsames Wirkungsanalyse-System Sich gegenseitig verstärkende Aktionen Kontinuierliche Kommunikation 1 2 3 4 5 Gemeinsam Wirken Bild 1: Die fünf Erfolgsfaktoren von Gemeinsam Wirken. © Bertelsmann Stiftung 30 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Programms Engagierte Stadt ist die sektorübergreifende Zusammenarbeit und das gemeinsame Lernen der teilnehmenden Organisationen sowie die Kooperationen in ganz Deutschland im Netzwerk der Engagierten Städte. In den Engagierten Städten werden Themen deshalb gemeinsam identifiziert und angegangen: Eine verbindliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe von engagierten Bürgerinnen und Bürgern sowie zivilgesellschaftlichen Trägern zusammen mit der Kommunalverwaltung, der Politik sowie Wirtschaftsunternehmen vor Ort tritt an die Stelle der allzu oft noch vorhandenen Erwartung, das müssen doch die anderen lösen. Es hat sich auch gezeigt, dass eine lose Zusammenarbeit einzelner Akteure einer systematischen und wirkungsorientierten Zusammenarbeit im Sinne des Gemeinsam-Wirken- Ansatzes unterlegen ist. Engagierte Städte sind damit erfolgreich, dass eine gut ausgestattete lokale Koordinierungsstelle den Prozess der Zusammenarbeit begleitet und den Transfer von Wissen sowie Erfahrungen sicherstellt. Die Zahl der Engagierten und der Grad der Kooperationen steigt in diesen Kommunen nachweislich. Dazu äußern sich Marion Zosel-Mohr und Jochen Beuckers, gewählte Sprecherin und gewählter Sprecher der Engagierten Städte, wie folgt: „Menschen, die sich lokal engagieren, wollen Verantwortung übernehmen, etwas bewegen und unsere Gesellschaft mitgestalten. Dafür brauchen sie gute Rahmenbedingungen und verdienen die Unterstützung durch alle, die in der Stadt leben. Genau das hat das Programm verstanden, und deswegen sind wir von Beginn an begeistert von der Engagierten Stadt.“ Die vorangegangen Ausführungen zum Gemeinsam-Wirken-Ansatz machen deutlich, dass es hierfür Koordinierung braucht, damit das Engagement der Vielen Wirkung entfalten und einen echten Unterschied für eine lebenswerte Kommune machen kann. Diese Koordination muss zunächst die Möglichkeit geben, ein geteiltes Problemverständnis zu entwickeln, um darauf aufbauend festzulegen, welche Herausforderung und mit welcher Zielsetzung diese angegangen werden soll. Denn nur wenn alle beteiligten Akteure eine gemeinsame Sprache sprechen und sich auf das übergreifende Ziel für die Gemeinsam-Wirken-Initiative verständigt haben, kann diese erfolgreich sein. Die Vertreterinnen und Vertreter aus den Engagierten Städten haben gemeinsam ein Selbstverständnis entwickelt, das die Prinzipien umfasst, nach denen in den Engagierten Städten gearbeitet wird (siehe Box). ln einer Engagierten Stadt arbeiten Akteure aus Zivilgesellschaft, Politik, Verwaltung und Unternehmen gemeinsam mit den Einwohnerinnen und Einwohnern an einer demokratischen, vielfältigen und solidarischen Gesellschaft. sich komplexe gesellschaftliche Herausforderungen nur gemeinsam bewältigen lassen - und es dafür die gleichberechtigte Zusammenarbeit von Zivilgesellschaft, Politik, Verwaltung und Unternehmen braucht. bürgerschaftliches Engagement und Beteiligung der Einwohnerinnen und Einwohner das Rückgrat des gesellschaftlichen Miteinanders bilden- und es deshalb das Wissen um die Bedeutung des bürgerschaftlichen Engagements und dessen Anerkennung zu stärken gilt. Engagement und die Beteiligung der Zivilgesellschaft die Lebensqualität und das Zusammenleben vor Ort verbessern sowie die Attraktivität und damit die Zukunft eines Ortes sichern und deshalb zu fördern sind. die beteiligten Akteure vor Ort wissen, wie sie lokales Engagement stärken und gesellschaftlichen Herausforderungen begegnen können - und deshalb als Expertinnen und Experten auf ihrem Weg zu unterstützen sind. ein erfolgreicher Prozess ein Von- und Miteinanderlernen braucht - indem die Erfahrungen aus der Zusammenarbeit vor Ort und der Entwicklung guter Rahmenbedingungen für Engagement und Beteiligung an Interessierte sowie andere Städte, Orte und Regionen weitergegeben werden. es für alle Einwohnerinnen und Einwohner möglich und einfach ist, sich freiwillig zu engagieren und sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Vertreterinnen und Vertreter der kommunalen Politik: und Verwaltung, lokaler Unternehmen sowie der Zivilgesellschaft auf Augenhöhe zusammenarbeiten - damit jeder sein jeweiliges Wissen und Können einbringen kann, gemeinsam Ziele entwickelt, verbindliche Absprachen getroffen und wirksame Maßnahmen umgesetzt werden. es gute und verlässliche Rahmenbedingungen für engagierte Einwohnerinnen und Einwohner gibt, um lokale Herausforderungen auch zukünftig gemeinsam zu lösen. eine langfristig gesicherte Informations-, Vernetzungs- und Koordinierungsstelle existiert, die alle Akteure vor Ort in ihrem Engagement unterstützt. über Mitwirkungsmöglichkeiten informiert und die Arbeit koordiniert. es eine Verständigung über die Chancen und Grenzen bürgerschaftliehen Engagements sowie eine wertschätzende Zusammenarbeit zwischen Haupt- und Ehrenamtlichen gibt. Selbstverständnis SELBSTVERSTÄNDNIS DES PROGRAMMS ENGAGIERTE STADT Wir sind davon überzeugt, dass Wir arbeiten vor Ort daran, dass 31 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Warum überhaupt dieses Selbstverständnis? Weil es bis zu dessen Formulierung nichts gab, was die Gemeinsamkeit der Städte und gleichzeitig ihre Vielfalt der Maßnahmen sowie Herangehensweisen beschrieben hat. Der Ausgangspunkt war ein lernendes Programm mit einer klaren Wirkungsorientierung: Vor Ort wurden für die jeweilige Engagierte Stadt gemeinsame Wirkungsziele entwickelt, daran ausgerichtet Maßnahmen erarbeitet sowie Aktivitäten konzipiert und dann ging es los mit der Umsetzung. Im Sinne der Lernkultur und der Ausrichtung am Gemeinsam-Wirken-Ansatz wurde dann im Verlauf ganz viel angepasst an das, was in der jeweiligen Engagierten Stadt wirklich Wirkung entfaltet und gebraucht wird. Durch diesen - durchaus gewünschten - ständigen Prozess der Anpassung, entstand der Wunsch bei den Koordinatorinnen und Koordinatoren der Engagierten Städte, selbst zu beschreiben, was sie alle verbindet. Daraus ist das Selbstverständnis der Engagierten Städte (siehe- Box) entstanden. Es beschreibt über den Ansatz des Gemeinsam-Wirkens hinaus die Haltung, Aufgaben und Handlungsfelder, an denen die Engagierten Städte arbeiten. Bewusst beschrieben als Prozess an dem kontinuierlich gearbeitet wird. Mit dem Selbstverständnis ist erstmals verbindlich für alle festgeschrieben und definiert, was die Engagierten Städte von Aachen bis Zwickau im Kern verbindet. Lebenswerte Kommune durch lokale Verantwortungsgemeinschaft Eine Stadt ohne Engagement sowie Beteiligung, in der Zusammenhalt nicht gegeben ist, ist nicht lebenswert. Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, welcher Mehrwert entstehen kann, wenn einzelne Institutionen vor Ort und einzelne Personen nicht nur auf eigenem Weg - sowie auf sich selbst gestellt - Probleme und Herausforderungen angehen. Die enorme Wirkung, die sich durch eine Stärkung der zivilgesellschaftlichen Organisationen und des bürgerschaftlichen Engagements vor Ort entfalten kann, wird immer noch unterschätzt. Diese zu entfalten gelingt vor allem durch gemeinsames und sektorübergreifendes Wirken, das aber durchaus voraussetzungsvoll ist und der Koordinierung bedarf, wie es bei der Beschreibung des Gemeinsam-Wirken-Ansatzes ausgeführt wurde. Die Einrichtung einer solchen Koordinierungsstelle vor Ort stärkt das bürgerschaftliche Engagement und verbessert damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das Miteinander vor Ort, da so die jeweils drängendsten Fragen durch gemeinsame Identifikation der Probleme mit komplementären Ressourcen angegangen werden können. Die Engagierten Städte werden nach drei Jahren als engagementfreundlicher wahrgenommen als zu Beginn des Programms. Hiervon profitieren letztlich die Einwohner*innen einer Stadt, denn diese wird für alle lebenswerter. Über das Netzwerkprogramm Engagierte Stadt Seit 2015 fördert das Netzwerkprogramm „Engagierte Stadt“ den Aufbau bleibender Engagementlandschaften in ausgewählten Städten und Gemeinden Deutschlands. Seitdem sind belastbare und gut aufgestellte Netzwerke in den beteiligten Städten entstanden. Sie sind Teil eines Netzwerks, das gelungene Praxis vor Ort sichtbar macht und mit starken Partner*innen bürgerschaftliches Engagement auf allen Ebenen stärkt. Die Bedingungen für bürgerschaftliches Engagement und Beteiligung vor Ort haben sich in den Engagierten Städten nachweislich verbessert. Das Programm wird durch ein Konsortium auf der Bundesebene getragen, dem das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), die Bertelsmann Stiftung, die Breuninger Stiftung, das Bundesnetzwerk für Bürgerschaftliches Engagement, die Joachim Herz Stiftung, die Körber-Stiftung und die Robert Bosch Stiftung angehören. Weitere Partner*innen des Netzwerkprogramms Engagierte Stadt sind die Auridis Stiftung, der Deutsche Städte- und Gemeindebund, der Deutsche Städtetag, die Metropolregion Rhein-Necker sowie die Bundesländer Hessen, Schleswig-Holstein und Land Rheinland-Pfalz. LITERATUR [1] Wirkungstreppe: Das sind die häufigsten Fehler (www.skala-campus.org), abgerufen am 24.03.2023. [2] Gemeinsam Wirken (www.bertelsmann-stiftung.de), abgerufen am 20.03.2023. [3] Selbstverständnis der Engagierten Städte. www.engagiertestadt.de, abgerufen am 17.03.2023. [4] Handbuch der engagierten Stadt (https: / / www. engagiertestadt.de/ wp-content/ uploads/ Broschuere-ES_200605.pdf), S. 56, abgerufen am 24.03.2023. Andreas Grau Projektmanager Zentrum für Nachhaltige Kommunen Bertelsmann Stiftung Kontakt: andreas.grau@bertelsmann-stiftung.de AUTOR 32 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Graffiti und Street Art sind in vielen Städten weit verbreitet, sodass sie längst als Massenphänomen gelten können. Ob sie es wollen oder nicht, werden die Menschen damit konfrontiert. Wie angesichts dieser enormen Präsenz zu erwarten, ist das Thema Graffiti längst in den Fokus der Medien und wissenschaftlicher Analysen geraten und hat dadurch das Interesse daran noch verstärkt. Es gibt etliche Publikationen, darunter das online Journal „Street Art & Urban Creativity“ (abgekürzt SAUC), in dem sich Autorinnen und Autoren aus vielen Ländern mit den diversen Aspekten von Graffiti und Street Art auseinandersetzen [1]. Graffiti, im ursprünglichen Sinne etwas an die Wand Gekratzes, und Street Art, farbenfrohe Bilder im öffentlichen Raum der Städte haben eine kommunikative Funktion, sie sollen unbedingt auffallen. Schon vor mehr als 4 000 Jahren gab es in Ägypten gekratzte Inschriften auf Tempeln, Statuen und Mauern. Auch in der römischen Stadt Pompeji waren Graffiti keine Seltenheit. Eine lange Tradition also. Was ist es, was die gegenwärtigen von den früheren Wandbeschriftungen unterscheidet? Auf den ersten Blick fällt auf, dass das heutige Graffiti außerordentlich bunt, sehr flächig, enorm verbreitet und an Orten anzutreffen sind, an denen sich viele Menschen einfinden, sodass möglichst viele Menschen sie zu sehen bekommen. Sie haben dort ein Publikum. Nicht nur Fassaden, Wände, Mauern, Tunnel, Unterführungen und Lärmschutzwälle, sondern auch Bahnen dienen heute als Flächen für Graffiti, was ihre Sichtbarkeit noch verstärkt. Die Meinungen, ob Städte durch Graffiti ästhetisch ansprechender werden oder ob es sich eher um eine Verschandelung und Sachbeschädigung handelt, sind geteilt. Für die Befürworter ist Graffiti Kunst. Kritiker bringen dagegen Graffiti eher mit Sachzerstörung und Vandalismus in Verbindung. Ein differenzierter Blick auf das Phänomen Graffiti lohnt, um das Pro und Contra unvoreingenommener gegeneinander abzuwägen. Zu klären ist: Ist Graffiti Kunst? Ist die Buntheit essentiell? Wer sind die Akteure? Kunst? Graffiti wird zur Kunst, wenn man sie als Street Art deklariert. Das fällt leicht, denn Schauplatz ist in beiden Fällen der öffentliche Raum. Graffiti ist in erster Linie „Writing“, Street Art sind vor allem Bilder. Graffiti ist Schrift-Kunst, Street Art ist Bild-Kunst. Beides wird unter Street Art oder auch Urban Art subsumiert [2]. Sie werden als neues Genre im urbanen Alltag proklamiert. „Keine Großstadt ist heute mehr frei von kleinen und großen Malereien, die an legalen oder illegalen Plätzen gegen oder ohne Bezahlung entstanden sind“ [3]. Die weite Verbreitung in Städten wie Basel, Barcelona und Kopenhagen, Stockholm usw. dient als Argument, dass es sich um eine neue zeitgenössische Form von Kunst handelt. „Schon heute ist erkennbar, dass die Stigmatisierung von Graffiti, Street Art und Urban Art bzw. deren pauschale Vorverurteilung als Vandalismus nicht mehr zeitgemäß sind“ [4]. Buntheit Graffiti und Street Art sind bunt. Sie fallen allein schon wegen ihrer Farbigkeit ins Auge. Man könnte daraus schließen, dass es sich um einen Protest gegen eine graue, eintönige, farblose Stadt handelt. Das Motto „Bunt statt Grau“ war schon vor hundert Jahren hoch aktuell gewesen, als Bruno Taut in Magdeburg Baudirektor war. Der Aufruf zum farbigen Bauen wurde 1921 in den Magdeburger Zeitungen veröffentlicht [5]. Das Leitbild der farbigen Stadt wurde realisiert. Rathaus und etliche Hausfassaden wurden bunt angestrichen, sodass für Graffiti und Street Art kein Platz gewesen wäre. Doch es gab kritische Kommentare. Andere Architekten waren der Meinung, dass man „das Problem der Farbe in der Architektur“ nicht durch Farbanstriche, sondern allein durch die Verwendung verschiedenartiger Baumaterialien lösen könne. Heute sind die Hausfassaden in der baugenossenschaftlichen Wohnsiedlung in der Otto-Richter-Straße in Magdeburg wegen ihrer extremen Farbigkeit ein touristisches Highlight. Graffiti - Pro und Contra Graffiti, Street Art, öffentlicher Raum, jugendliche Subkultur Antje Flade Graffiti fällt wegen seiner knalligen Buntheit ins Auge. Das Erscheinungsbild der öffentlichen Räume in Städten wird inzwischen dadurch geprägt. Für die einen ist es zeitgemäße Kunst, für die anderen eine unerlaubte Aneignung des öffentlichen Raums. 33 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Warum Farbigkeit vorteilhaft sein kann, lässt sich begründen. Die psychologische Ästhetiktheorie sagt aus, dass Umwelten bevorzugt werden, die einen mittleren Grad an Komplexität aufweisen. Das Verlangen nach Farbigkeit wird auf das Bedürfnis nach einer Umwelt zurückgeführt, die weniger monoton und grau ist, die man, so wie im Wanderlied „Aus grauer Städte Mauern ziehn’ wir durch Wald und Feld“, gern hinter sich lässt. Graue reizarme Mauern werden durch Farbe komplexer und damit reizvoller. Auch wenn es zutrifft, erklärt das jedoch nicht das gesamte Phänomen, denn bereits mit schönster farbiger Street Art versehene Mauern, die überhaupt nicht grau sind, werden mit Graffiti übersprüht (Bild-1). Es muss also mehr sein als das Bedürfnis, graue in farbige Städte zu verwandeln. Der Experte Schlusche spricht von Überreaktionen, wenn kunstvolle Murals mit Graffiti bedeckt werden: Es wird nichts Angepasstes und offiziell Erlaubtes toleriert. Akteure Wer sind diejenigen, die überreagieren? Und wer sind die Produzenten der nicht erlaubten Straßenkunst? Es sind die in großen Städten lebenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sich ganz bewusst und möglichst deutlich von der etablierten, von Erwachsenen beherrschten Kultur absetzen wollen. Die jugendliche Hip-Hop-Subkultur setzt auf provokante Ausdrucksformen. Die Abgrenzung erfolgt an mehreren Fronten, so auch im Kleidungsstil, in Musik-Vorlieben, bevorzugten Treffpunkten und Aktivitäten sowie in der Sprache. Zahlreiche Begriffe wie Getting-up, Tag, Piece, Bubble letters, Throwups, Crossen, Adbustung, Paste-Ups, Stickern, Stencils, Urban Knitting, Murals usw. wurden kreiert. Es sind kreative Ausdrucksformen einer jugendlichen Subkultur, wobei suggeriert wird, dass man sie kennen muss, um überhaupt „mitreden“ zu können [6]. Was die jugendlichen Akteure betrifft: Ihr Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit und nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe wird befriedigt. Sie eignen sich ihre Umwelt aktiv an, indem sie eine graue Mauer oder schon bemalte Wand oder eine S-Bahn knallbunt machen. Sie gehören dazu und bekommen Anerkennung in ihrer Gruppe, wenn sie an besonders exponierten, nur schwer zu erreichenden Orten, Wänden und Fassaden ihre Tags anbringen. Bottom-up und Top-down Graffiti ist in den meisten Fällen unerlaubt [7]. Die Illegalität ist ein Wesensmerkmal, denn ohne diese fehlt der angestrebte Thrill, das Erleben von Spannung und lustvoller Erregung. Deshalb ist es auch nicht damit getan, Leinwände aufzuspannen oder Wände frei zu geben, die ganz legal bunt gemacht werden dürfen. Es darf nicht erlaubt sein. Man agiert nach dem Bottom-up-Prinzip von unten nach oben und lehnt die Wirkrichtung des Top-down, von oben kommende Vorgaben und Auftragswerke, ab. Murals, erlaubte, von der Stadt, anderen Institutionen oder Hauseigentümern in Auftrag gegebene großformatige Wandbemalungen, verkörpern das Top-down-Prinzip (Bild 2). Bild 1: Drei Etappen. © Flade 34 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Schlussbemerkung Schauplatz von Graffiti ist der öffentliche Raum. Dieser ist vergleichbar einer Allmende mit begrenzten Ressourcen, die alle Berechtigten nutzen dürfen. Problematisch wird es, wenn einige zuviel beanspruchen, sodass die Allmende übernutzt wird [8]. Wird der öffentliche Raum im Übermaß mit Graffiti übersät, indem Jugendliche und Heranwachsende Mauern, Wände, Hausfassaden, Untertunnelungen und Bahnen für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse nach Selbstwirksamkeit und Zugehörigkeit beanspruchen, geht zwar die Stadt nicht zugrunde, es ändert sich jedoch ihr Erscheinungsbild. Wird das gewollt? Eine Gesellschaft, in der Graffiti und Street Art positiv konnotiert werden, ist individualistisch, der öffentliche Raum ist darin nicht nur ein sozialer Ort für alle, sondern vor allem auch eine Bühne für Individualisten. In einer kollektivistischen Kultur wäre eine solche Zurschaustellung nicht denkbar. Markus und Kitayama haben das mit einer Metapher, einem Brett, in dem ein Nagel hervorsticht, erläutert. In einer kollektivistischen Kultur würde der Nagel umgehend wieder eingeschlagen („the nail that stands out gets pounded down“ [9]). In einer individualistischen Kultur ließe man den Nagel hervorstechen. Die enorme Verbreitung von Graffiti in den Städten der westlichen Welt ist Ausdruck einer individualistischen Gesellschaft, in der die Leitidee „Gemeinschaftsprojekt Stadt“ es nicht leicht hat, sich durchzusetzen. Ein Ansatzpunkt, angeregt durch die Aktivitäten der jugendlichen Subkultur, ist ein Aufgreifen der Idee der bunten Stadt. Die oftmals farblosen Hausfassaden in den derzeit entstehenden großen Wohnsiedlungen könnte man durchaus farbiger gestalten. Es wäre kein Contra gegen die jugendliche Subkultur, denn diese verfügt über noch andere kreative Ausdruckformen. LITERATUR [1] Jacobson, M.: The dialectic of graffiti studies. A personal record of documenting and publishing on graffiti since 1988. Street Art & Urban Creativity (SAUC), November, (2015) S. 99 - 103. DOI: https: / / doi.org/ 10.25765/ sauc.v1i2.36 [2] Reinecke, J.: Street-Art: eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz. Bielefeld: transcript, 2012. [3] Schlusche, K. H.: StreetArt Basel & Region. Hamburg: Gudberg Nerger, (2015) S. 190. [4] Schlusche, a.a.O., S. 202. [5] Stöneberg, M.: „Neuschöpfung modernen Lebens“. Der Beitrag kommunaler Stadtplanung und Architektur zur Modernisierung Magdeburgs. In: Köster, G., Poenicke, C. Volkmar, C. (Hrsg.): Die Ära Beims in Magdeburg (2021) S. 199 - 241. Halle: mitteldeutscher verlag. [6] Reinecke, a.a.0. [7] Helmstetter, R.: Unerlaubte Kunst: der öffentliche Raum als künstlerische Arena. Bielefeld: transcript, 2022. [8] Hardin, G.: The tragedy of the commons. Science, 162, (1968) S. 1243 - 1248. [9] Markus, H. R., Kitayama, S.: Culture and the self: Implications for cognition, emotion, and motivation. Psychological Review, 98, (1991) S. 224. Bild 2: Mural. © Flade Dr. Antje Flade Diplom-Psychologin Angewandte Wohn- und Mobilitätsforschung (AWMF), Hamburg Kontakt: awmf-hh@web.de AUTORIN 35 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt „Ohne meine Familie hier, wäre die Siedlung nur eine Ansammlung von Betonklötzen. Aber die Familie, die Freunde und die vielen Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend die ich mit diesem Ort verbinde, die möchte ich niemals missen. Die Menschen verbinden mich mit dem Ort, sodass mir der Ort heute am Herzen liegt und ich mir Verbesserungen wünsche, wie ein Tempolimit für die durchfahrenden Autos, Taubenschutz oder die Sanierung des Sportplatzes.“ [1] Mehr als nur eine Ansammlung von Betonklötzen, dass soll Wohnen für uns alle sein. Aber wie gelingt es, neben der Instandhaltung von Wohngebäuden und der Neuberechnung von Mietpreisen, das komplexe Zusammenspiel aus Zusammenleben, Wohnbedürfnissen, Mobilität und zentraler Versorgungseinrichtungen bei der Weiterentwicklung einer Siedlung umfassend zu berücksichtigen? Dieser Frage widmet sich das aktuelle Forschungsprojekt „Gut leben in großen Siedlungen“, der Frankfurt University of Applied Sciences. Das Projekt wurde 2022 mit dem Zukunftspreis des Großen Frankfurter Bogens ausgezeichnet und baut auf der Studie „Lebensqualität in Großwohnsiedlungen“ [2] auf, die in Kooperation mit der Wohnungsgesellschaft GWH entstand. Die Lebensqualität ist ein vielschichtiges und vielbesprochenes Thema, das gerade in den aktuellen Krisenzeiten an Relevanz gewinnt. Unterschiedliche Disziplinen versuchen sie mit unterschiedlichen Methoden zu fassen oder Kriterien für ihre Messung aufzustellen. Im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung von Quartieren wurde der Themen- Lebensqualität in Großwohnsiedlungen Mehr als vier Wände und ein Dach über dem Kopf. Großwohnsiedlung, nachhaltige Quartiersentwicklung, bezahlbarer Wohnraum, Lebensqualität, Bewohner*innen-Beteiligung Natalie Heger, Ruth Schlögl Die Studie „Lebensqualität in Großwohnsiedlungen“ des Forschungslabors Nachkriegsmoderne an der Frankfurt University of Applied Sciences befasst sich mit der Frage, was die Lebensqualität in Großwohnsiedlungen ausmacht und wie diese gemessen werden kann. Dabei ist das Zusammenspiel aus weichen Faktoren, wie die Befragung von Bewohner*innen und Schlüsselakteur*innen, und harten Faktoren, wie die Erfassung des Gebäudebestands und des Sanierungszustands, von zentraler Bedeutung. Die Messung der Lebensqualität erfolgt in elf Kategorien und sie soll anhand unterschiedlicher Indikatoren Bestandhalter*innen in der Praxis bei der nachhaltigen Weiterentwicklung ihrer oft sehr unterschiedlichen Quartiere unterstützen. Aktuell wurde das Projekt mit den Zukunftspreis des Großen Frankfurter Bogens ausgezeichnet und wird im Rahmen eines Lehr-Forschungsprojektes an der Frankfurt UAS weiter bearbeitet. Bild 1: Blick in das Quartier Brückenhof. © Natalie Heger 36 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt komplex der Lebensqualität bisher jedoch kaum näher untersucht. Dabei birgt der Ansatz, bei der Betrachtung einer Siedlung ein vielfältiges Spektrum an Kriterien heranzuziehen, viele Chancen für eine ganzheitliche Quartiersentwicklung. Wie die Lebensqualität in Siedlungen in unterschiedlichen Kategorien bemessen werden kann, welche Themenfelder dabei betrachtet werden müssen und wie die Stimmen der Bewohner*innen einer Siedlung dabei zukünftig mehr Beachtung finden, sind zentrale Fragen hinter dem aktuellen Lehr- und Forschungsprojekt an der Hochschule in Frankfurt, die gemeinsam mit Studierenden des Studiengangs Architektur anhand von zwei Fallbeispielen - der Siedlung Ben Gurion Ring in Frankfurt und der Siedlung Schelmengraben in Wiesbaden - derzeit untersucht werden. Zu Besuch „Wir sind im Januar eingezogen, es war noch kalt draußen. Trotzdem war eines der ersten Dinge die wir getan haben, unten vor die Tür, eine Bank zu stellen. Denn das erinnert mich auch an meine Kindheit in Bulgarien. Ich bin in einem Wohnhochhaus, einem klassischen Plattenbau, aufgewachsen und dort war es üblich, dass eine Bank vor dem Haus die Heimkommenden begrüßt und zum Verweilen einlädt. So ist diese Bank auch ein Stück Heimat für mich geworden.“ Der erste Schritt bei der Messung der Lebensqualität führt immer in die Siedlung. Ein Besuch, mehrere Spaziergänge, Beobachtungen, vermitteln einen ersten subjektiven Eindruck über das Quartier. Dieser wird in Folge durch Gespräche mit unterschiedlichen Akteur*innen der Siedlung erweitert. Was erzählen Hausmeister*innen, wie sehen nachbarschaftliche Initiativen in der Siedlung den Alltag und wie ist die Einschätzung der Wohnungseigentümer*innen? Die gesammelten Erkenntnisse könnten nun in langen Textdokumenten verschwinden und auf Speicherlaufwerken ihr Dasein fristen. Oder sie werden, wie im Rahmen des Lehr- und Forschungsprojektes „Gut leben in großen Siedlungen“ in einen Bewertungskatalog eingetragen, der am Ende aus allen gesammelten Informationen den Wohnqualitätsindex berechnet. Ein Index der in einer übersichtlichen Grafik vermittelt, welche Stärken und Schwächen ein Quartier aufweist. Gestaltungsqualität Baukultur Grünflächen Orientierung Aufenthaltsqualität Spielplätze Typologie Grundrisstypen Sanierungsstand Energieeffizienz Instandhaltungsbedarf Klimaanpassung Kindertagesstätten Schulen Öffentliche Einrichtungen Kulturelles Angebot Nahversorgung g n u r e i s i l a t i g i D Verkehrssicherheit Parken ÖPNV Fahrrad Barrierefreiheit Neue Mobilität Akteur*innen Nachbarschaft Beteiligung Kommunikation Hausmeister*innen Servicebüro / Kauf. und Techn. Immobilienmanagement Sauberkeit und Sicherheit Mietniveau Vermietungsstand Wohnen im Alter Ärzte und Apotheken Luftqualität und Lärmbelastung Sport und Bewegung Lage Außenwahrnehmung 80 84 82 0 74 60 80 71 95 78 83 24 87 88 49 50 77 100 82 71 70 86 - 84 38 75 77 70 81 62 84 83 83 81 53 86 79 75 75 Wohnqualitätsindex ermitteln Handlungsfelder identifizieren Maßnahmen planen Maßnahmen kommunizieren Maßnahmen evaluieren Bewertung aktualisieren Lebensqualität gestalten - Quartiere entwickeln Visionen entwickeln Wie sieht das Quartier in Zukunft aus? Was wird im Quartier sofort benötigt? Bild 2: Prozesse der Quartiersentwicklung. © Heger, Schlögl Bild 3: Wohnqualitätsindex. © Heger, Schlögl 37 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Zentraler Bestandteil des Wohnqualitätsindex und der damit verbundenen Betrachtung von Quartieren ist die Zusammenarbeit mit den Bewohner*innen - als eigentliche Expert*innen für das Wohnen und den Alltag vor Ort. Ihre Einschätzung zur Lebensqualität in der Siedlung wird über eine Bewohnerbefragung im Quartier aufgenommen. Außerdem wird der Austausch mit Bewohner*innen und Akteur*innen über die Erstellung einer partizipativen Quartierskarte vertieft. Diese Quartierskarte ermöglich die Kommunikation und den Austausch über das starre Gerüst eines Fragebogens hinweg und hilft allen Beteiligten neue Netzwerke zu knüpfen und Wünsche und Ideen für das eigene Wohnumfeld zu artikulieren. Im Gespräch „Die Umbaumaßnahmen sind eine echte Herausforderung für uns, wir sind alle etwas gereizter. Weil wir von früh bis spät den Baulärm im Ohr haben, das belastet uns auch seelisch.“ Der Fragebogen für die Ermittlung des Wohnqualitätsindex basiert auf den Kategorien und Indikatoren des Wohnqualitätsindex, vorangegangenen Expertengesprächen, einer Fokusgruppendiskussion und den Erkenntnissen und Fragestellungen aus der Intervallstudie „Wohnen und Leben in Leipzig- Grünau“. [3] Er wurde gemeinsam mit Soziologen der School of Personal Development and Education (Scope) an der Frankfurt University of Applied Sciences im Rahmen einer Lehrveranstaltung evaluiert. Es werden Fragen aus den unterschiedlichen Kategorien gestellt wie beispielsweise, ob Besucher*innen sich im Quartier gut zurechtfinden, wie die Aufenthaltsqualität im Quartier beurteilt wird, wie stark Hitzeentwicklung oder Lärmbelästigung innerhalb der Wohnung wahrgenommen werden oder wie gut der Austausch in der Nachbarschaft ist. Bewohnerbefragungen helfen auf verschiedenen Maßstabsebenen voneinander zu lernen. Einerseits erhalten Quartiersentwickler*innen von den Bewohner*innen selbst Einblick in den Alltag und das Leben vor Ort. Andererseits ermöglichen die Befragungen auch einen Vergleich zwischen Quartieren untereinander und einen datenbasierten Austausch von Erfahrungen und erfolgreichen Maßnahmen. Darüber hinaus stärkt eine regelmäßig durchgeführte Befragung die Identifikation der Bewohner*innen mit ihrem Quartier. Somit sind die Ergebnisse aus den Befragungen nicht nur zentraler Bestandteil für die Ermittlung des Wohnqualitätsindex. Die Wahrnehmungen, Urteile und Perspektive der Bewohner*innen auf ihr Zuhause und das unmittelbare Wohnumfeld, liefern auch wichtige Informationen für die nachhaltige Weiterentwicklung von Quartieren im Sinne der Lebens- und Wohnqualität und helfen Maßnahmen der Quartiersentwicklung an der richtigen Stelle zu setzen sowie deren Wirkung im Nachgang zu evaluieren. Im Blick „Meine Idee für die Siedlung? … ein Tempolimit, … mehr Gemeinschaft, … Ärzte, die noch Kapazitäten für neue Patienten haben, … die Teilhabe am Alltag, … Internet das auch funktioniert, … Sauberkeit und Verständnis für einander.“ Bild 4: Interviewsituation. © Heger, Schlögl Wichtige Merkmale, die einen Wohnort lebenswert machen, wurden in elf übergeordneten Kategorien eingeordnet (Quartier, Gestaltung, Freiräume, Wohnen, Gebäudezustand, Infrastruktur, Mobilität, Zusammenleben, Service, Mietkosten, Gesundheit). Jeder der elf Kategorien sind insgesamt 39 Indikatoren (beispielsweise Barrierefreiheit, ÖPNV-Anbindung, Schulen, aber auch Sauberkeit, Nachbarschaft, Aufenthaltsqualität) zugeordnet. Alle Bewertungskriterien zusammen ergeben den Wohnqualitätsindex. Er macht ablesbar, wo die Stärken eines Quartiers liegen und wo eine gute Weiterentwicklung ansetzen könnte - und wo Defizite vorhanden sind und Handlungsbedarf besteht. Um die Bewertung durch unterschiedliche Akteur*innen zu ermöglichen, wurden Leitlinien zu den jeweiligen Kategorien formuliert. Übersicht der Leitlinien zur Messung der Lebensqualität in Quartieren [4] Quartier Eine gute, sichere Anbindung an das Stadtzentrum und Naherholungsgebiete sowie eine vielfältige Vernetzung zur unmittelbar angrenzenden Umgebung. Das Quartier verfügt über eine gute Zugänglichkeit auch für Besucher*innen. Die Stadtgesellschaft nimmt das Quartier positiv wahr. 38 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Gestaltung Bei Quartieren mit baukultureller Bedeutung (Gestaltung und Konzeption einzigartig, es liegt ein hoher Wiedererkennungswert vor) wird diese erforscht, aktiv kommuniziert und in der Weiterentwicklung berücksichtigt. Bei Maßnahmen auf Gebäudeebene und im Freiraum wird Wert auf das Gestaltungskonzept und eine hohe Gestaltungsqualität der Vorhaben gelegt. Besondere städtebauliche und gestalterische Qualitäten (zum Beispiel: die ursprüngliche Farbgebung, Fassadenelemente oder Leitsysteme) werden erhalten. Freiräume Es gibt im Quartier verschiedene Aufenthaltsbereiche (Ruhen und Spielen), mit unterschiedlichen Nutzungsmöglichkeiten und ein Netz aus unterschiedlich gestalteten Fußwegen. Die Möblierung und Ausstattung, wie zeitgemäße Spielplätze an unterschiedlichen Standorten für verschiedene Altersgruppen, ist attraktiv gestaltet und möglichst ressourcenschonend und zeitlos. Der Freiraum bietet Schutz vor Witterungseinflüssen (zum Beispiel: Sonne, Regen oder Wind). Das Wohnumfeld weist einen hohen und vielfältigen Begrünungsanteil (klimaverträgliche und heimische Pflanzen) zur Klimaanpassung, Biodiversität und zur Stärkung des Bewusstseins für Natur und Umwelt auf. Projekte wie die Entsiegelung von Freiflächen, Hitzeminimierung, ein quartiersweites Konzept zur Regenwassernutzung oder der Einsatz von 100 % Ökostrom wurden umgesetzt. Die Grenzbereiche sind sauber und werden regelmäßig gepflegt. Das Quartier ist ausreichend beleuchtet und gut einsehbar. Die Beschilderung und Auszeichnung von Infrastruktur ist deutlich erkennbar. Die Bewohner*innen sind informiert und haben die Möglichkeit sich aktiv und mitwirkend in die Gestaltung ihres Wohnumfelds einzubringen. Wohnen Im Quartier werden Wohnungsgrundrisse in unterschiedlichen Größen für eine vielfältige Bewohnerschaft angeboten. Jede Wohnung verfügt über mindestens einen persönlichen Freiraum (Balkon, Terrasse, Loggia). Die Wohnungen sind zeitgemäß ausgestattet und bieten einen guten Wohnkomfort. Den Bewohner*innen stehen Gemeinschaftsräume zur Verfügung. Im Zuge einer Nachverdichtung wird ein ergänzendes Angebot für unterschiedliche Gruppen nach Feststellung des Bedarfs und der Sozialverträglichkeit zur Belebung des Quartiers umgesetzt. Gebäudezustand Die Gebäude sind außen und innen gestalterisch anspruchsvoll sowie energetisch saniert und erfüllen aktuelle technische Ansprüche. Die Hauseingangsbereiche, Treppenhäuser und Hausflure sind in einem funktional und gestalterisch hochwertigen Zustand und fördern die Nachbarschaft. Es erfolgt eine umfassende Instandhaltung der Gebäude und der Gemeinschaftsbereiche. Das Thema Klimaschutz hat im Quartier auf Wohnumfeldsowie auf Gebäudeebene einen hohen Stellenwert. Die Bewohner*innen sind informiert und haben die Möglichkeit sich aktiv und mitwirkend in Klimaschutzprojekte einzubringen. Infrastruktur Die Alltagsinfrastruktur im Quartier, wie Kindertagesstätten, Schulen und Nahversorgung (Laden und Supermärkte), sind ausreichend und vielfältig. Es gibt ein differenziertes Angebot an öffentlichen Einrichtungen, die Bildung, Gesundheit, Freizeit und Nachbarschaft fördern. Im Quartier wird in dafür zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten ein kulturelles Angebot für Bewohner*innen und Besucher*innen angeboten. Ein flächendeckendes, leistungsfähiges Internet (FTTH Anschluss) steht allen Bewohner*innen zur Verfügung und Projekte im Bereich Digitalisierung werden gefördert. Mobilität Im Quartier steht das Konzept der kurzen Wege für eine emissionsfreie Fortbewegung im Vordergrund und es werden neue Mobilitätskonzepte gefördert. Die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr ist gut. Fahrradwege führen in und durch das Quartier und Fußgänger*innen haben im Quartier Vorrang. Es gibt ein ausreichendes Angebot an Fahrradstellplätzen und Fahrradabstellräumen. Sharing-Angebote in der Nähe des Wohnumfeldes erweitern das Mobilitätsangebot. Das Quartier verfügt über einen sicheren Straßenraum für alle Verkehrsteilnehmer*innen, der durch Maßnahmen wie Geschwindigkeitsbegrenzung und Ausstattung möglichst wenig Lärm erzeugt. Im Quartier gibt es ein ausreichendes PKW-Stellplatzangebot für Bewohner*innen und Gäste mit eindeutiger Nutzungsregelung und Markierung. Parkende Fahrzeuge stehen, wann immer möglich in Tiefgaragen oder Parkhäusern. Parkplätze, Tiefgaragen und Parkhäuser weisen einen geringen Fläschenverbrauch auf und sind vielfältig nutzbar (beispielsweise für Sport, Spiel, Markt). Das Wohnumfeld, die Eingangsbereiche und die Gebäude sind barrierefrei gestaltet. Es gibt barrierefreie Wohneinheiten im Quartier. 39 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Zusammenleben Das Zusammenleben im Quartier ist von einem wohlwollenden Miteinander geprägt. Das Quartier verfügt über ein vielfältiges Netzwerk an Akteur*innen, welche die Nachbarschaft und den Zusammenhalt stärken. Es wird allen Bewohner*innen die Möglichkeit geboten, sich aktiv daran zu beteiligen und sich einzubringen. Die Aktivitäten werden zielgruppengerecht, über unterschiedliche Plattformen innerhalb des Quartiers und in die Stadtgesellschaft hinein, kommuniziert. Service Die Bewohner*innen und Gäste fühlen sich im Quartier sicher. Die Eingangsbereiche, Treppenhäuser und Gemeinschaftsflächen sind sauber, gut ausgeleuchtet und einsehbar. Im Zusammenwirken mit der Bewohnerschaft erfolgt flächendeckend eine zuverlässige Müllentsorgung. Im Quartier sind Servicebüro oder Hausmeister*innen erreichbar. Mietkosten Die Mietkosten sind bezahlbar. Das Quartier zeichnet sich durch eine geringe Mieter*innenfluktuation aus. Gesundheit Das Quartier eignet sich auch für das Wohnen im Alter. Neben Pflegediensten und barrierefreien Wohnungen wird betreutes Wohnen angeboten und Wohnungstausch ermöglicht. Der Bedarf an medizinischen Versorgungseinrichtungen ist gedeckt und Arztpraxen und Apotheken sind auch fußläufig erreichbar. Die Lärmbelastung ist gering und die Luftqualität ist gut. Im Wohnumfeld gibt es vielfältige Anreize für Sport und Bewegung. Es gibt ein ausreichendes Angebot an gesunden Lebensmitteln und Bewegungsmöglichkeiten Zuhause Wohnqualität ist mehr als vier Wände und ein Dach über dem Kopf, dass zeigen die Leitlinien für die Messung von Lebensqualität in Quartieren. Das sehen Architekt*innen und Bestandshalter*innen in ihrer täglichen Arbeit und das hört man aus dem Gesprächen mit Bewohner*innen in „ihrem“ Quartier. Die Lebensqualität ist ein facettenreiches Thema, mit unterschiedlichen Einschätzungen, verschiedenen Ansprüchen und mannigfaltigen Meinungen, dass gerade von diesem Reichtum an Perspektiven lebt und dem wir uns in der Weiterentwicklung von Siedlungen genauso wie in der Ausbildung zukünftiger Architekt*innen verstärkt zuwenden müssen. Prof. Dr. Natalie Heger Architektin und Professorin für Städtebau und Entwerfen Frankfurt University of Applied Sciences Kontakt: Natalie.Heger@fb1.fra-uas.de Mag. Ruth Schlögl Forschungslabor Nachkriegsmoderne, Frankfurter Forschungsinstitut FFin Frankfurt University of Applied Sciences Kontakt: Ruth.Schloegl@fb1.fra-uas.de AUTORINNEN Weitere Informationen zum Forschungsprojekt „Gut leben in großen Siedlungen“ und die gesamte Studie „Lebensqualität in Großwohnsiedlungen“ sind zu finden auf der Internetseite: www.frankfurt-university.de/ nachkriegsmoderne LITERATUR [1] Alle Zitate in diesem Text stammen aus dem Audiowalk „Hallo Platensiedlung“. Eine Lehrveranstaltung der Frankfurt University of Applied Sciences, SoSe 2021. Nachzuhören unter: https: / / soundcloud.com/ user-446135089-482217117 [2] Harnack, M., Heger, N., Schlögl, R.: Lebensqualität in Großwohnsiedlungen. Studie zur Verbesserung der Bewertung der Wohn- und Lebensqualität in Großwohnsiedlungen, Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt am Main, 2022. [3] Kabisch, S., Ueberham, M., Söding, M.: Grünau 2015, Ergebnisse der Einwohnerbefragung im Rahmen der Intervallstudie „Wohnen und Leben in Leipzig- Grünau“, UFZ-Bericht 02 (2016). [4] HSR Hochschule für Technik Rapperswil - Kompetenzzentrum Wohnumfeld (Hrsg.): Was macht ein gutes Wohnumfeld aus? Rappertswil, 2018. Darin: Bai, C., Kemper, R., Landwehr, M., Liembd, U., Roggo, N.: Wohnumfeldqualität, Kriterien und Handlungsansätze für die Planung, Aachen. (Die Zielformulierungen zu Quartier, Freiraum und anderen Kategorien, die das Wohnumfeld betreffen, wurden um Teilaspekte aus diesem Kriterienkatalog ergänzt): http: / / www.wohnumfeld-qualitaet.ch/ Zugriff am 31.1.2022). 40 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt International bestimmen Hochhäuser das Bild zahlreicher Metropolen. In Deutschland prägen sie mit der Ausnahme von Frankfurt noch kaum eine Sky- Gehört Hochhäusern die Zukunft? Die vertikale Stadt als nachhaltiger Begegnungs-, Wohn- und Produktionsort Urbanisierung, Nachverdichtung, Hochhäuser, Stadtquartiere, Durchmischung Simon Dietzfelbinger, Stefanie Lütteke Städte verbinden Arbeit mit Wohnen und Kultur - nicht umsonst zieht es Jahr für Jahr mehr Menschen in die Metropolen dieser Welt. Gleichzeitig ist freier Raum für Wachstum in innerstädtischer Lage rar. Hochhäuser können dazu beitragen, die erforderliche Nachverdichtung in flächenschonender Weise zu ermöglichen. Standen sie früher im Verruf der sozialen Kälte und Isolation, werden Hochhäuser heute mit der richtigen Planung und der Verbindung von unterschiedlichen Nutzungsklassen zu wichtigen städtischen Anlaufpunkten und vertikal durchmischten Quartieren. Bild 1: Bosco verticale, Milano. © Mattia Spotti on unsplash line. Zukünftig könnte ihnen jedoch eine zentrale Funktion bei der Schaffung von liebens- und lebenswerten urbanen Zentren unserer Großstädte zu- 41 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt hältnis von Nutzzur Grundfläche wird beim Hochhaus die versiegelte Fläche minimiert, während gleichzeitig Wohn- und Arbeitsraum für eine sehr große Anzahl an Einwohnern entsteht. Städte wie Berlin, Frankfurt, Düsseldorf und Dresden haben bereits sogenannte Hochhausleitbilder oder Hochhausrahmenpläne für sich definiert. Diese sollen verschiedene Interessen aus der Nachverdichtung, den Investitionsabsichten des Immobilienmarkts und den Wünschen und Bedürfnissen der Stadtgesellschaft in Einklang bringen. So definieren die Hochhausleitbilder Anforderungen und Maßnahmen an Hochhausvorhaben, wie hohe städtebauliche und architektonische Qualitäten, nachhaltige Nutzungskonzepte oder Angebote, die einen Mehrwert für das Umfeld und die Allgemeinheit schaffen. Hochhäuser sind gestapelte Wiederholungen Lange Zeit haftete Hochhäusern aufgrund ihrer Vollklimatisierung und einem hohen Anteil an Technik- und Verkehrsfläche der Ruf von Energie- und Ressourcenverschwendern an. Heute stehen moderne Planungs- und Bauprozesse zur Verfügung, die Ressourcen schonen, höchste Energie- und Nachhaltigkeitsstandards umsetzen und eine langfristige Nutzung sowie Kreislauffähigkeit ermöglichen. Zu nachhaltigen und langfristigen Nutzungsmöglichkeiten tragen zum Beispiel flexible Teilungskonzepte bei, die von Anfang an in die Planung einbezogen werden können. Solche Teilungskonzepte sollten in zwei Richtungen offen sein: Zum einen sollten sie es ermöglichen, zwischen verschiedenen Nutzungsarten zu wechseln, also zum Beispiel eine Bürofläche in ein Hotel zu transformieren. Zum anderen geht es um die Umkonzeptionierung innerhalb einer Nutzungsart. Das bedeutet, es muss beispielsweise möglich sein, Wohnungen zusammenzulegen oder aus einer großen Wohnung kleinere Einheiten zu generieren. So kann der Bauherr später auf mögliche Marktveränderungen erfolgreich reagieren. Zudem sind Hochhäuser im Prinzip gebaute Wiederholungen. In diesem Sinne kann man sie als gestapelte Komposition von Modulen betrachten. Durch modulare Planung und eine Rationalisierung der Gebäudegeometrie kann die Anzahl der verschiedenartigen Konstruktionen um bis zu 80 % gesenkt werden - ohne Abstriche bei Ästhetik und Funktionalität. Gleiche Flächen und Konstruktionen wie Fassadenelemente, Haustechnikbaugruppen, ganze Wohneinheiten oder Bestandteile des Innenausbaus werden nur einmal geplant und in einem Katalog abgelegt. Im Idealfall lassen sich einzelne Module anschließend industriell vorfertigen und kommen. Dabei geht es nicht um das Brechen weiterer Höhenrekorde, sondern um die Verbindung eines ökologisch sinnvollen Bauens in die Höhe mit lebendigen und durchmischten Nutzungen. Durch die Vereinigung verschiedener Assetklassen wie Wohnen, Büro, Handel, Hotellerie und Logistik, verbunden mit begrünten öffentlichen Flächen sowie Angeboten für Freizeit, Gastronomie, Begegnung und Kultur, entstehen gemischte Stadtquartiere in der Vertikalen. Sogenannte Vertical Villages, also vertikale Dörfer, haben das Potenzial, ländliches Gemeinschaftsgefühl in die Stadt zu integrieren. Es handelt sich um keine reinen Wohnhäuser mit zahlreichen Apartments, in denen das Leben anonym vonstatten geht - im Gegenteil: Neben Privaträumen gibt es Begegnungsstätten und Gemeinschaftsflächen, die die Funktion des Dorfplatzes übernehmen. Die vertikale Stadt im Hochhaus kann beispielsweise im Erdgeschoss eine Shopping Mall, Restaurants, Bistros und andere öffentliche Bereiche enthalten, in höheren Etagen das citynahe Hotel, darüber Wohnungen mit Ausblick sowie Wellness- und Sport- Angebote. Ergänzt wird das Konzept durch Büros, deren Nutzer*innen in den Pausen und nach Feierabend auf die anderen Einrichtungen im Gebäude zurückgreifen können. Geplante oder bereits realisierte Hochhäuser, die dem Konzept des Vertical Village folgen, finden sich in verschiedenen Ländern weltweit. Für die Gebäudenutzer*innen ermöglicht die Vereinigung vielfältiger Angebote kurze Wege im Sinne der 15-Minuten-Stadt. Viele Nutzer*innen an einem Ort bilden zudem die Voraussetzung für einen attraktiven ÖPNV, was zur Entlastung des städtischen Verkehrs beitragen kann und im Idealfall dazu führt, dass der private PKW überflüssig wird. Mit Nachverdichtung gegen Flächenfraß In Deutschland werden pro Tag rund 55 Hektar Neufläche für Siedlungs- und Verkehrsflächen erschlossen. Das entspricht etwa 77 Fußballfeldern. Zwar liegt der Verbrauch damit bereits deutlich niedriger als noch bis Mitte der 2000er Jahre mit um die 120- Hektar, im Sinne der Klimaschutzstrategie ist er jedoch noch immer viel zu hoch. Bis 2030 möchte die Bundesregierung den Flächenneuverbrauch auf 30- Hektar pro Tag senken, bis 2050 soll er im Rahmen einer Flächenkreislaufwirtschaft bei Null liegen. Das bedeutet, dass netto keine weiteren Flächen für Siedlungen und Infrastruktur bebaut werden. Dennoch muss gebaut werden, jedoch bevorzugt auf bereits versiegelten Flächen, zum Beispiel auf Brachflächen, oder in die Höhe. Durch das Ver- 42 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt später termingerecht zur Baustelle liefern, wo die Montage nur noch einen Bruchteil der Zeit in Anspruch nimmt, verglichen mit einer kompletten Vor- Ort-Installation. Wichtige Argumente für eine modulare Planung und Ausführung sind heute unter anderem Schlagworte wie Fachkräftemangel, Zeitersparnis, Qualitäts- und Kostensicherheit. Die Modularität birgt zudem enorme Vorteile bei der Sanierung der Gebäude. So haben verschiedene Bauteile unterschiedliche Lebenszyklen. Beim Rohbau geht man von einer Lebenszeit von bis zu 80 Jahren aus, bei der technischen Gebäudeausrüstung (TGA) von etwa 20-Jahren und beim Innenausbau von Büros wird mit bis unter zehn Jahren gerechnet. Diese unterschiedlichen Zeitspannen machen deutlich, dass die modulare Bauweise einen Austausch beziehungsweise eine Sanierung der Gewerke unterstützt. Module können ganzheitlich entfernt und durch neue vorgefertigte Module einfach ersetzt werden. In der Planung bereits Sanierung und Rückbau mitdenken Material, das bei Sanierung oder Abriss eines Gebäudes anfällt, landet meist auf der Deponie oder als Füllmaterial im Straßenbau. Angesichts der Klimakrise, des Rohstoffmangels und hoher Energie- und Entsorgungskosten sowie gestiegener Baupreise ist dies eine nicht mehr tragbare Verschwendung. Bemühungen um mehr Wiederverwertung und kreislauffähiges Bauen nehmen zu. Die Rohstoffsubstanz der Gebäude in Deutschland wird auf etwa 15 bis 16- Milliarden Tonnen geschätzt. Im Kontext des Urban Mining, dem „Bergbau in der Stadt“, werden Gebäude deshalb als riesige Rohstofflager betrachtet, deren Schätze temporär im Gebäude schlummern und im Zuge einer Sanierung oder am Ende des Gebäudelebenszyklus wieder gehoben werden können. Ein wirtschaftliches Urban Mining unterstützt auch ein sogenannter digitaler Gebäuderessourcenpass. In ihm ist festgehalten, in welcher Menge und Qualität welche Materialien im Gebäude verbaut sind. Zu den potenziell wiederverwendbaren Materialien zählen neben Beton, Holz, Kunststoff und Stahl auch Bauteile wie Fenster und Türen, aber auch kreislauffähige Vorhänge, Teppichböden oder Hightech-Textilien wie Mesh und Verkleidungen aller Art für innen wie außen. Diese Philosophie einer Kreislaufwirtschaft liegt auch dem Cradle to Cradle- Designprinzip zugrunde. Hinter dem Konzept steckt die Idee, Prozesse und Gebäude bereits beim Entwurf so zu gestalten, dass sie gesund für den Menschen und sicher für die Umwelt sind. Gebäude, die nach dem Cradle to Cradle-Prinzip errichtet werden, setzen auf gesunde, recyclebare, sortenrein trennbare und damit wiederverwertbare Materialien - ein Plus für das Rohstoffdepot wie für Bewohnerinnen und Gebäudenutzer und deren Wohn- und Aufenthaltsqualität. Übersetzt bedeutet Cradle to Cradle, kurz C2C, „von der Wiege zur Wiege“. Erreicht ein nach C2C-Richtlinien konzipiertes Gebäude das Ende seiner Lebensdauer, wird jeder Bestandteil in den technischen oder den biologischen Kreislauf zurückgeführt. So führt das System dazu, dass eingesetzte Ressourcen potenziell unendlich in Kreisläufen zirkulieren können und Gebäude zu Rohstofflagern werden. In Brüssel setzt das sogenannte „ZIN-Projekt“ von Befimmo auf Cradle to Cradle. Das Projekt umfasst die Türme 1 und 2 des Brüsseler World Trade Centers, die teils abgebaut, neu gestaltet und miteinander verbunden werden. Dabei steht die Kreislaufwirtschaft im Vordergrund: Ein Großteil der vorhandenen Materialien wird entweder beibehalten, an anderen Standorten wiederverwendet oder recycelt. Ein Materialpass wird zeigen, dass ein Großteil der neuen Materialien nach C2C oder einem ähnlichen Standard zertifiziert ist. Nach seiner Fertigstellung wird das multifunktionale Gebäude auf rund 110 000 m² Wohn-, Büro-, Co-Working- und Hotelflächen beherbergen. Im Gebäudebau allgemein, aber auch im Hochhausbau spielt der Werkstoff Holz eine wachsende Rolle. Holz verspricht eine nachhaltige Alternative Bild 2: Parkroyal Collection Pickering, Singapur. © Felix Fuchs on unsplash 43 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt zu Beton und Stahl zu sein, zumal es als nachwachsender Baustoff eine positive Ökobilanz besitzt und über das im Material gespeicherte CO 2 hilft, die globalen Emissionen zu reduzieren. Die Entwicklung der Technologien im Holzbau geht rasant voran und es werden weltweit immer mehr Gebäude mit Höhen von rund 100 Metern erstellt. Durch die Anfälligkeit gegenüber Feuchtigkeit, der Brennbarkeit des Materials sowie der geringeren Spannweiten der Konstruktionen kann Holz jedoch nicht die alleinige Lösung für mehr Nachhaltigkeit im Hochhausbau sein. Vielmehr ist von einer breiten Anwendung eines Materialmix auszugehen. Von Energiefressern zu Energieproduzenten Nach der Fertigstellung bieten Hochhäuser ein niedriges Verhältnis von Hüllfläche zu Volumen und damit im Gebäudebetrieb das Potenzial für minimalen Heizbedarf und Unabhängigkeit vom Wetter. Zudem sind die Hochhaus-Fassaden mit architektonisch integrierter Photovoltaik (PV) wichtige Elemente der Energiekonzepte geworden. Die Dachflächen reichen bei den großen Gebäuden bei Weitem nicht aus, um alleine sinnvolle Strombeiträge zu generieren. PV-Module werden immer leistungsfähiger und, bezüglich der Integration in anspruchsvollste Architektur, immer variabler. Die absehbare Entwicklung transparenter und organischer PV durch die Integration in klassische Fenster erweitert die Möglichkeiten regenerativer Nutzung und Energieeinsparungen. Die Stromgewinnung können Mikrowindturbinen im oberen Drittel der Hochhäuser ergänzen. Über deren Formengestaltung wird mit geschickter Verengung des Luftdurchflusses der sogenannte Venturi-Effekt erzielt, indem sich der Luftzug durch Einschnürungseffekte beschleunigt und in enthaltenen Kleinturbinen elektrischen Strom erzeugt. Neben dem Strom ist das wesentliche Thema die Bereitstellung von Wärme- und Kälteenergie. Dazu gehört beispielsweise die Überlegung, ob diese mittels ausgeklügelter Geothermie-Konzepte erfolgen kann. Diese können wiederum auf Grundwasserbrunnen oder aus energetisch aktivierten Bohrpfählen basieren. Aufgrund der beschränkten Grundfläche in Hochhäusern, analog der Dachfläche für die Stromgewinnung, werden Hochhäuser oftmals in die komplette horizontale Umgebungsbzw. Randbebauung einbezogen. So ist es möglich, geothermisch größere Energiereservoire anzuzapfen, um regenerativer zu wirtschaften. Im Idealfall kann eine Einbindung in komplexe Wärmenetze der Generation 4.0 erfolgen. Auch die intelligente Verschiebung von Wärme und Kälte innerhalb des Gebäudes ist ein wesentlicher Beitrag zur Optimierung. Ermöglicht werden diese Heiz-/ Kühllastverschiebungen über ganzheitliche Simulationen inklusive der Abbildung von Nutzerprofilen von Hotels, Wohnen oder Büros in hybriden Hochhäusern. Darauf basierend können Pufferspeicher und Wärmepumpen optimal ausgelegt werden, um im Jahresverlauf ein Maximum an Energieströmen auszugleichen und somit den externen Energiebezug zu minimieren. Vertical Villages bringen Mehrwert für Gesellschaft Durch die zunehmende Dichte in den Städten handelt es sich bei den verbliebenen Freiräumen häufig um verschattete Transitzonen. Hochhäuser besitzen hier jedoch das Potenzial, neue öffentliche Räume zu schaffen, die für die Stadtbevölkerung frei zugänglich sind und zusätzliche Qualitäten, wie gute Belüftung und Belichtung, mit sich bringen. Begrünte Geschosszonen mit parkähnlichem Charakter bieten Möglichkeiten der Naherholung und tragen zusätzlich zur Verbesserung des Mikroklimas sowie der Luftqualität in der Gesamtstadt bei. In den unteren Bereichen der Hochhäuser können begrünte Fassaden mit Regenwasserversorgung eingesetzt werden. Durch Wasserverdunstung haben sie einen kühlenden Effekt und wirken im Sommer der Bildung sogenannter Hitzeinseln entgegen. Vertical Villages sind Zukunftstrend und Realität zugleich. Der Anspruch an das Hochhaus der Zukunft ist dabei hoch, allein schon aufgrund seines stadtbild-prägenden Potenzials. Doch es kann Mehrwerte bieten und der Gesellschaft etwas zurückgeben: Energie produzieren, Rohstoffe lagern und Aufenthaltsqualität für das Quartier bieten. Dipl.-Wirtsch.-Ing. Simon Dietzfelbinger Partner Head of Residential Properties Drees & Sommer SE Kontakt: wohnen@dreso.com Dipl.-Ing. Architektur, M.Sc., PMP ® Stefanie Lütteke Associate Partner Head of Property Companies Drees & Sommer SE Kontakt: propcom@dreso.com AUTOR*INNEN 44 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Die Geschichte eines Selbstläufers Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist das Einfamilienhaus durch den zunehmenden Wohlstand der Gesellschaft und seine Idealisierung ein bedeutsamer Teil der gebauten Umwelt und unserer Wohnkultur geworden. Zu Zeiten von Wirtschaftswachstum und Automobilisierung, in der fossile Energie unerschöpflich schien und das Bild der Kleinfamilie als klassisches Lebensmodell vorherrschte, entstand ein kollektives Ideal vom Wohnen im eigenen Haus. Dieser Traum hält auch heute noch an: 65 % der Deutschen wünschen sich, in einem Einfamilienhaus Das Einfamilienhaus als gesellschaftliche Herausforderung Einfamilienhaus, Wohnen, Transformation, Umbauen, Bestand Verena Marie Loidl, Valerie Rehle, Anja Reichert-Schick, Christina Simon-Philipp Das Einfamilienhaus ist seit den 1950er Jahren fester Bestandteil unserer Baukultur und hat heute in Deutschland einen Wohngebäudeanteil von 66,8 % [1]. Vor dem Hintergrund ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Veränderungsbedarfe stellt sich nun die Frage nach der Zukunft der bestehenden Einfamilienhausgebiete; denn in ihnen verbergen sich großes Entwicklungspotenzial und Qualitäten, die es zu entfalten gilt. In dem Projekt „Leben vor der Stadt“ wird deutlich, dass eine zukunftsfähige Transformation im Sinne einer bestandsorientierten Quartiersentwicklung nur in einem gemeinsamen Prozess zwischen öffentlicher Hand, Bewohner*innen und vermittelnden Akteur*innen initiiert werden kann. © Simon-Philipp 45 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt zu wohnen [2]. Über 16- Mio. Menschen können ein solches Domizil ihr Eigen nennen [3]. Und mit steigender Tendenz machen heute Einfamilienhäuser 66,8 % [1] aller Wohngebäude aus. In Planung und Politik galten Wohngebiete mit einem überwiegenden Anteil an Ein- und Zweifamilienhäusern lange als unproblematisch. Neben der Bereitstellung von Bauland und Infrastruktur war eine kommunale Planung, Steuerung und Beteiligung kaum notwendig [4, 5]. Diese Haltung hat sich heute geändert, auch wenn längst noch kein Konsens darüber besteht, wie mit dem Bestand von suburbanen Siedlungsstrukturen umgegangen werden soll. In vielen Gebieten steht ein Generationswechsel an oder ist bereits im Gange. Werden die Häuser heute noch von ihren Erstbezieher*innen bewohnt, existieren oft „innere Leerstände“ und ein erheblicher Sanierungs- und Modernisierungsrückstau. Insbesondere die zunehmende Singularisierung sowie die fortschreitende Alterung der Gesellschaft und die damit verbundene Nachfrage nach kleineren Haushaltsgrößen und altersgerechten Wohnformen bringt in monostrukturierten Wohngebieten komplexe Handlungsbedarfe mit sich. So sind knapp 60 % der Einfamilienhäuser von lediglich einer bzw. zwei Personen bewohnt [6, S. 18]). Gleichzeitig weisen 84 % aller Gemeinden immer weiter neues Bauland für Einfamilienhausgebiete aus [7], begründet aus der nicht enden wollenden Nachfrage und ungeachtet dessen, dass der Klimawandel zu einem veränderten Umgang mit den für den Wohnungsbau zur Verfügung stehenden Flächen drängt. Allen gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen, ökologischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten zum Trotz ist das Einfamilienhaus in seiner baulichen wie programmatischen Struktur ein Selbstläufer geblieben. Der gesellschaftspolitische Konsens scheint zu sein: Der Mensch will im Einfamilienhaus wohnen und somit liegt der Umgang mit dieser Wohnform in seiner individuellen Verantwortung. Die Kommunen sehen aufgrund des kleinparzellierten Privatbesitzes kaum Handlungsspielräume und so wird vielerorts die ökologische und demografiesensible Transformation des Bestandes in die Verantwortlichkeit der Eigentümer*innen gelegt. 1 Dabei sind sich Einfamilienhaus-Besitzer*innen oftmals nicht einmal des Veränderungspotenzials bewusst. Es fehlt an Handlungslogiken nach dem Auszug der Kinder, gängigen Sanierungspraktiken 1 So zum Beispiel in einem aktuellen Interview der Bundesbauministerin Geywitz mit der ZEIT, in der sie die fehlende Debatte über den Zusammenhang zwischen Wohnen und Klima anspricht. Die Bauministerin beschreibt unter anderem am Beispiel des Einfamilienhauses den Einfluss der Wohnweise auf den CO 2 -Ausstoß und die bestehende Wohnungsnot und erklärt das Thema zu einer gesellschaftlichen Aufgabe [8] für den Bestand und attraktiven Wohnalternativen. Zugleich ist der Umgang mit den suburbanen Siedlungsstrukturen eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und nicht allein der Belang des oder der einzelnen Wohnenden. Schließlich bedingt das Einfamilienhaus Flächenversiegelung, inneren Leerstand sowie einen erhöhten Ressourcenverbrauch in Bau und Betrieb und verstärkt damit erheblich die drängenden ökologischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit [9, S. 115, S. 119]. Wo aber hört die Verantwortung des Einzelnen auf und wo fängt die politische Verantwortung an? Die Zukunft des Einfamilienhauses ist eine gemeinschaftliche Aufgabe von Politik, Kommunen, Stadtplaner*innen, Architekt*innen und Bewohner*innen. Bisher gibt es hier jedoch kaum Berührungspunkte. Wie also setzt man diese Akteur*innen in Verbindung, um gemeinsam die Transformationspotenziale des Einfamilienhausbestandes zu identifizieren und in die Realität umzusetzen? Wie lassen sich Allianzen schmieden? Leben vor der Stadt Das laufende Projekt „Leben vor der Stadt“ der Wüstenrot Stiftung und der Hochschule für Technik Stuttgart in Kooperation mit der Bundesstiftung Baukultur wählt dafür einen neuen, transdisziplinären Forschungsansatz. Das Vorhaben baut auf den bisherigen Forschungen der Wüstenrot Stiftung zu diesem Thema auf [4, 5]. In diesen Projekten wurden mit klassischen Methoden der Stadtforschung die vielfältigen Handlungsoptionen der Kommunen und des Bundes aufgezeigt. Allerdings finden diese Handlungsoptionen bisher keinen Eingang in die Stadtentwicklungspraxis. Dadurch wird deutlich, dass planerische Argumente und konventionelle Instrumente kommunalen Handelns allein nicht genügen, um bauliche und soziale Veränderungen in bestehenden Einfamilienhausgebieten anzustoßen. Es bedarf eines Brückenschlags zwischen den Wohnbzw. Lebensrealitäten der Bewohner*innen und den gesellschaftlichen Veränderungsanforderungen. Das Forschungsprojekt versucht hier einen Beitrag zu leisten und die fehlenden Anknüpfungspunkte zwischen Selbstbefähigungs- und Planungsprozessen aufzuzeigen und gemeinsam Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen am Beispiel des Einfamilienhauses zu finden. Wissenschaftler*innen, Studierende der gestaltenden Disziplinen, Bewohner*innen von Ein- und Zweifamilienhäusern und Akteur*innen der kommunalen Praxis aus der Region Stuttgart richten gemeinsam in einem Ansatz transdisziplinärer Stadtforschung den „Blick hinter die Fassade“. 46 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Durch die Zusammenarbeit wird das Spannungsverhältnis zwischen den Lebensrealitäten der Bewohner*innen auf der einen Seite und Veränderungsanforderungen der Stadt- und Regionalplanung auf der anderen Seite deutlich. So werden aus der Stadtplanungspraxis erklärte Nachteile der Wohnform Einfamilienhaus von den Nutzer*innen oftmals ausgeblendet oder kompensiert. Die stärkere Umweltbelastung suburbaner Gebiete im Gegensatz zu anderen Siedlungsstrukturen, zum Beispiel durch die hohe PKW-Abhängigkeit oder die größere Baumasse und Wohnfläche, wird durch die Nutzung von regenerativen Energieträgern oder die Anschaffung von Elektroautos oder E-Bikes gerechtfertigt. Mit dem Auszug der Kinder verwandeln sich leere Kinderzimmer zu Hobbyräumen, Billiardzimmern oder Heimkinos. Ein Umbau oder gar Umzug aus dem Einfamilienhaus im höheren Alter kommt für viele aufgrund der emotionalen Bindung oder mangels adäquaten und wirtschaftlichen Wohnalternativen im näheren Umfeld nicht in Frage. Zwar kommt es vereinzelt zu kleineren Anpassungsmaßnahmen wie dem Einbau von Treppenliften oder barrierefreien Duschen; aber das eigentliche Potenzial freiwerdender Wohnflächen wird mit der Einzugsoption einer Pflegekraft oder mit der Notwendigkeit, die Kinder und Enkelkinder bei Besuchen an Weihnachten und Geburtstagen zu beherbergen, bisher nicht vollumfänglich genutzt. Fehlende Infrastrukturen, wie Einkaufsmöglichkeiten oder öffentliche Verkehrsangebote werden durch das Nutzen von Lieferdiensten oder PKW gelöst. Wohnalternativen, die von Seiten der Kommune zentrumsnah und demografiefest geschaffen wurden, stellen für die älteren Einfamilienhaus-Bewohner*innen oftmals keine wirkliche Alternative dar. Der Wunsch nach Privatheit und Nähe zur jetzigen Nachbarschaft steht im Vordergrund. Planerische Vorschläge wie Nachverdichtung, Nutzungsänderungen zum Beispiel im Bereich des ruhenden Verkehrs oder größere bauliche Transformationen sind zwar für viele Bewohner*innen nachvollziehbar, aber nicht am eigenen Haus vorstellbar oder werden teilweise sogar als bedrohlich wahrgenommen. Die Ängste und Unsicherheiten, die im Hinblick auf einen Wandel des Wohnumfeldes oder der eigenen Wohnsituation aufkommen, begründen Bewohner*innen oft mit der jahrelangen Gewohnheit. Darüber hinaus werden auch Gründe der fehlenden Förderbzw. Finanzierungsmöglichkeiten und Barrieren des bestehenden Baurechts genannt, die einer Transformation im Wege stehen. Die Bewohner*innen passen sich ihren Häusern an. Dennoch ist bei vielen Haushalten ein Problembewusstsein festzustellen, genauso wie die Bereitschaft über Veränderungen nachzudenken. Diese Bereitschaft aufzugreifen und gemeinsam mit Studierenden der Stadtplanung, Architektur und Innenarchitektur entwurfsbasierte Transformationsansätze zu entwerfen, stellt einen weiteren Teil der Zusammenarbeit mit Einfamilienhaus- Bewohner*innen dar. Die Fähigkeit gestaltender Disziplinen, Gedankenspielräume auf Grundlage der gewonnenen Einblicke und Erkenntnisse zu eröffnen, ermöglicht es außerdem Szenarien zu entwerfen und beispielhafte Transformationspotenziale ausfindig zu machen und weiterzuentwickeln. Es hat sich gezeigt, dass die Vorstellung neuer Ideen eine produktive Grundlage für kreative, wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurse zwischen Bewohner*innen und Kommunen anregen kann, mit denen Veränderungsprozesse im Sinne einer Transformation initiiert werden können. Die gemeinsame Suche nach der Zukunft vom Einfamilienhaus in Kirchheim unter Teck So fand auf Grundlage der studentischen Arbeiten ein gemeinsamer Gedankenaustausch zwischen Vertreter*innen der kommunalen Verwaltung, aus den Bereichen Stadtsowie Sozialplanung, einem bestehenden Nachbarschaftsnetzwerk und Einfamilienhausbesitzer*innen aus Kirchheim unter Teck statt, um über die Weiterentwicklungs- und Umnutzungspotenziale von Bestandsgebäuden im Quartierskontext zu visionieren. Einfamilienhausbewohner*innen wurden dabei unterstützt, die eigene Wohnsituation auf einer Metaebene zu reflektieren und unterschiedliche Szenarien möglicher Weiterentwicklungen visuell zu betrachten. Die Zusammenarbeit deckte neben den oben genannten Widerständen und Barrieren auch Potenziale auf und löste nicht nur individuelle, sondern kollektive Denkprozesse aus. In einer gemeinsamen Reflexion zwischen Kommune, Nachbarschaftsnetzwerk und Bewohner*innen konnten Schnittmengen und Möglichkeitsräume identifiziert werden: beispielsweise wurde vor allem im öffentlichen Raum und in quartiersbezogenen Gemeinschaftsräumen die Chance vermutet, Begegnung und Austausch der Nachbar*innenschaft zu fördern, um begleitet von Vermittler*innen und Kümmer*innen gemeinsam Entwicklungsmöglichkeiten des Einfamilienhausbestandes anzugehen. Deutlich wurde außerdem, dass ein übergeordnetes Leitbild zur Entwicklung von Einfamilienhausgebieten innerhalb der kommunalen Verwaltungsebene helfen würde, Fehlplanungen 47 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt vorzubeugen (Stichwort: Neuausweisung, Nachverdichtung). Den beteiligten Akteur*innen wurde deutlich, dass für die Transformation bestehender Einfamilienhausgebiete ein Prozess des gegenseitigen Verstehens und der gemeinsamen Gestaltung notwendig wird. Calls to Action Im Projekt wurde sichtbar, dass qualitative Forschung einen Beitrag leisten kann, Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu finden. Deutlich wurde auch, dass das Vorgehen als offener Prozess ohne Ende oder Abschluss gedacht werden muss. Ein wichtiger Bestandteil ist das ko-kreative Erarbeiten, aber auch das gemeinsame Reflektieren der Erkenntnisse, um daraus Rückschlüsse ziehen zu können, in welchen Lösungsansätzen sich Veränderungsanreize/ Anstöße für alle Akteur*innen finden. In alltäglichen Erfahrungen und durch Veränderungen im persönlichen Wirkungsraum kann ein Bewusstseinswandel gefördert werden. Menschen orientieren sich bei der Bewertung ihrer Lebensstandards an ihrer eigenen sozio-ökonomischen Gruppe und leiten somit unmittelbar aus ihrem Wohnquartier ihre Wohnzufriedenheit ab [10, S. 13]. Pionierprojekte in der Nachbarschaft können die Wahrnehmung des Einfamilienhauses verändern und die darin verborgenen Widersprüche sichtbar machen. Es erscheint lohnenswert, der Bewohner*innenschaft eine aktive Rolle zuzuschreiben, um in Zusammenarbeit mit Politik, Forschung und Praxis theoretische Ansatzpunkte wie die Vergemeinschaftung von Flächen, die Anpassung des Gebäudebestandes an sich verändernde klimatische Bedingungen und die Reduzierung der Wohndauer zur nachhaltigen Nutzung von bestehenden Raumkapazitäten umzusetzen. LITERATUR [1] Statistisches Bundesamt (Destatis): Fortschreibung Wohngebäude- und Wohnungsbestand Deutschland, 2021. Zugriff 19.April 2023. https: / / www-genesis.destatis.de/ genesis/ online? operation=previous&levelindex=4&levelid=1676971811863&levelid=16769718 00173&step=3#abreadcrumb [2] Interhyp, presseportal.de: Anteil der Deutschen, die sich ein freistehendes Einfamilienhaus wünschen (in den Jahren 2018, 2019 und 2021). Statista. Statista GmbH, 2021. Zugriff: 19. April 2023. https: / / de.statista.com/ statistik / daten/ studie/ 1262760/ umfrage/ umfrage-zum-wunsch-nach-dem-eigeneneinfamilienhaus/ ? locale=de [3] Statistisches Bundesamt: Anzahl der Einfamilienhäuser* in Deutschland in den Jahren 2001 bis 2021 (in 1.000). Statista. Statista GmbH, 2022: Zugriff: 19. April 2023. https: / / de.statista.com/ statistik/ daten/ studie/ 39010/ umfrage/ bestand-der-einfamilienhaeuser-in-deutschland-seit-2000/ ? locale=de [4] Wüstenrot Stiftung (Hrsg.): Die Zukunft von Einfamilienhausgebieten aus den 1950er bis 1970er Jahren - Handlungsempfehlungen für eine nachhaltige Nutzung. Ludwigsburg, 2012. [5] Wüstenrot Stiftung (Hrsg.): Einfamilienhäuser 50 / 60 / 70 - Stadtentwicklung und Revitalisierung. Ludwigsburg, 2016. [6] Statistisches Bundesamt (Destatis): Fachserie 15 Sonderheft 1, (2019). Wirtschaftsrechnungen - Einkommens- und Verbrauchsstichprobe. Wohnverhältnisse privater Haushalte 2018 [7] Bundesstiftung Baukultur (Hrsg.): Baukultur Bericht - Stadt und Land 2016/ 2017, Potsdam, 2016. [8] Die Zeit: Was ist gutes Wohnen eigentlich? Interview: Anna Mayr und Bernd Ulrich mit Klara Geywitz. N°16 (2023) S. 4, 13.04.2023. [9] Büchs, M., Schnepf, S. V.: Who emits most? Associations between socio-economic factors and UK households‘ home energy, transport, indirect and total CO 2 emissions. In: Ecological Economics 90 (2013), S. 114 - 123. [10] Häußermann, H., Siebel, W.: Soziologie des Wohnens. Eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens. 1. Aufl. Weinheim, Bergstr: Juventa, 1996. Verena Marie Loidl M. Eng. Akademische Mitarbeiterin Zentrum für Nachhaltige Stadtentwicklung Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: verena.loidl@hft-stuttgart.de Dr.-Ing. Valerie Rehle M.A. Akademische Mitarbeiterin Zentrum für Nachhaltige Stadtentwicklung Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: valerie.rehle@hft-stuttgart.de PD Dr. Anja Reichert-Schick Leiterin der Themengebiete Zukunftsfragen und Bildung Wüstenrot Stiftung Kontakt: anja.reichert-schick@wuestenrot-stiftung.de Prof. Dr.-Ing. Christina Simon-Philipp Professorin Leiterin Zentrum für Nachhaltige Stadtentwicklung Hochschule für Technik Stuttgart Kontakt: christina.simon@hft-stuttgart.de AUTORINNEN 48 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Bummeln auf der Einkaufsstraße, Stöbern im Kaufhaus, Flanieren in der Fußgängerzone: Früher war der Ausflug in die Innenstadt für viele Menschen der Höhepunkt der Woche. Doch heute - angesichts von Online-Shopping-Boom und Nachwirkungen der Corona-Pandemie - werden die Innenstädte häufig als Auslaufmodell gehandelt. Dies ist keine neue Entwicklung. Sie hat bereits vor Jahren begonnen. Die Auswirkungen der jüngeren Vergangenheit haben die negativen Effekte bloß verstärkt. Die Innenstädte müssen sich neu erfinden, um interessant zu bleiben. Oder, um wieder attraktiv zu werden. Das ist zwar leichter gesagt als getan, doch es gibt viele Möglichkeiten, die City-Lagen zu gestalten. Patentlösungen gibt es dabei aber nicht. Um die Innenstädte zukunftsfest zu machen, braucht jede Stadt ihre eigenen, auf sie zugeschnittenen Lösungen. Vielfalt ist hier ein wichtiges Stichwort. Die Innenstädte müssen wieder unverwechselbar werden. Immer gleiche Einkaufslagen mit Niederlassungen großer Filialisten, wie es sie in allen Städten gibt, locken niemanden mehr vor die Tür. Die Menschen verlangen Erlebnisse. Doch für den inhabergeführten Einzelhandel, der den Branchen-Mix bereichern könnte, sind die innerstädtischen Top-Lagen vielerorts unbezahlbar geworden. Nicht nur die bevorstehende Schließung vieler Galeria-Kaufhof-Karstadt-Häuser wird zu sichtbaren Leerständen in den Innenstädten führen. Studien zufolge wird die innerstädtische Leerstandsquote dauerhaft auf 14 bis 15 % ansteigen. Vor Ausbruch der Pandemie lag dieser Wert noch bei rund 10%. Flankiert, so die Befürchtung, wird die zukünftige Entwicklung demnach von einem weiteren Besucherrückgang. Etwa ein Zehntel aller Menschen, so die Prognosen, werden den Innenstädten dauerhaft fernbleiben. Das wiederum wird zur Folge haben, dass die räumliche Ausdehnung der Handelslagen schrumpfen wird und eine Dezentralisierung einsetzt. In innerstädtischen B- und C-Lagen ist dies bereits zu beobachten. Mit digitalen Tools Leerstand bekämpfen Digitales Leerstands- und Ansiedlungsmanagement als Schlüssel für lebendige Innenstädte Stadtretter, Innenstadt, Einzelhandel, Leerstand, Ansiedlungsmanagement Ariane Breuer Nach Schätzungen zahlreicher Kommunen pendelt sich der Leerstand in den Innenstädten zukünftig bei 14 bis 15 Prozent ein. Die Initiative „Die Stadtretter“ setzt sich seit dem Sommer 2020 dafür ein, dass die Stadtzentren deutscher Kommunen lebendige Orte bleiben. Im Erfahrungsaustausch mit den fast 1 300 Mitgliedern aus dem Netzwerk hat sich gezeigt, dass sich dem Strukturwandel in den Innenstädten vor allem mit einem strategischen Leerstands- und Ansiedlungsmanagement begegnen lässt. Der Beitrag zeigt auf, wie Kommunen von digitalen Tools profitieren können und welche Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden müssen. © Sven Brandsma on unsplash 49 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Studie „Vitale Innenstädte“ Wie steht es also um die deutschen Innenstädte? Dies ist die zentrale Frage der alle zwei Jahre erscheinenden Untersuchung „Vitale Innenstädte“ des IFH KÖLN, für die zuletzt fast 70 000 Passanten in 111- deutschen Innenstädten aller Größenordnungen interviewt wurden. Im Schnitt kamen die Städte bei der 2022er-Untersuchung auf eine gute Bewertung (Schulnote 2,5). Und insgesamt hat sich die Bewertung im Laufe der vergangenen Jahre sogar stetig verbessert: So lag die Durchschnittsnote für die Gesamtattraktivität deutscher Innenstädte 2016 noch bei 2,7 - im Jahr 2018 bei 2,6. Im Rahmen der Studie „Vitale Innenstädte“ wurden die Passanten auch gefragt, ob sie anderen Menschen einen Besuch der Innenstädte empfehlen würden. Und gerade bei diesem Punkt schnitt die Mehrzahl der deutschen Innenstädte schlecht ab: In rund jeder zweiten Stadt (53 %) überwog die Anzahl derer, die die Innenstadt nicht weiterempfehlen würden. Nur jede vierte Stadt (24 %) konnte sich über eine hohe Weiterempfehlungsrate freuen. Die Studie identifiziert zugleich die wichtigsten Einflussfaktoren auf die Weiterempfehlung von Innenstädten: Ganz vorn finden sich die Bereiche Aufenthaltsqualität, Ambiente und Flair sowie Stadtgestaltung und touristische Attraktivität. Es folgen der Erlebniswert und das Einzelhandelsangebot. Dies unterstreicht den eingangs erwähnten Punkt, dass sich die Innenstädte neu erfinden müssen. Orte, die allein der Befriedigung von Einkaufsbedürfnissen dienen, sind nicht mehr zeitgemäß. City-Lagen müssen sich als lebendige Quartiere mit hoher Aufenthaltsqualität präsentieren - Wohnen, Leben, Arbeiten, das alles muss an diesen multifunktionalen Orten für Menschen aller Altersgruppen gleichermaßen möglich sein. Nicht fehlen dürfen dabei Grünflächen und Spielplätze, Bildungs-, Begegnungs- und Freizeitangebote wie Kino oder Theater, Seniorenzentren und Kindergärten sowie Cafés, Kneipen und Restaurants. Startups sollen im Branchen-Mix der modernen Innenstadt ebenso einen Platz finden wie Pop-up-Stores, Arztpraxen, Kanzleien und Agenturen, aber auch Geschäfte für Dinge des täglichen Bedarfs sowie alteingesessener Handel und Handwerksbetriebe. Um den Wandel der Innenstädte zu meistern, sind Kreativität, Mut und Experimentierfreude gefragt. Dabei gilt auch das Motto „Gemeinsam sind wir stark“. So sorgt zum Beispiel die Initiative „Die Stadtretter“, die sich 2020 mitten in der Corona-Pandemie gegründet hat und heute beinahe 1 300 Unterstützer hat, dafür, dass verschiedenste Akteure aus dem Bereich Innenstadtentwicklung miteinander ins Gespräch kommen. Entstanden ist dabei ein Netzwerk aus Städten und privatwirtschaftlichen Unternehmen, Verbänden und Forschungseinrichtungen, die ihr Wissen miteinander teilen und gemeinsame Projekte auf die Beine stellen. Digitales Leerstands- und Ansiedlungsmanagement Immer wieder zeigt sich innerhalb des Netzwerks, wie sehr die Möglichkeiten der Digitalisierung zu einer Steigerung der Attraktivität der Innenstädte beitragen können. Interessant in diesem Zusammenhang ist beispielsweise das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geförderte Projekt „Stadtlabore für Deutschland: Leerstand und Ansiedlung“. Bis Ende 2022 haben das IFH KÖLN, 14- deutsche Modellstädte unterschiedlicher Größe und weitere Partner eine digitale Plattform für proaktives, zukunftsorientiertes Ansiedlungsmanagement in Innenstädten entwickelt. Dabei war es ein ebenso zentrales Anliegen, Standards für ein dialogorientiertes Miteinander im Vitalisierungsprozess zu schaffen, wie die richtigen Daten für eine nachhaltige Planung zu generieren (siehe Seite 52). In Mönchengladbach, zum Beispiel, hat die dort ansässige Wirtschaftsförderung schon immer die Leerstände der Innenstadt erfasst und in einer Excel-Tabelle dokumentiert. Durch das Projekt © Daniel Nettesheim auf Pixabay 50 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt „Stadtlabore für Deutschland“ hat diese mühsam von Hand gepflegte Datei nun ausgedient. Die Stadt nutzt jetzt ein effizientes System, auf das verschiedene Akteure der Stadt zugreifen können. Mit Hilfe des digitalen Leerstands- und Ansiedlungsmanagement LeAn ® finden suchende Händler und Eigentümer von leerstehenden Immobilien zusammen. Das System dient dabei quasi als „Schaltzentrale“. Alle verfügbaren Informationen werden dort digital gebündelt. Die Immobilieneigentümer melden ihre Leerstände. Und potenzielle Mieter können erklären, welche Flächen sie suchen. Dann werden die Datensätze mit Angaben zu Besatz oder Frequenz angereichert. So entsteht eine sehr gute Übersicht der Leerstände, die es den Akteuren der Wirtschaftsförderung ermöglicht, passgenau auf Such-Anfragen potenzieller Mieter zu reagieren. Auch die Stadt Hanau, die ebenfalls am Projekt „Stadtlabore für Deutschland“ teilgenommen hat, war an der Entwicklung von LeAn ® beteiligt. In Hessen konnten mit der digitalen Plattform bereits einige erfolgreiche Vermittlungen erzielt werden. Darunter war im Dezember 2022 auch das erste „Match“, das in Deutschland durch LeAn ® zustande kam - vom Erstkontakt bis zur Ladeneröffnung war gerade einmal eine Woche vergangen. Eine Frau aus dem Rhein-Main-Gebiet war damals über die Medien auf das neue Angebot aufmerksam geworden. Sie hatte dann die „BAUprojekt Hanau Baubetreuungs- und Projektentwicklungsgesellschaft mbH“ angesprochen und erklärt, dass sie gerne einen Spielzeugladen in der Stadt eröffnen wolle. Der Frau wurden dann über LeAn ® verschiedene Flächen vorgestellt; eine kleine Auswahl, die zu ihren Angaben passte. Am nächsten Tag hatte sie sich schon für eine Fläche entschieden. Es wurde ein Termin mit dem Immobilieneigentümer vereinbart - und drei Tage später hat in Hanau ein neuer Spielzeugladen eröffnet. Die erfolgreiche Vermittlung blieb kein Einzelfall, es folgten weitere „Matches“ dieser Art. Die Stadt Hanau wird ohnehin häufig genannt, wenn es um die erfolgreiche Belebung von Innenstädten geht. In der Stadt im Main-Kinzig-Kreis ist man innovativen Projekten gegenüber seit langem aufgeschlossen. Viel Beachtung fand zum Beispiel das im Jahr 2019 gestartete Innenstadt-Entwicklungsprogramm „Hanau aufLADEN“. Es geht dabei im Kern darum, das Ladensterben zu verhindern und die Innenstadt zu beleben. So wurden im Rahmen des Projekts eine städtische Vorkaufsrechtssatzung beschlossen, Pop-up-Stores gefördert, Konjunkturprogramme aufgelegt und Fassaden der Ladenlokale gestaltet. Bürgerbeteiligung Nicht vergessen darf man bei allem Mut zu Innovation und Gestaltung die Interessen der Bürger. Die Menschen wollen gefragt und abgeholt werden. Dies sind nicht zuletzt zentrale Erkenntnisse des Innenstadtprofilierungskonzepts in Erfurt. Die Stadt mit ihrem mittelalterlich geprägten, bei Touristen beliebten Zentrum hat sich zwar bislang als sehr resilient gegenüber allen negativen Entwicklungen erwiesen, die in anderen Innenstädten bereits wesentlich spürbarer sind. Dennoch ruht man sich in der Hauptstadt Thüringens nicht auf den Lorbeeren aus. Als Teilnehmer am Projekt „Stadtlabore für Deutschland“ hat Erfurt in einem sehr partizipativen Off- und Online-Prozess die Meinung der Bürger zur Innenstadt erfragt. Die Reichweite der Kampagne unter dem Motto „Erfurt mitgestalten“ war dabei so hoch, dass mutmaßlich jeder Bürger der Stadt mindestens einmal mit dem Profilierungskonzept in Kontakt kam. Auch wenn nicht jeder mitgemacht hat, so haben die Bürger doch davon erfahren und fühlten sich angebunden. Im Rahmen der Befragung wurden vom Amt für Wirtschaftsförderung sieben Handlungsfelder identifiziert, die entscheidend sein sollen für die Zukunftsausrichtung der Erfurter Innenstadt. Das sind die „Aufenthaltsqualität mit dem großen Schlüssel mehr Grün“, „Sicherheit und Sauberkeit“, „Mobilität - Erreichbarkeit der Innenstadt“, der „Nutzungs- Mix“, „Verwaltung als Unterstützer“, der große Baustein „Kommunikation - wie informiere ich über die vorhandenen Angebote“ und die „Eventisierung der Innenstadt als Erlebnisort“. Eine erste Folge der Befragung war eine schnelle, einfach umzusetzende Maßnahme: Immobilien, die sich in der Entwicklung befinden, jedoch nach außen wie ein Leerstand wirken, werden mit bunten Aufklebern versehen, die darüber informieren, dass das Geschäft wieder vermietet ist und bald mit einem neuen Konzept startet. Diese kurzweilige Bürger-Info am Schaufenster dürfte mit Blick auf mögliche Trading-Down-Effekte durch sichtbare Leerstände einen nicht zu unterschätzenden Effekt haben. Zudem soll in Erfurt eine Kampagne unter dem Schlagwort „Wussten-Sie-dass, …“ starten. Bei der Arbeit am Innenstadtprofilierungskonzept hatten die Wirtschaftsförderer nämlich bemerkt, dass sich manche Kritik der Menschen auf Dinge bezogen hat, die es bereits gibt. So wurde von den Befragten zum Beispiel mehrfach bemängelt, dass es in der Innenstadt von Erfurt keine Trinkbrunnen gibt - die Wasserspender gibt es aber sehr wohl. 51 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Die „Wussten-Sie-dass, …“-Kampagne soll nun dazu beitragen, diesen Nachholbedarf in der Kommunikation aufzuarbeiten und Innenstadt-Angebote bekannter zu machen. Dass sich die Bereitschaft zu experimentieren mit Blick auf die Attraktivitätssteigerung von Innenstädten auszahlt, hat auch die Stadt Nürnberg unter Beweis gestellt. Dort gibt es die „City Werkstatt“, eine gemeinsame Initiative von Stadt und IHK, die sich zur Aufgabe gemacht hat, die Nürnberger City lebendiger zu machen. Über diesen Ansatz ist ein großes Netzwerk entstanden, das weit über den Handel hinausgeht. Die „City Werkstatt“ will die Menschen in die Lage versetzen, ihre Ideen umzusetzen - schnell und unkompliziert. Das Leitbild dabei: Die Gestaltung der Innenstadt gelingt am besten, wenn viele verschiedene Akteure gemeinsam an einem Strang ziehen. In Franken konnten dank der „City Werkstatt“ wertvolle Erfahrungen im Bereich der Platzgestaltung gemacht werden. In Kooperation mit ortsansässigen Gewerbetreibenden wurde die zentral gelegene Adlerstraße im Sommer 2021 zu einer sogenannten „Summer Street“. Zuvor gab es in der Straße viel Park-Suchverkehr und einen hohen Durchgangsverkehr. Die Aufenthaltsqualität hatte darunter stark gelitten. Während der „Summer Street“ war nur noch die Zufahrt zu einem Parkhaus möglich. Die Autoparkplätze an der Straße wurden umgewidmet, um möglichst viel Leben auf die Straße zu bringen. So gab es, um die Straße aus ihrem Schattendasein zu holen, etwa ein öffentliches Klavier sowie Kunst- und Kulturaktionen. Zwar konnte die Adlerstraße letzten Endes keine „Summer Street“ bleiben, doch die während des Experimentes erweiterte Außengastronomie wird bestehen. Pop-up-Stores Geht es um die Wiederbelebung von leerstehenden Flächen, fällt oft und schnell das Stichwort Pop-up- Store. Die temporären Handelsflächen mit wechselndem Sortiment werden nicht selten als Allheilmittel in Sachen Zwischennutzung betrachtet. Doch am Ende braucht es auch ein funktionierendes Geschäftsmodell für dauerhafte Nutzungen. Dem Vorbild des „Bikini Berlin“ folgend soll in Nürnberg in naher Zukunft ein Pop-up-Center eröffnen: „Das Dürer“ bietet dann in einem festen Gebäude wechselnden Mieterinnen und Mietern aus verschiedenen Bereichen wie Fashion, Design oder sonstigen innovativen Angeboten einen festen Platz in der Innenstadt. Kreative, junge Unternehmen, aufstrebende Start-ups und kleine Labels, die sich (noch) nicht die hohen Innenstadtmieten leisten können, sollen die Chance bekommen, in hervorragenden Lagen ihre Produkte zu präsentieren und ihre Geschäftsideen im Markt zu testen. Gleichzeitig sollen die regelmäßig wechselnden Betreiber eine lokale Abwechslung zum filialdominierten Einzelhandel bieten und die regionale Identität stärken. Es zeigt sich: Ein strategisches Leerstand- und Ansiedlungsmanagement macht Sinn, um die Entwicklung einer Innenstadt gezielt und vor allem nachhaltig steuern zu können. Früher war dieser Prozess für die Städte oft undurchsichtig, weil er fast ausschließlich zwischen Händlern, Immobilienbesitzern und Maklern abgelaufen ist. Heute können die Städte jedoch durch ein digitales Leerstands- und Ansiedlungsmanagement stärker Einfluss nehmen. Und eben diese Einflussnahme ist wichtiger denn je, wenn es darum geht, die Attraktivität der Innenstädte zu erhalten oder zu steigern. Daten helfen dabei, die Innenstädte gezielt weiterzuentwickeln. Mit ihnen kann es gelingen, diese Entwicklung nicht passiv geschehen zu lassen, sondern diese kontrolliert und aktiv zu bewältigen. Flankiert werden muss das Leerstand- und Ansiedlungsmanagement jedoch mit Maßnahmen, die dazu beitragen, die Attraktivität und Aufenthaltsqualität der Innenstädte zu steigern. Die vorab genannten Beispiele aus verschiedenen deutschen Städten zeigen, dass dies zuweilen mit vergleichsweise geringen Mitteln und überschaubarem Aufwand gelingen kann. Ebenso deutlich wird aber auch, dass es keine Musterlösungen gibt, die an jedem Ort gleichermaßen gut funktionieren. Der gegenseitige Austausch, das Streben nach Informationen und der Blick auf Best-Practice-Beispiele, wie sie etwa innerhalb des Netzwerks „Die Stadtretter“ regelmäßig präsentiert werden, bieten jedoch eine hilfreiche Orientierung, wenn es darum geht, die Weichen für die Zukunft der Innenstädte zu stellen. Ariane Breuer Geschäftsführerin Leerstandlotsen und Mitgründerin der Initiative Die Stadtretter Die Stadtretter GmbH, Hanau Kontakt: a.breuer@die-stadtretter.de AUTORIN 52 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Die Vision: Zur Vitalisierung der Innenstädte und Zentren beitragen Die Gesellschaft ist auf funktionierende und attraktive Zentren angewiesen. Innenstädte vital zu halten und lebendig zu gestalten ist daher ein besonders relevantes Thema. Die aktuelle Zeit mit Pandemie, Energie- und Klimakrise ist herausfordernd - Verunsicherung dominiert. Eine Verödung der Innenstädte durch die absehbaren wirtschaftlichen Einbrüche muss umgangen werden. Doch die gute Nachricht: Krisen sind zu bewältigen - nicht mit einem „Weiter so“ oder einem „Wird schon“, sondern durch Veränderung. Eine aktive Gestaltung der Innenstadt ist der Lösungsansatz. Was braucht es, um einen Beitrag für die Zukunftsfähigkeit der Innenstädte zu leisten? Besonders unsere europäischen Nachbarn machen vor, wie eine konsequente Umsetzung von Zielbildern aussehen kann. So ist Paris auf dem Weg zur 15-Minuten-Stadt, Barcelona baut Superblocks als erweitertes Wohnzimmer und Kopenhagen entwickelt sich zur grünen Stadt. Gleichzeitig existieren Mit gemeinsamer Laborarbeit Innenstädte vitalisieren Von Kommunen für Kommunen: LeAn als Prozessinnovation für Leerstands- und Ansiedlungsmanagement Stadtlabor, Dialog, Kommune, Immobilienwirtschaft, Anbieter, Daten Eva Stüber 14 Modellstädte, über 25 Partner und Dienstleister haben eine Plattform für digitales Leerstandsmanagement und vorausschauendes Ansiedlungsmanagement entwickelt. Die „Stadtlabore für Deutschland: Leerstand und Ansiedlung“ waren geboren. Das Ziel: Standards schaffen, die vor Ort einen Mehrwert bieten. Dies betrifft nicht nur den Bereich Technologie, sondern schließt auch die Qualität des Contents sowie der Prozesse ein. Letztendlich müssen alle diese Elemente auf die jeweilige Strategie der Stadt einzahlen. Blicken wir auf die Vision, den Weg und das Ergebnis. Bild 1. © Stadtlabore für Deutschland | nh-visuals.com 53 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt zahlreiche Best Practices zu Formaten und Ansätzen, die vom Stadtretter-Netzwerk seit Pandemiestart gebündelt werden. Doch wie soll eine systematische Aussteuerung funktionieren? Kommunen haben in der Regel keinen Überblick über den aktuellen Besatz oder die Leerstände in ihrer Innenstadt. Sowohl der Digitalisierungsgrad als auch die Datenlage sind unzureichend. An dieser Stelle muss angesetzt werden. Der Weg: Gemeinsam lernen und agil entwickeln Wie geht man ein Vorhaben an, eine Plattform für digitales Leerstands- und vorausschauendes Ansiedlungsmanagement zu entwickeln? Klar war von Beginn an, dass dies keine Aufgabe ist, die am Schreibtisch umgesetzt werden kann. Vielmehr müssen die Nutzenden - sprich die Kommunen - unmittelbar in die Entwicklung und Verprobung einbezogen werden. Im Projekt „Stadtlabore für Deutschland: Leerstand und Ansiedlung“ 1 fanden sich so 14 Modellstädte verteilt über verschiedene Bundesländer, Ortsgrößenklassen und mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen bezüglich Organisation ihrer Wirtschaftsförderung bzw. verantwortlicher Stadtorganisation sowie Leerstand in der Stadt als die ideale Besetzung zusammen: Bremen, Erfurt, Hanau, Karlsruhe, Köln, Langenfeld, Leipzig, Lübeck, Lüneburg, Mönchengladbach, Nürnberg, Rostock, Saarbrücken und Würzburg. 1 Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (08/ 2021 bis 12/ 2022) gefördert. Die Beteiligten im Bundesgebiet verteilt, eine Pandemie, in der physische Zusammenkünfte nicht empfehlenswert sind, und nur 16 Monate Projektlaufzeit. Die Zusammenarbeit im Digital-First-Modus zu organisieren war eine logische Entscheidung. Das Commitment auf gemeinsame Werte war eine Grundvoraussetzung: Mut, Vertrauen und Neugier begleiteten das Stadtlabore-Team von Beginn an. Neben gemeinsamen Terminen mit allen wurden feste Arbeitskreise zu Schwerpunktthemen sowie nach Bedarf Arbeitsgruppen ins Leben gerufen, zu denen sich die Modellstädte nach Interesse und Ressourcen anschließen konnten. Wissen und Erfahrungen wurden so verteilt generiert und mit allen geteilt - dies ermöglichte ein schnelles Vorankommen. Während das Stadtlabore-Team zu Beginn nur aus dem IFH KÖLN und den Modellstädten bestand, wurden nach und nach weitere Partner an Bord geholt. Das Onboarding erfolgte Step by Step im Kontext der Plattform, der Daten und weiteren Basisfeldern wie Recht. Die Spezialist*innen in ihren Feldern arbeiteten ebenso auf der Wertebasis und schlossen sich direkt der offenen sowie feedbackorientierten Umgebung an. Die hohe Geschwindigkeit der Umsetzung wurde durch klare Verantwortlichkeiten sichergestellt. Gleichzeitig hat das Vorhaben der Plattformentwicklung entscheidend davon profitiert, dass immovativ als Plattformentwickler bereits vier Wochen nach Beauftragung mit dem Roll-out eines Prototyps in den Modellstädten gestartet ist. Bild 2. © Stadtlabore für Deutschland | nh-visuals.com 54 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Durch das agile Vorgehen konnten schnell Erfahrungen gesammelt und Anpassungen vorgenommen werden: Bei der Priorisierung von Themen, ebenso wie in der Programmierung. Eine neue Erfahrung für die Beteiligten in den Modellstädten, da normalerweise mit langjährig erprobter Software gearbeitet wird. Die Geduld wird an dieser Stelle ordentlich gefordert, zum Beispiel wenn gewünschte Funktionen erst für ein Release in einem halben Jahr vorgesehen und sinnvoll sind. Evolution braucht eben Zeit und schrittweises Vorgehen in Etappen ist für die Zielerreichung hilfreich. Doch für diese Zeit entschädigt, bereits im Projektverlauf mit Stolz auf das Ergebnis des gemeinsamen Lernens und Ausprobierens zurückblicken zu können. Das Ergebnis: Mit LeAn Innenstädte datenbasiert steuern Der Einsatz und die Mühen werden durch LeAn als Werkzeug für Kommunen zur Gestaltung von vitalen Innenstädten und Zentren deutlich. Eine digitale Plattform für ein vorausschauendes Leerstands- und Ansiedlungsmanagement, die unter Federführung der Kommune alle Nutzergruppen an einen „digitalen“ Tisch bringt. Die datenschutzkonforme Webanwendung erleichtert die Bestandsflächenverwaltung, liefert einen aktuellen Überblick über Immobilienbesatz und (drohende) Leerstände, enthält ein Dashboard mit umfangreichen relevanten Daten zu Umfeld und Nutzbarkeit der Immobilie und erfasst Ansiedlungsgesuche für eine stadtindividuelle Ansiedlungssteuerung. Als Ökosystem für Akteur*innen der Innenstadt ermöglicht LeAn Kommunen damit schnelle Reaktionszeiten und ein passgenaues Matching von Immobilien und Nachnutzungskonzepten: Anbieter*innen profitieren von der vereinfachten Standortsuche und Immobilieneigentümer*innen sowie die Vermittlungsbranche erhalten neben professionellen Objektexposés die Möglichkeit, gemeinsam mit der Kommune die Innenstadt datenbasiert aktiv zu gestalten. So liefert LeAn die Basis für einen Dialog auf Augenhöhe aller Innenstadtakteur*innen und die Grundlage für standardisierte Prozesse, die eine zukunftsgewandte Gestaltung ermöglichen. Potenzial von LeAn in Modellstädten sichtbar Bereits während der Projektlaufzeit ist in den Modellstädten das Potenzial von LeAn sichtbar geworden - trotz noch naturgemäß dünner Datenlage. Das Spektrum hierbei ist groß und reicht von Dingen, die Außenstehende vielleicht für selbstverständlich halten, bis zum Kern - der Vitalisierung der Innenstädte durch Neuansiedlungen. So konnten nicht nur Fragen zu Leerstandsquoten qualifiziert innerhalb von Sekunden beantwortet werden, die Frequenzen der jeweiligen Laserstandorte minutengenau ausgelesen und mit gewählten Zeitpunkten verglichen werden, sondern auch erste Ansiedlungen durch LeAn generiert werden. Der Matching-Testbetrieb lief ab Mitte August 2022 zehn Wochen lang. Sechs Modellstädte mit 55 Flächen nahmen daran teil - und über 550 Matches wurden auf Basis des Abgleichs von Gesuchen, Werkzeug für vitale Innenstädte und Zentren Zukunftsgewandte Ansiedlungssteuerung Ökosystem für Akteur: innen der Stadt Datenbasierte Entscheidungen Transparenz und Geschwindigkeit Nachhaltige Quartiersaufwertung Interdisziplinäre Zusammenarbeit dte en kunftswandte siedlungseuerung Ö f d Datenbasierte Entscheidungen Nachh Quart aufwe Interdisziplinäre Zusammenarbeit Dashboard mit relevanten Daten Passgenaue Vorschläge aus Matching Ansiedlungsgesuche Bestandsflächenverwaltung Professionelle Objektexposés Zielbildcheck und Frühwarnsystem Stakeholder- Dialogsystem Datenschutzkonforme Webanwendung Datenraum: geschlossen oder (teil-)offen Kartenbasierte Darstellung (Geodaten) Berechtigungslogik je Nutzergruppe Schnittstellenanbindung/ -bereitstellung Aktualisierung auch über Dritte (Meldesysteme) Individualisierbare Prozesse Das it aue ands- Bild 3. © Stadtlabore für Deutschland | nh-visuals.com 55 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Flächen- und Standortanforderungen sowie Informationen zu Zielgruppen generiert. Davon wurden 65 % der Ansiedlungsvorschläge nach der Vorauswahl durch die kommunalen Verantwortlichen weiterverfolgt und mit der zuständigen Maklerschaft, den jeweiligen Eigentümer*innen der Immobilien und den entsprechenden Konzeptanbietenden besprochen. Schon im Dezember folgten die ersten Ansiedlungen und die Feuerprobe war bestanden - ein großes Etappenziel der Stadtlabore für Deutschland! Ein Blick auf ausgewählte Ansiedlungen zeigt weitere Besonderheiten. Bei der ersten Ansiedlung stand die Immobilie in der Hanauer Innenstadt nur rund einen Monat leer - dank LeAn wurde der Nachvermietungsprozess stark beschleunigt. Zuträglich war zudem der intensive Dialog mit Anbietenden und der Immobilienwirtschaft, den die Verantwortlichen in Hanau pflegen. Insgesamt vergingen nur wenige Tage zwischen Erstkontakt und der Besichtigung der Gewerbefläche mit anschließender Unterschrift des Mietvertrags. Und auch die dritte Ansiedlung in Hanau sticht mit einer Besonderheit hervor: Die Vertragsunterschrift erfolgte bereits Monate, bevor der Leerstand sichtbar geworden wäre. Gemeinsames Anpacken und Dialog sind auch nach der Entwicklungsphase gefragt Das passgenaue Matching von Immobilien und Nachnutzungskonzepten und die schnellen Reaktionszeiten sind somit bereits nachgewiesen. Doch wie genau sieht die Nutzung für Anbietende und Immobilienwirtschaft aus? Schließlich sind vereinfachte Standortsuche bzw. professionelle Objektexposés aussichtsreiche Mehrwerte. Der Zugang zu LeAn ist für die Akteur*innen auf unterschiedlichen Wegen möglich (Bild 4). Für alle Kommunen ist der Einsatz des Leerstandsbzw. Gesuchsmelder für Immobilienbzw. Konzeptanbietende zu empfehlen. Die Datenübermittlung mittels Onlineformular funktioniert so bequem ohne Anmeldung. Digitalisierung durch LeAn und die Nutzung von Daten bilden die Grundlage für die Vitalisierung der Innenstädte, entscheidend bleibt jedoch der Dialog. Innerhalb der Kommune und unter den Kommunen braucht es den Austausch. Ganzheitlich gedacht sind automatisch alle Stakerholder der Innenstadt eingebunden. Für ein vorausschauendes Ansiedlungsmanagement ist der Trialog zwischen Kommune, Immobilienwirtschaft und Konzeptanbietenden Pflicht. Insbesondere der Aufbau und die Professionalisierung des immobilienwirtschaftlichen Dialogs stand im Rahmen des Projekts im Fokus. Dabei ist nicht nur die Gewinnung von Daten zu den Gewerbeimmobilien entscheidend, sondern auch zur Nutzung des Ökosystems LeAn durch die Maklerschaft. Letztendlich wurde das Motto gemeinsam gelebt und steht für so viel bei den „Stadtlaboren für Deutschland: Leerstand und Ansiedlung“. 14 Modellstädte, über 25 Partner und Dienstleister sowie ein divers besetzter Projektbeirat haben mit vielen Interessierten und begleitenden Organisationen, Unternehmen und Kommunen am Thema Leerstand und Ansiedlung gearbeitet. Es ist wichtig, bei einem ganzheitlichen Vorhaben eine Einladung zum Mitmachen auszusprechen - aber nicht auf die Annahme zu warten. Die Geschwindigkeit in der Umsetzung muss hoch sein und bleiben. Wir freuen uns, wenn das Leerstands- und Ansiedlungsmanagement 2023 weiter professionalisiert und gemeinsam an der Vitalisierung der Innenstädte gearbeitet wird. Und nun? Nach der Entwicklungsphase besteht deutschlandweite Nutzungsmöglichkeit Weitere Informationen zu den Modellstädten, den Projektergebnissen und den Nutzungsmöglichkeiten von LeAn gibt es unter: www.stadtlabore-deutschland.de Bild 4. © Stadtlabore für Deutschland | nh-visuals.com Dr. Eva Stüber Mitglied der Geschäftsleitung IFH (Institut für Handelsforschung) KÖLN Kontakt: e.stueber@ifhkoeln.de AUTORIN 56 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Umweltgerechtigkeit als Konzept und Leitbild für Berlin Ein sommerlicher Nachmittag im Berliner Wedding: Kinder spielen in den zahlreichen Parks und begrünten Hinterhöfen. Trotz der Hitze lässt es sich aufgrund der vielen Schatten spendenden Bäume und der kühlenden Fassaden- und Dachbegrünungen gut aushalten. Die Autos rollen langsam über die Schwedenstraße, wo seit einigen Monaten Tempo 30 gilt und mehr Fahrräder als Autos unterwegs sind. So ist nicht nur die Lärmbelastung gesunken, auch die Luftqualität hat sich seitdem deutlich verbessert. In der Nachbarstraße treffen sich einige Bewohner*innen an den neu errichteten Kiez- Parklets und planen das anstehende Sommerfest im Gemeinschaftsgarten. Für diesen hat die Stadt gerade eine langfristige Finanzierung zugesagt, sodass doppelter Grund zum Feiern besteht. Alles eine ferne Vision? Wenn wir den Ansatz der Umweltgerechtigkeit ernst nehmen und uns gemeinsam mit vielen verschiedenen Akteur*innen dafür einsetzen, lebenswertere, gesündere Quartiere zu schaffen, könnte diese kleine Szene schon bald Realität sein. Entscheidend ist dabei das enge Zusammendenken von Umweltschutz und Nachhaltigkeit mit Gerechtigkeitsfragen. Die Lebens- und Umweltqualität in den Berliner Quartieren ist sehr unterschiedlich. Wo wir wohnen, bestimmt auch, welchen gesundheitsrelevanten Umweltbelastungen wir ausgesetzt sind. Sozioökonomische Faktoren wie Bildung und Einkommen, aber auch ein Migrationshintergrund und das soziale Umfeld beeinflussen die Wohnbedingungen, Lebensstile, die verfügbaren Ressourcen sowie die damit verbundenen Gesundheitsrisiken [1]. Auch Umweltbelastungen sind intersektional zu betrachten und anzugehen. Wo die Luft schlecht ist, der Lärm auch nachts nicht aufhört und Grünflächen fehlen, da leben in Berlin häufig Menschen mit niedrigerem Einkommen, geringen Bildungschancen und weiteren Herausforderungen. Hier summieren sich also jetzt schon die Belastungen und werden unter anderem durch Klimawandelfolgen nachweislich weiter zunehmen [2, 3]. Beispielsweise zählt die Umgebung rund um die Schwedenstraße zu den am stärksten belasteten Kiezen der Hauptstadt [4]. Wie kann eine gute Lebensqualität für möglichst viele Berliner*innen hergestellt werden - nicht nur für diejenigen, die es sich leisten können, in weniger belasteten Gebieten zu wohnen oder das Wissen und die Möglichkeiten haben, sich gegen Belastungen zu schützen? Diese Frage steht im Zentrum des Leitbildes der Umweltgerechtigkeit. Ziel des normativen Konzeptes ist es, umweltbezogene gesundheitliche Beeinträchtigungen zu vermeiden und zu beseitigen sowie bestmögliche umweltbezogene Gesundheitschancen für alle Bevölkerungsgruppen herzustellen. Dies umfasst nicht nur, Belastungen zu reduzieren, sondern auch die Verfügbarkeit und den Zugang Umweltgerechtigkeit im Quartiersmanagement Höhere Lebensqualität in mehrfach belasteten Berliner Quartieren schaffen Umweltgerechtigkeit, Berliner Quartiersmanagement, zivilgesellschaftliche Beteiligung Larissa Donges, Alina Beigang Umweltbelastungen wie Lärm oder Luftschadstoffe sowie der Zugang zu gesundheitsfördernden Umweltressourcen wie Grünflächen sind ungleich verteilt. Auch in Berlin leiden Bewohner*innen sozial benachteiligter Stadtteile überdurchschnittlich oft unter mehr Umweltbelastungen. Um dem entgegenzuwirken, beschäftigt sich das Land Berlin seit einigen Jahren mit dem Ansatz der Umweltgerechtigkeit und verfügt über einen Indikatorensatz zur kleinräumigen Bestimmung der Umweltqualität. Mit den Quartiersmanager*innen wird nun in einem partizipativen Prozess ein Praxisleitfaden entwickelt, wie sie gemeinsam mit den Bewohner*innen für mehr Umweltgerechtigkeit sorgen können. 57 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt zu gesundheitsfördernden Umweltressourcen wie Grün- und Freiflächen zu erhöhen. Neben der Aussetzung (Exposition) spielen auch soziale und individuelle Unterschiede in der Anfälligkeit (Vulnerabilität) gegenüber bestimmten Faktoren eine Rolle und wirken sich letztlich auf die tatsächlichen gesundheitlichen Effekte aus (Effektmodifikation) [2]. Neben der „Verteilungsgerechtigkeit“ und der „Zugangsgerechtigkeit“ spielt ebenfalls die „Verfahrensgerechtigkeit“ eine wichtige Rolle. Im Zentrum steht die Frage, wie die belasteten Bewohner*innen aktiv an Informations-, Planungs-, Anhörungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt werden können, um bessere Lebensbedingungen vor Ort zu schaffen [5]. Dies betrifft auch die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, auf denen die Ungleichheiten bei Umweltbelastungen basieren. Um einer umweltgerechten, gesundheitsförderlichen Stadtentwicklung näher zu kommen, müssen sehr viele verschiedene Akteur*innen an einem Strang ziehen. Eine wichtige Rolle kommt den Kommunen selbst mit ihren politischen Entscheidungsträger*innen und Ämtern zu. Sie können entscheidende Weichen stellen, förderliche Rahmenbedingungen für Umweltgerechtigkeit schaffen und das Thema fachübergreifend in der Grün-, Freiraum- und Stadtplanung verankern [6,- 7]. Aber auch Akteur*innen aus der Zivilgesellschaft und auf Quartiersebene können wirksame Beiträge leisten. Relevant sind in dieser Hinsicht in Berlin die über 90 Quartiersmanager*innen. In derzeit 32- Quartiersmanagement(QM)-Gebieten unterstützen sie seit 1999 benachteiligte Stadtteile [8]. EU, Bund und das Land Berlin finanzieren das Berliner Quartiersmanagement über das Programm „Sozialer Zusammenhalt“. Auf Grundlage des jeweiligen Integrierten Handlungs- und Entwicklungskonzeptes (IHEK) für das Quartier führen die QM-Teams eine Vielzahl von Projekten durch, aktivieren die Bewohnerschaft und beteiligen sie an der Weiterentwicklung ihres Kiezes bzw. Quartiers. Auf dem Weg zur umweltgerechten Hauptstadt Ein wichtiger Schritt einer Kommune zu mehr Umweltgerechtigkeit ist die Identifikation der Stadtteile mit Mehrfachbelastungen [9]. Denn erst, wenn klar ist, wo die meisten umweltbezogenen, sozialen und gesundheitlichen Benachteiligungen vorliegen, werden die größten Handlungsbedarfe deutlich. Das Land Berlin hat schon im Jahr 2008 begonnen, sich im Rahmen des Modellvorhabens „Umweltgerechtigkeit in Berlin“ mit dem Thema zu beschäftigen. Das starke Bevölkerungswachstum sowie die schon heute spürbaren Folgen der Klimakrise stellen enorme Herausforderungen für die Hauptstadt dar. Sie erfordern eine Neuausrichtung der Stadtentwicklungspolitik, die eng verzahnt ist mit der Umwelt-, Klimaschutzsowie Gesundheitspolitik. Als erste deutsche Stadt hat Berlin eine Umweltgerechtigkeitskonzeption erstellt und verfügt seit einigen Jahren über einen Indikatorensatz zur kleinräumigen Bestimmung der Umweltqualität in den einzelnen Stadtgebieten. Im Vordergrund steht die Erarbeitung einer sozialräumlich orientierten Umweltbelastungsanalyse als Grundlage für Maßnahmen an der Schnittstelle der Bereiche Stadtentwicklung, Städtebau, Umwelt und Gesundheit. Dies ist die Basis für integrierte Strategien, um den ökologischen Umbau voranzubringen und gesunde Lebens- und Wohnbedingungen für alle zu schaffen. Das Umweltgerechtigkeits-Monitoring bezieht die vier Indikatoren „Lärmbelastung“, „Luftschadstoffe“, Bild 1: Stadtgrün und Freiräume fördern die Gesundheit und Lebensqualität. © SenUMVK/ Dagmar Schwelle 58 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt „Bioklimatische Belastung“ sowie „Grün- und Freiflächenversorgung“ und als fünften Indikator „Soziale Benachteiligung“ ein. Diese Daten werden dann mit den verbindlich festgelegten 542 lebensweltlich orientierten Planungsräumen (LOR) kleinräumig verschnitten. Die Ergebnisse der ersten umfassenden Untersuchung wurden 2019 in einem 450-seitigen „Basisbericht Umweltgerechtigkeit“ veröffentlicht [10], zudem ist die Kurzfassung „Die umweltgerechte Stadt“ erschienen [11]. Diese wissenschaftlichen Analysen wurde ressortübergreifend und unter Mitwirkung externer Wissenschaftler*innen, Planungsbüros und Praktiker*innen aus Umweltverbänden unter der Federführung der Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz (SenUMVK) erarbeitet. Im Juli 2022 hat die SenUMVK mit Unterstützung des Amts für Statistik Berlin- Brandenburg den aktualisierten Umweltgerechtigkeitsatlas 2021/ 2022 veröffentlicht [12]. Eine direkte Vergleichbarkeit mit dem Basisbericht ist aufgrund einiger notwendiger Änderungen in der Methodik nicht gegeben. Dennoch zeigen die bisherigen Analysen sehr klar, dass die Gesundheitsbelastungen durch beispielsweise Luftschadstoffe und Lärm in sozial benachteiligten Stadtquartieren häufig besonders hoch sind. Zugleich sind dort oft weniger Grün- und Freiflächen vorhanden. Gerade im erweiterten und hochverdichteten Innenstadtbereich, das heißt, innerhalb des S-Bahn-Rings sowie in direkt anschließenden Stadtteilen befinden sich mehrfachbelastete Quartiere. Mehrfachbelastung bedeutet, dass ein Sozialraum in Hinblick auf mehrere Kategorien gemäß der Konzeption benachteiligt ist (Bild 2) Legt man die Daten und Karten der Umweltgerechtigkeitsanalysen mit denen der Quartiersmanagementgebiete übereinander, werden Schnittmengen und Bezugspunkte zwischen den Thematiken deutlich: Einige QM-Gebiete beispielsweise in Kreuzberg, in Neukölln oder im Wedding liegen in den Bereichen mit den höchsten Mehrfachbelastungen, wo also im Sinne der Umweltgerechtigkeit der größte Handlungsbedarf besteht. Mehr Lebensqualität im Quartier schaffen Als Schnittstelle zwischen Quartiersbewohner*innen und Verwaltung bewegen sich die Handlungsspielräume der QM-Teams, gemeinsam mit den Quartiersbewohner*innen und in Kooperation mit weiteren Akteur*innen mehr Umweltgerechtigkeit zu schaffen, zwischen Möglichkeiten und Grenzen. Die Leitplanken der Arbeit sind durch die Inhalte des Städtebauförderprogramms „Sozialer Zusammenhalt - Zusammenleben im Quartier gemeinsam gestalten“ abgesteckt. Ziel ist die „ganzheitliche Stabilisierung und Potenzialentwicklung in Gebieten mit besonderen sozialen Integrationsaufgaben sowie die Verstetigung von selbsttragenden Pro- Bild 2: Die Berliner Umweltgerechtigkeitskarte zeigt die mehrfach belasteten Gebiete der Hauptstadt. © SenUMVK 59 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt jekt- und Netzwerkstrukturen“. Vorgegeben sind zur integrierten Quartiersentwicklung fünf Handlungsfelder: 1)- Integration und Nachbarschaft, 2)- Bildung, 3)- Beteiligung, Vernetzung und Kooperation mit Partnern, 4)- Gesundheit und Bewegung und 5)- Öffentlicher Raum mit jeweils näher definierten Aktivitäten und Zielen. Alle Aktivitäten des Quartiersmanagements zahlen auf diese Handlungsfelder ein, alle Maßnahmen sind von Interessen der Bewohner*innen im Quartier geleitet. Partizipation spielt also eine übergeordnete Rolle. Umweltgerechtigkeit als Querschnittsthema kann in jedem der Handlungsfelder andocken. Beispielhaft für das Handlungsfeld Integration und Nachbarschaft ist etwa das Projekt „Fit - Fahrrad ist toll“ im Bezirk Pankow. Im räumlichen Projektschwerpunkt befinden sich mehrere Gemeinschaftsunterkünfte Geflüchteter. Im Quartier ist eine Bewegungs- und Mobilitätsarmut festzustellen. Innerhalb des Projekts werden Fahrräder zur Verfügung gestellt, Bildungsangebote im Bereich Verkehrserziehung, Fahrradreparatur und Fahrradfahren geschaffen und gemeinsam Fahrradausflüge durchgeführt. Dies dient der Gesundheitsförderung der betreffenden Gruppen, ihrer Sicherheit im Verkehr und erweitert ihre Reichweite. Ein Beispiel für das Handlungsfeld Bildung sind Gartenprojekte sowie die Umgestaltung naturnaher Lernräume wie Schulhöfe oder Grüne Klassenzimmer. So können die gesundheitlichen Vorteile von Grün allen Kindern zugutekommen [13]. Im Handlungsfeld Beteiligung, Vernetzung und Kooperation mit Partnern finden sich unter anderem Themen zu Wohnen und Mieten. Maßnahmen unter dem Leitbild der Umweltgerechtigkeit können dazu beitragen, die Rechte und Interessen von Mieter*innen zu bündeln und zu stärken. Beispiele für Anknüpfungspunkte für Umweltgerechtigkeit im Handlungsfeld Gesundheit und Bewegung sind etwa gemeinschaftliche Kochaktionen und Bildungsmaßnahmen zu gesunder und umweltschonender Ernährung. Das Handlungsfeld Öffentlicher Raum umfasst unter anderem die verbesserte Nutzbarkeit von Stadtraum. Dies kann sich im Einsatz für den Aufbau öffentlicher Stadtmöbel auf ehemaligen Parkplätzen - sogenannten Parklets - oder anderen Maßnahmen der Verkehrsberuhigung wie etwa Superblocks bzw. Kiezblocks und temporären Spielstraßen widerspiegeln. Einmal im Monat wird etwa die Gudvanger Straße am Prenzlauer Berg zur Spielstraße, um dem Bedarf an Spielflächen entgegenzukommen. Der Ausbau grüner und blauer Infrastruktur sowie unversiegelter Flächen stellt wichtige Interventionsmöglichkeiten gegenüber der zunehmenden Hitzebelastung dar [14]. Die Werkzeugkiste der Quartiersmanager*innen umfasst vielfältige Methoden der Beteiligung und der Aktivierung, des Controlling und der Evaluation, des Projektmanagements, der Netzwerkarbeit und des Einwerbens von Mitteln sowie Methoden der Öffentlichkeitsarbeit. Zentral sind auch die Kiezbüros als niedrigschwellige, physische Anlaufstelle für Akteur*innen aus der Nachbarschaft. In den Berliner Kiezen gibt es zudem jeweils Quartiersräte und Aktionsfonds, welche über die Stadtentwicklung mitentscheiden und von den QM-Teams betreut und begleitet werden. Quartiersmanager*innen geben zudem Unterstützung bei der Entwicklung von Projekten aus unterschiedlichen sozialen, kulturellen, baulich-räumlichen und ökonomischen Handlungsbereichen. Außerdem vernetzen und koordinieren sie verschiedene Interessengruppen und lokale Akteur*innen. All diese Fähigkeiten und Möglichkeiten gilt es auch zur Stärkung gesundheitsfördernder und zur Abschwächung gesundheitsschadender Umweltfaktoren in mehrfach belasteten Quartieren einzusetzen, zum Beispiel indem zwischen unterschiedlichen Raumanspruchinteressen durch partizipative Prozesse vermittelt wird. Um das Leitbild der Umweltgerechtigkeit stärker in die QM-Arbeit zu verankern, sind je nach Ausgangslage und Projekt Kooperationspatenschaften aus den Bereichen Umwelt/ Nachhaltigkeit, Mobilität, Wohnen, Gesundheit und weiteren anzustreben. Umwelt-NGOs wie BUND, NABU und lokale Umweltinitiativen wie Yeşil Çember bringen Expertise etwa im Bereich Biodiversität und Nachhaltigkeit in der Stadt und möglicherweise eine lokale Anbindung durch Ehrenamtliche mit. Synergien zugunsten einer umweltgerechten Stadtentwicklung im Bereich Mobilität finden sich beispielsweise beim Verkehrsclub Deutschland (VCD) mit dem Projekt „Straßen für Menschen”, bei Rad- und Fußverkehrsbeauftragten, lokalen Kiezblock-Initiativen sowie dem Verein Changing Cities. Wohnungsunternehmen und -baugesellschaften sind prinzipiell wichtige Akteure im Komplex Umweltgerechtigkeit, da sie über Ressourcen von Flächen und Gebäuden verfügen und damit maßgeblich die Wohnqualität mitbeeinflussen. Dabei ist jedoch problematisch, dass es für diese häufig an Anreizen zur Umsetzung umweltgerechterer Lösungen, wie beispielsweise Hinterhof-, Fassaden- und Dachbegrünungen, thermische Gebäudeisolation und Schallschutzmaßnahmen sowie Maßnahmen zur Versorgung mit sauberer und nachhaltiger (Wärme-)Energie, mangelt. Im Bereich Gesundheit sind als Akteure beispielsweise das Medibüro, Gesundheit Berlin-Brandenburg, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit 60 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt vielen (Bildungs-)Materialien sowie verschiedene Gesundheitsinitiativen wie beispielsweise „Mit Migranten für Migranten“ (MiMi) zu nennen. Bezogen auf Teilhabe und Zivilgesellschaft können Gleichstellungs- und Kinder- und Jugendbeauftragte der Bezirke, die Verbraucherzentrale, Migrant*innen- Selbstorganisationen und vieles mehr geeignete Kooperationspartner*innen darstellen. Letztlich sind es die Bewohner*innen, die von den Aktivitäten zur Umweltgerechtigkeit profitieren sollen. Dazu sind Bildung und Beratung, die Vernetzung der Betroffenen und Unterstützung in der Interessenvertretung vonseiten der QM-Teams wichtige Mittel. Da Menschen auf bestimmte Umweltfaktoren wie Lärm, Feinstaub oder auch Plastik zum Beispiel je nach Geschlecht, Alter, Vorbelastung und anderen Faktoren auf unterschiedliche Art und Weise reagieren, ist auf vulnerable Gruppen eine besondere Aufmerksamkeit zu richten [2, 15]. Die Quartiersebene zeigt sich als wichtige Handlungsebene für Maßnahmen im Sinne von Umweltgerechtigkeit. Um die QM-Teams in ihrer Arbeit zu unterstützen und aufzuzeigen, wie Nachhaltigkeitsthemen stärker in die Arbeit in belasteten Quartieren einbezogen werden können, wird derzeit durch das Unabhängige Institut für Umweltfragen (UfU- e. V.) gemeinsam mit dem BUND Berlin in einem partizipativen Prozess der Praxisleitfaden „Umweltgerechtigkeit in Berliner Quartieren“ erarbeitet. Die Ausarbeitung findet in enger Abstimmung mit einer Gruppe von interessierten Quartiersmanager*innen statt und wird durch die Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz gefördert. Die Veröffentlichung des Leitfadens ist für September 2023 geplant. LITERATUR [1] UBA: Umweltgerechtigkeit - Umwelt, Gesundheit und soziale Lage, 2022: www.umweltbundesamt. de/ themen/ gesundheit/ umwelteinfluesse-auf-denmenschen/ umweltgerechtigkeit-umwelt-gesundheitsoziale-lage#umweltgerechtigkeit-umwelt-gesundheit-und-soziale-lage [2] Bolte, G., Bunge, C., Hornberg, C., Köckler, H.: Umweltgerechtigkeit als Ansatz zur Verringerung sozialer Ungleichheiten bei Umwelt und Gesundheit. Springer Verlag: Bundesgesundheitsblatt,2018. [3] GERICS: Klimaausblick Berlin, 2021. https: / / www. climate-service-center.de/ imperia/ md/ content/ csc/ projekte/ klimasignalkarten/ gerics _klimaausblick _ berlin_version1.2_deutsch.pdf [4] Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz: Die Umweltgerechte Stadt. Umweltgerechtigkeitsatlas - Aktualisierung 2021/ 2022, https: / / www.berlin.de/ sen/ uvk/ _assets/ umwelt/ umweltgerechtigkeit/ umweltgerechtigkeitsatlas-broschuere.pdf [5] Bunge, C., Böhme. C: Umweltgerechtigkeit. BZgA Leitbegriffe: https: / / leitbegriffe.bzga.de/ alphabetischesverzeichnis/ umweltgerechtigkeit [6] Böhme, C., Bojarra-Becker, E., Franke, T., Heinrichs, E., Köckler, H., Preuß, T., Schreiber, M.: Gemeinsam planen für eine gesunde Stadt - Empfehlungen für die Praxis, 2022. [7] Böhme, C., Franke, T., Michalski, D., Strauss, W. C.: Mehr Umweltgerechtigkeit: gute Praxis auf kommunaler Ebene, 2022. [8] www.quartiersmanagement-berlin.de [9] Difu: Toolbox Umweltgerechtigkeit: https: / / toolboxumweltgerechtigkeit.de/ schritte-und-wege/ mehrfach-belastete-teilraeume-identifizieren [10] Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz: Basisbericht Umweltgerechtigkeit. Grundlagen für die sozialräumliche Umweltpolitik, 2019. https: / / datenbox.s tadt-berlin.de/ ss f/ s/ readF ile/ share/ 2007/ 6593154860902717743/ publicLink/ umweltgerechtigkeit_broschuere.pdf [11] Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz: Die umweltgerechte Stadt. Auf dem Weg zu einer sozialräumlichen Umweltpolitik, 2019. [12] Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- und Klimaschutz: Die Umweltgerechte Stadt. Umweltgerechtigkeitsatlas - Aktualisierung 2021/ 2022, (https: / / www.berlin.de/ sen/ uvk/ _assets/ umwelt/ umweltgerechtigkeit/ umweltgerechtigkeitsatlas-broschuere.pdf [13] https: / / www.bpb.de/ themen/ umwelt/ naturschutzpolitik/ 510472/ jugend-und-natur-naturverbundenheit-und-naturschutzengagement-junger-buergerinnen-und-buerger/ [14] Schröder, J., Moebus, S.: Klimasensible Stadtplanung und Stadtentwicklung. S. 205 - 218. In: Günster, C. et al. (Hrsg.): Versorgungs-Report Klima und Gesundheit. Medizinisch Wissenschafltiche Verlagsgesellschaft Berlin, 2021. [15] Hausmann, J.: Ungleich verteilte Risiken. Heinrich Böll Stiftung, 2022: https: / / www.boell.de/ de/ 2022/ 03/ 11/ ungleich-verteilte-risiken Weitere Informationen: www.ufu.de/ projekt/ fachkongress-umweltgerechtigkeit Gefördert durch die Senatsverwaltung für Umwelt, Mobilität, Verbraucher- Klimaschutz (SenUMVK) Dipl. Geoökologin Larissa Donges Fachgebietsleiterin Klimaschutz und Transformative Bildung Unabhängiges Institut für Umweltfragen e. V. - UfU Kontakt: larissa.donges@ufu.de Alina Beigang M.Sc. Nachhaltigkeitswissenschaft Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachgebiet Klimaschutz und Transformative Bildung Unabhängiges Institut für Umweltfragen e. V. - UfU Kontakt: alina.beigang@ufu.de AUTORINNEN 61 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Städte sind einerseits Mitverursacher des Klimawandels und andererseits auch von dessen Folgen betroffen [1]. Die Anzahl der heißen Tage mit Lufttemperaturen von mehr als 30 °C sowie Hitzewellen werden in Zukunft zunehmen [2]. Hitzewellen waren in Europa von 1991 bis 2015 die Extremwetterereignisse mit den meisten vorzeitigen Todesfällen [3]. Aufgrund gesundheitlicher Folgen wie Herz-Kreislauf-Problemen und lebensbedrohlichen Hitzeschlägen und Schlaganfällen [4] hat das Thema in Städten an Bedeutung gewonnen. Die meisten Gesundheitsprobleme, die als Folge einer längeren Hitzebelastung auftreten, lassen sich jedoch verhindern bzw. behandeln, wenn die Risiken und Symptome bekannt sind und vorsorgend entsprechende Schutzmaßnahmen ergriffen werden [4]. Vor diesem Hintergrund haben verschiedene Städte in Deutschland damit begonnen, HAP zu entwickeln, die besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen vor gesundheitlichen Folgen schützen sollen [5]. Im Rahmen des BMBF-Forschungsprojektes SMARTilience (2019 - 2022) hat die Stadt Mannheim, die besonders von zunehmenden Hitzeereignissen betroffen ist, als eine der ersten deutschen Kommunen einen HAP zum Schutz und zur Prävention hilfloser hitzevulnerabler Bevölkerungsgruppen erstellt [6]. In diesem Rahmen sollen auch Organisationsstrukturen und Gremien entstehen, welche die Umsetzung © Myléne auf Pixabay Organisation des Hitzeschutzes in Kommunen Institutionelle Verankerung eines Hitzeaktionsplans am Beispiel der Stadt Mannheim Klimawandel, Hitzeschutz, Hitzeaktionsplan, Gremienbildung, Gesundheitsprävention, Kommunale Klimaanpassung Olga Izdebska, Jörg Knieling, Franziska Ulrich, Alexandra Idler, Stephanie Müller Im Rahmen des BMBF-Forschungsprojektes SMARTilience hat die Stadt Mannheim als eine der ersten deutschen Kommunen einen Hitzeaktionsplan (HAP) zum Schutz und zur Prävention hitzevulnerabler, hilfsbedürftiger Bevölkerungsgruppen erstellt. Für die erfolgreiche Umsetzung des HAP ist eine behörden- und fachübergreifende Organisation erforderlich. So kann die Bildung von Gremien innerhalb der Verwaltung dazu beitragen, Zuständigkeiten zu klären, die Zusammenarbeit der betroffenen Fachressorts zu gewährleisten und ein Netzwerk mit hitzerelevanten Einrichtungen innerhalb und außerhalb der Verwaltung aufzubauen. 62 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt der Maßnahmen koordinieren. Dieser Prozess wird in dem Folgeprojekt SMARTilienceGoesLive (2022 - 2024) durch die Projektpartner HafenCity Universität Hamburg (HCU) und Universität Stuttgart (IAT) wissenschaftlich begleitet und unterstützt. Ziel dieses Fachbeitrags ist es, Organisationslösungen und Gremienstrukturen zur Koordinierung der hitzebezogenen Gesundheitsprävention aufzuzeigen. Da das Themenfeld für die meisten Kommunen vergleichsweise neu ist, gibt es bisher erst wenige beispielhafte Lösungsansätze [5]. Deshalb wird im Folgenden der Aufbau entsprechender Organisationslösungen zunächst allgemein dargestellt. Darüber hinaus wird der Entstehungsprozess von zwei Gremien in Mannheim beschrieben. Zuletzt werden damit damit einhergehende Herausforderungen und mögliche Lösungsansätze diskutiert. Verankerung von Gremien zu hitzebezogenen Themen in der Verwaltung Damit Maßnahmen des gesundheitlichen Hitzeschutzes erfolgreich umgesetzt werden können, besteht eine maßgebliche Voraussetzung darin, dass die betroffenen fachlich zuständigen Verwaltungseinheiten einer Kommune ressortübergreifend zusammenarbeiten und sich regelmäßig und ergebnisorientiert austauschen [5, S. 16 f.]. So ermöglicht es die Bildung eines entsprechenden kommunalen Gremiums, kurzbis langfristige Maßnahmen behördenübergreifend einzuleiten und zu koordinieren [7, S. 9 ff.). Behördenübergreifende Gremien können entweder als eigenständige rechtsfähige Organisation etabliert oder von einer bestehenden Einrichtung als zeitlich begrenzte oder langfristig angelegte Organe gebildet werden. In diesen Gremien arbeiten Personen in einer Gruppe zu einer speziellen Thematik zusammen [8, S. 8]. Ziel ist es, Akteur*innen unterschiedlicher Fachgebiete zusammenzubringen, um die Aufgaben und Maßnahmen zu begleiten und möglicherweise anzupassen sowie als zentrale Anlaufstelle für thematische Fragen zu fungieren [9]. Darüber hinaus haben Gremien in Verwaltungen oft die Funktion, Entscheidungen vorzubereiten oder zu treffen [8, S. 8], zum Beispiel bei Entwürfen für neue Klimaanpassungsmaßnahmen [10]. Das Bundesumweltministerium empfiehlt, Gremien zur Umsetzung von Hitzeaktionsplänen in Gesundheitsbehörden zu etablieren [7]. In der Praxis bilden Kommunen, die bereits ein Umwelt-, Energie-oder Nachhaltigkeitsmanagement betreiben, ein solches Gremium oft in der Umweltverwaltung. So ist laut einer Online-Befragung aus dem Jahr 2020 zum Stand gesundheitlicher Hitzevorsorge von deutschen Bundesländern, Städten und Gemeinden die Hitzeprävention auf Länderebene häufig federführend beim Gesundheitsministerium angesiedelt. Auf kommunaler Ebene hingegen fallen diese Aufgaben bei jeder zweiten Stadt dem Umweltamt zu. Außerdem sind in Kommunen oft Klimaschutz- und -anpassungsbeauftragte hauptverantwortlich für das Thema zuständig [11, S. 29]. Darüber hinaus wird die Hitzeprävention in Städten und Gemeinden teilweise auch im Bau-, Energie- und Gebäudebereich bearbeitet [11]. Je nachdem, in welcher Abteilung die erforderlichen Qualifikationen und Kompetenzen vorliegen, kann die Federführung zugewiesen werden [12, S. 18 f.]. Da es neben der fachlichen Expertise insbesondere auf die Koordinationsfähigkeit ankommt, kann die Organisationseinheit auch in der Grundsatzabteilung oder in einer Stabsstelle der Behördenleitung angesiedelt werden [12]. Um Erfolg und Glaubwürdigkeit eines Gremiums in der Verwaltung zu erreichen, müssen die benötigten personellen Kapazitäten vorhanden sein. Zudem sollte das Gremium eine Weisungsbefugnis gegenüber betroffenen Fachämtern haben. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die fachlich zuständigen Organisationseinheiten die Umsetzung der Maßnahmen nicht als ihre Aufgabe betrachten und keine Verantwortung dafür übernehmen [13, S. 9]. Eindeutige Zuständigkeiten innerhalb der Verwaltung tragen dazu bei, dass die relevanten Einheiten verantwortlich gemacht werden können [5, S. 16 f.]. Für eine zielgerichtete Umsetzung ist es außerdem erforderlich, dass hitzerelevante gesundheitliche Themen priorisiert werden, insbesondere bei Zielkonflikten mit konkurrierenden Maßnahmen. Hierbei unterstützt ein politischer Beschluss, beispielsweise durch die legislativen Gremien der Stadtverwaltung, den Prozess bei der Umsetzung eines HAP. Zugleich schafft dieser Rechtsverbindlichkeit und den erforderlichen Zugang zu finanziellen und personellen Ressourcen [5]. In der Praxis hat es sich bewährt, zunächst eine informelle Organisationseinheit zu gründen, etwa in Form einer Projektgruppe oder eines Arbeitskreises [12, S. 19]. Hierbei können neben Mitarbeiter*innen mit themenrelevanten Aufgaben auch externe Fachleute, zum Beispiel aus anderen Verwaltungen, der Wissenschaft oder von Beratungsunternehmen, einbezogen werden [12]. Bei der Verankerung von Gremien in der Verwaltung lassen sich Formate und Organisationsstrukturen allerdings nicht einfach von einer auf andere Städte und Gemeinden übertragen. Daher gilt es, eine für die jeweilige lokale Situation angemessene Lösung zu finden [14]. 63 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Funktionsweise einer kommunalen Organisation zu hitzebezogenen Themen Bild 1 zeigt, wie der Informationsaustausch bei einem HAP zwischen einer koordinierenden Organisationseinheit und weiteren einzubindenden Akteur*innen wie Gesundheitsämtern und Bildungseinrichtungen erfolgen kann [7, S. 10]. So nimmt das Gremium die kommunikative Schlüsselrolle ein und lenkt die Informationsflüsse zur Umsetzung der Maßnahmen. Zudem koordiniert es die behördenübergreifende Kooperation sowie die Zusammenarbeit mit den relevanten Akteur*innen [7]. Blättner und Grewe [5, S. 14] empfehlen, die Koordination eines HAP bei der Leitung der Verwaltung anzusiedeln, um die Koordination gegenüber den Fachressorts zu stärken. Die koordinierende Stelle ist dafür verantwortlich, ein zentrales Netzwerk mit allen am HAP Beteiligten zu bilden, zum Beispiel mit den Gesundheitsbehörden, kassenärztlichen Verbänden und Träger*innen öffentlicher Einrichtungen. Im Rahmen dieses Netzwerks werden weitere zu beteiligende Institutionen, wie Krankenhäuser, Apotheken und Pflegeeinrichtungen, vor Ort identifiziert. Darüber hinaus können für eine Analyse der lokalen Gegebenheiten und die Planung konkreter Maßnahmen externe Fachleute hinzugezogen werden, etwa aus den Gesundheits-, Pflege-, Ernährungs- und Sozialwissenschaften oder der Medizin [7, S. 11]. Das zentrale Netzwerk unterstützt die Kommunen dabei, in einem partizipativen Rahmen die relevanten Institutionen bei der Erstellung eines HAPs miteinzubeziehen und gemeinsam die Zuständigkeiten der beteiligten lokalen Einrichtungen festzulegen. Diese Entscheidungen werden der koordinierenden Stelle rückgemeldet und beispielsweise in Form eines HAP festgehalten. Nach der Umsetzung der Maßnahmen - insbesondere nach akuten Hitzeereignissen - evaluieren die koordinierende Stelle, das zentrale Netzwerk sowie kommunale Mitwirkende die getroffenen Maßnahmen und Abläufe und passen daraufhin etwa die Koordination, Empfehlungen und deren Umsetzung an [7]. Für eine erfolgreiche Umsetzung von Maßnahmen zur Hitzevorsorge ist eine enge sektoren- und institutionenübergreifende Zusammenarbeit der Beteiligten unerlässlich [5]. Damit die Zusammenarbeit gelingt, müssen Aufgaben und Zuständigkeiten klar definiert und voneinander abgegrenzt werden. Außerdem empfehlen Blättner und Grewe [5, S. 19] für einen Austausch zwischen den Institutionen regelmäßige Kommunikations- und Planungsforen zu veranstalten. Demnach ist es aufgrund von Erfahrungen aus der Praxis empfehlenswert, wenn jeweils eine Ansprechperson aus den beteiligten Einrichtungen bzw. Abteilungen benannt wird [5]. Die Hitzeprävention nach außen sollte sich vor allem auf die Vernetzung von Verwaltung und externen Akteur*innen beziehen, um einen stetigen Kommunikationsfluss im Netzwerk zu generieren. Welche Plattformen und Formate des Austauschs genutzt werden, hängt von der Konstellation der Akteur*innen und den jeweiiligen Aufgaben ab. Dies können etwa Formate wie Sharepoints, Verteiler oder ein regelmäßiger Austausch ( Jour Fixe) sein [6]. Fallbeispiel Mannheim Die Stadt Mannheim hat im Rahmen ihres Anpassungskonzepts an die Folgen des Klimawandels einen HAP beschlossen, der vor allem administrative und kommunikative Maßnahmen zum Schutz der hitzevulnerableren Bevölkerungsgruppen umfasst [6, S. 7]. Damit der HAP institutionell in der Verwaltung verankert bleibt, gibt es drei unterschiedliche Organisationseinheiten: den „HAP-Steuerungskreis“, das „Koordinierungskomitee Hitze“ und „Ansprechpersonen für hitzevulnerable Gruppen“. Das Koordinierungskomitee Hitze (KKH) soll als temporär tätige Organisationsform für die Umsetzung der Akutmaßnahmen zur Prävention und zum Schutz der Bevölkerung vor Hitze hauptverantwortlich sein [6, S. 65 ff.]. Das Komitee soll immer dann zum Einsatz kommen, wenn eine Hitzewarnung der Stufe I oder II des Deutschen Wetterdienstes erfolgt und kurzfristig gehandelt werden muss. Außerdem soll es für jede der identifizierten hitzevulnerablen Gruppen eine beauftragte Person geben, die sich explizit mit den Bedarfen der betroffenen Risikogruppen beschäftigt. Diese Person soll zum einen als Ansprechpartner*in für Betroffene und deren Angehörige fungieren. Zum anderen soll sie die Umsetzung der spezifischen Maßnahmen begleiten und die Sensibilisierung, Fortbildung und Schulung des Umfelds der hitzevulnerablen Gruppe koordinieren. Bild 1: Möglicher Informationsfluss zwischen einer koordinierenden Stelle und weiteren Beteiligten bei Hitzeaktionsplänen. © Izdebska et al. (basierend auf [7]) Koordinierende Stelle (in der Leitung der kommunalen Verwaltung) Hitzewarnsystem Monitoring Überwachungssystem bildet zentrales Netzwerk mit Medien Allgemeinbevölkerung und vulnerable Gruppen Gesundheitsamt Gesundheitssektor (Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen,Ärzteschaft, Apotheken etc.) Lokale Verwaltung, weitere Ämter Sozialdienste Schulen und Kindergärten Bevölkerungsschutz Transport Wasserversorgung Energie Tourismus, Erholung etc. 64 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Der HAP-Steuerungskreis soll neben der ressortübergreifenden Koordination die gesellschaftliche Verankerung des Hitzeschutzes gewährleisten. Er setzt sich vorrangig aus zuständigen verwaltungsinternen Fachbereichen zusammen sowie aus weiteren städtischen Akteur*innen, wie beispielsweise der Feuerwehr, ambulanten und stationären Pflegeeinrichtungen und Hilfsvereinen für wohnungslose Menschen. Zum Steuerungskreis gehören dabei auch die Mitglieder des Koordinierungskomitees Hitze und die Beauftragten für die hitzevulnerablen und hilfebedürftigen Gruppen. Darüber hinaus können weitere Stakeholder zu den zweimal jährlich stattfindenden Sitzungen eingeladen werden [6]. Die Gremienbildung erfordert eine intensive Kommunikation, um eine Umsetzung und Verstetigung des HAP zu gewährleisten. Im Falle von Mannheim liegt die Federführung bei einem Tandem aus den zwei verantwortlichen Dienststellen, dem Fachbereich Jugendamt und Gesundheitsamt und dem Fachbereich Klima, Natur und Umwelt. Im März 2023 fand die zweite Sitzung des HAP-Steuerungskreises in Mannheim statt. Die verantwortlichen Personen der im HAP festgelegten Bereiche wurden im Vorfeld angeschrieben. Dies geschah vor dem Hintergrund, dass sich seit der Erstellung des HAP veränderte Zuständigkeiten sowie neue Erkenntnisse, Änderungen und Anpassungen aus der bisherigen Umsetzung ergeben hatten. Im Zuge der zweiten Sitzung des Steuerungskreises wurde auch die Etablierung des KKH in Angriff genommen. Das KKH wird seine Arbeit im Frühjahr 2023 aufnehmen. Die einzelnen Dienststellen führen bis dahin selbstständig notwendige Akutmaßnahmen zum Schutz der Bürger*innen durch. In Mannheim zeigt sich die Komplexität und Vielschichtigkeit eines HAP und damit die Bedeutung von intensiver Kommunikation und Absprachen mit relevanten Akteur*innen. Zudem erwiesen sich Sitzungen in Präsenz als zielführend im Etablierungs- und Arbeitsprozess der Gremienarbeit. Gremientreffen in Präsenz bieten zum einen die Möglichkeit des direkteren Austauschs und schaffen zum anderen mehr Verbindlichkeit für die Umsetzung der Maßnahmen des HAP. Der Mannheimer HAP wird seit 2022 über das Forschungsprojekt SMARTilience- GoesLive getragen und soll nach dessen Abschluss Anfang 2024 selbstständig in die Verantwortung der Stadtverwaltung übergehen. Ausblick Angesichts des Klimawandels leidet die Bevölkerung in vielen deutschen Städten zunehmend unter den Folgen, wie Hitze, Starkregen oder Hochwasser, was zahlreiche Konsequenzen und Herausforderungen für das Leben in Städten hat. Nach Schlicht et al. [15, S. 271] ist es ein zentrales Ziel kommunalen Handelns, die Gesundheit der Einwohner*innen zu schützen, sodass sie ihre individuellen Lebensziele verwirklichen und am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Deshalb ist es notwendig, dass sich Städte und Gemeinden unter anderem mit Hilfe von Hitzeaktionsplänen aus gesundheitlicher Perspektive auf die Klimafolge Hitze einstellen und insbesondere hitzevulnerable Bevölkerungsgruppen schützen. Dies erfordert einerseits eine ämterübergreifende Zusammenarbeit innerhalb der Stadtverwaltung und andererseits die Kooperation mit relevanten Akteur*innen aus weiteren Fachverwaltungen, Wirtschaft und Stadtgesellschaft. Die Bildung von gesonderten Organisationsformen bietet für Kommunen die Chance, gesundheitsbezogene Hitzeanpassung und -prävention behördenübergreifend zu steuern, möglichst viele betroffene Institutionen und Hilfseinrichtungen einzubinden und auf diesem Weg vulnerable Bevölkerungsgruppen zu schützen. [16] LITERATUR [1] März, S., Schüle, R., Koop, C., Peter, L. K.: Lebenswerte Straße in resilienten urbanen Quartieren (Wuppertal Report 17). Nature Communications, 11/ 3357 (2020) S. 6. Verfügbar unter: https: / / www.nature.com/ articles/ s41467-020-16970-7 [25.02.2023]. [2] Riechel, R., Wiemer, K.: Hitze, Trockenheit und Starkregen. Auswirkungen auf die Städte. In: Deutscher Städte- und Gemeindebund (Hrsg.). Hitze, Trockenheit und Starkregen. Klimaresilienz in der Stadt der Zukunft. Berlin, (2021) S. 6 - 9. (Abrufbar unter: https: / / repository.difu.de/ handle/ difu/ 583398 [25.02.2023]. Bild 2: Gremien im HAP der Stadt Mannheim. © Stadt Mannheim 2021 HAP Steuerungskreis Koordinierungskommitee Beauftragte für die jeweiligen Risikogruppen 65 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt [3] Perkins-Kirkpatrick, S. E., Lewis, S. C.: Increasing trends in regional heatwaves. Nature Communications, 11/ 3357 (2020) S. 2. Verfügbar unter: https: / / www.nature.com/ articles/ s41467-020-16970-7 [14.04.2023]. [4] Cúrić, M., Zafirovski, O., Spiridonov, V.: Essentials of Medical Meteorology. Cham: Springer Nature (2022) S. 188. Verfügbar unter: https: / / link.springer. com/ content/ pdf/ 10.1007/ 978-3- 030 -80975 -1.pdf [16.03.2023]. [5] Blättner, B., Grewe, H. A.: Arbeitshilfe zur Entwicklung und Implementierung eines Hitzeaktionsplans für Städte und Kommunen. Public Health Zentrum Hochschule Fulda, Fulda (2021) S. 13 f. Verfügbar unter: https: / / www.hamburg.de/ contentblob/ 16861706/ 7 97e8ee56aef 73dda12922fa1e78d2c8/ data/ arbeitshilfe-zur-entwicklung-und-implementierung-eineshitzeaktionsplans-fuer-staedte-und-kommunen.pdf [25.02.2023]. [6] Stadt Mannheim: Mannheimer Hitzeaktionsplan, Mannheim, (2021) S. 17. Abrufbar unter: https: / / buergerinfo.mannheim.de / buergerinfo/ get f ile. asp? id=8162889&%3Btype=do [27.02.2023]. [7] GAK (Bund/ Länder Ad-hoc Arbeitsgruppe Gesundheitliche Anpassung an die Folgendes Klimawandels). Handlungsempfehlungen für die Erstellung von Hitzeaktionsplänen zum Schutz der menschlichen Gesundheit. DOI 10.1007/ s00103-017-2554-5. Bundesgesundheitsblatt 60, (2017) S. 662 - 672. [8] Nullmeier, F., Pritzlaff T., Weihe, A. C., Baumgarten, B.: Entscheiden in Gremien. Von der Videoaufzeichnung zur Prozessanalyse. Qualitative Sozialforschung, Bd. 17. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, (2008), S. 8. [9] Link, G., Krüger, C., Rösler, C., Bunzel, A., Nagel, A., Sommer, B.: Klimaschutz in Kommunen. Praxisleitfaden (3., aktualisierte und erweiterte Auflage), Deutsches Institut für Urbanistik (Hrsg.), (2018). Verfügbar unter: https: / / repository.difu.de/ handle/ difu/ 248422 [14.04.2023]. [10] Landeshauptstadt München, Referat für Gesundheit und Umwelt: Konzept zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels in der Landeshauptstadt München, (2016). [11] Kaiser, T., Kind, Ch., Dudda, L., Sander, K.: Klimawandel, Hitze und Gesundheit: Stand der gesundheitlichen Hitzevorsorge in Deutschland und Unterstützungsbedarf der Bundesländer und Kommunen. UMID - Umwelt + Mensch Informationsdienst 01/ 2021, (2021) S. 27 - 37. [12] Huckestein, B.: Der Weg zur treibhausgasneutralen Verwaltung. Etappen und Hilfestellungen [Broschüre]. Berlin: Umweltbundesamt, (2020). Verfügbar unter: https: / / www.umweltbundesamt.de/ publikationen/ der-weg-zur-treibhausgasneutralen-verwaltung [11.04.2023]. [13] Behr, F.: Kommunikation und Beteiligung—Gestaltung von Kampagnen sowie die Förderung von Netzwerken und Selbstorganisation im kommunalen Klimaschutz. Ergebnisse aus dem Projekt Klima-initiative Essen für Wissenschaft und Praxis, Essen, Nr. 7, (2016). [14] Hertle, H.. Gugel, B.. Herhoffer, V.: Personelle Verstetigungsmodelle im kommunalen Klimaschutz. Aus dem Projekt „Klima-KomPakt Bedarfserfassung, Beteiligung und Verstetigung im kommunalen Klimaschutz, (2020). Verfügbar unter: https: / / www.ifeu. de/ fileadmin/ uploads/ Verstetigungsmodelle_Klima- KomPakt_2000331_ifeu.pdf [14.04.2023]. [15] Schlicht, W., Bucksch, J., Kohlmann, C. W., Renner, B., Steinacker, J., Walling, F.: Die „gesunde Kommune“ im Lichte „großer Wenden“ - ein sozialökologisch fundiertes Ziel kommunaler Gesundheitsförderung (KoGeFö). Prävention und Gesundheitsförderung, 17, (2021) S. 266 - 274. Abrufbar unter: https: / / link. springer.com/ article/ 10.1007/ s11553- 021- 00889-y [16.03.2023]. [16] Deutscher Städtetag: Anpassung an den Klimawandel in den Städten Forderungen, Hinweise und Anregungen. Berlin und Köln: Deutscher Städtetag, (2019). Verfügbar unter: https: / / www.staedtetag. de/ files/ dst/ docs/ Publikationen/ Weitere-Publikationen/ 2019/ klimafolgenanpassung-staedte-handreichung-2019.pdf [11.04.2023]. Olga Izdebska, M.Sc. Fachgebiet Stadtplanung und Regionalentwicklung HafenCity Universität Hamburg Kontakt: olga.izdebska@hcu-hamburg.de Alexandra Idler Fachbereich Klima, Natur, Umwelt Projektkoordination SmartilienceGoesLive Stadt Mannheim Kontakt: alexandra.idler@mannheim.de Prof. Dr.-Ing. Jörg Knieling Leiter des Fachgebiets Stadtplanung und Regionalentwicklung HafenCity Universität Hamburg Kontakt: joerg.knieling@hcu-hamburg.de Franziska Ulrich, B.Sc. Wissenschaftliche Hilfskraft Fachgebiet Stadtplanung und Regionalentwicklung HafenCity Universität Hamburg Kontakt: franziska.ulrich@hcu-hamburg.de Stephanie Müller Fachbereich Jugendamt und Gesundheitsamt Koordination Hitzeaktionsplan Stadt Mannheim Kontakt: stephanie.mueller@mannheim.de AUTOR*INNEN 66 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Ausgangslage Der Klimawandel ist bereits Realität: In den letzten Jahren haben Hitzewellen und Dürren einerseits sowie Starkregen und Überschwemmungen andererseits städtische Gebiete bedroht. Die Überflutungen im Sommer 2021 im Ahrtal und Hagen haben mehreren Menschen das Leben gekostet und es entstand ein Schaden in Millionenhöhe. Gleichzeitig zeichnen extrem heiße Sommer wie 2018, 2019 und 2020 bereits jetzt signifikante Anzahlen hitzebedingter Sterbefälle auf [1]. Städte sind besonders anfällig und die Auswirkungen des Klimawandels sind hier besonders spürbar: Enge Straßen, wenig Stadtgrün und eine hohe Flächenversiegelung führen zum Urban Heat Island Effect (dem urbanen Wärmeinseleffekt). Überflutungen durch Starkregen sind das andere Extrem: In kurzer Zeit fällt so viel Niederschlag, der von der Kanalisation nicht aufgenommen werden kann. Je nach Topographie staut sich das Wasser auf den versiegelten Flächen Bild 1: iResilience Auftaktplenum Dortmund Juni 2019. © iResilience Nur gemeinsam kann Klimaanpassung gelingen Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt iResilience Reallabore, Bürgerbeteiligung und Teilhabe, innovative Planungsmethoden Stephanie Bund, Christine Linnartz, Rick Hölsgens Das Thema Klimaanpassung betrifft nicht nur unterschiedliche Abteilungen einer Stadtverwaltung, sondern auch die Bürger*innen: Das Alltagsleben wird zum Beispiel durch Hitzewellen massiv beeinträchtigt oder das Eigentum durch eine Überflutung in Folge von Starkregen beschädigt. Dabei können sich die betroffenen Menschen bereits mit kleinen Mitteln, wie Verhaltensänderungen oder baulichen Maßnahmen, effektiv an den Klimawandel anpassen. Noch wirksamer werden Maßnahmen jedoch, wenn sie als Maßnahmenpaket gemeinsam mit der Stadtverwaltung oder Stadtentwässerung gedacht werden. Es ist dementsprechend enorm wichtig, gemeinsam Lösungen zur Anpassung an den Klimawandel zu entwickeln. Zwischen 2018 und 2022 initiierte das Projekt „iResilience“ drei Reallabore auf Quartiersebene in Köln und Dortmund. Dazu wurden zunächst Freiwillige aus Bevölkerung und Verwaltung gewonnen, die Interesse hatten, in einem gemeinsamen Arbeitsprozess Klimaanpassungs-Lösungen mit dem Projektteam zu planen (Ko-Planung). Die Lösungen sollten sich auf die Themenfelder Hitze und Gesundheit, urbanes Grün und Überflutungsvorsorge beziehen. 67 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt und kann zum Beispiel in Gebäude eindringen und sie beschädigen. Die Anpassung an den Klimawandel ist eine relativ neue und komplexe Herausforderung für Städte, die lokales Handeln erfordert und sowohl technische als auch soziale Dimensionen umfasst [2]. Die Anpassung an den Klimawandel betrifft nicht nur unterschiedliche Abteilungen einer Stadtverwaltung, sondern alle, die in einem Quartier wohnen und/ oder sich dort aufhalten, sodass es wichtig ist, integrierte Maßnahmen mit allen Zielgruppen, einschließlich Bürgerinnen und Bürgern gemeinsam zu entwickeln und umzusetzen. Wie dies auf lokaler Ebene im Quartier gelingen kann, wurde im Projekt „iResilience“ erforscht und ausprobiert. Über das Projekt iResilience Das Forschungsprojekt iResilience (2018 - 2022, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)) konzentrierte sich auf diese Komplexität der Herausforderungen des Klimawandels, zu denen die Schwierigkeit gehört, die kommunalen Dienststellen, sowie die Anwohnenden zu integrieren. Resilienter gegenüber den Folgen des Klimawandels zu werden bedeutet nicht nur, die bauliche Umgebung anzupassen, sondern umfasst auch die Sensibilisierung der Bürgerinnen und Bürger für die Auswirkungen des Klimawandels sowie die daraus resultierenden Verhaltensänderungen zur Anpassung an Hitze und Starkregen [3, S. 111]. Insbesondere Verhaltensänderungen sind vergleichsweise leicht umzusetzen und besonders effektiv (zum Beispiel ein veränderter Tagesablauf in Hitzeperioden). In drei Reallaboren (Köln Deutz, Dortmunder Innenstadt-Nord, Dortmund-Jungferntal) wurde im Zeitraum von 2,5 Jahren ein Raum für gemeinsames Arbeiten zwischen Wissenschaft, Stadtverwaltung und Bürgerschaft geschaffen. Schwerpunktthemen der Reallabore waren Hitze und Gesundheit, urbanes Grün sowie Überflutungsvorsorge. Der Rahmen des Reallabors wurde gewählt, da hier oft transdisziplinäre Forschung und transdisziplinäres Wissen im Mittelpunkt stehen. Kernanforderungen an transdisziplinäre Forschung und Zusammenarbeit sind, dass sich die Arbeit auf gesellschaftlich relevante Problemstellungen bezieht, den Lernprozess unterschiedlicher akademischer und nicht-akademischer Akteur*innen und Disziplinen in den Mittelpunkt stellt und versucht, lösungsorientiertes Wissen zu generieren [4]. Drei Arten von Wissen sind entscheidend: 1. Systemwissen, also Wissen über den Status quo, 2. Orientierungswissen, also Wissen darüber, wie eine wünschenswerte Zukunft aussehen kann und wie nicht und 3. Transformationswissen, also Wissen, wie man vom Status quo in eine wünschenswerte Zukunft gelangt [5]. Ein weiteres Ziel der Reallabore ist es, vom Wissen zum Handeln zu gelangen. Da es bereits viele Forschungsergebnisse dazu gibt, wie zum Beispiel Straßen und Plätze klimawandel-angepasst gestaltet werden können, aber kaum welche dazu, wie man insbesondere Bürger*innen motiviert, erschien der Rahmen des Reallabors zielführend. Der Ansatz in iResilience basierte darauf, das Reallabor hinsichtlich der relevanten/ gewünschten Fragestellungen kollaborativ zu gestalten (Ko-Design) sowie gemeinsam Lösungen zu finden und umzusetzen (Ko-Planung) [6]. Ziel war es, neue Wege der Zusammenarbeit zwischen Stadtverwaltung, Anwohnenden und lokalen Unternehmen zu ermöglichen, um die Entwicklung von Maßnahmen zur Stärkung der urbanen Resilienz auf der Grundlage einer sozial innovativen Zusammenarbeit zu fördern. Für den Erfolg der lokalen Klimaanpassung ist es elementar wichtig, dass alle Akteur*innen zusammenarbeiten und ins Handeln kommen. Wie kann eine umfassende Akteursansprache gelingen? Während des 2,5-jährigen Dialog- und Beteiligungsprozesses wurden vielfältige Möglichkeiten, unterschiedliche Zielgruppen, wie beispielsweise Bürger*innen, lokaler Einzelhandel, Initiativen, aber auch städtische Kolleg*innen, zu erreichen, umgesetzt: Zu Beginn wurde daher mit einer Kommunikationsagentur ein farbenfrohes, fröhliches Corporate Design entwickelt, das ins Auge springt. Dazu wurden ein Logo und ein Claim entwickelt, der das Thema des Reallabors auf den Punkt bringt. So konnten alle Materialien (Flyer, Plakate, aber auch die Webseite und Präsentationen) einheitlich und Bild 2: Gemeinsames Treffen in der Kasemattenstraße. © iResilience 68 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt ansprechend gestaltet werden. Im Verlauf des Projekts wurden verschiedene Anspracheformen für verschiedene Zielgruppen entwickelt [7, 8]: Zielgruppe: Kolleg*innen der Fachämter und der Stadtentwässerung Um das Projekt in den jeweiligen Städten zu verankern, gab es jeweils eine Mitarbeiterin, die direkt bei der Stadt Dortmund bzw. bei der Stadt Köln und den Stadtentwässerungsbetrieben Köln angestellt war. Das erlaubte nicht nur den Zugriff auf die entsprechende Infrastruktur samt Zugriff auf das Telefonbuch, sondern ermöglichte auch, dass die Person als Kollegin wahrgenommen wurde. Um verschiedene Vertreter*innen der Fachämter und der Stadtentwässerung für das Projekt zu gewinnen, wurden Treffen bespielsweise des Arbeitskreises Klimawandelanpassung genutzt. Auch erfolgte die Kontaktaufnahme über Empfehlungen. Zielgruppe: Bereits Engagierte In vielen Vierteln gibt es bereits eine Reihe von Menschen, die sich für ihr Viertel engagieren. Diese kann man meist mit Hilfe von Schlüsselpersonen erreichen. Diese Schlüsselpersonen sind gut in ihrem Viertel vernetzt und wissen, wen man für welches Thema ansprechen kann. In iResilience wurde beispielsweise eine Gruppe von Seniorinnen über diese Methode angesprochen und für die Zusammenarbeit gewonnen. Zielgruppe: Passanten; Menschen, die sich noch nicht engagieren, es aber gerne wollen Natürlich gibt es in einem Viertel auch Menschen, die sich für ein Thema interessieren, aber sich bisher noch nicht in dem Bereich engagieren. Diese für ein Projekt zu gewinnen, ist durchaus schwierig, da es kaum Berührungspunkte gibt. In iResilience wurde daher auf Präsenz besonders im öffentlichen Raum der Fokus gelegt: So wurde zum Beispiel mit einer Sprayaktion die Aufmerksamkeit auf das Thema Hitze und Überhitzung von Stadträumen gelegt. Oder an einem überflutungsgefährdeten Bereich wurde mit Hilfe einer Open-Air Ausstellung (Plakate auf Plane) auf die mögliche Gefahr und auf Lösungsmöglichkeiten hingewiesen. Bei beiden Methoden gab es die Möglichkeit anhand von Flyern, mehr Informationen zum Projekt zu erhalten und sie als eine Art „Gedankenstütze“ mit nach Hause nehmen zu können. Diese Beispiele zeigen, wie das Projekt im Alltag für die Menschen im Quartier sichtbar wurde. Durch die charakteristischen Farben konnte man Elemente gut wiedererkennen. Wie kann gemeinsame Klimaanpassung gelingen? Gemeinsam mit den durch die verschiedenen Methoden gewonnenen Menschen wurden Klimaanpassungsmaßnahmen entwickelt: Hier wurde als ein zentrales Format der Zusammenarbeit die Lokale Aktionsgruppe (LAG) eingesetzt. Dieses ist ein neues und innovatives Format der Partizipation, Kollaboration und Kooperation. Während der Projektlaufzeit wurden verschiedene LAGs in allen drei Schwerpunktthemen gebildet. Mit der Implementierung von LAGs folgte das Forschungsprojekt dem Verständnis von sozialer Innovation als neuartigem Ansatz, komplexe Probleme mit neuen zielgerichteten Praktiken und Strategien zu bewältigen [8]. Betroffene, engagierte und interessierte Menschen aus dem jeweiligen Quartier setzten sich in den LAGs mit zuständigen Akteuren zusammen und entwickelten gemeinsam Maßnahmen zur Klimaanpassung. Durch diese Art der Kooperation und Zusammenarbeit wurden die Menschen in den drei Reallaboren befähigt, Wissen zu teilen und neues Wissen zu generieren, Eigenverantwortung zu übernehmen, Verantwortung zu teilen, neue Entscheidungsstrukturen zu entwickeln und zu nutzen sowie Netzwerke aufzubauen oder bestehende Netzwerke zu vertiefen. Darüber hinaus wurde übertragbares Praxiswissen generiert, welches anderen Quartieren in den beiden Städten sowie anderen Städten zur Verfügung steht [9]. Nicht nur aufgrund der Corona-Pandemie war es jedoch schwierig, ausreichend Bürger*innen für die Zusammenarbeit zu begeistern. Dass für das Forschungsprojekt zu Beginn zwei Mitarbeitende auf Seiten der Städte eingestellt wurden, die ausschließlich für das Forschungsprojekt tätig waren, erwies sich daher als gewinnbringend für den gesamten Beteiligungsprozess, da so unmittelbar jemand vor Ort war und das Forschungsprojekt sowohl für die Kolleg*innen von Stadt und Stadtentwässerung, als auch für die Bürger*innen sichtbar war. Learnings aus der Reallaborarbeit in drei Quartieren Der Mehrwert des Formats der Lokalen Aktionsgruppen wird in dem Drehbuch des Projekts [9] im Detail erläutert. Die wichtigsten Learnings sollen an dieser Stelle dargestellt werden. Das Besondere von Lokalen Aktionsgruppen ist, dass verschiedene Akteure an einem Thema zusammenarbeiten. Die Gruppen waren sehr unterschiedlich in Bezug auf Mitglieder, Thema, Arbeitsprozess und Ergebnis. Die Themen sollten sich vorzugsweise 69 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt auf reale, lokale Probleme fokussieren, zum Beispiel auf einen Teil einer Straße, der aufgrund starker Regenfälle besonders überflutungsgefährdet ist. Ein weiterer zentraler Aspekt der LAG ist, dass ein gemeinsamer Arbeitsprozess auf Augenhöhe entstehen soll. Um insbesondere die Anwohnerinnen und Anwohner und die lokale Wirtschaft zu motivieren, war es wichtig, das Bewusstsein für Problematik und Möglichkeiten des Engagements zu schärfen. Als Ergebnis des Lern- und Beteiligungsprozesses lässt sich zusammenfassen, dass es wichtig ist, die bisherige Praxis des Zusammenspiels von Verwaltung, Politik und Bürgerschaft zu überdenken und einen positiven Ansatz zu verfolgen. Die Arbeit auf Quartiersebene hat die Identifikation der Beteiligten mit den Themen und Orten gefördert. Auch neue Netzwerke und Kooperationen zwischen Zivilgesellschaft und Initiativen sowie zwischen verschiedenen Initiativen wurden gefördert. Bestehende Netzwerke sind enger zusammengewachsen und das Thema Klimaresilienz ist in den Reallaboren präsenter geworden. Darüber hinaus ermöglichte das LAG-Format im Kontext eines Reallabors einen Rollenwechsel gegenüber den zuvor eher standardisierten Planungsprozessen mit ihren Beteiligungsangeboten. Die Rolle des Experten oder des Kritikers (und anderer) wurde in einem LAG-Prozess nie festgelegt. Jeder LAG-Akteur durfte sich im Rahmen des Prozesses neu positionieren. Die Zusammenarbeit innerhalb einer LAG förderte die Bereitschaft, andere Werte ernst zu nehmen und die Bereitschaft, von anderen zu lernen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das LAG-Format eine bestehende personelle, organisatorische und kommunikative Lücke in aktuellen Planungsprozessen schließt. Im Hinblick auf eine lokale Verankerung der LAGs bieten die im Projekt gemachten Erfahrungen Anknüpfungspunkte, zum Beispiel für bestehende Instrumente der Städtebauförderung. Das Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) unter dem Förderkennzeichen 01LR1701 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. LITERATUR: [1] Winklmayr, C., Muthers, S., Niemann, H., Mücke, H.G., an der Heiden, M.: Heat-related mortality in Germany from 1992 to 2021. Dtsch Arztebl Int 119 (2022) S. 451 - 7. DOI: 10.3238/ arztebl.m2022.0202 [2] Shi, C., Guo, N., Zeng, L., Wu, F.: How climate change is going to affect urban livability in China. Climate Services, 26 (3), (2022) S. 100284. [3] Umweltbundesamt: Deutschland im Klimawandel: Anpassungskapazität und Wege in eine klimarobuste Gesellschaft 2050, Ufoplan Endbericht, 2014. Forschungskennzahl FKZ 3711 41 102. [4] Lang et al.: Transdisciplinary research in sustainability science: Practice, principles, and challenges. Sustainability Science, (2012) S. 27. [5] Schäpke, N., Stelzer, F., Bergmann, M., Singer-Brodowski, M., Wanner, M., Guido et al.: Reallabore im Kontext transformativer Forschung. Ansatzpunkte zur Konzeption und Einbettung in den internationalen Forschungsstand. Leuphana Universität Lüneburg, Institut für Ethik und Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung, 2017. [6] Ukowitz, M.: Transdisziplinäre Forschung in Reallaboren. Ein Plädoyer für Einheit in der Vielfalt. GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society 26 (1) (2017) S. 9 - 12. [7] Hölsgens, R., Bund, S., Linnartz, C., Roth, A., Welling, A.- C.: Dem Klimawandel gemeinsam mit Bürger*innen begegnen. Strategien zur Mobilisierung und Vernetzung von organisierter und unorganisierter Zivilgesellschaft. In: SynVer*Z (Hrsg.) Reallabore urbaner Transformation Methoden, Akteure und Orte experimenteller und ko-produktiver Stadtentwicklung am Beispiel der BMBF-Zukunftsstadtforschung. (2022) S. 27 - 31. [8] Howaldt, J., Schwarz, M.: Soziale Innovation. Living reference work entry; in: Blättel-Mink, B., Schulz-Schaeffer, I., Windeler, A. (Hrsg.): Handbuch Innovationsforschung; S. 978-3-658-17671-6 ; Wiesbaden: Springer VS, 2019. [9] Welling, A.-C., Roth, A., Linnartz, C., Bauer, C., Bund, S., Hölsgens, R.: Reallabore für eine klimaresiliente Quartiersentwicklung - ein Drehbuch. Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt iResilience, 2022. http: / / iresilience-klima.de/ wp-content/ uploads/ 2022/ 04/ iRes- Reallabore -f %C 3%BCreine -klimaresiliente - Quartiersentwicklung-ein-Drehbuch-2022.pdf Stephanie Bund Wissenschaftliche Mitarbeiterin Sozialforschungsstelle der Technischen Universität Dortmund Kontakt: Stephanie.bund@tu-dortmund.de Christine Linnartz Projektleitung Klimaanpassung Stadtentwässerungsbetriebe Köln (StEB Köln) Kontakt: Christine.linnartz@steb-koeln.de Dr. Rick Hölsgens Wissenschaftlicher Mitarbeiter Sozialforschungsstelle der TU Dortmund Kontakt: henricus.hoelsgens@tu-dortmund.de AUTOR*INNEN 70 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Der Klimawandel ist längst auch in Deutschland angekommen und zeigt sich durch häufigere und intensiver werdende Wetterextreme wie Starkniederschläge, Dürren oder Hitzeperioden, aber auch an schleichenden Veränderungen [1, 2]. Viele Kommunen stellt das bereits jetzt vor spürbar wachsende Herausforderungen. Während das Thema Klimaschutz mittlerweile in zahlreichen kommunalen Maßnahmen und Instrumenten verankert und in Verwaltungsaufgaben abgebildet ist, steht das Thema Klimaanpassung vielerorts noch ganz am Anfang. Dabei kommt den Kommunen als Umsetzungsakteuren im politischen Mehrebenensystem eine besondere Bedeutung zu [3]. Wie sich allerdings zeigt, haben insbesondere kleine und mittlere Kommunen Schwierigkeiten, der Bandbreite an Herausforderungen gerecht zu werden. Mit kleinen und mittleren Kommunen sind Städte und Gemeinden mit weniger als 100 000 Einwohner*innen (EW) gemeint, in denen etwa 60 % der deutschen Bevölkerung leben und auf die über 90 % der Gesamtfläche Deutschlands entfallen [4, 5, 6]. Klimaanpassungsmaßnahmen erfordern oft (aber nicht immer) große Investitionen und sehr häufig themenübergreifendes Agieren - quer zur Handlungslogik von Verwaltungseinheiten. Gemäß den föderalen Finanzbeziehungen sind kleine und mittlere Kommunen in der Regel mit weniger Finanzkraft ausgestattet als große Kommunen, auch sind ihre Verwaltungsstrukturen weniger ausdifferenziert oder spezialisiert. Die Fachbereiche, Ressorts oder Abteilungen, in denen die Zuständigkeit für das Thema Klimaanpassung verortet wird, unterscheiden sich mitunter stark. Die Perspektiven auf die Herausforderung des Querschnittsthemas können daher unter anderem in Abhängigkeit der Kommunengröße sehr unterschiedlich ausfallen [7,-8]. Forschungsprojekt und Kommunalbefragung zu Wissensbedarfen in den Kommunen Der Blick auf Wissensbestände und -bedarfe von Mitarbeiter*innen in den Kommunalverwaltungen, die für Klimaanpassung zuständig sind, ist Ausgangspunkt eines transdisziplinären Forschungsprojekts „WissTransKlima - Wissenstransfer für eine bessere Klimaanpassung in Kommunen“, das vom „Fachzentrum Klimawandel und Anpassung“ (FZK) des Hessischen Landesamts für Naturschutz, Umwelt und Geologie (HLNUG) gefördert wird [9]. Das Ziel des Projekts ist es, Formate zu entwickeln, die relevantes Klimaanpassungswissen für Entscheidungsträger*innen und Stakeholder leichter zugänglich macht, um auf diese Weise kommunalen Anpassungsfortschritte zu ermöglichen. Als empirische Grundlage hierfür dient eine Online- Kommunalbefragung, die nachfolgend in Auszügen vorgestellt wird. Ziel der Befragung war es zu erfahren, welche Klimaanpassungsmaßnahmen durch die Kommunen bereits umgesetzt oder geplant wurden und wie die erfolgreiche Umsetzung von Maßnahmen zur Klimaanpassung noch besser unterstützt werden kann. Zum besseren Verständnis der Herausforderungen, die mit der Bearbeitung des Themas verbunden sind, wurde hierfür das vorhandene Erfahrungs- und Wissensspektrum von den zuständigen Mitarbeiter*innen in den Kommunen abgefragt sowie die aus ihrer Sicht bestehenden Defizite und Wissensbedarfe. Darüber hinaus ging es in der Um- Wissenstransfer für Klimaanpassung Ergebnisse einer Kommunalbefragung in Hessen Klimaanpassung, Hessen, Kommunalbefragung Thomas Friedrich, Verena Rossow Neben dem kommunalen Klimaschutz erfährt die kommunale Klimaanpassung zunehmend an Aufmerksamkeit und entsprechend stark steigt das Fördervolumen. Kleine wie große Städte stellt die Klimaanpassung dabei vor teils große Herausforderungen, denn um Kommunen zu befähigen, Klimaanpassungsmaßnahmen umzusetzen, braucht es neben personellen und finanziellen Ressourcen auch aufbereitete Wissensangebote unterschiedlicher Art. Welche Angebote dabei überhaupt sinnvoll sind und wie sich die Bedarfe nach Kommunengröße unterscheiden können, zeigt eine aktuelle Kommunalbefragung in Hessen, die im Rahmen eines transdisziplinären Forschungsprojekts durchgeführt wurde. 71 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt frage auch um die Zusammenarbeit und Kommunikation zwischen den unterschiedlichen (Fach-)Abteilungen einer Kommune und der Frage, was sich verbessern müsste, damit Kommunen verstärkt wirksame Anpassungsmaßnahmen realisieren können. Methodik Die Online-Befragung wurde in hessischen Kommunen von August bis September 2022 durchgeführt. Hierfür wurden zuvor recherchierte Verwaltungsmitarbeitende aus allen 422 hessischen Städten und Gemeinden sowie aus den 21 hessischen Landkreisen angeschrieben. Dies waren insbesondere auch Personen, die für das Thema Klimaschutz zuständig waren. In einem personalisierten Anschreiben wurden diese dann gebeten an der Umfrage teilzunehmen - oder diese an andere Kolleg*innen weiterzuleiten, die für das Thema Klimaanpassung zuständig oder sprechfähig sind. Da ausdrücklich gewünscht war, dass auch mehrere Personen aus einer Kommune an der Befragung teilnehmen können, sind die Ergebnisse zwar nicht repräsentativ, geben dafür aber einen multiperspektivischen Einblick in das „Innenleben“ der Kommunalverwaltungen. Der Rücklauf der Onlinebefragung lag nach Abzug der abgebrochenen und ungültigen Fragebögen bei 175 Fällen. Das bedeutet, dass 175 Personen den Fragebogen vollständig ausgefüllt haben. Rückschlüsse auf konkrete Kommunen oder Personen der Befragung haben wir methodisch (anonymisierte Teilnahme) ausgeschlossen. Die Klassifizierung der Kommunengröße bzw. Anzahl der EW erlaubt jedoch ein differenziertes Bild vom Ist-Zustand in den Kommunen zu zeichnen. Die Verteilung der Kommunengröße in der Befragungs-Stichprobe liegt - wie ein nachträglicher statistischer Abgleich ergab - nah an der tatsächlichen Verteilung in Hessen. Nachfolgend werden vier Kategorien von Kommunengrößen unterschieden: Landgemeinden (bis 5 000 EW, n = 27), kleine und größere Kleinstädte (5 000 bis 20 000, n = 103), Mittelstädte (20 000 bis 100 000 EW, n = 32) und Großstädte sowie Landkreise (100 000 EW und mehr, n = 13). Wissenstransferangebote Mit Blick auf die Frage, wie der Wissenstransfer bei der kommunalen Klimaanpassung verbessert werden kann, zeigen die Befragungsergebnisse, dass es zunächst wichtig ist, nach Wissensarten zu unterscheiden. Um Klimaanpassungsmaßnahmen erfolgreich umsetzen zu können, braucht es eine Vielzahl von Daten und Informationen - zum Beispiel von naturwissenschaftlichem Wissen zu den Zusammenhängen des Klimawandels allgemein (Ursachen, globale Auswirkungen usw.) über Wissen zur spezifischen Betroffenheit einer Kommune in unterschiedlichen Handlungsfeldern (Verkehrsinfrastruktur, Gebäude, Wasserwirtschaft etc.) bis hin zu Wissen über Möglichkeiten zur Schaffung sozialer Akzeptanz oder Mitwirkungsbereitschaft für konkrete Anpassungsmaßnahmen. Zu verstehen, wie diese unterschiedlichen Wissensarten jeweils in der Verwaltung verteilt sind, ist eine wichtige Voraussetzung dafür, zielgerichtet angemessene Wissenstransferangebote entwickeln zu können. Ein wichtiger Faktor ist dabei die Kommunengröße: So zeigt sich etwa, dass die Befragten aus Landgemeinden und Kleinstädten angaben, am wenigsten über naturwissenschaftliches Klimaanpassungswissen zu verfügen. Ein genauer Blick offenbart zudem, dass sie mehr Bedarf an Wissen über ganz konkrete Handlungs- und Anpassungsoptionen äußerten als Mitarbeitende größerer Kommunen. In der Kommunalbefragung ging es auch um die Wissensvermittlung und den Wissenserwerb entlang verschiedener Formate. Auch hier zeigen sich Unterschiede bei den Kommunengrößen: Während kleine Kommunen vor allem Praxisleitfäden, Einzelberatungen und Exkursionen beispielsweise in Best-Practice-Kommunen bevorzugen, wünschen sich die Mitarbeitenden aus den mittleren und großen Kommunen eher Checklisten, Handreichungen, Präsentationsvorlagen oder Argumentationshilfen (Bild 1). Gerade für die letzten beiden wird bei den kleinen Kommunen kaum Bedarf gesehen. Dies gilt auch für wissenschaftliche Vorträge, die von den Mitarbeitenden in kleinen Kommunen am wenigsten gewünscht werden. 51,9% 59,3% 55,6% 63,0% 40,7% 18,5% 7,4% 11,1% 74,5% 62,7% 73,5% 51,0% 47,1% 25,5% 29,4% 22,5% 71,9% 75,0% 50,0% 43,8% 56,3% 43,8% 40,6% 46,9% 71,4% 71,4% 57,1% 42,9% 64,3% 50,0% 42,9% 64,3% bis 5.000 EW 5.000 bis < 20.000 EW 20.000 bis < 100.000 EW mind. 100.000 EW Bild 1: Frage: „Welche der folgenden Informations- und Beratungsangebote würden Sie in Anspruch nehmen? “ (Mehrfachauswahl möglich, n = 175). © Friedrich, Rossow 72 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Ein interessantes Bild zeigt sich auch bei der Frage, was sich aus Sicht der Befragten ändern müsste, damit ihre Kommune verstärkt Klimaanpassungsmaßnahmen plant und umsetzt. Wie in Bild 2 über alle Kommunengrößen hinweg dargestellt ist, werden Bedarfe nach Personal und Finanzen mit Abstand am häufigsten genannt (blau). Während jedoch dem Mangel an finanziellen Ressourcen und Personal durch Wissenstransferformate nicht beizukommen ist, könnten diese bei den anderen Antwortkategorien (orange) korrigierend wirken. Welche Wissens- und Beratungsangebote diese Maßnahmenhürden am besten adressieren können, wird im Projekt in einem nächsten Schritt gemeinsam mit ausgewählten Kommunen entwickelt. Dem Bedarf nach mehr Informationen zur Entscheidungsunterstützung, Beantragung von Fördermitteln und anderen Wissensangeboten im noch jungen Feld der kommunalen Klimaanpassung, wird zunehmend entgegengekommen [10]. In den letzten Jahren wurden neue Wissenstransferangebote für Kommunen geschaffen und jüngst wurde das 9% 27% 30% 38% 41% 43% 46% 49% 74% 84% 84% Sonstiges mehr Rückendeckung durch die Leitungsebene mehr Akzeptanz durch die lokale Wirtschaft mehr Austausch- und Vernetzung mit anderen Kommunen mehr Akzeptanz durch die Bürgerinnen und Bürger bessere Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Verwaltungsbereichen mehr fachspezifisches Wissen und verlässliche Daten mehr Unterstützung durch die Kommunalpolitik mehr qualifiziertes Personal zusätzliche finanzielle Ressourcen mehr Zeit für vorhandenes Personal 7,4% 44,4% 73,5% 90,6% 100,0% 37,0% 19,6% 9,4% 11,1% 6,9% bis 5.000 EW 5.000 bis < 20.000 EW 20.000 bis < 100.000 EW mind. 100.000 EW keine Angabe stimme eher zu stimme eher nicht zu weiß nicht / bin unsicher Linear (stimme eher zu) bundesweit agierende „Zentrum KlimaAnpassung“ gegründet [11], das mit seinen vielfältigen Vernetzungs- und Beratungsangeboten Kommunen unterstützt, erste oder weitere Schritte in ihren Klimaanpassungsbemühungen zu gehen. Auf Nachfrage im Fragebogen nach der Bekanntheit des Angebots des „Zentrum KlimaAnpassung“ zeigte sich jedoch auch ein klarer Trend: Je kleiner die Kommune, desto unbekannter das Zentrum. Bei Großstädten und Landkreisen gaben rund 80 % an, das Angebot zu kennen, bei den Mittelstädten etwa 50 %, bei den Kleinstädten ungefähr 20 % und bei den Landgemeinden kannte niemand das Zentrum. Klimaanpassung als Pflichtaufgabe und Nadelöhr Fördermittel? Nicht überall (erwünscht) Dass Klimaanpassung eine in vielerlei Hinsicht große Herausforderung für viele Kommunen in Hessen darstellt, zeigte sich schließlich auch anhand einer Reihe von Aussagen, denen die Befragten zustimmen oder nicht zustimmen konnten. So gaben etwa 90 % der 175 Teilnehmer*innen der Befragung ihre Zustimmung zu der Aussage „Das Thema Klimaanpassung stellt eine große Herausforderung für die Verwaltungsstruktur meiner Kommune dar.“ Ebenfalls hohe Zustimmungswerte erhielten die Aussagen, dass es eine „Kümmerer-Person“ brauche, die auch über die Grenzen von Fachabteilungen hinaus aktiv sein kann (86 %), dass es einer gesetzlichen Verpflichtung zur kommunalen Klimaanpassung bedürfe (74 %) sowie dass es mehr Förderprogramme (65 %) benötige. Informationen zum Thema Klimaanpassung sollten zudem oft noch verständlicher und praxisnäher sein als bisher (42 %). Wie eine nach Kommunengröße differenzierte Betrachtung der Zustimmungswerte zur Frage der gesetzlichen Verankerung von kommunaler Klimaanpassung zeigt, liegt auch hier ein deutlicher Trend vor (Bild 3). Je größer die Kommune, desto höher die Zustimmungswerte und desto geringer die Unsicherheit. Auch der Blick auf die vorhandenen Fördermöglichkeiten zeigt sich je nach Kommunengröße eine unterschiedliche Bewertung. Wie in Bild 4 zu sehen, wurde in der Befragung ein insgesamt hoher Unterstützungsbedarf geäußert, zum Beispiel bei der Antragsstellung von Fördermitteln. Dieser Bedarf ist bei den Landkommunen am größten. Zusammenfassung und Ausblick Im Fokus des Projekts „WissTransKlima“ steht die Frage, wie hessische Kommunen in ihren Klimaanpassungsbemühungen besser unterstützt werden Bild 2: Frage „Zu welchem der folgenden Handlungsfelder wünschen Sie sich mehr Informationen in Bezug auf geeignete Klimaanpassungsmaßnahmen für Ihre Kommune? “ (Mehrfachauswahl möglich, n =164). © Friedrich, Rossow Bild 3: Zustimmung zur Aussage „Klimaanpassung sollte eine kommunale Pflichtaufgabe sein“ (n = 175). © Friedrich, Rossow 73 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt können - und zwar im Hinblick auf den Transfer und die Nutzung von Wissen. Dabei zeigte sich zum einen, dass verschiedene Wissensarten zu unterscheiden sind (zum Beispiel: kleinräumiges Anwendungswissen versus naturwissenschaftliches Grundlagenwissen) und Formate je nach Zuschnitt nicht überall gleichermaßen funktionieren. Darüber hinaus spielt die Kommunengröße eine große Rolle. Für den erfolgreichen Transfer von Klimaanpassungswissen muss dies berücksichtigt werden. Wie die Erkenntnisse der Kommunalbefragung in Hessen zeigen, sind es vor allem die Landgemeinden und kleineren Kleinstädte, die noch stärker von Beratungsstrukturen auf Bundes- und Landesebene adressiert werden müssen. Die Ergebnisse werden im weiteren Projektverlauf mit ausgewählten Vertreter*innen aus den Kommunen diskutiert und geeignete Wissenstransferangebote entwickelt. LITERATUR [1] Schanze, J., Korzhenevych, A., Bartel, S., Kind, C., Sartison, K.: Handlungsansätze kleinerer und/ oder finanzschwacher Kommunen zur Anpassung an den Klimawandel und den gesellschaftlichen Wandel. Dessau-Roßlau, 2021. [2] UBA - Umweltbundesamt (Hrsg.): Die Risiken des Klimawandels für Deutschland - Ergebnisse der Klimawirkungs- und Risikoanalyse 2021 sowie Schlussfolgerungen der Interministeriellen Arbeitsgruppe „Anpassung an den Klimawandel“. Dessau-Roßlau, 2022. [3] Eckersley, P., Haupt, W.: Klimapolitische Steuerung: (Nicht nur) auf die Bundesländer kommt es an. In: IRS Aktuell 97, (2021) S. 12 - 17. [4] BBSR - Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung: Laufende Stadtbeobachtung - Raumabgrenzungen, 2023. Online verfügbar unter: https: / / www. bbsr.bund.de/ BBSR / DE/ forschung/ raumbeobachtung/ Raumabgrenzungen/ deutschland/ gemeinden/ StadtGemeindetyp/ StadtGemeindetyp.html (letzter Zugriff: 12.04.2023). [5] Schüle, R., Fekkak, M., Lucas, R., von Winterfeld, U.: Kommunen befähigen, die Herausforderungen der Anpassung an den Klimawandel systematisch anzugehen (KoBe). Dessau-Roßlau, 2016. [6] Schulze, K., Bruch, N.: Die Verbreitung kommunaler Klimaanpassungspolitik in Hessen: Bestandsaufnahme und Perspektiven. Ergebnisbericht. Darmstadt, 2022. [7] Otto, A., Göpfert, C., Thieken, A. H.: Are cities prepared for climate change? An analysis of adaptation readiness in 104 German cities. In: Mitigation and Adaptation Strategies for Global Change, 26, (2021) S. 8. [8] Otto, A., Kern, K., Haupt, W., Eckersley, P., Thieken, A. H.: Ranking local climate policy: assessing the mitigation and adaptation activities of 104 German cities. In: Climatic Change, 167, (2021) S. 1 - 2. [9] Internetpräsenz des Projekts: https: / / www.isoe. de/ nc/ forschung/ projekte/ project/ wisstransklima/ (18.04.2023). [10] Haupt, W., Irmisch, J., Eckersley, P.: Handlungsempfehlungen für eine bessere Klimakoordination in Kommunen. Leibnitz Institute for Research on Society and Space, 2022. [11] Altenburg, C., Hasse, J.: Klimagerechte Kommunen: Unterstützung und Beratung für Klimaschutz und Klimaanpassung. In: vhw FWS (1), (2022) S. 21 - 24. 81,5% 60,8% 65,6% 50,0% 11,1% 31,4% 28,1% 42,9% 7,4% 7,8% 6,3% 7,1% bis < 5.000 EW 5.000 bis < 20.000 EW 20.000 bis < 100.000 EW mind. 100.000 EW stimme eher zu stimme eher nicht zu weiß nicht / bin unsicher Linear (stimme eher zu) Bild 4: Frage „Um Anträge für Fördermaßnahmen zu Klimaanpassung stellen zu können, benötigt meine Kommune Unterstützung“ (n = 175). © Friedrich, Rossow Dr. Thomas Friedrich Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsschwerpunkt „Energie und Klimaschutz im Alltag“ ISOE - Institut für sozial-ökologische Forschung Kontakt: friedrich@isoe.de Dr. Verena Rossow Mitarbeiterin Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit Schwerpunkt Wissenstransfer ISOE - Institut für sozial-ökologische Forschung Kontakt: verena.rossow@isoe.de AUTOR*INNEN 74 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Der öffentliche Raum ist als große Herausforderung der Mobilitätswende neu zu verhandeln - ein Aspekt, mit dem sich das „Labor Nordbahnhof“ der Hochschule für Technik Stuttgart intensiv beschäftigt hat. Das Labor war Teil des groß angelegten Forschungsprojektes M4_LAB, bei dem verschiedene Forschungszentren der Hochschule und die Transfereinrichtungen zusammen an gesellschaftsrelevanten Themen arbeiteten. Das Quartier Nordbahnhof ist ein lebendiges und pulsierendes Stadtviertel im Herzen der Stadt Stuttgart, nördlich der Stadtmitte. Es ist nach dem ehemaligen Nordbahnhof benannt, der einst ein wichtiger Knotenpunkt für regionale und überregionale Züge war. Heute lebt im Nordbahnhofsviertel eine bunte Mischung aus Familien, Studierenden und jungen Berufstätigen. Das Reallabor Nordbahnhof Wie die Mobilitätswende gelingen kann Mobilitätswende, Reallabor, Verkehrsplanung, Nachhaltige Mobilität Dennis Dreher, Lutz Gaspers, Rebecca Heckmann, Tom Kwakman Die Untersuchungen im Nordbahnhofviertel zeigen, dass die Veränderungen im Mobilitätsverhalten nach Ende der Pandemiebeschränkungen nicht beibehalten wurden. Einzig die verbliebenen Home- Office-Regelungen leisten einen Beitrag zur Verkehrsmeidung im Quartier. Insgesamt hat die Gesamtmobilität trotzdem wieder zugelegt. Um den Wandel der Mobilität voranzubringen, reicht es also nicht, sich auf den Nebeneffekten der Pandemie auszuruhen. Im Reallabor Nordbahnhof wurde gemeinsam mit der Bevölkerung untersucht, wie die Mobilitätswende gelingen kann. Bild 1: Im Gespräch mit den Menschen im Quartier: Wie stellen sie sich die Mobilität von Morgen vor? Welche Bedürfnisse müssen erfüllt werden? . © HFT Stuttgart, Heckmann. 75 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Das Viertel zeichnet sich durch seine lebendige Atmosphäre aus, mit zahlreichen Restaurants, Cafés und Bars, die die Straßen säumen. Das Nordbahnhofquartier liegt zentral und verfügt über eine sehr gute Anbindung an den ÖPNV sowie über weitere On-Demand-Verkehrsangebote. Gleichzeitig ist das Nordbahnhofquartier Ein- und Ausfuhrgebiet für Pendler nach und von Stuttgart, da einige wichtige Verkehrsachsen durch das Gebiet führen. Im Forschungsprojekt M4-LAB der Hochschule für Technik Stuttgart diente das Nordbahnhofquartier als Reallabor. Forschende aus den Disziplinen Bauakustik, Energie, Geoinformatik, Mobilität, Stadtplanung und Wirtschaftspsychologie stellten sich die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen. Gemeinsam mit den Menschen im Quartier wurden Forschungsfragen erarbeitet, das Reallabor konzipiert und weiterentwickelt. Dieser Beitrag widmet sich insbesondere den Fragestellungen zu den Themen Mobilität und Verkehr. Die Pandemie als Wegbereiter zur Mobilitätswende? Bedingt durch die Pandemie änderte sich auch in diesem Quartier das Mobilitätsverhalten von heute auf morgen. Mehrfache Lockdowns, die Beschränkungen privater Aktivitäten, Homeoffice-Pflichten und Ausgangssperren sorgten dafür, dass die Verkehrsleistungen und zurückgelegten Kilometer innerhalb weniger Tage so stark zurückgingen wie nie zuvor. Weitreichende Auswirkungen auf den öffentlichen Raum waren die Folgen: Die Straßen wurden schlagartig leerer, die Luftqualität verbesserte sich durch weniger Verkehr und die Menschen lernten den städtischen Raum neu kennen. Mobiles Arbeiten und Homeoffice wurden zur neuen Normalität. Lieferte die Pandemie also bereits die Lösung für die Mobilitätswende? Im Nordbahnhofquartier zeigte sich jedoch schnell: Nach dem Ende der Pandemiebeschränkungen gingen die Veränderungen im Mobilitätsverhalten weitestgehend wieder zurück. So nahm beispielsweise die Gesamtmobilität wieder zu, auch der Anteil des Freizeitverkehrs stieg gegenüber den Jahren vor der Pandemie an. Einzig die verbliebenen Regelungen zu mobilem Arbeiten und Homeoffice leisteten einen Beitrag zur Verkehrsvermeidung. Jedoch bietet New Work durchaus Möglichkeiten, die Mobilität positiv zu beeinflussen. Durch die neue Flexibilität können die Spitzenstunden entzerrt werden und Tage mit besonderen Belastungen, wie Streiktage beim öffentlichen Verkehr oder an Nachmittagen vor langen Wochenenden, abgefangen werden. Das flexible Arbeiten kann somit dazu beitragen, Staus und angespannte Verkehrslagen zu vermeiden. Bild 2: Es gilt die Verkehrsmittel des Umweltverbunds zu stärken. Hierfür muss der ÖPNV mit weiteren umweltfreundlichen Verkehrsmitteln verknüpft werden. © HFT Stuttgart, Gaspers. 76 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Dennoch bedeuten die Entwicklungen nach der Pandemie, nämlich der wieder zunehmende Pendlerverkehr und das über das vor der Pandemie herrschende Maß an Freizeitverkehr, dass die positiven Nebenwirkungen der Pandemie nicht ausreichen, um den Mobilitätswandel im Quartier voranzubringen. Anhand verschiedener Themen galt es nun, Handlungsfelder aufzuzeigen, die die Mobilitätswende beschleunigen und gleichzeitig lebenswerte Räume im Quartier schaffen können. Die Notwendigkeit zur Veränderung Die Worte „Verkehrs- und Mobilitätswende“ sind in aller Munde - und letztlich sind diese auf dem Weg zu einem nachhaltigen Stadtraum auch unumgänglich. So hat der Verkehrssektor (- 0,2 %) im Vergleich zu anderen Sektoren wie Energie (- 45 %) oder Industrie (- 34 %) seit 1990 kaum CO 2 -Emissionen eingespart [1] . Im Hinblick darauf, dass der Verkehrssektor für fast 20 % der gesamten Emissionen verantwortlich ist, wird die Notwendigkeit zu einem veränderten Mobilitäts- und Verkehrsverhalten unterstrichen. Gleichzeitig ist der Verkehr auch für einen hohen Flächenverbrauch in unseren Städten verantwortlich - so ist der Flächenbedarf eines PKW um ein vielfaches höher als für öffentliche Verkehrsmittel, Fahrräder oder Fußgänger. Das bedeutet auch große Einschränkungen für die Menschen, die in diesen städtischen Räumen leben, da ein großer Teil der öffentlichen Flächen zur Bewältigung der Verkehrsmassen dient. Für Bewohner in den Quartieren wäre es hingegen wünschenswert, wenn diese Flächen dem öffentlichen Leben zur Verfügung stehen könnten. Grundsätzlich galt lange: Jeder Quadratmeter Fläche lässt sich nur an eine Funktion vergeben, weshalb weise gewählt werden sollte, welche Funktion das sein soll. In den letzten Jahren zeigt sich jedoch, dass ein Quadratmeter Fläche durchaus mehreren Funktionen gerecht werden kann. Das zeigen Shared Spaces, bei denen sich PKW, Fahrradfahrer und Fußgänger eine Fläche teilen, aber auch multifunktionale Flächen, die beispielweise tagsüber vor Cafés bestuhlt und bewirtet werden und abends, wenn die arbeitenden Anwohnenden zurückkehren, wieder als Parkplatzfläche dienen. Die (temporäre) Umnutzung von Verkehrsflächen Um dem Problem der Einmalvergabe einer Fläche zu begegnen und dem Trend der Mehrfachnutzung zu folgen, beschloss man im Reallabor Nordbahnhof ein Parklet zu installieren. Unter dem Begriff Parklet werden kleine öffentliche Räume verstanden, die durch die Umnutzung von Straßenabschnitten oder Parkplätzen entstehen. Im konkreten Fall wurde so eine Parkfläche temporär zum Aufenthaltsbereich für die Menschen umgewandelt. Insbesondere im Quartier Nordbahnhof, in welchem kaum öffentliche Aufenthaltsflächen zur Verfügung stehen, kann dieses Instrument Bewusstsein bei den Menschen schaffen, welche Veränderungen im Quartier möglich wären. Von einer Gruppe Studierender wurde das Experiment „Raumwunder“ entwickelt. Dieses Parklet zeigte den Menschen im Quartier verschiedene Wege auf, wie Parkflächen zu Aufenthaltsraum verändert werden können. Gleichzeitig sollte die Präsenz vor Ort dazu genutzt werden, die Ideen und Wünsche der Menschen zu hören und zu sammeln. Während dieser Zeit entstanden viele angeregte Diskussionen mit den Bewohner*innen im Viertel über die Verkehrs- und Mobilitätswende sowie die Priorisierung für die Nutzung des öffentlichen Raums. Teilen statt Besitzen? Im Durchschnitt wird ein privat genutzter PKW am Tag nur etwa eine Stunde bewegt [2]. Somit verbleiben 23 Stunden, an denen das Fahrzeug Fläche für die Abstellung benötigt. Insbesondere in einem städtischen Quartier, wie dem Nordbahnhofareal, bedeutet das eine große Inanspruchnahme öffentlicher Flächen, die in dieser Zeit keine andere Nutzung erfahren können. Darüber hinaus wird Car-Sharing häufig in Verbindung mit den anderen Verkehrsmitteln des Umweltverbunds genutzt. Das bedeutet, langfristig werden bisher mit einem PKW durchgeführte Fahrten zu einem gewissen Anteil mit dem ÖPNV, dem Rad oder zu Fuß zurückgelegt. Dies kann die Emissionen des Verkehrs merkbar reduzieren und die Konflikte der Flächennutzung positiv beeinflussen. Im Reallabor Nordbahnhof zeigten vier von fünf Befragten grundsätzliches Interesse an der Nutzung von Sharing-Angeboten. Bereits genutzt hatten solche Angebote jedoch nur etwa die Hälfte der Befragten, regelmäßig genutzt werden sie nur von einzelnen. Die Gründe zeigten sich im Gespräch mit den Menschen: Viele der Befragten verfügen momentan noch über einen privaten PKW und sind sich über dessen tatsächliche Kosten oftmals nicht bewusst - diese werden als weitaus geringer eingeschätzt, als sie tatsächlich sind. Mittelfristig könnte sich jedoch knapp die Hälfte der Befragten vorstellen, den eigenen PKW abzuschaffen und auf Sharing-Angebote, den ÖPNV, das Fahrrad und Fußwege umzusteigen. So planen viele Menschen keine Ersatzbeschaffung für den aktuellen PKW ein, insbesondere wenn es sich um einen Zweitwagen handelt. 77 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Inter- und Multimodalität durch Mobilitätshubs Um den Umstieg auf nachhaltigere Verkehrsmittel zu fördern, braucht es ein gesamtheitliches System aller Verkehrsmittel. Das bedeutet nicht nur attraktive Einzellösungen anzubieten, sondern auch Übergänge zwischen den Verkehrsmitteln möglich zu machen. Ein geeignetes Werkzeug hierfür können Mobilitätshubs sein. Dieser Begriff bezeichnet einen Bereich, an dem unterschiedliche öffentliche Verkehrsmittel zusammenlaufen und miteinander verknüpft sind. Diese Bereiche ermöglichen das Umsteigen von einem auf ein anderes Verkehrsmittel. Für das Quartier Nordbahnhof wurde in einem gemeinsamen Projekt mit Studierenden der Verkehrsplanung ein Konzept für Mobilitätshubs erarbeitet. Hier wurden zwei unterschiedliche Herangehensweisen beleuchtet. Der erste Lösungsansatz verfolgt eine zentrale Stelle im Quartier während demgegenüber als zweiter Ansatz eine dezentrale Lösung mit drei einzelnen Standorten untersucht wurde. Hierbei zeigte sich, dass es keine Patentlösung geben kann: Während die dezentrale Lösung den Vorteil bietet, dass ein Hub gut für alle Menschen erreichbar ist, stellt sich gleichermaßen die Herausforderung, die Verknüpfung jener dezentralen Hubs zu gewährleisten. Eine zentrale Lösung erleichtert das Anbieten vieler Mobilitätslösungen, ist von den Wohnungen der Menschen hingegen weiter entfernt. Eine wichtige Erkenntnis aus diesem Prozess war es aber, dass die Integration aller Stakeholder für den Erfolg eines Mobilitätshubs unerlässlich ist. Neben den potenziellen Anbietern von Mobilitätsdienstleistungen sind insbesondere auch die Bedürfnisse der Menschen im Quartier zu erkennen und in die Planungen zu integrieren. Das Stichwort Bürgerbeteiligung ist in solchen Prozessen zentral, um die spätere Akzeptanz und Nutzung zu gewährleisten. Der Weg zur Mobilitätswende im Quartier Das Reallabor Nordbahnhof demonstriert die Wichtigkeit der Mobilitätswende sowohl im Kleinen als auch im Großen. Gleichzeitig schafft es die Erkenntnis, dass noch viel Arbeit in diesem Themengebiet steckt. Dabei geht es längst nicht nur um infrastrukturelle Lösungen und bauliche Maßnahmen - vielmehr gilt es, auch bei den Menschen in den Untersuchungsräumen und den Entscheidungsträgern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, welche Belastung der Verkehr in seiner bisherigen Form auf den Stadtraum hat. Hierfür eignen sich Experimente wie in diesem Reallabor sehr gut. Nun gilt es, dass sich alle Beteiligten gemeinsam auf den Weg machen - hin zu einem Straßenraum, der sich nicht den Bedürfnissen des Verkehrs unterordnet, sondern die Menschen an erste Stelle setzt. Dass dies ein wichtiger Aspekt des urbanen Zusammenlebens ist, haben während der Covid-19-Pandemie bereits einige Städte erkannt, die Chance des Lockdowns genutzt und begonnen, Flächen temporär umzunutzen. So auch die Stadt Stuttgart, welche die sogenannten Pop-up-Bike-Lanes von einem auf den anderen Tag auf bisherigen PKW-Fahrbahnen neu markiert hat. Ohne viel Aufregung und vor allem mit geringsten Investitionen, wurden so kurzerhand Flächen neu vergeben. Die Pandemie ist verschwunden, geblieben sind die Pop-up-Bike-Lanes - und die Erkenntnis: Es geht auch anders. LITERATUR [1] Umweltbundesamt: Treibhausgas-Emissionen in Deutschland, 2022. [2] Umweltbundesamt: Potenziale und Hemmnisse für Pkw-Fahrgemeinschaften in Deutschland, 2020. Dennis Dreher, M.Eng. Akademischer Mitarbeiter Teamleitung MoVe Hochschule für Technik Hf T Stuttgart Kontakt: dennis.dreher@hft-stuttgart.de Prof. Dr.-Ing. Lutz Gaspers Professor und Prorektor Gründer, Leiter und Sprecher des MoVe Hochschule für Technik Hf T Stuttgart Kontakt: lutz.gaspers@hft-stuttgart.de Dipl.-Ing. Rebecca Heckmann Akademische Mitarbeiterin Hochschule für Technik Hf T Stuttgart Kontakt: rebecca.heckmann@hft-stuttgart.de Tom Kwakman, MSc. ehemaliger Mitarbeiter beim M4_LAB und Kompetenzzentrum für Mobilität und Verkehr AUTOR*INNEN 78 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Baukasten zur Konflikterkennung Ziel des Projektes ist die Erstellung eines Open- Source-Methodensets für Planende, Bürger*innen und andere Interessierte, um mehr über Konflikte von Zufußgehenden und Radfahrenden jenseits offizieller Statistiken und traditioneller Methoden zu erfahren. Dabei sollen Konflikte mit anderen Verkehrsarten als auch diejenigen untereinander, also zwischen Fuß und Rad, untersucht werden. Ziel ist eine Förderung des nichtmotorisierten Verkehrs, in dem eine sichere Infrastruktur so gestaltet wird, dass ihre Benutzung als angenehm und sicher Radfahrende und Fußgänger*innen auf gemeinsamen realen und virtuellen Flächen Das CapeReviso-Projekt des Nationalen Radverkehrsplans NRVP Radfahren, Zufußgehen, Planung, digitale Werkzeuge, Partizipation, Simulation Peter Zeile, Thomas Obst, Céline Schmidt-Hamburger, Nina Haug, Johanna Drescher, Uwe Wössner Für die Analyse von Konflikten zwischen Radfahrenden und Fußgänger*innen schafft das Projekt CapeReviso ein Methodenset, das Sensoren zur Erfassung von Stress und Überholabständen, georeferenzierte Daten, Machine Learning, Verkehrssimulationen und digitale Zwillinge kombiniert. Mit Mitteln des Nationalen Radverkehrsplans 3.0 des Bundesministeriums für Digitalisierung und Verkehr (BMDV) werden die Methoden entwickelt und quelloffen zur Verfügung gestellt. So soll die Planung von Rad- und Fußverkehrsinfrastruktur zukünftig besser umgesetzt werden können. Am Beispiel räumlicher Experimente in Herrenberg und Stuttgart werden diese neuen Ansätze vorgestellt. Bild 1: Bau des Open- BikeSensors und Montage am Fahrrad. © Zeile et al. 79 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt amtlichen verstetigt. Im Projekt CapeReviso wurde eine Version gebaut, bei der die Sensoren in einen Rucksack für Fußgänger*innen eingebaut wurden. Neben dem Gerät selbst ist die Veröffentlichung der gemessenen Überholabstände in Datenportalen ein wichtiges Element des OBS. Einzeltracks bleiben aus Datenschutzgründen verborgen, während die gesammelten Informationen zu einzelnen Straßenabschnitten öffentlich für Zivilgesellschaft, Stadtplanung, Wissenschaft und Entscheidungsträger*innen einsehbar sind. So können Bereiche identifiziert werden, in denen Überholvorgänge unter 150- cm innerorts vermehrt auftreten (Bild 2). Diese Daten liefern Hinweise, wo Handlungsbedarf besteht, um Radfahren sicher zu gestalten, und auf Gefahrenpotenziale in der Infrastruktur - wie zu schmale Radschutzstreifen, irreführende Markierungen oder vieles mehr [3]. Biostatistische Stresserkennung „Emocycling“ Ein weiterer Baustein, der niederschwellig, bürgerzentriert und zielgruppenübergreifend angewendet werden kann, ist die georeferenzierte Nutzung von biostatistischen Daten zur Ermittlung von Stress- Situationen. Proband*innen erkunden ihre Stadt zu Fuß oder mit dem Fahrrad und sind dabei mit Sensoren ausgestattet, die die Hautleitfähigkeit, Hauttemperatur, Geoposition und die Distanzen zu Objekten aufzeichnen (Bild 2). Bild 2: Schematische Darstellung des Sensorequipment mit Smartphone, Empatica E4, GoPro-Kamera sowie zum OpenWalkSensor umgebauten OpenBikeSensor. © Zeile et al. empfunden wird. Denn Konflikte entlang des Weges und subjektiv empfundener Stress haben großen Einfluss auf die Wahl des Verkehrsmittels. Der Baukasten umfasst: a. Den OpenBikeSensor, der kontinuierlich und georeferenziert die Abstände zu anderen Verkehrsteilnehmer*innen misst, und diese Ergebnisse in einem Portal sammelt, b. eine Methodik zur Detektion von georeferenzierten, stressauslösenden Ereignissen durch die Messung biostatistischer Signale, c. ein Erfassungssystem zur bildbasierten Verkehrsbeobachtung, die bei KI-gestützter Auswertung der Wegestrecken mittels automatisierter Attributierung und Trajektorienbestimmung im virtuellen Raum erfolgt, d. die Nutzung digitaler Zwillinge. In der virtuellen Nachbildung des Stadtraums können die gewonnen Daten sowohl im Planungskontext genutzt, als auch mit verschiedenen Planungsvarianten auf einem Rad-Simulator ausprobiert werden. OpenBikeSensor Der OpenBikeSensor (OBS) misst den physischen Abstand von Proband*innen zu anderen Verkehrsteilnehmer*innen mithilfe von Ultraschall etwa 20-mal pro Sekunde und speichert diesen georeferenziert ab. Pate für den OBS stand der Berliner Radmesser [1], wobei der OBS als quelloffene Sensorplattform einen Schritt weiter geht. Durch die Veröffentlichung aller Bestandteile wie Hardware- Design, Firmware, Datenportal-Software unter einer freizügigen Open-Source-Lizenz [2] können das System und auch einzelne Module selbständig nachgebaut (Bild 1) und weiterentwickelt werden. So ist der OBS mittlerweile in einer deutschlandweit in 45- Städten aktiven Community mit vielen Ehren- Bild 3: Aggregierte Daten im Portal in Herrenberg. © Zeile et al. OpenBikeSensor Filter sind ohne Login nicht verfügbar. Karte Fahrten Export Positron Stil der Basiskarte Einfärben nach ... Außerorts Innerorts Straßenabschnitte Abschnitte ohne Daten anzeigen Median Überholabstand Überholvorgänge Filter 1.10 1.30 1.50 1.70 1.60 1.80 2.00 2.20 Anmelden 80 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Steigt nun die Hautleitfähigkeit und die Hauttemperatur und fällt daraufhin kurz danach ab, so ist dies ein Indikator für eine „Stresssituation“ im Stadtraum. Dieses Muster ist eindeutig in den biostatistischen Werten zu erkennen [4]. Zur schnelleren und verständlicheren Kommunikation der Messergebnisse können Heatmaps für einzelne oder alle Proband*innen oder bestimmte Personengruppen erzeugt werden. Heatmaps sind Karten, die eine Häufung von Stresspunkten an einer bestimmten Position innerhalb der Stadt visualisieren (Bild 4). Sie dienen auch als Indikator für eine Fokusuntersuchung: Ist der Stress „infrastrukturbedingt“, so dass planerisch interveniert werden kann? Sind die vorherrschenden Verkehrsströme vor Ort schuld an den Stressreaktionen? Wie sieht es mit Beinahe- Kollisionen aus? Für die Fragestellung der Ströme und Beinahe-Kollisionen bietet sich neben lokalem Wissen und der Einbeziehung der Akteur*innen vor Ort die Untersuchung mit dem entwickelten Erfassungssystem an. Erfassungssystem Das im Projekt entwickelte Erfassungssystem vereint zählende und beobachtende Methoden. Pate standen hier sowohl die Burano-Methode [5], das Behavioral Mapping, Zeitausschnitte als auch die teilnehmende Beobachtung, welche bereits erfolgreich zur Beobachtung der Qualität öffentlicher Räume gerade im Hinblick auf Fußverkehr eingesetzt werden [6]. Das System verarbeitet dazu an einem fest aufgestellten Standort die Bilddaten einer angeschlossenen Kamera direkt in anonyme Metadaten von Verkehrsteilnehmer*innen. Dies geschieht mithilfe eines kleinen auf KI-Anwendung spezialisierten Computers. Dabei wird Maschinelles Lernen angewandt, denn das System klassifiziert Verkehrsteilnehmer*innen mithilfe eines neuronalen Netzes, welches mit einer Bilddatenbank trainiert wurde. Es zeichnet nur deren Trajektorien im Beobachtungsraum auf. Der Algorithmus wurde auf einem Portal trainiert, auf dem Verkehrsteilnehmer*innen gelabelt wurden. So können besondere Formen der Mikromobilität wie e-Scooter, Transporträder oder Personen mit Rollstuhl oder Rollator besser erkannt werden. Als Ergebnis sollen Daten zu Befahrungshäufigkeiten ermittelt werden, die nach Art der Verkehrsteilnehmer*innen, Zeit und Lage im Raum getrennt analysiert werden können (Bild 5). Dabei ist eine weitere Differenzierung in einer Szene möglich, und zwar nach dem zeitlichen Verlauf und der größten Annäherung der Teilnehmer*innen, deren Beschleunigungsdaten sowie örtliche Verteilung von Geschwindigkeiten und Richtungen. Digitaler Zwilling - Virtual Reality Ein digitaler Zwilling ist ein Spiegelbild eines physischen Prozesses, das in der Regel genau dem Ablauf des physischen Prozesses entspricht, der in Echtzeit abläuft. Der Begriff wurde Anfang der 2000er Jahre von Michael Grieves [7] geprägt und bezog sich ursprünglich auf Designprojekte. Mittlerweile dient er zur Charakterisierung einer Vielzahl von digitalen Simulationsmodellen. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, die Unterschiede zwischen einem realen System und einem Computermodell dieses Systems zu definieren und auch auf die Grenzen hinzuweisen. Modelle müssen immer auch mit Auslassungen arbeiten, da die Komplexität zu hoch ist. Für die Stadtplanung hat sich ein 3D-Stadtmodell als Basis etabliert, in das sukzessive weitere Simulationen integriert werden können. Hier liegt die Stärke in der Reduktion von Komplexität und in der räumlichen und visuellen Darstellung als „Übersetzungshilfe“. Die Visualisierung in 3D macht die Teilnahme an Bild 4: Heatmap aus der zweiwöchigen Erhebungsphase mit 15 Teilnehmern in der Stadt Herrenberg. © Zeile et al. Bild 5: Kameraerfassungssystem mit Objekterkennung links, gespeicherter Information in der Mitte, und exemplarischer Auswertung der Wege der Verkehrsteilnehmenden rechts. © Zeile et al. 81 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Beteiligungsverfahren attraktiver und kann auch Personengruppen einbeziehen, die sonst mit solchen Formaten nur schwer zu erreichen sind, wie Kinder, Jugendliche, Menschen mit internationaler Geschichte, niedrigem Bildungsniveau oder Sprachbarrieren. Die im Projekt genutzten digitalen Zwillinge von Stuttgart und Herrenberg können in Räumen zur Projektion einer dreidimensionalen Illusionswelt der virtuellen Realität, der sogenannten CAVE (Cave Automatic Virtual Environment), in Würfelform angeordnete, mit bis zu sechs Bildschirmen oder rückseitenprojizierenden Wänden, für kollaborative Formate genutzt werden. Auch mobile Einrichtungen wie VR-Rückprojektionen mit bis zu 15 Personen sind für „Kommunikationsformate vor Ort“ möglich. Umgestaltete Verkehrsräume können hier nicht nur gezeigt werden, sondern sind mit entwickelten Fahrrad-, Rollstuhl- und Skateboardsimulatoren auch interaktiv erlebbar (Bild 6). Andere Verkehrsteilnehmer*innen werden über eine gekoppelte SUMO-Verkehrssimulation, ein quelloffenes, mikroskopisches und kontinuierliches multimodales Verkehrssimulationspaket, realisiert. Living Labs Mit Living Labs schließt sich der Kreis des Methodensets. Nach der Analyse der IST-Situation mithilfe der Sensoren und des Erfassungssystems kann der Verkehrsraum in verschiedenen Varianten neu geplant und im digitalen Zwilling visualisiert und erlebbar gemacht werden. Diese Varianten können bei zeitlich begrenzten Interventionen im realen Verkehrsraum umgesetzt werden. In dieser Phase erfolgt wieder der Einsatz der mobilen und stationären Sensoren. In der Auswertung lässt sich zum einen belegen, ob die veränderte Verkehrsführung die gewünschten Auswirkungen auf Konfliktsituationen hat. Zum anderen können negative Folgen für den Verkehrsfluss bei einer Umverteilung der Räume identifiziert werden. So werden informierte und faktenbasierte Entscheidungen über die langfristige Umgestaltung von Verkehrsräumen ermöglicht. Fazit Das Projekt und die vorliegenden Technologien geben einen Ausblick auf die Möglichkeiten neuer Methoden für die Fuß- und Radverkehrsplanung. Sie sind auf das Mitmachen ausgerichtet, von der Konzeption niederschwellig und sie können im Idealfall „verborgenes Konfliktpotenzial“ aufdecken und dieses in einer anschaulichen Form vermitteln. Weiterhin sind durch den Open-Source-Gedanken die Technologien skalierbar und dementsprechend auch für eine Anwendung durch Kommunen und außerhalb der Forschungslandschaft verfügbar. In Teilen ist dies auch schon möglich: So wird der OpenBikeSensor schon in vielen lokalen Projekten genutzt, die im Rahmen von Bürgerentscheiden oder als Mitmachprojekte für mehr Verkehrssicherheit beim Fahrradfahren starke Resonanz erfahren. Die Adaption auf den Fußverkehr war ein spannendes Experiment, ist aber in der Realität schwer anzuwenden. Zur Detektion des Sicherheitsempfindens beim Zufußgehen müsste eher ein 360°-Sensor deutlich geringere Mindestabstände erfassen. Die Stressdetektion erfuhr durch die intensive Forschung im Projekt CapeReviso sowie innerhalb der Urban Emotions-Initiative einen starken Schub. Die Auswertungen pro Fahrt funktionieren nun in wenigen Minuten und sind durch die Verwendung von Standardbibliotheken wesentlich anwendungsfreundlicher geworden. Während zu Beginn der Forschung die Hauptfrage noch lautete, wie wir an genügend Daten kommen, so ist der Fokus nun eher, wie die Stresspunkte noch besser bewertet, verglichen Bild 6: Digitaler Zwilling in Herrenberg in der CAVE mit Fahrradsimulator © Zeile et al. Bild 7: Mobiler Fahrrad- und Skateboardsimulator während des Stuttgarter Mobilitätsfestivals, im Hintergrund der temporäre modale Filter im Rahmen des Living Labs. © Zeile et al. 82 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt und in einen sinnvollen Kontext in Bezug auf Sicherheit im Straßenverkehr gesetzt werden können. Der Radverkehr eignet sich aufgrund des „einfachen“, sehr linearen Verhaltens - Radfahrende fahren gerade aus, biegen nur rechts oder links ab - sehr gut für diese Methode. Auch hier sind die Aussagen zu Fußgänger*innen wieder schwieriger zu generalisieren als die zu Radfahrenden. Fünf Punkte lassen sich jedoch für beide Verkehrsarten durch die im Projekt erfassten Stresspunkte und qualitative Befragungen der Proband*innen konstatieren: Das Verlassen der gewählten Wunschlinie, enge Verkehrsräume, Lärm und allgemein schlechter Zustand der Infrastruktur sowie lange Wartezeiten „stresst“ alle. Sowohl OpenBikeSensoren als auch Stressdetektion eignen sich hervorragend zur Ermittlung von neuralgischen Punkten zur Aufstellung des Erfassungssystems. Das Potenzial dieser Technologie ist sehr hoch. Hier müssen allerdings noch die Auswertungsmethoden angepasst werden. Ein sehr guter und erfolgreicher Ansatz für Beteiligungsverfahren ist die Vermittlung von Verkehrsplanungen in 3D. Jedoch scheitert die angedachte Stressmessung im virtuellen Raum zur Prüfung verschiedener Verkehrsführungsvarianten noch an der für die Messungen zu geringen Immersion: das Erlebnis im geschützten Raum verfälscht die Messungen (noch). Hier muss auf den klassischen Fragebogen zurück gegriffen werden. Der vorgestellte Methoden-Baukasten besitzt bei weiterer Forschung und einem konsequenten Open- Source-Ansatz jedoch das Potenzial, ein spannendes und faktenbasiertes Werkzeug für die Planung und vor allem auch für Verkehrsteilnehmer*innen zu Fuß und auf dem Rad zu werden. LITERATUR [1] Tagesspiegel: Radmesser, https: / / interaktiv.tagesspiegel.de/ radmesser/ [2] GitHub: OpenBikeSensor, https: / / github.com/ openbikesensor/ openbikesensor.github.io [3] Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, G. und K. in N. e. V. (AGFS): Die Siegerprojekte: OpenBikeSensor, https: / / www.der-deutsche-fahrradpreis.de/ wp-content/ uploads/ 2022/ 01/ OpenBikeSensor.pdf [4] Kyriakou, K., Resch, B.: Spatial Analysis of Moments of Stress Derived from Wearable Sensor Data. Advances in Cartography and GIScience of the ICA. 2, (2019) S. 1 - 8. https: / / doi.org/ 10.5194/ ica-adv-2-9-2019 [5] Dellemann, C., Dellemann, K., Dellemann, P., Günter, M., Günter, R., Notdurft, W., Schlegtendal, D., Schlegtendal, K., Sporleder, A., Sporleder, M.: BURANO — Eine Stadtbeobachtungsmethode zur Beurteilung der Lebensqualität. In: Riege, M. and Schubert, H. (eds.) Sozialraumanalyse. pp. 85-101. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden (2002). [6] Flückiger, S., Leuba, J.: Qualität von öffentlichen Räumen: Methoden zur Beurteilung der Aufenthaltsqualität. Fussverkehr Schweiz, Zürich (2015). [7] Grieves, M.: Digital twin: manufacturing excellence through virtual factory replication. White paper. 1, (2014) S. 1 - 7. [8] Alvarez Lopez, P., Behrisch, M., Bieker-Walz, L., Erdmann, J., Flötteröd, Y.-P., Hilbrich, R., Lücken, L., Rummel, J., Wagner, P., Wießner, E.: Microscopic Traffic Simulation using SUMO. 21st International Conference on Intelligent Transportation Systems (ITSC), (2018, November 7). https: / / www.itsc2019.org/ Dr.-Ing. Peter Zeile Senior Researcher Fakultät für Architektur Institut für Entwerfen von Stadt und Landschaft (IESL) Fachgebiet Stadtquartiersplanung STQP Karlsruher Institut für Technologie KIT Kontakt: peter.zeile@kit.edu Dipl.-Ing. Thomas Obst Wissenschaftlicher Mitarbeiter Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS), Abteilung Visualisierung Universität Stuttgart Kontakt: obst@hlrs.de Céline Schmidt-Hamburger, M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Karlsruher Institut für Technologie KIT Kontakt: celine.schmidt-hamburger@kit.edu M.Sc. Nina Haug Wissenschaftliche Mitarbeiterin Karlsruher Institut für Technologie KIT Kontakt: nina.haug@kit.edu Johanna Drescher Referentin Verband Bundesgeschäftsstelle Allgemeiner Deutscher Fahrrad-Club e.V. (ADFC) Kontakt: johanna.drescher@adfc.de Dr.-Ing. Uwe Wössner Abteilungsleiter, Visualisierung Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS), Abteilung Visualisierung Universität Stuttgart Kontakt: uwe.woessner@hlrs.de AUTOR*INNEN 83 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Gemeinschaftsprojekt Stadt Lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 2|2023 von Internationales Verkehrswesen: Transport und Verkehr - der neue Blick auf kommende Herausforderungen Wer von der Mobilitätswende spricht, muss mehr denn je erklären, wie er das erreichen will. Denn die politische und gesellschaftliche Entwicklung lässt einen klaren Weg derzeit nicht erkennen. Sparpreise im ÖPNV und zugleich ein besseres Angebot bieten - wie kann das gehen? Emissionen senken im Straßenverkehr: mit höheren KFZ-Steuern oder teurerem Kraftstoff? Infrastruktur ausbauen - oder vielleicht lieber auf digitale Lösungen setzen? Im Fokus der Ausgabe 2/ 2023 stehen die aktuellen, vielfach kontrovers und lautstark diskutierten Strategien zur Bewältigung so vieler Aufgaben im Bereich Mobilität, Transport und Verkehr. Der Klimawandel ist längst im Gange und die Zeit für Lösungen wird knapp. Gibt es einen Königsweg? Inhalte im Überblick: Mobilitätswende: Herausforderungen und Strategien Deutschlandtakt der Bahn - eine Chance für Kommunen? Niedrigtarife im ÖPNV: Wunsch und Wirklichkeit Schienenwege ausbauen - oder einfach den Betrieb optimieren? Sind Seereisen per Linienschiff wieder im Kommen? Ukraine-Krise: Nachkriegs-Strategien für neue, nachhaltige Stadtverkehre … und vieles mehr … Erscheinungsdatum 17. Mai 2023. Jetzt kaufen und lesen: www.internationales-verkehrswesen.de/ einzelheft-bestellen TR ANS PORT UND MOBILITÄT IM WANDEL: DA S NEUE UNTE RW EG S ANZEIGE 84 2 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Fachliteratur IMPRESSUM Transforming Cities erscheint im 8. Jahrgang Herausgeber Eberhard Buhl, M.A. Verlag Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22, D-72270 Baiersbronn-Buhlbach Tel. +49 7449 91386.36 · Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de · www.trialog.de Redaktionsleitung Dipl.-Ing. arch. Christine Ziegler VDI (verantwortlich) Tel: +49 7449 91386.43 Fax: +49 7449 91386.37 christine.ziegler@transforming-cities.de Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 8 vom 01.01.2023 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 vertrieb@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist zum Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. Es ist untersagt, die Inhalte digital zu vervielfältigen oder an Dritte weiterzugeben, sofern nicht ausdrücklich vereinbart. Bezugsgebühren JahresAbo Plus - Inland (Print+ePaper+Archiv): 4 x gedruckte Ausgabe + elektronische Web-Ausgabe + Zugang zu allen bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 172,- (inkl. MwSt., zzgl. EUR 12,- Versandkosten) JahresAbo Plus - Ausland (Print+ePaper+Archiv): 4 x gedruckte Ausgabe + elektronische Web-Ausgabe + Zugang zu allen bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 172,- (mit UID ohne VAT, zzgl. EUR 25,- Versandkosten) JahresAbo ePlus - Inland (ePaper+Archiv): 4 x elektronische Web-Ausgabe + Zugang zu allen bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 160,- (inkl. MwSt., keine Versandkosten) JahresAbo ePlus - Ausland (ePaper+Archiv): 4 x elektronische Web-Ausgabe + Zugang zu allen bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 160,- (mit UID ohne VAT, keine Versandkosten) JahresAbo Print - Inland: 4 x gedruckte Ausgabe zum Jahresbezugspreis von EUR 132,- (inkl. MwSt., zzgl. EUR 12,- Versandkosten) JahresAbo Print - Ausland: 4 x gedruckte Ausgabe zum Jahresbezugspreis von EUR 132,- (mit UID ohne VAT, zzgl. EUR 25,- Versandkosten) JahresAbo ePaper - Inland: 4 x elektronische Web-Ausgabe zum Jahresbezugspreis von EUR 120,- (inkl. MwSt., keine Versandkosten) JahresAbo ePaper - Ausland: 4 x elektronische Web- Ausgabe zum Jahresbezugspreis von EUR 120,- (mit UID ohne VAT, keine Versandkosten) StudiAbo Print - Inland: 4 x gedruckte Ausgabe. Der reduzierte Jahresbezugspreis beträgt EUR 79,20 (inkl. MwSt., zzgl. EUR 12,- Versandkosten) StudiAbo Print - Ausland: 4 x gedruckte Ausgabe. Der reduzierte Jahresbezugspreis beträgt EUR 79,20, (zzgl. EUR 25,- Versandkosten + VAT) StudiAbo ePaper - Inland: 4 x elektronische Web-Ausgabe. Der reduzierte Jahresbezugspreis beträgt EUR 72,- (inkl. MwSt., keine Versandkosten) StudiAbo ePaper - Ausland: 4 x elektronische Web- Ausgabe. Der reduzierte Jahresbezugspreis beträgt EUR 72,- (keine Versandkosten + VAT) Voraussetzung für alle StudiAbos ist eine aktuelle Studienbescheinigung. Einzelheft Print: gedruckte Ausgabe zum Einzelbezugspreis von EUR 35,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), zzgl. Versandkosten (Inland EUR 3,-, Ausland EUR 6,50) Einzelausgabe ePaper: elektronische Web-Ausgabe zum Einzelbezugspreis von EUR 35,- (Inland inkl. MwSt., Ausland exkl. MwSt.), ohne Versandkosten Campus- und Firmenlizenzen auf Anfrage Organ | Medienpartnerschaft VDI Verein Deutscher Ingenieure e.V. - Fachbereich Verkehr und Umfeld Druck Silber Druck oHG · Lohfelden Herstellung Trialog, Baiersbronn-Buhlbach, www.trialog.de Titelbild Gruppenmenschen im Chat Interaktionskonzept. © ClipDealer Copyright Vervielfältigungen durch Druck und Schrift sowie auf elektronischem Wege, auch auszugsweise, sind verboten und bedürfen der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages. Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Abbildungen übernimmt der Verlag keine Haftung. Eine Publikation der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, Baiersbronn-Buhlbach ISSN 2366-7281 (print) www.trialog.de/ agb Starkregenereignisse treten zwar immer räumlich begrenzt, dafür aber häufiger und intensiver auf. Für Immobilien bedeutet das eine doppelte Gefährdung - durch Überflutung und durch einen möglichen Rückstau aus überlasteten Kanalisationen. Der Ratgeber Rückstauschutz von Mall ist in einer 3. aktualisierten Auflage erschienen. © Mall GmbH Überflutungs- und Rückstauschutz - aktuell wie nie Ratgeber Rückstauschutz jetzt in aktualisierter 3. Auflage Drei Jahre nach der letzten Veröffentlichung ist jetzt die 3. aktualisierte Auflage des Ratgebers Überflutungs- und Rückstauschutz von Mall erschienen. Alle Beiträge wurden überarbeitet und inhaltlich aktualisiert. Der Ratgeber richtet sich an Planungsbüros, Kommunen, Handwerksbetriebe und die Wohnungswirtschaft, aber auch an Eigentümer von potenziell gefährdeten Grundstücken und Gebäuden. Nach einer Einordnung des Starkregen-Themas in die aktuelle Diskussion zum Klimawandel beschreiben die Autorinnen und Autoren mögliche städtebauliche Ansätze und Maßnahmen zur Verringerung des Starkregenrisikos, die technischen Optionen für konkrete bauliche Maßnahmen sowie Aspekte des Versicherungsschutzes. Ein Beitrag, der die zu ergreifenden Maßnahmen von den einschlägigen Normen ableitet sowie typische Anwendungsbeispiele aus unterschiedlichen Branchen runden den Ratgeber inhaltlich ab. Die in der Fachbuchreihe „Ökologie aktuell“ erscheinende Broschüre kann unter www.mall.info/ infomaterial zum Preis von 15 Euro inkl. MwSt. und zzgl. Versandkosten bestellt werden. (ISBN 978-3-00-060966-4) All you can read Zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren d im Si Wa Ab Aboo www.t Ökosystem Stadt Am 4. September 2023 erscheint die nächste Ausgabe von Transforming Cities mit dem Themenschwerpunkt Grün-blaue Infrastrukturen Urbaner Wasserhaushalt Hochwasserschutz und Hitzevorsorge Stadtbäume im Klimawandel Stadtwald und Grünflächen Wildtiere in der Stadt Urban Farming Dach- und Fassadenbegrünung Baubotanik