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Anpassung an den Klimawandel - Erhalt von Lebensräumen Anpassung an den Klimawandel - Erhalt von Lebensräumen Stadtgrün | Urbane Wildnis | Hitzeschutz | Regenwasser | Klimawandelanpassung Stadtgrün | Urbane Wildnis | Hitzeschutz | Regenwasser| Klimawandelanpassung 3 · 2023 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Ökosystem Stadt H AUP TPRO G R A MM IST O NLINE www.gat-wat.de 6. - 7. September 2023 Koelnmesse Die Leitveranstaltung der Energie- und Wasserwirtschaft GAT-WAT2023-AZ-GWFGAS-210x297_3mmB_01.indd 1 05.05.23 10: 55 1 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, was muss eigentlich noch passieren? Wie viele katastrophale Fluten und verheerende Waldbrände, wie viele Hitzetote muss es noch geben, bis eine Gesellschaft bereit ist, ihr Desinteresse aufzugeben und zu handeln? Weltweit apokalyptische Bilder, allein in diesem Sommer: Überflutungen in Slowenien und Österreich, in Norwegen, in Zentralafrika, Japan und China, in Südkorea klappten beim Weltpfadfindertreffen „Jamboree“ erst etliche Jugendliche wegen der großen Hitze zusammen, dann mussten die rund 43 000 Teilnehmer das Camp wegen des Taifuns „Khanun“ räumen. Feuer rund ums Mittelmeer, in Chile und Kanada, die Stadt Lahaina auf der hawaiianischen Insel Maui gibt es praktisch nicht mehr. Alles, wofür die Menschen ihr Leben lang gearbeitet haben - weg. Wissenschaftler - etwa die des Weltklimarats (IPCC) - warnen seit Jahren, genau genommen seit Jahrzehnten: Die aufgrund zunehmender CO 2 -Belastung kontinuierlich steigenden Temperaturen führen zu häufigeren Wetterextremen. Lange Zeit vorausberechnet, werden diese Vorhersagen jetzt auf brutale Weise Wirklichkeit, auch wenn Lobbyisten immer noch nach Kräften versuchen, die Klimaforschung zu diskreditieren. Und was tun wir? Darüber diskutieren, ob und wie eine Transformation zu einem nachhaltigeren Umgang mit unserem Planeten den Menschen zugemutet werden kann. Schließlich kostet das ja viel Geld und beraubt den Einzelnen seiner persönlichen Freiheit. Dumm nur, dass es für das Motto „Nach mir die Sintflut“ inzwischen viel zu spät ist. Also ich denke: Anstatt auf die ewig Gestrigen zu hören, die es sich in ihrer Verweigerungsblase gemütlich gemacht haben, sollten alle, die noch bei Trost sind, jetzt handeln. Gute Ideen und sinnvolle Strategien gibt es reichlich. Es gilt nun, dass alle, die guten Willens sind, diese gewaltige gesellschaftliche Aufgabe mit vereinten Kräften anpacken. Ein wichtiger Anfang sollte die Transformation unserer Städte sein. Sie sind wesentliche Verursacher des Klimawandels; sie sind aber auch von dessen Auswirkungen in hohem Maß betroffen. Denn Hitzeperioden und Starkregen belasten dicht bebaute Gebiete besonders. Anpassungsstrategien sind notwendig, um das Stadtklima erträglich, um Infrastrukturen widerstandsfähig zu machen. Wesentliche Faktoren dabei: das städtische Grün und der urbane Wasserhaushalt. In der neuen Ausgabe von „Transforming Cities“ finden Sie dazu viele Anregungen und nachahmenswerte Beispiele. Lesen Sie selbst. Und handeln Sie! Christine Ziegler Redaktionsleitung „Transforming Cities“ Ökosystem Stadt 2 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES INHALT 3 · 2023 FORUM Interview 4 Wohnen der Zukunft - Future Living 2040+ Im Gespräch mit Prof. Dr. Vanessa Borkmann und Anna-Lena Reulein vom Fraunhofer IAO Veranstaltungen 10 Wie Städte und der ländliche Raum klimafit werden können wat 2023 in Köln Michael Nallinger PRA XIS + PROJEKTE Energie 12 Brainergy Park Jülich Weiterer Meilenstein im Leuchtturmprojekt des Rheinischen Reviers erreicht Kommunikation 14 Bis zu 80 Prozent Energie einsparbar Smartes Management der Straßenbeleuchtung von Giardinello Fabian Pasimeni Infrastruktur 17 Spiel mit Wasser und seinen Geräuschen Klaus W. König 20 Ein Jahrhundertprojekt geht in die nächste Runde Gütegesicherter Bau eines Stauraumkanals in Nürnberg 22 Klimaanpassung im urbanen Raum Intelligente Konzepte für den Umgang mit Regenwasser 24 Burgoberbach lässt Radfahrer nicht im Regen stehen Niederschlagsmanagement mit D-Raintank 3000 ® 26 Runter von der Straße Tanja Holst Stadtraum 28 Gegen die Hitze in der Stadt Wie Fassaden- und Dachbegrünung für Abkühlung sorgen kann Tassilo Soltkahn 30 Der StreetTREE-Planter Wasserversorgung von Straßenbäumen Christina Henöckl, Irene Zluwa 32 Care4GREEN Pflege gemeinschaftlicher Grünflächen Irene Zluwa, Michael Gräf, Doris Allerstorfer, Julia Salzlechner, Anna Briefer, Peter Skolek, Rosemarie Stangl 34 Gepflegt abhängen Mit der Grünfassade ein Biotop für Artenvielfalt schaffen 36 Ökologischer Mehrwert, mehr Platz auf dem Dach Kristin Preßler 38 Die Lösung gegen Trockenheit im Sommer Optigrün Retentionsdach als intelligente Nutzung von Dachflächen 39 Wildnis mitten in Barcelona Dachgarten des Porxos d’en Xifré, Spanien Fabian Kaiser Seite 17 Seite 20 Seite 30 © markusbertschi fotografie © Güteschutz Kanalbau © Christina Henöckl 3 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES INHALT 3 · 2023 THEMA Ökosystem Stadt 42 Mikroklimatische Wirkungen blattwendender Baumarten Verbesserte lokalklimatische Bedingungen im urbanen Raum durch die Silberlinde (Tilia tomentosa) Judith Geib, Sascha Henninger 46 Wildnis Hauptwache Mit anderen Augen auf altbekannte Plätze blicken Natalie Heger, Ruth Schlögl 50 Käfer, Wildbienen und Wespen erobern Hamburgs Gründächer Hanna Bornholdt, Justus Alexander Quanz, Lukas Kühle, Hannes Hoffmann, Elisabeth Fröhlich, Marco Giardino 56 Kulturelle Ökosystemleistungen urbaner Grünräume Ergebnisse einer Umfrage im Ruhrgebiet und in Shanghai Christin Busch, Matthias Falke, Kathrin Specht 61 Stärkung der Klimaresilienz in der vietnamesischen Stadt Huế Naturbasierte Lösungen zur Reduzierung von Hitzestress und zur Verbesserung der Luftqualität Fabian Stolpe, Thi Binh Minh Hoang, Dac Hoang Long Nguyen 66 Lokalem Hitzestress im Quartier zielgenau begegnen 3D-Stadtklimasimulationen zur Gestaltung schattiger und einladender Grünräume Sigrun Kabisch, Uwe Schlink, Daniel Hertel, Janine Pößneck 71 Klimaanpassung mittels blaugrüner Infrastrukturen Beschleunigung von Nachhaltigkeitstransformationen mit dem Infrastructure-Transition- Canvas (ITC) Claudia Hohmann, Susanne Bieker 76 Anpassung der Städte an den Klimawandel Eine vergleichende Studie zu Berlin, Zürich und Sevilla Aicha Zekar, Felix Creutzig 80 Digitalisierung als Treiber einer resilienten Stadtentwicklung Ganzheitliche resiliente Stadtplanung in der Europastadt Guben Jana Helder, Sophie Knoop, Oskar Starick, Anne Handschick 84 Gebäudehülle Plus Multifunktion und Mehrfachnutzen Svenja Binz, Stefan Haas FOKUS Fachliteratur 88 Hansjörg Straub: Der Überlinger Stadtgarten Rezension von Klaus W. König 88 Impressum Seite 46 Seite 61 © Felix Krumbholz Seite 71 © Hermann Kollinger auf Pixabay © Stolpe 4 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Mit gesellschaftlichen und technologischen Entwicklungen verändern sich auch tradierte Wohnformen. Hat der Klassiker „Drei Zimmer, Küche, Bad“ noch eine Zukunft? Der Wohnklassiker „Drei Zimmer, Küche, Bad“ entstand in einer Zeit, in welcher Menschen und Familien nach Lebensentwürfen gelebt haben, für die dieses Wohnmodell optimal war. Heutzutage gibt es immer noch viele Menschen, für die dieses Wohnmodell passt - jedoch entwickeln sich seit einigen Jahren vielfältige neue Wohnmodelle, die sich den gegenwärtigen Lebensumständen der Bevölkerung anpassen. Die klassische Biografie mit den Lebensabschnitten Jugend, Erwerbstätigkeit und Ruhestand, wird von individuellen und sehr heterogen verlaufenden Multigrafien abgelöst. Diese sind gekennzeichnet von neuen, sich überschneidenden sowie wiederholenden Phasen und Neuanfängen, verbunden mit hoher Flexibilität. Zudem beeinflussen weitere Wandlungsprozesse, basierend auf Umweltfaktoren, auf sozialen, wirtschaftlichen und politischen Rahmendbedingungen sowie der Digitalisierung alle Lebensbereiche. Laut Statistischem Bundesamt ist die durchschnittliche Pro-Kopf-Wohnfläche in Deutschland seit Anfang der 90er-Jahre um mehr als 12 m 2 gewachsen, zudem soll schon im Jahr 2040 voraussichtlich jeder vierte Mensch in Deutschland allein wohnen. Einem Bericht der Vereinten Nationen zufolge werden im Jahr 2050 zwei Drittel der Weltbevölkerung in Städten leben. Wohnen der Zukunft - Future Living 2040+ Trends und Handlungsfelder für gemeinschaftsorientiertes Wohnen Ein Whitepaper 1 des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO erörtert, welche Bedeutung und welche Formen zukunftsgerichtetes Wohnen im urbanen Raum einnimmt. Dabei spielt der aus dem gesellschaftlichen Wandel hervorgehende Aspekt der gemeinschaftlichen Orientierung von Wohn- und Lebensformen eine besonders relevante Rolle. Im Interview erläutern Prof. Dr. Vanessa Borkmann, Leiterin des Teams „Smart Urban Environments“, und Anna-Lena Reulein, Projektleiterin „Future Living“, wie zukunftsweisende Trends, Wohnformen und Handlungsfelder einen Beitrag für eine Stadtentwicklung mit Zukunft leisten können. 1 Whitepaper als PDF: https: / / publica.fraunhofer.de/ bitstreams/ fd0123f3-f4f2-4427-8e37-649ac8bf4e36/ download Bild 1: Prof. Dr. Vanessa Borkmann (rechts), Leiterin des Teams „Smart Urban Environments“ , und Anna-Lena Reulein (links), Projektleiterin „Future Living“. © Fraunhofer IAO, Ludmilla Parsyak 5 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview Exemplarisch können zudem - wie im Whitepaper Future Living 2040+ ausgeführt - der Rückgang der Geburtenrate, immer spätere Familiengründungen und eine stetig schrumpfende Haushaltgröße bei gleichzeitig wachsenden Quadratmeterzahlen sowie der Einzug des Arbeitsplatzes in die eigenen vier Wände genannt werden. Die beschriebenen Trends gehen mit neuen Anforderungen an das Wohnen einher, die über die Möglichkeiten der tradierten Wohnform von „Drei Zimmer, Küche, Bad“ hinausgehen. Dieser „Klassiker“ wird abgelöst von flexiblen Wohnmodellen, die sich durch eine hohe Anpassungsfähigkeit an individuelle Lebensstile und -phasen auszeichnen. Wie werden sich neue Lebenswirklichkeiten und differenzierte soziale Arrangements auf Wohnbedürfnisse auswirken? In einer sich stetig verändernden, hyperindividualisierten Gesellschaft, in der traditionelle Lebensentwürfe zunehmend aufgebrochen werden, entstehen vielfältige Wohnanforderungen und -präferenzen, die den jeweiligen Lebensentwürfen gerecht werden müssen. Menschen streben heute nach mehr Individualität und Selbstverwirklichung, was schlussendlich in der bereits erwähnten Multigrafie kumuliert. Es entsteht dadurch ein wachsender Bedarf nach flexiblen Wohnlösungen, die an verschiedene Lebensphasen und -stile angepasst werden können und sozusagen mit den sich verändernden Bedürfnissen der Bewohnenden „mitwachsen“. Trotz des wachsenden Strebens nach Individualität spielen soziale Arrangements und das Verlangen nach Zugehörigkeit und Geborgenheit eine entscheidende Rolle. Nicht traditionelle Familienstrukturen, Mehrgenerationenwohnen und das Leben in der selbst ausgewählten Community werden immer häufiger. Diese neuen sozialen Arrangements erfordern Wohnkonzepte, die Privatsphäre und Gemeinschaftsräume in Einklang bringen und die Bedürfnisse unterschiedlicher Haushalte berücksichtigen. Es gilt demnach den Spagat zwischen dem Wunsch nach dem Leben in und/ oder mit einer homogenen, gleichgesinnten Gruppe, bei gleichzeitigem Ausleben des individuellen Lebensstils zu meistern. Welche Schlüsse muss die Stadtentwicklung aus der gesellschaftlichen Transformation ziehen? Durch die gesellschaftliche Transformation rücken in Bezug auf das Feld der lebenswerten Stadt die drei Bereiche Wohnen, Leben und Arbeiten immer enger zusammen. Sie beeinflussen sich gegenseitig und wirken sich auf Umgebung und Raum aus. Die Stadtentwicklung ist daher primär gefordert, diese drei Bereiche synergetisch und integrativ zusammenzudenken und ganzheitliche Ansätze und Konzepte zu verfolgen. Im Zuge unserer Forschungsarbeit wurden 13- Handlungsfelder identifiziert, welche der Stadtentwicklung bei der Transformation in die Zukunft behilflich sein können. Die Handlungsfelder sind kennzeichnend für eine lebenswerte Stadt bzw. tragen zu dieser bei. Als Beispiel kann das Handlungsfeld „Natur“ genannt werden: Eine zukunftsfähige Stadtentwicklung muss die Reduzierung der Umweltbelastung und den Kampf gegen den Klimawandel in den Mittelpunkt stellen. Intakte Ökosysteme und die Biodiversität von Flora und Fauna sollen erhalten und gepflegt werden. Grüner Stadtraum und blaue Infrastrukturen können neben dem Senken von Temperaturen auch neue Begegnungsorte schaffen und zu einem Alleinstellungsmerkmal für den Standort werden. Ein intakter Zugang zur Natur in direkter Umgebung sowie Urban Farming und lokale, nachhaltige Lebensproduktion sind hier ebenso von Bedeutung. Um den Bedürfnissen und Ansprüchen der Bevölkerung gerecht zu werden, ist es zudem wichtig, aktive Communities aufzubauen, innovative Serviceangebote - in Form von digitalen und analogen Dienstleistungen - zu entwickeln und neue Kooperationen im Ökosystem-Kontext der Stadt einzugehen. Schließlich wird das Wohnen von heute durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst, die über das reine Wohnangebot hinausgehen. Eine offene Kommunikation und innovative Kooperationen zwischen den unterschiedlichsten Stakeholdern und Stakeholderinnen tragen hierzu wesentlich bei. Finden die sich ändernden Lebensmodelle Raum in gewachsenen urbanen Strukturen? Ja, sie finden durchaus in gewachsenen urbanen Strukturen ihren Raum, lassen sich jedoch nicht auf diesen beschränken. Es gilt, den gesamten urbanen Raum modular und offen zu denken, um nach den Bedarfen der Bewohnenden zu agieren und entsprechende (Frei-)räume zu schaffen. Ein enger Austausch zwischen dem urbanen Raum, Stadtrandgebieten und dem ruralen Raum wird daher immer wichtiger werden. Müssen Architektur und Städtebau deutlich resilienter und anpassungsfähiger werden? Angesichts der zunehmenden Herausforderungen, denen Städte und ihre Bewohnenden gegenüberstehen, ist es von Bedeutung, dass Architektur und Städtebau resilienter und anpassungsfähiger werden. Das kann vor allem dann geschafft werden, 6 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview wenn Menschen zusammenkommen und sich kollektiv Lösungsstrategien widmen. Mit zunehmendem Austausch, aktivem Zuhören und Verstehen von Interessen und Bedarfen können neue Ideen geboren und Ansätze zur Problemlösung gefunden werden. Es gibt bereits viele gute Ideen, die sich mit genau diesen Themen auseinandersetzen - aus unserer Sicht liegt viel Potenzial in der Adaption von Ansätzen auf den eigenen Standort, unter Einbezug von lokalen und globalen Netzwerken, der Akteurinnen- und Akteurslandschaft und den Ressourcen vor Ort. Einerseits finden wir in der Stadtlandschaft heute gewachsene Strukturen im Bestand, die auch ein „Bleiberecht“ haben - nicht zuletzt aus Nachhaltigkeitsgründen. Zudem wird neuer Wohnraum und neue Architektur geschaffen, die größtenteils noch sehr tradierten Formeln folgt, also Grundrisse, Nutzungen und Gebäudestrukturen aus den letzten Jahrzehnten verwendet. Viel Potenzial liegt in innovativen Strukturen, die eine Anpassungsfähigkeit an Lebensphasen bieten. Dies kann beispielsweise über eine kluge Grundrissgestaltung, neue Geschäftsmodelle und über Nutzungsmixe passieren. Auch temporäre architektonische Strukturen oder innovative Wohntypologien wie beispielsweise Tiny Houses, insbesondere aber gemeinschaftsorientierte Wohnformen im Bereich des Co-Living, die auch mit zielgruppenspezifischen Serviceangeboten und einem hohen Grad an Digitalisierung einhergehen, zahlen aufgrund ihrer Flexibilität auf die geforderte Resilienz ein. Welche Akteure und Akteurinnen braucht es, um ein innovatives Ökosystem der Stadtentwicklung aufzubauen? Ein innovatives Ökosystem setzte sich aus insgesamt vier Gruppen von Akteurinnen und Akteuren zusammen: Aus den Bereichen der Politik, der Wissenschaft, der Wirtschaft und der Gesellschaft. So auch das Wohn-Ökosystem. Grundlegend ist neben einem gemeinsamen „Purpose“ auch der verstetigte Austausch im Stakeholder*innen-Netzwerk. Welche Rolle spielt eine branchenübergreifende Zusammenarbeit unterschiedlichster Akteurinnen und Akteure bei der urbanen Transformation? Die branchenübergreifende Zusammenarbeit unterschiedlichster Akteurinnen und Akteure spielt eine entscheidende Rolle bei der urbanen Transformation. In Anbetracht der komplexen Herausforderungen, die mit der Entwicklung und Gestaltung nachhaltiger Städte verbunden sind, ist eine gemeinsame Zusammenarbeit über verschiedene Branchen hinweg von Bedeutung, um innovative Lösungen zu finden und diese umzusetzen. Die Zusammenarbeit in einer heterogenen Landschaft von Beteiligten ermöglicht es, die verschiedenen Komponenten des städtischen Ökosystems in Betracht zu ziehen und Synergien mit einem ganzheitlichen Ansatz zu schaffen. Durch den Austausch von Fachwissen, Perspektiven und Erfahrungen können innovative und integrierte Lösungen entwickelt werden, die die verschiedenen Aspekte der Stadtentwicklung berücksichtigen und dazu beitragen, eine zukunftsfähige Stadtentwicklung zu gestalten. Darüber hinaus trägt die branchenübergreifende Zusammenarbeit zum Gleichgewicht und zur sozialen wie auch ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit des städtischen Ökosystems bei. Durch die optimale Nutzung von Ressourcen, die Minimierung von Umweltauswirkungen und die Schaffung von sozialen und wirtschaftlichen Chancen können vielfältige Potenziale ausgeschöpft werden. Schaffen Co-Spaces für Wohnen, Arbeiten und Leben ein mögliches Umfeld, um soziales Auseinanderdriften einzudämmen? Co-Spaces als (teil-)öffentliche Orte weisen, neben ihren spezifischen Funktionen, ein wesentliches Merkmal auf: Sie sind Orte der Begegnung. Sie schaffen Austausch zwischen verschiedenen Menschen - die entweder gemeinsam an einem Projekt arbeiten oder sich zum ersten Mal zufällig im gleichen Raum aufhalten. Damit geht immer eine indirekte oder direkte Art der Interaktion einher und das Wahrnehmen eines Umfelds. In unserer zunehmend vernetzten und flexiblen Gesellschaft sind traditionelle Trennungen zwischen Wohn-, Lebens- und Arbeitsbereichen nicht länger zwingend erforderlich. Co-Spaces bieten damit die Möglichkeit, verschiedene Lebensbereiche miteinander zu verbinden und dadurch neue Synergien Bild 2: Co-Working Space. © Mona Sorcelli on Unsplash 7 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview zu schaffen und soziale Interaktionen zu fördern. Die Gestaltung von Co-Spaces bietet eine Möglichkeit, interaktionsfördernde Elemente zu integrieren. Dadurch kann neben der Stärkung von Kommunikations-Skills und dem Aktivieren der eigenen Kreativität durch externe Impulse auch das Verständnis für und der Austausch unter heterogenen sozialen Gruppen wachsen. Co-Spaces können demnach eine von vielen Maßnahmen sein, dem sozialem Auseinanderdriften entgegenzuwirken. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass diese Maßnahmen einer ganzheitlich teilhabeorientierten, integrativen sowie inklusiven Ausrichtung der Stadt unterliegen sollten. Eine gewisse Herausforderung besteht darin, dass es auch Co-Spaces gibt, die nur Personen einer bestimmten Gruppe (Lebensstil, Milieu, Interessen) adressieren und der Co-Space in diesem Fall eine isolierte Auseinandersetzung mit Themen erlaubt, aber nicht auf Diversität, Integration und Offenheit einzahlt. Was sollten solche urbanen Ökosysteme Nutzenden außerdem anbieten? Durch eine enge Zusammenarbeit und Kooperation zwischen den verschiedenen Stakeholdern und Stakeholderinnen innerhalb des Ökosystems entstehen Innovationen und Kooperationen, die die Lebensqualität vor Ort steigern. Da sich die Lebensqualität eines Standorts auf die Bedürfnisse der Bewohnenden und der Gäste auswirkt, geht es demnach auch indirekt darum, die vorhandenen Kapazitäten zu bündeln, um neue digitale und analoge Geschäftsmodelle und Services, im Sinne von Dienstleistungen, zu entwickeln, die sich positiv auf die Lebensqualität auswirken. Dies können unterschiedlich ausgeprägte Services in allen Feldern, wie beispielsweise Kultur, Bildung oder Soziales sein: Sei es ein Welcome Hub samt Buddy-Up-Programm zum Ankommen an einem neuen Arbeitsort, die Möglichkeit, Lagerräume zur Einlagerung von Hab und Gut flexibel dazu zu buchen, wenn sich der Arbeitsort temporär verändern sollte, oder innovative und spielerische Learning Labs in Anbindung an einen Bildungscampus. Bei der Umsetzung kommen entsprechende digitale und analoge Placemaking-Strategien zum Tragen, die dabei unterstützen, Lebensräume zu gestalten. Dies können wir auch in anderen Feldern, in welchen wir uns mit Ökosystemen beschäftigen, beobachten. Auch im kulturellen Bereich zeigt uns das sich derzeit in der Entwicklung befindende museale Ökosystem auf, dass Placemaking sowie kollaborative Ansätze bei der Zusammenarbeit unabdingbar sind. Apropos Ökosystem: Welchen Stellenwert hat Nachhaltigkeit - sozial, ökologisch und ökonomisch - für innovative Wohnformen? Nachhaltigkeit hat einen enormen Stellenwert für innovative Wohnformen, sowohl in sozialer, ökologischer als auch ökonomischer Hinsicht. In der heutigen Zeit ist es entscheidend, dass Wohnformen nicht nur den individuellen Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner gerecht werden, sondern auch im Einklang mit Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft stehen. Soziale Nachhaltigkeit bezieht sich darauf, dass innovative Wohnformen inklusiv und sozial gerecht sind. Sie sollten eine Vielfalt von Menschen ansprechen und Raum für soziale Interaktion und Gemeinschaft bieten. Dies kann durch die Schaffung gemeinschaftlicher Räume und Einrichtungen erreicht werden, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner zusammenkommen, sich austauschen und gemeinsame Aktivitäten durchführen können. Innovative Wohnformen sollten auch so gestaltet sein, dass sie eine gesunde und sichere Umgebung fördern und das Wohlbefinden der Menschen unterstützen. Ökologische Nachhaltigkeit zielt unter anderem darauf ab, Ressourcen effizient zu nutzen, den Energieverbrauch zu reduzieren und den ökologischen Fußabdruck der Wohnformen zu minimieren. Das kann durch energieeffiziente Gebäudekonzepte, den Einsatz erneuerbarer Energien, nachhaltige Materialien und eine intelligente Gebäudetechnik erreicht werden. Zudem sollten innovative Wohnformen eine grüne Infrastruktur umfassen, wie beispielsweise begrünte Dächer, Gemeinschaftsgärten und den Zugang zu natürlichen Freiflächen. Dies fördert nicht nur die Umweltverträglichkeit, Bild 3: Begrünte Fassade auf der Floriade Expo 2022, Almere, Netherlands. © Jw on unsplash 8 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FORUM Interview sondern auch das Wohlbefinden und die Gesundheit der Bewohnerinnen und Bewohner. Auch ökonomische Nachhaltigkeit spielt eine wichtige Rolle für innovative Wohnformen. Sie sollten bezahlbar und wirtschaftlich rentabel sein. Durch effizientes Flächennutzungsmanagement und die Integration von gemischt genutzten Gebäuden und Quartieren kann eine optimale Nutzung der vorhandenen Ressourcen gewährleistet werden. Zudem können innovative Wohnformen neue Wirtschaftsmodelle und Arbeitsmöglichkeiten fördern, wie die bereits genannten Co-Working Spaces, die eine flexible Arbeitsumgebung bieten. Insgesamt ist Nachhaltigkeit ein grundlegender Aspekt für innovative Wohnformen. Sie trägt dazu bei, eine lebenswerte und zukunftsfähige Umgebung zu schaffen, die soziale, ökologische und ökonomische Anforderungen erfüllt. Durch die Integration nachhaltiger Prinzipien können innovative Wohnformen eine positive Wirkung auf die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner haben und gleichzeitig einen Beitrag zum Schutz der Umwelt leisten. Wie kann gerade in dicht bebauten Innenstädten ein gesundes und lebenswertes Wohnumfeld geschaffen werden? Hier kann die Ergänzung des privaten Wohnraums durch eine attraktive Infrastruktur, die auf die Aspekte Freizeitgestaltung, Kultur, Natur, Bildung, Mobilität, Technik sowie auf Community Building einzahlt, viel bewirken. Dabei sollte die Infrastruktur um den eigenen Wohnraum so aufgebaut sein, dass alle für den Alltag notwendigen Bedarfe oder Stationen innerhalb weniger Minuten erreicht werden können, das Modell der 10-Minuten-Stadt macht es vor. Dies erfordert neben dem Denken in Quartieren und Hubs auch den Ausbau eines starken multimodalen Mobilitäts-Netzes, das es ermöglicht, über Sharing-Angebote und einen flächendeckenden ÖPNV, innerhalb weniger Minuten größere Strecken zurückzulegen. Innerhalb der eigenen vier Wände werden modulare Systeme zum Game-Changer. Sie ermöglichen es, Grundrisse und Möbel so zu gestalten, dass sie sich sowohl den sich verändernden Bedürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner anpassen als auch den Umständen des Standorts gerecht werden können. Bereits bei der Planung neuer Wohnräume können modulare Lösungen eingesetzt werden. Dabei werden flexible Grundrisse und Raumkonzepte entwickelt, die es ermöglichen, die Wohnfläche bei Bedarf zu vergrößern oder zu verkleinern. Zum Beispiel können Trennwände oder verschiebbare Elemente verwendet werden, um zusätzliche Zimmer oder größere Wohnbereiche zu schaffen. Dies bietet den Bewohnerinnen und Bewohnern die Möglichkeit, den Raum an ihre aktuellen Bedürfnisse anzupassen, sei es für Familienzuwachs, Home- Office-Bereiche oder andere Veränderungen im Lebensverlauf. Anbietende wie das „Poha House“ oder „the Set“ ermöglichen es bereits, dass sich die räumlichen Bedarfe an alle Lebenslagen und -phasen anpassen und Bewohnende auf Grund der gegebenen hohen räumlichen Flexibilität nicht mehr umziehen müssen. Auch beim nachträglichen Aus- oder Umbau von bestehenden Wohnräumen können modulare Möbel eine große Hilfe sein. Ein gutes Beispiel ist das Konzept von Popup Living, das wir in unserem Whitepaper „Future Living 2040+ - Trends und Handlungsfelder für gemeinschaftsorientiertes Wohnen“ als Good-Practice-Fall identifiziert haben. Mit modularen Möbeln können verschiedene Funktionen in einem Raum kombiniert werden. Zum Beispiel können ein Queensize-Bett, ein Kleiderschrank und ein Arbeitsplatz in einem kompakten Möbelsystem untergebracht werden. Tagsüber können diese Elemente einfach umgestaltet werden, um den Raum für andere Aktivitäten zu nutzen. Dadurch wird der verfügbare Raum optimal genutzt und die Wohnqualität verbessert. Modulare Systeme bieten den Vorteil der Flexibilität und Anpassungsfähigkeit, ohne dabei Kompromisse bei Komfort und Funktionalität einzugehen. Sie ermöglichen es, den vorhandenen Raum effizient zu nutzen und gehen dennoch auf individuelle Bedürfnisse ein. In Zeiten des Fachkräftemangels und hoher Fluktuation sind Kommunen und Städte umso mehr gefordert, sich mit Themen der modularen, flexiblen, gemeinschaftsorientierten Wohnwelt auseinander zu setzen, um attraktive und lebenswerte Räume für Arbeitgebende und die Wirtschaft aufrecht zu erhalten und dadurch auch für Talente und Fachkräfte interessant zu sein. Hierzu haben wir am Fraunhofer IAO verschiedene Konzepte und Lösungen entwickelt - mit unserer Expertise helfen wir interessierten Kommunen und Städten als Kooperationspartner dabei, diese umzusetzen. Prof. Dr. Vanessa Borkmann Leiterin Team Smart Urban Environments vanessa.borkmann@iao.fraunhofer.de www.muse.iao.fraunhofer.de/ de/ ueber_uns/ team_ stadtsystemgestaltung.html KONTAKT Das führende Event für den digitalen Staat und öffentliche Dienste. STA D T L A N D T E C H Kongress | Expo | Workshops 07. - 09. November 2023 hub27 | Messegelände Berlin J E T Z T TICKET S I C H E R N 10 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen Allein im vergangenen Sommer hat es in Europa über 60 000 Hitzetote gegeben, wie ein Forscherteam kürzlich im Fachmagazin Nature Medicine berichtete. Auch in diesem Sommer sind die Auswirkungen des Klimawandels deutlich spürbar. Um Städte und den ländlichen Raum klimafit zu machen, müssen sie sowohl auf extreme Starkregenereignisse als auch auf lange und heiße Trockenperioden vorbereitet werden. Bereits die vergangenen sehr heißen und trockenen Jahre hätten aufgezeigt, dass sich die Trinkwasserversorgung in Deutschland weiter entwickeln müsse, um weiterhin Bevölkerung und Industrie sicher versorgen zu können, sagt Dr. Wolf Merkel. Der für den Wasserbereich beim Deutschen Verein des Gas- und Wasserfachs e. V. (DVGW) zuständige Vorstand betont: „Die Klimaveränderungen stellen die Wasserversorger hinsichtlich notwendiger Anpassungen der Anlagen und Infrastrukturen vor enorme Herausforderungen. Nur wenn diese frühzeitig erkannt und Maßnahmen eingeleitet werden, können wir den Veränderungen im Wasserdargebot und in der Nachfrage weiterhin gerecht werden.“ Die bereits vorhandene Dimension der Veränderung machte eine kürzlich veröffentlichte Umfrage des DVGW unter rund 360 Wasserversorgungsunternehmen deutlich. Danach haben bereits 19 % der deutschen Versorger im Jahr 2022 Engpässe bei Wasserressourcen erlebt. 35 % mussten zudem einen sehr hohen Auslastungsgrad von über 90 % bei der Wasseraufbereitung am Spitzentag registrieren. Und auch bei der Auslastung der Förderkapazität am Spitzentag gab es eine steigende Tendenz: 31 % der Unternehmen hatten einen Ausnutzungsgrad von 90 % und darüber - vor fünf Jahren lag dieser Wert noch bei 25 %. Wasserbranche geht mit gutem Beispiel voran Bei den Maßnahmen zu mehr Klimaschutz geht die Wasserbranche selbst mit gutem Beispiel voran. Mitte Juli adressierten die Verbände BDEW, DVGW und DWA und VKU mit einem Positionspapier Lösungen und Handlungsoptionen für Klima-Resilienz und Klimaschutz. Die Wasserbranche kündigte an, ihren Beitrag zur Minderung der Emissionen weiter zu verstärken, um das Ziel der Klimaneutralität bis 2045 zu erreichen. Dabei ist schon einiges in die Wege geleitet worden. Obwohl die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung nur zu einem verschwindend geringen Anteil (0,05 %) des emissionsrelevanten Energieverbrauchs aller Produktionsbereiche in Deutschland auf sich vereint, verfolgen die Betreiberunternehmen intensiv konkrete Projekte zur Energieeinsparung, Energieeffizienz und Klimaneutralität. Die an der Initiative beteiligten Organisationen verweisen darauf, dass seit 2010 bereits deutliche Reduktionen erzielt werden konnten: So habe die Wasserwirtschaft den emissionsrelevanten Energieverbrauch von 1 210 im Jahr 2010 auf 1 013-TJ im Jahr 2020 gesenkt; in der Abwasserwirtschaft im gleichen Zeitraum von 6 453 auf 2 499-TJ. Für den DVGW-Vorstand Dr. Wolf Merkel ist die Situation klar: „Es bedarf verstärkt Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen, um die Wasserversorgung fit für die Zukunft zu machen.“ Dabei sei es wichtig, die Versorgungsinfrastruktur zunehmend resilenter auszulegen. Hierfür stehen nach Einschätzung des DVGW mehrere Optionen zur Verfügung: die Erschließung neuer Gewinnungsgebiete, der Bau neuer Talsperren, vermehrte Nutzung unterirdischer Wasserspeicher oder der Ausbau Wie Städte und der ländliche Raum klimafit werden können wat 2023 in Köln Michael Nallinger Die bereits deutlich erkennbaren Klimaveränderungen bringen erhebliche Herausforderungen für die Wasserversorgungsunternehmen mit sich. Diese sind gefordert, ihre Anlagen und Infrastrukturen an die neuen Bedingungen anzupassen. Wie dies gelingen kann, steht auf der Tagesordnung des wichtigen Branchentreffs wat 2023, der am 6. und 7. September in Köln stattfindet. wat - Branchentreffen der Wasserwirtschaft. © Boris Trenkel 11 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen des Fernleitungssystems bzw. der Ausbau von Verbundsystemen zu benachbarten Versorgern. Eine Einheits-Lösung für alle gibt es hier laut Merkel nicht: „Es muss jedes Versorgungssystem individuell betrachtet werden“, unterstreicht er. Nationale Wasserstrategie als wichtiger Schritt Ein wichtiger politischer Schritt in diese Richtung ist die im März von der Bundesregierung verabschiedete „Nationale Wasserstrategie“. Diese definiert unter anderem, dass Infrastrukturen mit möglichst geringem Aufwand und flexibel an die Herausforderungen des Klimawandels anzupassen sind. Beim DVGW begrüßt man die Ziele der Nationalen Wasserstrategie und insbesondere die auf die Vorsorge gerichteten Handlungsansätze. „Die Politik hat die hohe Bedeutung einer nachhaltigen und sicheren Wasserwirtschaft erkannt“, sagt Merkel. Ein weiterer Baustein zur gesicherten Wasserversorgung ist hier auch ein guter Zustand der Gewässer. Das vorsorgende Risikomanagement im Einzugsgebiet muss über die Trinkwassereinzugsgebieteverordnung (TrinkwEzgV) etabliert werden, mit der klaren Zuständigkeit bei den Ländern. Als Kernelement fordert der DVGW bei Schadstoffeinträgen die konsequente Anwendung des Verursacherprinzips. „End-of-Pipe-Ansätze sind definitiv keine Lösung. Die forcierte Aufbereitung des Trinkwassers würde das Problem nur einseitig auf die Wasserversorgung verlagern und ihr allein den Schwarzen Peter zuschieben“, so Merkel. Die wat als zentrale Dialogplattform Sowohl die Nationale Wasserstrategie als auch die nationale Umsetzung der EU-Trinkwasserrichtlinie in Form der deutschen TrinkwV bzw. der TrinkwEzgV sind Themen auf der wichtigen Branchenveranstaltung wat 2023, die am 6. und 7. September in Köln stattfindet. So berichtet etwa Egon Harms, Bereichsleiter Wasserwirtschaft und Qualitätsüberwachung beim Wasserversorger OOWV über die neuen Anforderungen an das Risikomanagement in Einzugsgebieten von Wassergewinnungsanlagen. Kerstin Voigt vom Gesundheitsamt Frankfurt am Main bewertet die neue Trinkwasserverordnung aus Sicht eines Gesundheitsamts. In der Session „Wasserqualität“ eruiert unter anderem Dr. Caroline Douhaire von Geulen & Klinger Rechtsanwälte die Frage nach der verursachungsgerechten Kostenübernahme bei der Verschmutzung durch PFAS im Sinne einer Herstellerverantwortung. Am ersten Kongresstag steht zudem ein wichtiger Punkt unter der Überschrift „Wasserverfügbarkeit und Wassernutzungskonflikte“ auf dem Programm. Unter anderem berichtet dort der Fachgebietsleiter für übergreifende Angelegenheiten Wasser und Boden beim Umweltbundesamt, Dr.- Jörg Rechenberg, über Anpassungsmaßnahmen an Trockenheit und Dürre in Deutschland. Sebastian Sturm, Abteilungsleiter Wasserversorgung am Technologiezentrum Wasser des DVGW, erläutert multisektorale Wasserbedarfsszenarien für Deutschland und der Leiter des mitteldeutschen Klimabüros am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, Dr. Andreas Marx, präsentiert die neue Web-Plattform „Wasserressourcen-Informationssystem Deutschland“. Der Branchentreff wat ist laut DVGW die zentrale Plattform für den lösungsorientierten übergreifenden Dialog mit Politik, Wissenschaft und Wirtschaft und bündelt hierzu das Knowhow der Branche zu einer umfassenden Standortbestimmung. Ein neu konzipiertes Praktikerforum im Rahmen der Messe bietet zudem erstmalig mit vergünstigtem Eintrittspreis zwei spannende Tage mit Vorträgen zum Technischen Regelwerk, Projekteinblicken und Technologie-Updates. www.gat-wat.de Grüne Dächer sind ein architektonisches Highlight, Nutzungs- und Erholungsfläche. Daneben punkten sie mit zahlreichen ökonomischen sowie ökologischen Vorteilen und tragen dazu bei, dem Klimawandel entgegenzuwirken. Multitalent Gründach Tel: 07022 9060-600 www.zinco.de/ gruendachsysteme Von Bienenweide bis Klimaschutz ANZEIGE 12 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie E.ON Energy Solutions GmbH hat zusammen mit den Unternehmen Fichtner, Stadtwerke Jülich, pbs Energiesysteme sowie dem Startup heatbeat nrw als ARGE „set4“ ein nachhaltiges, integriertes und resilientes Energie-Versorgungskonzept mit dem Ziel entwickelt, Energieversorgungsansätze von morgen unter Beachtung neuer Technologien, der digitalen Vernetzung sowie der Ausarbeitung zukunftsoffener Geschäftsmodelle für das Leuchtturmprojekt skalierbar darzustellen. „Toll ist,“ so Dr. Arndt Brauckmann als Konsortialführer von der E.ON Energy Solutions GmbH, „dass wir als E.ON gerade in der Herzkammer der deutschen Energieversorgung, dem Rheinischen Revier, als EVU den Strukturwandel bei solch einem Leuchtturmprojekt aktiv unterstützen dürfen.“ Gefördert wurden die bisherigen Arbeiten unter anderem aus Mitteln des Ministeriums für Wirtschaft, Industrie, Klimaschutz und Energie des Landes Nordrhein-Westfalen. Erfreulicherweise wurde nunmehr ein entsprechender Förderantrag für das rund 50 Mio.- € umfassende Investitionsvorhaben vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz über das BAFA, Förderprogramm BEW, in Höhe von 19,2 Mio. € als bisher größte Einzelförderung bewilligt. Dr. Jan Stichtenoth, technischer Leiter des Energiesystems am Brainergy Park: „Geplant ist ein über 5 km langes dekarbonisiertes Wärmenetz mit über 40 dezentralen und zentralen Wärmepumpen sowie ein großer zentraler Eisspeicher für die rund 200 000 m² zu beheizende und zu kühlende Fläche. Das Low-ex- Wärme-/ Kühlungsnetz ist dabei als sogenanntes Prosumer-Netz ausgelegt, soll also bei den Gewerbebetrieben entstehende Abwärme für andere Gewerbebetriebe nutzbar machen. Um die entstehenden regionalen erneuerbaren Energien - verpflichtend Dach-Photovoltaik und Windstrom - optimal lokal zu nutzen, ist die Errichtung eines Betriebsstromnetzes und von Stromspeicherlösungen zur direkten Integration geplant.“ „In Jülich gibt es eine Forschungslandschaft mit weltweitem Ruf - viele Forscher und Denker, die Know-how und Ideen für Zukunftstechnologien entwickeln“, so Prof. Dr. Hoffschmidt, GF Brainergy Park Jülich GmbH. „Unter Einbindung der Ideen lokaler Startups ist es uns mit E.ON als Partner gelungen, einen sehr guten ökologischen Fußabdruck des Wärmesystems mit einem Primärenergiefaktor von weniger als 0,1 als Planwert bei einer CO 2 -Einsparung von 1 434 t/ a zu planen, das heißt, von 95 % gegenüber dem Referenzsystem BAFA/ BEW-Förderung. Damit der Strukturwandel im Rheinischen Revier gelingt, soll zukünftig die Transformation dieser Ideen in Brainergy Park Jülich Weiterer Meilenstein im Leuchtturmprojekt des Rheinischen Reviers erreicht Die Kommunen Jülich, Niederzier und Titz sowie der Kreis Düren entwickeln ein 52 ha großes interkommunales Gewerbegebiet, den Brainergy Park; Ziel ist es, mit diesem Leuchtturmprojekt im Rheinischen Revier 4 000 Arbeitsplätze anzusiedeln, mit besonderem Fokus auf die Bereiche nachhaltige Energie, Bioökonomie und Digitalisierung unter Einbindung der lokalen Forschungs- und Startup-Landschaft. Entsprechend wurde neben einer dekarbonisierten energetischen Versorgung ein Fokus auf eine nachhaltige Erschließung gelegt. Bild 1: Innovativ, nachhaltig, progressiv: Die Planung des Innovations- und Gründerzentrums „Brainergy Hub“. © Brainergy Park Jülich GmbH / HENN GmbH 13 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Energie neue Produkte und damit in Arbeitsplätze zudem noch besser gelingen. Der Brainergy Park wird entsprechend ein Ökosystem schaffen, in dem sich Startups, junge Unternehmensgründungen und KMUs etablieren können und nationale wie internationale Unternehmen sich ebenso ansiedeln wie große Forschungsinstitute.“ „Nun können wir“, so Dr. Arndt Brauckmann, Geschäftsführer Brainergy Park Energie GmbH, „nunmehr zusammen mit dem Brainergy Park Jülich als gleichberechtigte Partner des geplanten Joint Ventures die weiteren Umsetzungsarbeiten für das dekarbonisierte Energiesystem vorantreiben und künftig den Gewerbetreibenden nachhaltige und langfristig planbare Energieversorgungsangebote unterbreiten - ermöglicht durch ein paralleles parkweites Glasfaser- Netz zur Digitalisierung und Steuerung. Hierdurch wird das Joint Venture „Daten- und Energiemanager 4.0“ - eine Verschneidung von Energieströmen und Daten zur Generierung ökonomischer wie ökologischer Vorteile - zugunsten der Kunden und als Role-Model für zukünftige derartige Versorgungsansätze dienen. Das ist unser Ziel.“ Neben der dekarbonisierten Energieversorgung wurde auch das Thema nachhaltige Erschließung berücksichtigt: Die Gewerbetreibenden wurden etwa dazu verpflichtet, Dächer zu 80 % mit Photovoltaik einzudecken, um die Erzeugung großer Mengen lokalen erneuerbaren Stroms zu sichern. Diese Dachflächen standen somit nicht für eine Dachbegrünung, also für eine ökologische Nutzung zur Verfügung. Frank Drewes, Geschäftsführer Brainergy Park Jülich: „Entsprechend haben wir uns überlegt, wie dieser ‚Nachteil‘, auch wegen der Leuchtturmfunktion des Brainergy Park Jülich für weitere Erschließungen, ausgeglichen werden konnte. Die gesetzliche Verpflichtung zu PV-Anlagen auf allen geeigneten Dächer war bei Projektbeginn bereits absehbar. Und so haben wir, wegen der Auflage an die Grundstückseigentümer zur oberflächennahen Versickerung des Niederschlagswassers, 5 m breite Trassen links und rechts der Straßen geschaffen, welche nicht nur das Regenwasser aufnehmen und in den Boden ableiten. Diese Flächen sind außerdem begrünt und können zukünftig mit ökologisch wertvollen Gras- und Kräuterstrukturen versehen werden.“ Um dem eigenen Anspruch, ein nachhaltiges Gewerbegebiet zu planen und umzusetzen, gerecht zu werden, wurde eine weitere Maßnahme ergriffen. Franziska Faßbender, Leiterin des Bereichs Architektur- und Hochbau im Brainergy Park Jülich, erläutert: „Wir hatten die Vision, ein zentrales Gebäude zu schaffen, das als Treffpunkt für die Brainergy Park Community, Startups, Scale-Ups, Gründungsinteressierte sowie innovative klein- und mittelständische Unternehmen dienen soll. Der Brainergy Hub ist mit einer Bruttogrundfläche von 9 728 m² das größte Einzelgebäude im Brainergy Park Jülich. Das Gebäude soll als Leuchtturmprojekt im Strukturwandel Vorbildcharakter in Sachen Nachhaltigkeit, Flexibilität sowie für innovative und kommunikative Arbeitswelten haben. Entsprechend wurde ein Gebäudekonzept entwickelt, das ein Spannungsfeld zwischen kreativem Chaos und konzentriertem Arbeiten schafft. Durch das flexible Tragwerks- und Ausbauraster des Gebäudes kann es sich kontinuierlich verändernden Anforderungen und Entwicklungen der Nutzer anpassen. Das Innovations- und Gründerzentrum soll als Landmarke im Brainergy Park Schnittstelle und Orientierungspunkt sein und zum informellen Austausch und zur Kommunikation der Nutzer anregen und so das Kreieren von Innovationen und Ideen fördern.“ Damit aber nicht genug: „Selbstverständlich war es uns wichtig, gerade das Startup Village - Ort für Ansiedlung von Startups in 20 Kleinstgebäuden mit einem Zentralgebäude - nicht nur über nachhaltige Lösungen zu denken und daraus Geschäftsideen entwickeln zu lassen, sondern eben diese Gebäude auch nachhaltig herzustellen. Entsprechend sind sie vollständig aus Holz errichtet und können dadurch, sofern nötig, problemlos anderweitig eingesetzt oder ganz im Sinne des Cradle-to-Cradle Prinzips wieder in ihre Einzelteile zerlegt werden.“, so Ingmar Stock, Leiter des Startup Village im Brainergy Park Jülich. Mit der Umsetzung all dieser Maßnahmen kann nunmehr begonnen werden: Als erstes wird das Startup Village seine Arbeit Ende des Jahres aufnehmen können, das zentrale Hub-Gebäude als auch das Energiesystem werden bis 2026 errichtet, um die Aufsiedlung des innovativen Gewerbe-Parks bis 2030 zu unterstützen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Brainergy Park Jülich ist ein Role Model für zukünftige Projekte mit dem Nachweis der Vereinbarkeit von ganzheitlich gedachter Ökologie und Ökonomie. KONTAKT Kristina Niemann Vertrieb Integrierte Quartierslösungen | smartiere E.ON Energy Solutions GmbH kristina.niemann@eon.com 14 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation Wenn über Smart Cities gesprochen wird, denken viele Menschen meist an futuristische Mega-Cities, mindestens aber an große Städte in internationalen Ballungsräumen. Als Beispiel sei Singapur genannt, wo selbstfahrende Busse in einem speziellen Areal getestet werden. In Barcelona sind mittlerweile über 12 .000 Sensoren verbaut. Die Seouler Straßen verfügen über ein Netz von Induktionsschleifen, um elektrisch angetriebene Busse schon während der Fahrt zu laden. Dies sind eindrucksvolle Beispiele mit entsprechender Strahlkraft. Bei aller Bewunderung bleibt das Bewusstsein, dass ein großer Teil der Bevölkerung nicht in Großstädten lebt, sondern in Kleinstädten oder Dörfern. Machen Smart-City-Lösungen in diesen Lebensräumen überhaupt Sinn? Auf diese Frage gibt es keine pauschale Antwort. Es bedarf vielmehr einer genaueren Betrachtung der in Frage kommenden Applikationen. Vom Grundprinzip geht es bei Smart City-Anwendungen in erster Linie darum, das Leben der Bürgerinnen und Bürger komfortabler zu gestalten. Eine Maßnahme sollte also möglichst zu einer Verbesserung der jeweiligen Situation beitragen, mindestens jedoch eine Verschlechterung verhindern oder abmildern. In diesem Rahmen finden sich noch zahlreiche Ansatzpunkte mit Potenzial selbst für kleine und mittelgroße Lebensräume. In Zeiten, in denen die Gesellschaft von einer Krise in die nächste rutscht, verschieben sich Anforderungen und Prioritäten. Sogenannte Krisen lassen sich daher ebenfalls als Chance nutzen. Die Corona- Pandemie hat beispielsweise in vielen Bereichen zu einem Digitalisierungsschub geführt. Heute sehen sich insbesondere die europäischen Volkswirtschaften von einer Energiemangellage bedroht. Welche Chancen bieten Smart-City-Lösungen kleineren Städten in einer solchen Situation? Die Herausforderung: unterschiedliche Leuchtentypen integrieren Vielleicht waren es genau diese Gründe, die den kleinen sizilianischen Ort Giardinello mit seinen rund 2 300 Einwohnenden dazu veranlasst haben, über smarte Lösungen für die öffentliche Infrastruktur nachzudenken. Denn wie die meisten Privathaushalte versuchen die Kommunen Energieverbräuche jeglicher Art zu senken und somit Kosten zu sparen, welche letztendlich durch die steuerzahlenden Bürgerinnen und Bürger getragen werden müssen. Speziell bezogen auf die Energieeinsparungen kommt es in der aktuellen Lage auf jeden Prozentpunkt an, damit unter anderem die Versorgungssicherheit gegeben ist. Neben den öffentli- Bis zu 80 Prozent Energie einsparbar Smartes Management der Straßenbeleuchtung von Giardinello Fabian Pasimeni Smarte Infrastrukturlösungen sind nicht nur Großstädten vorbehalten. Dass sich deren Umsetzung ebenso in kleineren Städten und Gemeinden lohnt, zeigt das Beispiel der sizilianischen Gemeinde Giardinello. © Franco e Guisto Scafidi 15 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation chen Gebäuden sowie der Wasserver- und -entsorgung gehört die Straßenbeleuchtung zu den großen Verbrauchern in einer Kommune (Bild 1). Vor diesem Hintergrund hat Giardinello die Beleuchtung bereits in jüngerer Vergangenheit auf LED-Technik umgerüstet. Auf dieser Grundlage haben sich die Verantwortlichen entschieden, eine modernere und digitalere Lösung für das Management der öffentlichen Straßenbeleuchtung umzusetzen. Ziel der Erneuerung war eine flexible Lösung mit der Möglichkeit zur weiteren Energieeinsparung. Außerdem sollte der Zustand jeder einzelnen Leuchte einsehbar sein und die Lösung auf einer weit verbreiteten und skalierbaren Technologie basieren, was die Abhängigkeit von einem Hersteller ausschließt sowie für Zukunftssicherheit sorgt. Da es bei der Beleuchtung ebenso um das Thema Sicherheit geht, muss die Applikation entsprechend ausgelegt respektive geschützt sein. Eine besondere Herausforderung stellten die unterschiedlichen Leuchtentypen dar. Während in einigen Teilen des Ortes Leuchten mit einem modernen Design installiert sind, bestimmen in anderen Teilen von Giardinello historisch anmutende Leuchten den sizilianisch dörflichen Charakter. Diese technische Bewandtnis zu berücksichtigen, machte die Aufgabe schwierig (Bild 2). Die Lösung: Kommunikation über den LoRaWAN-Standard ... Die modernen Leuchten sind schon mit einem Zhaga-Sockel ausgerüstet. Bei Zhaga handelt es sich um die Definition einer Schnittstelle. Die aktuelle Version des Zhaga-Standards umfasst neben dem mechanischen Design des Sockels und der elektromechanischen Teile respektive Auslegungen auch die Möglichkeiten zur Kommunikation oder Ansteuerung der LED-relevanten Komponenten. Im Gegensatz dazu sind die historischen Lampen zwar ebenfalls mit LED-Technik versehen, allerdings ist keine moderne Zhaga-Schnittstelle vorhanden. Nach der Beachtung sämtlicher Anforderungen und Voraussetzungen entschieden sich die Verantwortlichen hinsichtlich der Kommunikationstechnologie für den relativ neuen LoRaWAN- Standard. Aufbauend auf der physikalischen Bit-Übertragungsschicht bietet LoRaWAN (Low Range Wide Area Network) als Protokoll eine Definition der zwei folgenden logischen Schichten (2-und 3) gemäß OSI-Modell. Folglich ist sowohl die Verbindungsebene inklusive Datensicherung ebenso wie die Netzwerkschicht im LoRaWAN-Standard berücksichtigt. Eine doppelte AES-Verschlüsselung stellt eine durchgehende Kryptografie bis in eine Serverebene sicher. Dabei wird ein Schlüssel bis in den Netzwerkserver genutzt und ein weiterer bis in die Applikationsebene. … sowie die Zhaga-Schnittstelle oder ein Universalsteuergerät Innerhalb der Funkkommunikation ist LoRaWAN in die Kategorie der LPWAN-Technologien einzuordnen. Hier steht LP für Low Power und bedeutet, dass es sich um eine besonders energiesparende Möglichkeit der Datenweiterleitung handelt. Diese muss aber zur jeweiligen Applikation passen, um sie sinnvoll einsetzen zu können. In Europa wird für Lo- RaWAN der schmalbandige Ultra- High-Frequency-Bereich verwendet. Das genutzte Frequenzband von 863 bis 870 MHz (SRD-Band Europa) bietet die Vorteile einer Reichweite von bis zu 40 Kilometer - einem theoretischen Wert im ländlichen Raum - sowie einer hohen Durchdringung etwa der Gebäudewände in Stadtgebieten. Zur Realisierung eines Lo- RaWAN-Netzwerks werden die Leuchten mit einem Steuergerät, der sogenannten Luminaire Controller Unit (LCU), ausgestattet. Bei den modernen Leuchten wird eine LCU mit Zhaga-Schnittstelle eingesetzt. Ist kein Sockel vorhanden, werden LoRaWAN-fähige Universalsteuergeräte verwendet, die sich direkt im Gehäuse für die Schaltelektronik verbauen lassen. Beide Varianten kommunizieren via Dali-2-Protokoll. Auf diese Weise können sie neben einfachen Schaltbefehlen weitere Betriebs- und Diagnosedaten mit dem LED-Treiber austauschen. Die Systemarchitektur entspricht im Feld einer klassischen Sterntopologie. Die einzelnen Steuergeräte kommunizieren Bild 1: Durch den Einsatz einer bedarfsorientierten Beleuchtung wird der Energieverbrauch in Giardinello erheblich reduziert. © Franco e Guisto Scafidi Bild 2: Die historisch anmutenden Leuchten wurden mit LoRaWAN-fähigen Steuergeräten ausgestattet © Franco e Guisto Scafidi 16 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Kommunikation also mit einer zentralen Komponente, die das Routing übernimmt. In Giardinello werden dazu drei LoRaWAN-Gateways genutzt, um eine qualitativ hochwertige Ausleuchtung sicherzustellen sowie alle angebundenen Leuchten zu erreichen. Die entsprechenden LCUs senden ihre Daten an das an der besten Position befindliche Gateway, das mit einem integrierten Modem als Verbindungselement zwischen der Feldebene und dem Internet respektive dem Netzwerkserver fungiert (Bild 3). Das Besondere: Beleuchtungsmanagement als Software-asa-Service Abgesehen von den beschriebenen Hardwarekomponenten setzt die sizilianische Kommune die IoT-Plattform Grovez.io für die neue Lösung ein. Grovez.io ist speziell für Applikationen im Bereich urbane Infrastruktur entwickelt worden. Als zentraler Bestandteil der IoT-Plattform dient ein eigens betriebener LoRa- WAN-Netzwerkserver inklusive verschiedener Decoder-Anwendungen auf der vorgelagerten Integrationsebene. Im Netzwerkserver werden die Daten sämtlicher registrierten Endgeräte für die Organisation gemanagt und gepflegt. Darüber hinaus stehen unterschiedliche Schnittstellen zur Kommunikation mit weiteren Plattformen bereit. Grovez.io bietet zudem einen eigenen Applikationsserver für die Verwendung von Software im Rahmen einer Sof t ware -as-a -S er vice - Diens tleistung (SaaS). Der Betreiber der Straßenbeleuchtung in Giardinello nutzt nun statt der klassischen Steuerung in einer Leitwarte den Smart Lighting-Service als SaaS. Hierzu loggen sich die Mitarbeitenden mit Zugangsberechtigung über einen Webserver ein. Danach können sie die Straßenbeleuchtung manuell aus der Ferne steuern. Durch die Kombination aus moderner LED-Technik und der LoRaWAN-basierten Steuerungstechnik lässt sich jede einzelne Leuchte ansteuern und diagnostizieren. Tritt eine Dysfunktion auf, wird der Anwender automatisch über ein Alarmmanagement informiert (Bild 4). Die Zukunft: Einbindung von Fahrzeugverkehrssensoren sowie Aufbau eines Umweltmonitoring-Systems Über den Smart Lighting-Service als Beleuchtungsmanagementsoftware können verschiedene Dimmstufen eingestellt werden, was einen direkten Einfluss auf den Energieverbrauch und die Lebensdauer der Leuchten hat. Um komplette Gebiete komfortabel zu verwalten, lassen sich Gruppen bilden und zusammenschalten. Während die Leuchten in der Nacht in einigen Teilen des Orts zwecks Einsparung von Energie und Kosten heruntergedimmt werden, leuchten andere Lampen aus Sicherheitsgründen - zum Beispiel an Fußgängerüberwegen - weiterhin zu 100 Prozent. Der in der Lösung hinterlegte astronomische Kalender vereinfacht die Einstellung. Ferner fungieren im Feld verbaute Sensoren als zusätzliches Triggersignal für eine Automatisierung. Mit einer bedarfsorientierten Beleuchtung kann der ursprüngliche Energieverbrauch um bis zu 80 Prozent reduziert werden. Nachdem dieser Schritt vollzogen ist, denken die Verantwortlichen in Giardinello über weitere Möglichkeiten und den Einsatz der installierten LoRaWAN-Infrastruktur nach. Erste Ideen kreisen um die Integration von Verkehrssensoren von Fahrzeugen, perspektivisch vielleicht als Signalgrundlage für eine adaptive verkehrsabhängige Steuerung der Beleuchtung. Denkbar wäre außerdem der Aufbau eines Umweltmonitoring-Systems auf Basis von LoRaWAN-fähigen Sensoren. Egal in welche Richtung sich Giardinello entwickeln wird: Die Gemeinde ist jetzt schon smarter als so manche Großstadt. Fabian Pasimeni MBA & Eng. Manager Infrastructure Applications & Projects Phoenix Contact Electronics GmbH fpasimeni@phoenixcontact.com AUTOR LoRaWAN Gateway LoRaWAN- Steuergerät LoRaWAN Server Street Lighting Service Inbetriebnahme-App SPS und I/ O- System Fremdsystem Bild 3: Die Daten der Leuchten werden via LoRaWAN- Gateway übertragen. © Franco e Guisto Scafidi Bild 4: Der Zustand der Lichtpunkte ist mit dem Smart Lighting Service stets im Blick. © Phoenix Contact 17 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Hörort im Erholungsraum Das Projekt «Ruheorte.Hörorte» ist Teil der Regionalen Projektschau Limmattal (Regionale 2025) und wird als Modellvorhaben für „Nachhaltige Raumentwicklung 2020 - 2024“ von der Schweizer Bundesregierung unterstützt. Das Vorhaben soll zukunftsweisend für das Limmattal sein, denn das Tal im Westen der Metropolregion Zürich „leidet“ unter einem rasanten Wachstum. Ziel des Projekts ist, die Wertschätzung der landschaftlichen und akustischen Qualität des Limmattals zu fördern, mit Fokus auf den Erholungsraum entlang des Flusses. Außergewöhnliche Objekte sind in diesem Rahmen zwischenzeitlich entstanden. Die Erfahrungen sind ermutigend, sie könnten übertragbar sein auf andere suburbane Räume oder Agglomerationen. Nach Ideen des Künstlers Andres Bosshard wurden im Mai 2022 Klangerlebnisse der besonderen Art installiert, zum Beispiel auf der Vorstadtbrücke in Dietikon. Hier hat Bosshard in Zusammenarbeit mit dem Metallatelier ein temporäres Objekt, einen vertikalen Wasserschleier entworfen, der ganz bewusst mitten auf einer Brücke steht, um eine überraschende Begegnung mit diesem Ort anzuregen. „Der Eingang zu einem römischen Gutshof war an dieser Stelle“, weiß der historisch sachkundige Künstler. „Zudem hatten römische Siedlungen in dieser Gegend als Identifikationsorte ihre Amphitheater, die in standardisierten Größen bestellt und errichtet wurden“. Alles fließt Gerade die heutige Zeit braucht wieder solche mobilen Versatzstücke, die den Geist des Ortes zum Ausdruck bringen. Denn womit identifizieren sich aktuell die Bewohner im Limmattal? Wo alles fließt, in Bewegung ist und rauscht - der Straßen- und Schienenverkehr, der Luftverkehr von und nach Zürich, und selbst das Wasser der Limmat und der Reppisch. Jedenfalls noch dort hörbar, wo es nicht kanalisiert wurde. Zürich hat einen seiner Identifikationsorte beim Hafen Enge auf dem Zürichsee, das Aquaretum. Auch Genf hat seine Fontäne, bringt das Wasser sogar noch höher hinaus. Vielleicht gelingt Identifikation gerade so: Das Wasser nach oben pumpen, wie derzeit ebenfalls aus der Reppisch auf die Vorstadtbrücke an der Kirchstraße in Dietikon. Spiel mit Wasser und seinen Geräuschen Klaus W. König Ein Wasserschleier als temporäre Installation bringt neue Qualität in den suburbanen Raum. Die heutige Zeit braucht wieder solche mobilen Versatzstücke, die Identität stiften und den Geist des Ortes zum Ausdruck bringen. Was auf den ersten Blick absurd wirkt, hat System: Unten fließt die Reppisch, die etwas weiter entfernt in die Limmat mündet. Doch oben auf der Fußgänger- und Fahrradbrücke rauscht das Wasser in Augenhöhe. Die schlanke Konstruktion des Wasserschleier-Objekts teilt die Brücke der Länge nach in zwei Hälften. Der rechteckige Rahmen aus Metall spannt auf sechs Metern Länge ein knapp drei Meter hohes Edelstahlnetz, das von oben mit dem aus der Reppisch stammenden Wasser berieselt wird. So entsteht die lebhafte und hörbare Oberfläche des Schleiers. Passanten wird die Durchsicht zur Seite verhüllt. Im Gegenlicht glänzen, flimmern und tanzen die Wellen nach unten. Ihre Vitalität wird noch gesteigert durch eine elektronische Steuerung, Bild 1: Der Zürcher Klangkünstler, Musiker und Musikwissenschaftler Andres Bosshard auf der Suche nach Klangqualität im Limmattal. © markusbertschifotografie 18 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur die die Wassermenge wie zufällig modifiziert. Auch der Wind kann Einfluss nehmen auf das Wellenbild der rieselnden Wasserfläche, das zusätzlich je nach Lichteinfall variiert. Klang und Spiel mit Wassergeräuschen Das eigentliche Thema dieses Hörorts ist jedoch nicht die optische Wirkung, sondern der Klang. Laut David Fuchs, dem Hersteller des Objekts, wurde der Wasserschleier wie ein Instrument gestimmt. Das Alphamesh, eine spezielle Art von Edelstahlgeflecht, sowie die Auslassdüsen am oberen Ende des Objekts und die Wassermenge spielen dabei eine Rolle. Zur überraschenden Begegnung der Passanten mit dem Wasser kann beitragen, dass die elektronische Steuerung automatisch den Wasserfluss ändert oder stoppt. Alternativ können sowohl Bosshard wie auch Fuchs und sein Team vom Metallatelier aus der Ferne derartige Änderungen via Internetverbindung spontan auslösen, vielleicht ein Spiel mit den Passanten beginnen - ohne dass die Akteure in der Ferne und die Betrachter vor Ort sich sehen müssen. Darin besteht ein Unterschied zur Darbietung im römischen Theater. Zum Spiel gehören noch Taster, die denen an einer Fußgänger-Ampel gleichen, und an jeder der beiden Stirnseiten der Metallkonstruktion montiert wurden. Sie geben den Passanten die Möglichkeit, ihrerseits Akteure zu werden und den Wasserfluss zu stoppen, für eine kurze Zeit den Schleier zu „lüften“, entlang zu gehen, ohne vom Seitenwind mit Schleierwasser nass gespritzt zu werden. Und es ist in solchen Augenblicken möglich, durch das Metallgeflecht zu schauen, auf die andere Hälfte der geteilten Brücke. Kinder, die darin Spielpotenzial entdecken, haben ihren Spaß - und entdecken vielleicht, dass durch den fehlenden Schleier die Geräusche von der anderen Seite für kurze Zeit wahrnehmbar sind, dass man sich jetzt auch durch das Metallgeflecht hindurch verständigen kann. Geht der Wasserschleier nach einiger Zeit automatisch wieder in Betrieb, ändert sich das. Die Akteure können trotzdem in den Wasserfilm greifen, ihn manipulieren, etwas nach drüben rufen. Vom Wert des Aufhörens Wer so oder ähnlich stehen bleibt, sich am Wasserschleier „zu schaffen macht“, nimmt auch wahr, dass es unter dem Brückenbelag eine zweite Art von Plätschern gibt, jedenfalls so lange der Wasserfluss des Schleiers in Betrieb ist. Es stammt von den 400 l/ Min., die unten am Schleiergeflecht abtropfen, durch den Belag aus Gitterrosten zwei Meter tiefer in die Reppisch fallen. Da ist aber noch etwas drittes, hörbar vor allem, wenn nach Tasterdruck der Schleier verschwindet, das Tröpfeln allmählich aufhört: Das Fließgeräusch der Reppisch - eigentlich immer da, jedoch kaum bemerkt. Das Aufhören des einen macht das Hinhören auf das andere offenbar erst möglich. Wird die Brücke derart überquert und der Hörort des Klangschleiers aktiv passiert, hat der Lerneffekt des bewussten Hörens und sensibel Werdens für die akustische Qualität dieses Objekts stattgefunden. Es geht den Projektbeteiligten (der Regionale 2025, der Stadt Dietikon, anderen Gemeinden im Limmattal sowie den Kantonen Zürich und Aargau) aber nicht nur um Achtsamkeit. Auch Agieren, in Beziehung treten, sich einmischen, den Standpunkt ändern - sowohl physisch, wie von der inneren Einstellung her. So gesehen kann, wer will, in den Wasserschleier handelnd „ein-greifen“. Wogegen man vor den großen Fontänen von Genf und Zürich nur passiv „er-griffen“ verharren kann. Schalldämmung und Klanggärtner Fragen, die sich bei solch pathetischer Betrachtung aufdrängen: Ob die Bevölkerung im Limmattal mit einem auf diese Weise Identität stiftenden Hör- und Ruheort allmählich in „Ein-klang“ kommt? Ob Spaziergänge dorthin unternommen werden und Besuchern stolz dieser Wasserschleier gezeigt wird? Ob das Objekt über die Stadt Dietikon hinaus eine Resonanz in der öffentlichen Wahrnehmung erzeugt? In Fachkreisen auf nationaler Ebene ist das Interesse jedenfalls vorhanden. Beat Hohmann, der in der Fachgruppe Klangraumgestaltung im Cercle Bruit Schweiz mitwirkt, nennt Bild 2: Der rechteckige Rahmen aus Metall spannt auf sechs Metern Länge ein knapp drei Meter hohes Edelstahlnetz, ein so genanntes Ringgeflecht, das von oben mit dem aus der Reppisch stammenden Wasser berieselt wird. © Metallatelier 19 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Qualität ist viel wert Bild: StEB Köln, Peter Jost Gütesicherung Kanalbau RAL-GZ 961 www.kanalbau.com Stadt: Köln Theodor-Heuss-Ring / Ecke Clever Str. Inbetriebnahme des Kanals: 1890 den Wasserschleier „attraktive Verwirklichung einer transparenten Schalldämmung, deren schönes Eigengeräusch gleichzeitig Fremdlärm maskieren kann und die zum eigenen Ein-Greifen verlockt“. Er hat den Wasserschleier im Spätsommer 2022 besucht und Messungen vorgenommen, veröffentlicht in der Publikation „Mit Brunnen, Bach und Fluss gegen Lärm von Auto, Tram und Bus - Wann und wie können Wassergeräusche den Verkehrslärm erträglicher und den Aufenthalt angenehmer machen? “ Etwa zeitgleich wurden für die Studie „Hören und Stören? Akustische und visuelle Einflüsse auf die wahrgenommene Erholung in peri-urbanen Grünräumen“ an 10 Orten im Schweizer Mittelland Befragungen durchgeführt, unter anderem am Wasserschleier auf der Vorstadtbrücke. Herausgeberin ist die WSL, die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, und das Projekt wurde vom BAFU, dem Bundesamt für Umwelt, finanziert. Man darf auf die Resultate gespannt sein. Andres Bosshard, der sich selbst gerne als Klang-Gärtner bezeichnet, ist bereit für den Fall, dass auch andernorts Wassergeräusche gebraucht werden. Denn schon seit zwei Jahrzehnten sorgt er mit seinen Vorlesungen an der Zürcher Hochschule der Künste und der Musikhochschule Luzern für die Ausbildung des Nachwuchses seiner Zunft. Und das könnte sich für die Bevölkerung auszahlen. Denn wenn das Beispiel Dietikon Schule macht, werden in der ganzen Schweiz und weit darüber hinaus solche Klang-Gärtner gefragt sein. Dipl.-Ing. Klaus W. König Fachjournalist und Buchautor Schwerpunkt: Veröffentlichungen über kostensparende und umweltschonende Bautechnik Kontakt: kwkoenig@koenig-regenwasser.de AUTOR Diese Plattform für zukunftsweisende Ideen im Limmattal, 2015 als Verein gegründet, wird von 17-Limmattaler Gemeinden und Städten sowie von den Schweizer Kantonen Aargau und Zürich getragen. Sie unterstützt und koordiniert Projekte, die sich mit Antworten auf Fragen beschäftigen, die mit den Herausforderungen des Limmattals einhergehen. Im Jahr 2025 findet eine Projektschau statt, um die realisierten Ideen der Bevölkerung abschließend vorzustellen und zugänglich zu machen. REGIONALE 2025 ANZEIGE 20 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Unter der Federführung des Eigenbetriebes Stadtentwässerung und Umweltanalytik (SUN) der Stadt Nürnberg wird diese Baumaßnahme von der Sonntag Baugesellschaft mbH & Co. KG, Niederlassung Bingen, durchgeführt. Mit dem Bau des rund ein Kilometer langen Stauraumkanals aus Stahlbetonrohren DN 2600 wurde 2022 begonnen. Im Herbst 2024 sollen die Arbeiten an dem Bauabschnitt abgeschlossen sein und der Stauraumkanal in Betrieb genommen werden. Für die Vergabe der Vortriebsarbeiten wurde seitens des SUN von den Bietern ein Qualifikationsnachweis gefordert. Dieser konnte gemäß Güte- und Prüfbestimmungen RAL-GZ 961 von der Sonntag Baugesellschaft erbracht werden. Eine eigene Kleinstadt Das Gebiet, welches die „Siedlungen Süd“ umfasst, ist rund 365-ha groß. Derzeit leben hier schätzungsweise 14 000 Menschen, was der Größe einer Kleinstadt entspricht. Bebaut wurde das Gebiet sukzessive ab 1908 zunächst als klassische Gartenstadt mit offener und mit viel Grün durchzogener Bebauung. Nach den beiden Weltkriegen stand die Versorgung der Bevölkerung Ein Jahrhundertprojekt geht in die nächste Runde Gütegesicherter Bau eines Stauraumkanals in Nürnberg Bereits seit einigen Jahren laufen in Nürnberg umfangreiche Arbeiten im Rahmen des Projektes „Generalsanierung Siedlungen Süd“. Ziel ist es, dass bestehende Kanalnetz in den vier betroffenen Stadtteilen Gartenstadt, Falkenheim, Kettelersiedlung und Neulandsiedlung hydraulisch zu entlasten. Hierzu werden insgesamt 7,3 km Kanäle inklusive dreier Stauraumkanäle gebaut - 5,1 km im Rohrvortrieb und 2,2 km in offener Bauweise. Nachdem der Stauraumkanal im Bauabschnitt BA5 aus Dringlichkeitsgründen bereits zwischen 2017 und 2019 umgesetzt worden ist, wird aktuell der nächste Stauraumkanal (BA1) errichtet. Auch hier wird aufgrund der großen Tiefenlage wieder mit Rohrvortrieb gearbeitet. mit Wohnraum in Form von sogenannten Behelfssiedlungen im Fokus. Mit dieser schnellen Wohnraumentwicklung konnte der Bau der notwendigen Infrastruktur vielfach nicht Schritt halten. „Die später errichtete Kanalisation war primär auf die Entsorgung des Schmutzwassers ausgelegt, da das Regenwasser vor Ort genutzt oder versickert werden sollte. Bedingt durch die bauliche Verdichtung und der damit einhergehenden Versiegelung der Flächen, zeigten sich jedoch frühzeitig Unzulänglichkeiten an diesem Entwässerungskonzept“, erläutert Dipl.-Ing. (FH) Miriam Bild 1: Beim zweiten Vortrieb werden fünf Zwischenpressstationen eingesetzt. © Güteschutz Kanalbau 21 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Liß, Projektleiterin beim SUN. Bereits Ende der 1980er Jahre habe man erste hydraulische Untersuchungen des Gebietes durchgeführt und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass das Netz in weiten Teilen hydraulisch überlastet sei. Die Generalsanierung musste aber zunächst zeitlich nach hinten verschoben werden. „Bei starken Regenfällen kam es in den Siedlungen Süd jedoch immer wieder zu Rückstau und zur Überflutung der Straßen. Zudem weist ein Teil der Kanalisation auch altersbedingte Schäden auf“, so Liß weiter. Anfang der 2000er Jahre betrachtete die SUN daher das Gebiet erneut und erstellte eine Entwässerungsstudie, die die hydraulischen Engpässe identifizierte. Liß: „Um bei Regenereignissen das Niederschlagswasser zwischenzuspeichern und die Kanalisation zu entlasten, werden insgesamt drei Stauraumkanäle im Nebenschluss mit je ungefähr einem Kilometer Länge errichtet.“ Erschwerte Bedingungen Einer dieser drei Stauraumkanäle wird aktuell im Bereich der Minervastraße vom Finkenbrunn bis zur Einmündung des Wacholderwegs im Rohrvortrieb mit Teilschnittverfahren hergestellt. Oberbauleiter Dipl.-Ing. (FH) Christian Trittenbach, Sonntag Baugesellschaft: „Die Startbaugrube befindet sich ungefähr in der Mitte des Stauraumkanals. Von dort aus, haben wir den ersten Vortrieb mit einer Länge von 470- m bereits abgeschlossen. Seit Mitte März 2023 läuft der rund 560- m lange zweite Vortrieb in die entgegengesetzte Richtung.“ Vorgepresst werden die 3- m langen Stahlbetonrohre DN- 2600 dabei mit maximal 650 bis 700- t Vortriebskraft rund um die Uhr im Dreischichtbetrieb. Der Abbau der Ortsbrust erfolgt mittels rotierender Schräme. Das Grundwasser an der Ortsbrust wird dabei mittels Druckluft im Baugrund gehalten. Der Vorteil der Vortriebsvariante mit sogenanntem offenem Schild: Der Austausch der Abbauwerkzeuge kann einfacher erfolgen. „Der anstehende Boden in Nürnberg wechselt in seiner Beschaffenheit sehr stark. So kann es vorkommen, dass innerhalb einer Schicht auch mal zehn Zähne der Schräme getauscht werden müssen,“ so Trittenbach. Manchmal seien es aber auch nur drei. Und weiter: „Bei dem zweiten Vortrieb liegen wir mit elf Metern Tiefe etwas tiefer als beim ersten Vortrieb. Daher beträgt der Druck in der Abbaukammer nun 0,8 bar.“ Information ist die halbe Miete Bei so einer umfangreichen Maßnahme sei es wichtig, die Anwohner mit ins Boot zu nehmen, wie Reinhard Lang, bei der SUN zuständig für die örtliche Bauüberwachung, betont: „Gerade das Thema Verkehr und Parkplätze ist immer heikel.“ Mit mehreren Bürgerversammlungen, Informationsflyern und einer eigenen Interseite zu dem Gesamtprojekt „Generalsanierung Siedlungen Süd“ versuche man die Bürger aber immer auf dem Laufenden zu halten. Und Liß ergänzt: „Wir hatten auch schon einen Tagder-offenen-Tür, bei dem sich ungefähr 60 interessierte Bürger die Baumaßnahme angesehen haben. Das ist sehr gut angekommen.“ Gerade durch die Tatsache, dass der Vortrieb rund um die Uhr und damit auch nachts läuft, sei es laut Trittenbach sehr wichtig, auf die Anwohner zuzugehen. Lang: „Wenn wir vor Ort auf der Baustelle sind, versuchen wir die aufkommenden Fragen immer direkt zu beantworten und ernten dabei viel Verständnis.“ Oft habe er schon gehört: Was muss, das muss! Gütesicherung ist ein wichtiger Baustein Damit auf den Baustellen der SUN alles möglichst reibungslos verläuft, ist eine Grundvoraussetzung bei der Vergabe ein Qualifikationsnachweis der Bieter. „Diesen hat die Sonntag Baugesellschaft mit dem Gütezeichen VOD der Gütesicherung Kanalbau RAL-GZ 961 erbracht“, so Dipl.-Ing. Dieter Walter, Prüfingenieur beim Güteschutz Kanalbau. Aktuell führen sechs Firmen dieses Gütezeichen in Deutschland. „Bei diesen Firmen wird kontinuierlich geprüft, ob neben dem qualifizierten Personal auch ausreichende Referenzen zum Erhalt des Gütezeichens VOD vorliegen“, erläutert Walter. In Nürnberg geht man bei der Planung und Durchführung von Projekten einen ganz besonderen Weg. Walter: „Da wird das jeweilige Projekt entsprechend den HOAI-Leistungsphasen von der Grundlagenermittlung bis zur Objektbetreuung von qualifizierten Teams intern bearbeitet.“ Ingenieurbüros werden beispielsweise für komplexe Verkehrsleitplanungen eingebunden. Für das geologische Baugrundgutachten zeichnete sich bei dieser Baumaßnahme die LGA Bautechnik GmbH verantwortlich. Das Prinzip „alles aus einer Hand“ mit kompetenten Partnern wirke sich positiv auf die Qualität des Bauwerks aus. Infowebseite SUN: https: / / www. nuernberg.de/ internet/ sun/ siedlungensued.html RAL-Gütegemeinschaft Güteschutz Kanalbau Linzer Straße 21 53604 Bad Honnef www.kanalbau.com/ info@kanalbau.com KONTAKT 22 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Der neue Blick auf den Umgang mit Regenwasser stand im Mittelpunkt einer Presseveranstaltung mit Fachjournalist*innen aus der Wasser- und Umweltbranche sowie der Tagespresse in Donaueschingen. Erstmals vorgestellt wurde dabei eine aktuelle Marktbefragung der Mall GmbH zum Umgang mit Regenwasser in Deutschland, Österreich und der Schweiz, an der im Frühjahr 2023 insgesamt 6 144 Personen aus Architektur- und Ingenieurbüros, Handwerk, Behörden, Hochschulen und dem Baustofffachhandel teilgenommen haben. Im Rahmen der Veranstaltung wurde auch der in diesem Jahr zum ersten Mal ausgelobte Mall-Umweltpreis Wasser der Roland Mall-Familienstiftung, der sich an Studierende an Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz richtet, an sechs Preisträger*innen in den Kategorien Dissertation, Master- und Bachelorthesis vergeben. Christoph Schulze Wischeler, Geschäftsführer von Mall, unterstrich die wichtige Rolle dezentraler Lösungen für Regenwasser und Abwasser und gab einen Überblick über die aktuellen Entwicklungen und Aussichten der Mall GmbH. Als anerkannter Experte aus dem Bereich der Wasserinfrastruktur zeigte Stephan Ellerhorst von der Sweco GmbH, einem international tätigen Architektur- und Ingenieurbüro, wie urbane Räume an Klimaveränderungen angepasst werden können. Grundlegend ist dafür zum einen das Prinzip der Sponge City, bei dem möglichst viel Regenwasser an Ort und Stelle gehalten und dann zur Versorgung von Böden und Vegetation, zur Hitzevorsorge und zur Erhaltung einer lebenswerten Umwelt verwendet wird. Zum anderen geht es darum, einen möglichst naturnahen Wasserhaushalt auch in den Städten zu erreichen, wenn Wasser verdunstet, versickert und so zur Neubildung von Grundwasser zur Verfügung steht. Wie die für eine Klimaanpassung notwendigen Komponenten einer blau-grün-grauen Infrastruktur sinnvoll eingesetzt und miteinander kombiniert werden können, verdeutlichte Stephan Ellerhorst anhand spannender Best Practice-Beispiele. Klimaanpassung im urbanen Raum Intelligente Konzepte für den Umgang mit Regenwasser Zunehmende Versiegelung und häufigere Starkregenereignisse sowie längere Hitzeperioden und geringerer Niederschlag im Sommer zwingen vor allem in Städten zu einem Umdenken im Umgang mit Regenwasser. Klimaresiliente Innenstädte brauchen Regenwasser - um Stadtbäume mit ausreichend Wasser zu versorgen, Überhitzung zu verhindern und den natürlichen Wasserhaushalt so gut wie möglich zu erhalten. Bild 1: Der Mall-Umweltpreis Wasser wurde in diesem Jahr zum ersten Mal vergeben: V.l.n.r. Franziska Gehring, Dr. Pablo Vega García, Kim Noelle Lange, Florian Wilhelm (alle Preisträger/ innen), Michael Mall (Stiftungsvorstandsvorsitzender der Roland Mall-Familienstiftung und Mitglied der Jury), Dirk Muschalla ( TU Graz und Jury-Mitglied), Andreas Lebmeier (Preisträger) und Dr. Guido Schmuck (Mitglied des Stiftungsrats). © Mall GmbH © wal_172619 auf Pixabay 23 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Einen Einblick in aktuell in der Siedlungswasserwirtschaft diskutierte Themen lieferten die beiden Preisträger des Mall- Umweltpreises Wasser Florian Wilhelm und Andreas Lebmeier. Florian Wilhelm hat sich in seiner Bachelorthesis an der TU Kaiserslautern mit der Bemessung von Anlagen zur Regenwasserbewirtschaftung mit dem Ziel der Regenwassernutzung und Grundwasseranreicherung beschäftigt, während Andreas Lebmeier in seiner Masterthesis an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen-Geislingen mit der Energiezisterne ein komplexes Modell zur Bemessung einer dezentralen Nieder schlag s was serbehandlung auf Quartiersebene entwickelt hat. Insgesamt hat Michael Mall, Stiftungsvorstandsvorsitzender der Roland Mall-Familienstiftung, bei dieser ersten Auflage des Mall-Umweltpreises sechs Preise mit einem Gesamtumfang von 16 000 Euro vergeben. Dass in der Branche insgesamt ein Umdenken stattfindet, bestätigen eindrucksvoll auch die Ergebnisse der nach 2020 nun zum zweiten Mal durchgeführten Marktbefragung der Mall GmbH, die Pressesprecher Markus Böll vorstellte. 77 % der befragten Architekten, Ingenieure und Behördenvertreter sehen die dezentrale Regenwasserbewirtschaftung positiv. Deshalb erwarten insgesamt 99 % der Umfrageteilnehmer auch eine steigende oder zumindest gleichbleibende Nachfrage bei Maßnahmen der dezentralen Regenwasserbewirtschaftung. Die ungleiche Verteilung des Regenwassers zwischen Starkregen und Trockenperioden spiegelt sich auch in den Topthemen der Zukunft wider: In der Umfrage stehen die Themen Regenwassernutzung (plus 5 % gegenüber 2020) und Umgang mit Starkregen bei den Befragten ganz oben. So ist es auch der Ausgleich zwischen Wasserüberschuss und Wassermangel, der von 73 % der Befragten als größte Chance bei den Maßnahmen der Regenwasserbewirtschaftung angesehen wird; gefolgt von einem verbesserten Stadtklima (62 %). Das aktuelle Bauvorhaben des SSC Donaueschingen, das am zweiten Tag der Veranstaltung im Mittelpunkt stand, passt genau in die aktuelle Diskussion und ist ein Pilotprojekt der Firmen Mall und ZinCo: Beim Neubau des Vereinsheims wurde darauf geachtet, dass der Wasserhaushalt nach der Bebauung in seiner Verteilung zwischen Verdunstung, Nutzung und Versickerung etwa dem vor der Bebauung entspricht und kein Regenwasser ungenutzt vom Grundstück abgeleitet wird. Das Gebäude hat deshalb ein Klima-Gründach, das über eine intelligente Steuerung mit einer unterirdischen Zisterne verbunden ist. Das gesammelte Regenwasser wird für die Dach- Frage 8: Was sind für Sie in der dezentralen Regenwasserbewirtschaftung die Themen der Zukunft? Regenwassernutzung Starkregen Regenwasserversickerung Regenwasserrückhaltung Kanalentlastung Hochwasserschutz Dachbegrünung Regenwasserbehandlung Urbanes Stadtklima Fassadenbegrünung Kühlung mit Regenwasser Schadstoffe im Oberflächenabfluss Betrieb/ Unterhalt Trockenheit/ Bewässerung 78 % 74 % 65 % 62 % 54 % 53 % 51 % 39 % 38 % 26 % 24 % 22 % 17 % 16 % Mehrfachnennungen möglich bewässerung und die Toilettenspülungen genutzt, überschüssiges Wasser versickert über Sickerkammern aus Porenbeton im Untergrund. Regenwasser, das auf den Außenflächen anfällt, versickert über wasserdurchlässige Pflasterflächen ebenfalls direkt. Architekt Alexander Schmid stellte das von ihm geplante Bauvorhaben insgesamt vor; Dieter Schenk, Geschäftsführer der Zin- Co GmbH, Andreas Leissler, Leiter Anwendungstechnik der Kronimus AG, sowie Martin Lienhard, Leiter der technischen Abteilung bei Mall, zeigten die beim Neubau eingesetzten Komponenten und weitere Möglichkeiten für einen zukunftsweisenden Umgang mit Niederschlagswasser. KONTAKT Mall GmbH Hüfinger Straße 39-45 78166 Donaueschingen Tel: +49 771 8005-131 Fax: +49 771 8005-3131 E-Mail: markus.boell@mall.info www.mall.info Bild 2: Die Umfrage zeigt die beiden Topthemen der Zukunft: Regenwassernutzung und der Umgang mit Starkregen. © Mall GmbH 24 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Die Region Franken nimmt einen festen Platz unter den beliebtesten deutschen Fahrradgebieten ein - das hat eine Umfrage des Allgemeinen Deutschen Fahrradclubs (ADFC) ergeben. Mit dem Neubau des Geh- und Radweges von Gerersdorf nach Niederoberbach gibt es im mittelfränkischen Landkreis Ansbach für Pedalritter nun noch eine weitere, attraktive Route. Der 1,4-km lange, neue Radweg, der teilweise auch als Wirtschaftsweg für die Landwirtschaft ausgebaut wird, bildet einen Lückenschluss im Radwegenetz. Fahrradfahrer müssen auf dieser Strecke fortan nicht mehr auf die viel befahrene Staatsstraße ST2221 wechseln, sondern können parallel dazu sicher in die Pedalen treten. Bis der Spatenstich Mitte Dezember 2022 erfolgen konnte, musste das auftraggebende Bauamt der Gemeinde Burgoberbach zunächst ein Grundstück erwerben. Auch eine Bodenaufbereitung und -verfestigung mittels Kalk- Zement war vor der Erstellung des neuen Radweges notwendig. D-Raintank 3000 ® die optimale Lösung Die Entwässerung des asphaltierten Radwegs erfolgt über einen Graben, der zwischen Radweg und Staatsstraße verläuft. Von hier aus gelangt das anfallende Wasser Richtung Hesselbach. Damit dessen Pegel bei Starkregen nicht zu stark ansteigt, hat das mit der Bauüberwachung und Planung beauftragte Ingenieurbüro Heller GmbH, Herrieden, ein Rückhaltereservoir nahe dem Ort Niederoberbach mit einem Rückstauvolumen von knapp 111- m 3 konzipiert, von dem aus das Niederschlagswasser nach temporärer Zwischenspeicherung kontrolliert in den Hesselbach gelangt. „Ein offenes Becken wäre die kostengünstigste Variante gewesen. Hierfür war jedoch kein Platz vorhanden“, erklärt Planer Fabian Grabner vom Ingenieurbüro Heller. Deshalb wurden D-Raintank 3000 ® -Elemente von Funke Kunststoffe eingebaut. „Von dem Retentionskörper wird das Wasser über einen DRT-Funktionsblocks DN 1000 mit integrierter Drossel und ein Kunststoffrohr DN/ OD 400 sohlengleich abgeführt. Dabei sorgt der Querschnitt für eine Drosselung. Sobald mehr Niederschlag fällt, steigt der Wasserstand in den D-Raintank 3000 ® -Elementen. Das Wasser wird also zurückgehalten“, beschreibt Grabner die Funktionsweise. Durch die im Funktionsblock integrierte Burgoberbach lässt Radfahrer nicht im Regen stehen Niederschlagsmanagement mit D-Raintank 3000 ® Mit dem Lückenschluss im Radwegenetz zwischen Gerersdorf und Niederoberbach setzt die mittelfränkische Gemeinde Burgoberbach auf mehr Sicherheit für Radfahrer. Auch das Thema Regenwassermanagement hat das dortige Bauamt mit gelöst. Um anfallende Niederschläge kontrolliert in den Hesselbach ableiten zu können, wird ein knapp 111 m 3 fassender D-Raintank 3000 ® -Rigolenblock von Funke Kunststoffe eingesetzt. Er dient bei Starkregenereignissen zur temporären Speicherung des Niederschlagswassers und ist mit einem Inspektionsblock sowie mit einem DRT-Funktionsblock DN 1000 mit integriertem Drosselelement ausgestattet. In einem vorgeschalteten Funke Reinigungsschacht DN 1000 wird das zufließende Regenwasser vorgereinigt. Bild 1: Nach dem Lückenschluss im Radwegenetz zwischen Gerersdorf und Niederoberbach sorgt in Zukunft ein knapp 111 m 3 fassender Retentionsblock aus D-Raintank 3000 ® -Elementen für die kontrollierte Ableitung des Niederschlagswassers in den Hesselbach. © Funke Kunststoffe 25 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Drossel und dem damit direkt in der Rigole befindlichen Drosselablauf konnte zusätzlich Platz eingespart werden. Ebenfalls ermöglicht der Funktionsblock eine Wartung der Drossel und durch die im inneren offenen D-Raintank 3000 ® -Elemente ist eine optische Begutachtung des Innenraums des Retentionskörpers ohne Kamerabefahrung möglich. Gut eingepackt Angesichts der in Niederoberbach geplanten Verwendung werden die D-Raintank 3000 ® -Elemente auf dem Planum mit der Frostschutzschicht zuerst mit einem Filtervlies, dann mit der vorgesehenen Kunststoffdichtungsbahn und abschließend noch einmal mit einem Filtervlies ummantelt. „Diese Montage stellt sicher, dass die Folie nicht beschädigt wird - weder von den Ecken und Kanten der D-Raintank 3000 ® -Elemente noch beim Verfüllen der Baugrube“, betont Ralf Weber, Fachberater Außendienst bei der Funke Kunststoffe GmbH, Hamm. Die einzelnen, aus widerstandsfähigem PVC-U bestehenden Elemente haben die Abmessungen 600 x 600 x 600 mm (L x B x H). In Niederoberbach setzt die mit der Ausführung beauftragte Rossaro Baugruppe, Aalen, die vom Baustoff-Fachhändler Bastian Hirner der BayWa Nördlingen gelieferten Elemente in vier Reihen nebeneinander und zwei Lagen übereinander, auf einer Länge von 39,6 m. Damit hat der Retentionskörper eine Größe von 39,6 x 2,40 x 1,20 m (L x B x H). Vorgeschaltet ist ein Funke Reinigungsschacht DN 1000. Er hält die anfallenden Feststoffe in Niederschlagswasserabflüssen zurück. Das ankommende Niederschlagswasser wird über den Zulauf vor eine Umlenkplatte geleitet und in eine Kreisbewegung gebracht. Im weiteren Verlauf setzen sich die Feststoffe im Strömungstrenner ab, bevor das Niederschlagswasser zum Auslauf geführt wird. „Das Niederschlagswasser von befestigten Flächen (außer Verkehrsflächen) und Dachflächen, das den Reinigungsschacht DN 1000 durchlaufen hat, kann in der Regel in ein Oberflächengewässer abgeleitet bzw. über eine Rigole versickert werden“, so Weber. Vom Reinigungsschacht führt ein sogenanntes Spülrohr in den Rigolenkörper. Während das Wasser aus den in einem Winkel von 180° oben an den Rohren angebrachten Schlitzen abfließen kann, sammeln sich übriggebliebene Feststoffe an der Rohrsohle. Mit regelmäßig durchgeführten Spülungen können diese Feststoffe nachträglich aus dem Rohr ausgespült werden. Ideale Voraussetzungen für Kamerabefahrungen Baumamtsleiter der Gemeinde Burgoberbach, Marco Holz, erklärt, warum die Wahl auf das Funke-Produkt fiel: „Überzeugt hat uns vor allem, dass ein Inspektionsblock in den Rigolenkörper integriert werden kann. Im Inneren sind keine Seitenplatten erforderlich. Für Kamerabefahrungen, Wartungsarbeiten und Spülungen ist diese offene Konstruktion ideal. Durch die gute Zugänglichkeit können wir eine lange Lebensdauer und damit auch die Wirtschaftlichkeit der Anlage sicherstellen.“ Auf der Baustelle konnten die D-Raintank 3000 ® -Elemente zudem mit ihrem geringen Eigengewicht und dadurch einem leichten Einbau punkten. „Dank ihrer stabilen Konstruktion sind sie dennoch schon bei geringer Überdeckung außerordentlich belastbar“, so Fachberater Weber. „Bereits 40-cm Überdeckungshöhe reichen unter privaten PKW-Parkflächen aus.“ Im Sommer 2023 soll der neue Radweg fertiggestellt sein. Dann können Radler dank des Regenwassermanagements und der Funke-Rigole bei jedem Wetter zwischen Gerersdorf und Niederoberbach sicher in die Pedale treten. Bild 3 (v.l.n.r.): Fabian Grabner, Ingenieurbüro Heller, Bastian Hirner BayWa Nördlingen, Marco Holz, Bauamt Gemeinde Burgoberbach, Markus Meinlschmidt, Klärwärter Gemeinde Burgoberbach, Ralf Weber, Funke Kunststoffe, Polier Manuel Röhrle und Bauleiter Jannik Meier, Rossaro Baugruppe. © Funke Kunststoffe Funke Kunststoffe GmbH Siegenbeckstr. 15 Industriegebiet Uentrop Ost 59071 Hamm-Uentrop www.funkegruppe.de info@funkegruppe.de KONTAKT Bild 2: Für Kamerabefahrungen, Wartungsarbeiten und Spülungen ist die offene Konstruktion der D-Raintank 3000 ® -Elemente ideal. © Funke Kunststoffe 26 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Hier lässt es sich gut leben: Zwischen Isarauen und Starnberger See liegt Straßlach-Dingharting inmitten ausgedehnter Wald- und Grünflächen - und ist gleichzeitig nur 16 km von der Metropole München entfernt. Vom höchsten Punkt der Gemeinde aus hat man einen Panoramablick bis zur Zugspitze. Doch auch vor dieser Bilderbuchlandschaft macht der Klimawandel nicht halt. Seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat sich in der Region laut Bayerischem Landesamt für Umwelt die Jahresmitteltemperatur um 2 °C erhöht. Mit steigenden Temperaturen nimmt die Zahl der Hitzetage zu, zugleich gibt es mehr Starkregenereignisse. Denn je wärmer die Luft, desto mehr Wasserdampf nimmt sie auf und umso intensiver fallen die Niederschläge aus. Ein Überflutungs-Hotspot Auch die Gemeinde Straßlach- Dingharting kennt das Problem. Gerade an neuralgischen Stellen wie auf der quer durch den Ort verlaufenden Hugo-Hofmann- Straße kommt es immer wieder zu Überflutungen. Bei heftigem oder andauerndem Regen staut sich das Wasser am Tiefpunkt einer langgezogenen Senke. Die vorhandenen Abläufe und Sickerschächte sind für die steigenden Niederschlagsmengen nicht ausgelegt, Schlamm und Geröll behindern den Abfluss, durch die hohe Fließgeschwindigkeit wird der Ablauf überströmt. Der Wasserstrom vergrößert sich immer weiter, sodass auch der nächste Ablauf überlastet ist. In der Folge steht das Wasser teilweise im Verkehrsraum, anliegende Grundstücke werden überflutet, Garagen und Keller laufen voll. Impulsgeber IFAT in München Die Kommune sieht den Handlungsbedarf und stellt schnelle Abhilfe in Aussicht. Doch welche bauliche Maßnahme eignet sich, um die kritischen Überflutungspunkte dauerhaft zu entschärfen und das Regenwasser schnell von der Verkehrsfläche abzuleiten? Allein mit zusätzlichen Punktabläufen und größeren Einlaufquerschnitten ist es nicht getan. Den entscheidenden Impuls erhält die Gemeinde auf der Weltleitmesse der Wasser-, Abwasser-, Abfall- und Rohstoffwirtschaft IFAT in München. Dort präsentiert das auf Regenwassermanagement und Gewässerschutz spezialisierte Unternehmen ACO eine neuartige Kombination aus Punkt- und Linienentwässerung, die ACO Drain ® Box. Diese Technologie in Verbindung mit einer Rigolenversickerung verspricht genau die gesuchte Lösung, sowohl was die Funktionalität als auch den Kostenaufwand angeht. Runter von der Straße Starkregen, Versickerung, Straßenentwässerung, Überflutungsvorsorge, Klimawandel, Rigolen Tanja Holst Klimaangepasste Straßenentwässerung: Mithilfe einer intelligenten Kombination aus einer Zwei-Wege-Entwässerung und einem Rigolensystem kann eine bayerische Gemeinde bestehende Gefahrenstellen entschärfen und so die Folgen des Klimawandels künftig besser bewältigen. Bild 1: Einbau der ACO Drain ® Box als Sanierung. © ACO Bild 2: Vor der Baumaßnahme: Die Hugo- Hofmann-Straße nach einem Starkregenereignis. © ACO 27 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Überzeugende Zwei-Wege- Drainwirkung Als Teil des ACO WaterCycle (siehe Kasten) ist die Drain ® Box speziell auf das veränderte Niederschlagsgeschehen und die zunehmenden Überflutungs- Hotspots im urbanen Raum zugeschnitten. Das System kombiniert die Hohlbordrinne KerbDrain mit dem Punktablauf Combipoint PP und nutzt auf diese Weise die Vorteile beider Lösungen - der Punkt- und der Linienentwässerung. Ein Großteil des Oberflächenwassers wird schon vor dem Punktablauf über die seitlichen Einlauföffnungen der Hohlbordrinne aufgenommen, die zugleich als Bordstein fungiert. Dadurch sinkt die Aufnahmemenge, die anschließend dem Straßenablauf zufließt. Beide Bauteile sind über einen Einlaufkasten miteinander verbunden. Die Zwei-Wege-Drainwirkung erhöht die hydraulische Leistung deutlich, so können bis zu 25 % mehr Wasser kontrolliert abgeleitet werden. Das System lässt sich individuell an die konkrete Situation vor Ort und an das lokale Regenaufkommen anpassen. Prädikat wertvoll Die ACO Drain ® Box eignet sich sowohl für die Nachrüstung und Sanierung als auch für den Neubau. Bestehende Anschlussleitungen oder Sickerschächte lassen sich ohne Weiteres integrieren. Hinzukommt: Das System muss nicht entlang des kompletten Straßenverlaufs gesetzt werden, vielfach reichen schon ein paar Meter, um das Überflutungsrisiko in den Griff zu bekommen. Als Beitrag zur einer klimaangepassten Straßenentwässerung wird die Drain ® Box im vergangenen Jahr gleich zweifach auszeichnet: mit dem InfraTech Innovationspreis und der GaLaBau-Innovations- Medaille. Auch die Verantwortlichen in Straßlach-Dingharting sind von dem Konzept angetan und entscheiden sich für zwei Drain- Boxen in Verbindung mit jeweils einer Stormbrixx-Blockrigole. Das modular dort aufgebaute Versickerungssystem mit einem Retentionsvolumen von insgesamt 40 m 3 hält das gesammelte Niederschlagswasser im Boden zurück, gibt es gedrosselt an die meterdicke Kiesschicht ab und unterstützt so den natürlichen Wasserkreislauf. Den Einbau übernimmt im November 2022 das Bauunternehmen Swietelsky aus der Niederlassung Ebersberg unweit von München. Verantwortungsvolle Starkregenvorsorge Für Bauleiter Hannes Kratzer ist es eine Premiere. „Da wir im Bestand gearbeitet haben, waren wir zunächst skeptisch, ob sich das Kombi-System mitsamt Rigole problemlos in die bestehende Infrastruktur integrieren lässt.“ Doch gegen alle Bedenken gelingt die Verlegung der DrainBoxen problemlos. Um die Rigole zu setzen, muss die Baugrube mit einer Tiefbau-Schalung ausgehoben werden - angesichts der beengten Platzverhältnisse und einer Vielzahl von Gas-, Wasser- und Telekomleitungen keine leichte Aufgabe. Die Rigole lässt sich dann mühelos in das enge Stahlgerüst einfügen - dank der leichten, handlichen Kunststoff- Einzelteile des Stormbrixx. „Uns hat sehr geholfen, dass ACO direkt vor Ort war, um uns mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Denn jede Bauverzögerung kostet bares Geld“, so Hannes Kratzer. Bei der zweiten Rigole läuft es dann wie am Schnürchen. Dabei werden auch die bestehenden Sickerschächte integriert, die schon vor der Versickerung Laub und Sedimente herausfiltern. Entstanden ist eine All-in-One- Lösung, die die hydraulischen Spitzen abfängt und in der Gemeinde Straßlach-Dingharting zu einer verantwortungsvollen Starkregen- und Überflutungsvorsorge beiträgt. Weitere Informationen: www.aco.de Tanja Holst Public Relations Fachpresse ACO GmbH, Büdelsdorf Kontakt: tanja.holst@aco.com AUTORIN Niederschläge auch bei Starkregen schnell von der Oberfläche ableiten, zwischenspeichern und kontrolliert an den Untergrund abgeben: Das ist die Aufgabe der ACO Drain ® Box in Verbindung mit der ACO Rigole Stormbrixx. Die Produkte sind integrale Bausteine des ACO WaterCycle. Mit der Systemkette bildet das Unternehmen den natürlichen Wasserkreislauf ab und setzt mit seinen Produkten an vier zentralen Funktionen an: Collect, Clean, Hold und Reuse. Je nach Anwendungsfall lassen sich die einzelnen Module flexibel miteinander kombinieren. So trägt ACO zur Erhaltung sauberen Grundwassers als lebenswichtiger Ressource bei und leistet damit zugleich einen Beitrag zur Erreichung der UN-Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals). Im SDG 6 haben es sich Vereinten Nationen zur Aufgabe gemacht, die Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser für alle zu gewährleisten. DER ACO WATERCYCLE Bild 3: Bauen im Bestand: Baugrube mit der ersten Lage der ACO Stormbrixx- Grundelementen. © ACO 28 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Städte als Wärmeinseln Die städtische Hitze- oder Wärmeinsel ist ein typisches Merkmal des Stadtklimas. Sie zeichnet sich durch die Lufttemperaturdifferenz zwischen der wärmeren Stadt und ihrem kühleren Umland aus und erreicht ihr Maximum bei warmen und windschwachen Wetterbedingungen während der Nacht. Dabei hängt die Lufttemperatur in Städten stark von der Gebäudegeometrie, den thermischen Eigenschaften der Bausubstanz, den Strahlungseigenschaften der Oberfläche und der anthropogenen Wärmefreisetzung, beispielsweise durch Verkehr, Industrie, Abwärme aus Wohnungen und Versiegelung der Böden, ab. Die produzierten Treibhausgase können zudem eine Dunstglocke bilden, die die Luftqualität weiter verschlechtert. Außerdem ist in den Städten heutzutage ein Großteil der Fläche versiegelt, die natürliche Bodenoberfläche durch undurchlässige Materialien nahezu vollständig abgedichtet und Vegetation kaum vorhanden. Somit wird Niederschlagswasser schnell und ungenutzt in die Kanalisation abgeführt und bleibt nicht mehr zur kühlenden Verdunstung im Boden gespeichert. Außerdem haben die für die Versiegelung verwendeten Materialien Stein, Beton, Stahl und Asphalt ein höheres Wärmeaufnahme- und -speicherverhalten als natürliche Vegetation. Enge Bebauung und tiefe Straßenschluchten verringern zudem den Luftaustausch mit dem Umland sowie höher liegenden Luftschichten und behindern somit die Frischluftzufuhr. Kommt noch Abwärme von Industrie, Verkehr sowie Heiz- und Kühlprozessen hinzu, ist es nicht verwunderlich, dass der Temperaturunterschied zwischen Stadt und Land im Sommer bis zu 10 °C betragen kann. Zusammen mit diversen Luftverunreinigungen, bestehend aus Feinstaub und Luftschadstoffen, entsteht ein ungesundes Stadtklima. Vor allem während längerer Hitzeperioden in den Sommermonaten drohen deshalb auch gesundheitliche Folgen. Besonders ältere Menschen, Schwangere, Kleinkinder und Menschen mit Vorerkrankungen können sich oft nur unzureichend an die erhöhte Wärmebelastung anpassen. Die extreme Hitze belastet dann die Lunge, das Herz, die Nieren - manchmal auch die Psyche. Zudem können Menschen nicht mehr produktiv arbeiten, sie bewegen sich weniger und es erhöht sich auch das Risiko für die Verbreitung von Krankheitserregern und Pandemien. Mehr Grünflächen, Bäume und Pflanzen Mit den zunehmenden Auswirkungen des Klimawandels werden die Hitzeperioden vermutlich noch häufiger werden. Damit die Lebensqualität der Bewohnerinnen und Bewohner von Städten nicht weiter sinkt und die negativen gesundheitlichen Gegen die Hitze in der Stadt Wie Fassaden- und Dachbegrünung für Abkühlung sorgen kann Tassilo Soltkahn Temperaturen über 30 °C, kaum Abkühlung in den Nächten, wenig Schatten und dafür viel Beton: Die Sommer in den Städten werden immer heißer und anstrengender für Menschen, Tiere und Pflanzen. Denn in der Regel ist es in urbanen Gebieten wärmer als auf dem Land - man spricht deshalb auch von urbanen Hitzeinseln. Der Wärmeeffekt ist dabei umso stärker, je dichter die Gebäude nebeneinander gebaut sind. Dadurch kann die Luft nicht gut zirkulieren und kühlender Wind die Straßen nicht ausreichend belüften. Zudem speichern Materialien wie Beton, Glas und Metall Wärme, weshalb Städte nachts nur langsam wieder abkühlen. Dunkle Materialien in Farben wie Schwarz, Grau oder Rot verstärken diesen Effekt noch - sie nehmen Sonnenlicht auf und wandeln es in Wärme um. Nachhaltige Bauweisen mit freien Flächen, sogenannten Frischluftschneisen, weiße Fassaden und ausreichend Pflanzen - Bäume und Grünlagen sowie Fassaden- und Dachbegrünung - können Hitze in den Städten hingegen regulieren. Green Living Heidesee. © Soltkahn AG 29 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Folgen nicht zunehmen, gilt es, die Städteplanung und den Wohnungsbau neu zu denken. Vor allem Grün- und Wasserflächen müssen dabei im Fokus stehen. Bäume und Grünflächen sorgen nicht nur für Abkühlung - der Übergang von flüssigem Wasser zu Wasserdampf verbraucht Wärmeenergie -, sondern dämpfen auch Lärm, reinigen die Luft und speichern bei Starkregen Versickerungswasser und dienen so als Puffer. Das Stadtkonzept „Schwammstadt“ sieht zum Beispiel vor, dass Wasser versickert, verdunstet oder gespeichert wird. Oberflächen werden weniger zubetoniert, es wird mehr Wert auf städtische Wiesen und Parks gelegt, Baumwurzeln bekommen mehr Platz, Mulden und Zisternen speichern Regenwasser, das in Trockenphasen Bäume und Pflanzen versorgen soll. Auffangbecken unter der Erde, sogenannte Rigolen, lassen das Wasser versickern und leiten überschüssige Flüssigkeit in die Kanalisation ab. Damit sollen Kanäle weniger überlastet werden, um Überschwemmungen vorzubeugen. Auch begrünte Dächer und Fassaden wirken aufgrund von Verschattung und Verdunstung kühlend auf die nähere Umgebung und bieten somit Möglichkeiten, gesunde und nachhaltige Lebensumgebungen zu schaffen. Überlebenskünstler auf dem Dach Wer ein Gründach auf dem Haus, der Garage oder dem Carport hat, profitiert gleich mehrfach - denn es bietet nicht nur ökologische, sondern auch bauphysikalische Vorzüge. Während es regnet, geben Gründächer zum Beispiel wesentlich weniger Wasser an die Kanalisation ab. Die Pflanzen nehmen das Wasser auf und es verdunstet, wodurch der Regen im Wasserkreislauf vor Ort verbleibt. Gleichzeitig schützen Gründächer vor hohen Temperaturen. Mit Asphaltpappe gedeckte Dächer erhitzen sich im Sommer auf 80 bis 100 °C - Gründächer hingegen nur auf 25 bis 40 °C. Laut eines Forschungsprojektes des Umweltbundesamtes von 2019 spart eine Dachbegrünung etwa 10 % Energie bei der Kühlung von Innenräumen. Entscheidend für den Kühlungseffekt ist, dass die Pflanzen ausreichend Wasser zur Verfügung haben. Die Schicht des Pflanzsubstrates sollte deshalb mindestens 10-cm hoch sein. Zudem können sogenannte Retentionselemente verbaut werden, die Wasser längerfristig speichern. In Sommern mit gelegentlichem Regenfall benötigt eine ausgewachsene Begrünung in der Regel keine zusätzliche Bewässerung. Es werden vor allem Pflanzen für Dachbegrünung verwendet, die trockenresistent sind und mit einem geringen Nährstoffangebot auskommen. Echte Überlebenskünstler und häufig bestandsbildend sind Sedumpflanzen, auch Fetthenne oder Mauerpfeffer genannt. Aber auch spezielle Kräuter, Moose und Gräser kommen mit den besonderen Standortbedingungen auf dem Dach zurecht. Durch die zunehmenden Dürreperioden in Deutschland kann allerdings auch für trockenresistente Pflanzen eine zusätzliche Bewässerung nötig werden. Zudem gilt es die Bepflanzung einmal im Jahr - im Frühjahr oder Herbst - zu düngen. Deutlicher Kühlungseffekt durch Fassadenbegrünung Im Vergleich zu einer Dachbegrünung kann eine Fassadenbegrünung hinsichtlich des Kühlungseffektes noch effektiver sein. Denn in der Regel nimmt die Bepflanzung von Fassaden eine größere Fläche ein und wirkt auf allen Etagen eines Gebäudes. Dabei stellen die Pflanzen eine Verschattung dar, die die Wände kühlen. Der erzielte Effekt hängt vor allem davon ab, wie dicht die Bepflanzung ist. Es gibt Messungen, die zeigen, dass eine dichte Belaubung die einfallende Sonnenstrahlung auf die Wandoberfläche um bis zu 80 % reduzieren kann. Dadurch lassen sich Oberflächentemperaturen im Vergleich zu einer unbepflanzten Wand um bis zu 15 °C verringern. Doch die Begrünung spendet nicht nur Schatten. Sie kühlt auch die Umgebung, indem sie Wasser verdunstet. Dabei wird der unmittelbaren Umgebungsluft Energie in Form von Wärme entzogen. Um bis zu 5 °C können grüne Fassaden die umgebende Temperatur senken. Außerdem mindern sie an verkehrsreichen Straßen zusätzlich noch den Lärm. Wird die Begrünung im Boden am Gebäude gepflanzt, sodass sie Wasser und Nährstoffe aus dem Boden ziehen kann, ist der Pflegeaufwand minimal. Zum Beispiel Efeu, wilder Wein oder Blauregen eignen sich gut für eine Fassadenbegrünung. Aufgrund der vielen Vorteile von Dach- und Fassadenbegrünungen - von den Kühlungseffekten im Sommer über Lärmschutz und Wärmedämmung im Winter bis zur Verbesserung der Luftqualität durch das Filtern von Staub und Schadstoffen - setzen wir bei immer mehr Projekten auf Pflanzen als Teil einer nachhaltigen Bauweise. AUTOR Tassilo Soltkahn Architekt und Vorstand Soltkahn AG Kontakt: kontakt@soltkahn.de 30 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Die Pflanzung von Bäumen im öffentlichen Raum gestaltet sich mitunter schwierig, da der für eine gute Entwicklung notwendige Wurzelraum oftmals fehlt oder, aufgrund von im Straßenraum verlaufenden Einbauten, sogenannten „grauen Infrastrukturen“ (Strom, Abwasser-/ Regenwasserkanal, Hauptwasser-, Gas, Kommunikations-, Fernwärmeleitungen) stark begrenzt wird. Eine Verlegung dieser grauen eingelegte Wanne mit Substratkörper und einen oberirdischen Pflanzring. Die Wanne fungiert als Retentionsbecken. Darin werden die Niederschlags- und Oberflächenwässer aus dem Straßenraum eingeleitet und langfristig gespeichert. Die Wassereinleitung kann zwischen Winter- und Sommerbetrieb getrennt eingestellt werden, sodass salzhaltiges Wasser (verursacht durch den Einsatz von Taumittel im Winter) nicht in die Pflanzfläche gelangt und die Pflanzen schädigt. Der oberirdisch sichtbare Pflanzring, der sogenannte „StreetTREE-Planter“, dient zur Erweiterung des Wurzelraumes und als Schutz des Stammes vor diversen Einflüssen wie beispielsweise anfahrende Autos, Schnittmaßnahmen oder Hundeurin. Zur Versorgung des Baumes, wird mittels Pumpe das Wasser aus dem unterirdischen Becken in das oberirdische sichtbare Pflanzgefäß geleitet. Der Strom für die Pumpe kann über einen Anschluss an das Leitungsnetz oder autark mittels Solarpanel erfolgen (zum Beispiel über eine nebenstehende Solarbank). Sollte während einer Dürreperiode im Sommer nicht genügend Niederschlag über den Straßenraum in die Pflanzfläche gelangen, kann das unterirdische Wasserreservoir mittels Gießwagen oder Hydrant aufgefüllt werden. Die Gieß-Frequenzen Der StreetTREE-Planter Neue Lösung zur Wasserversorgung von Straßenbäumen - mit durch Einbauten reduziertem Wurzelraum Christina Henöckl, Irene Zluwa Als Folgen des Klimawandels leiden unsere Städte immer häufiger unter Hitzewellen und Starkregenereignissen. Abhilfe können „Grüne Infrastrukturen“ leisten, hier gelten insbesondere Bäume als effiziente und kostengünstige Lösung zur Klimaregulation. Bild 1: Einbau der unterirdischen Pflanzwanne. © Christina Henöckl Bild 2: StreetTREE-Planter Groß-Enzersdorf direkt nach dem Einbau. © Christina Henöckl Infrastrukturen ist sehr kostspielig und wird daher nur in seltenen Fällen durchgeführt. Die Folge: notwendige Baumpflanzungen können nicht umgesetzt werden. Für bereits gepflanzte Bäume wiederum sind die Verhältnisse und Gegebenheiten in der Stadt schwierig. Aufgrund des Einsatzes von Taumitteln wird der Eintrag von Oberflächenwässern in den Baumpflanzbereich durch Randsteine verhindert. Dadurch leiden vor allem Jungbäume in ihrer Anwuchsphase oft unter Wassermangel. Ein Konsortium aus dem Institut für Ingenieurbiologie und Landschaftsbau, dem Institut für Siedlungswasserbau, Industriewasserwirtschaft und Gewässerschutz (beide von der Universität für Bodenkultur Wien), dem Landschaftsplanungsbüro Green4Cities, dem Innovationslabor GRÜNSTATTGRAU, der IMG Innovation-Management-Group und den Herstellerfirmen Weissenböck, GEOplast und ACO hat in dem von der Österreichischen F or s chung s förderung sge s ell schaft (FFG) unterstützten Projekt „StreetTREE“, eine Möglichkeit entwickelt, wie (Straßen-) Bäume trotz schwieriger Bedingungen und oben genannten Einschränkungen gepflanzt und mit ausreichend Wasser versorgt werden können: Die Lösung hat zwei Komponenten: eine im Untergrund 31 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum sind hierbei deutlich geringer als bei der herkömmlichen Gießmethode mittels Sacksystemen, die momentan häufig zur Baumbewässerung verwendet werden. Durch dieses System wird eine Baumgrube mit großen Volumina ermöglicht, ohne weit in die Tiefe gehen zu müssen. Der Einsatz über darunterliegende graue Infrastrukturleitungen (Strom, Gas, Telekommunikation, etc.) ist daher uneingeschränkt möglich. Zudem wird die wertvolle Ressource „Wasser“ aus dem Straßenraum sinnhaft in die Pflanzflächen abgeleitet, um es zur Bewässerung wichtiger grüner Infrastrukturen verwenden zu können. Das aus dem Straßenraum in die Pflanzfläche eingeleitete Wasser kann im Untergrund angestaut werden. Überschüssiges Wasser, welches im Anstau der Wanne nicht mehr zurückgehalten werden kann, wird in den Kanal abgeleitet. Dadurch kann aktiv zum Regenwassermanagement im städtischen Raum beigetragen und die Kanalüberlastung bei Starkregenereignissen reduziert werden. Da das Wasser durch einen Schacht in den Kanal geleitet wird, könnte hier auch ein gezieltes Monitoring der Wasserqualität stattfinden, etwa beim Einsatz des StreetTREEs als Bodenfilter. Die Wanne und der Pflanzring können mit Stauden bepflanzt werden, um noch zusätzlich Biodiversität und Ästhetik in die Stadt zu bringen. Als Materialien für den Streettreeplanter werden Kunststoff oder Beton verwendet. Verschiedene Formgebungen und Ausgestaltungen (zum Beispiel mit in den Planter integrierter Sitzbank) sind möglich. Das Konzept zielt vor allem auf Bestands-(Straßen)Räume ab, da bei Neuplanungen Leitungsführungen und Wurzelräume aufeinander abgestimmt werden können. Bei beengten Platzverhältnissen, oder auf Dächern (auch Tiefgaragen) kann die Lösung jedoch auch ihre Relevanz finden. Sechs StreetTREE-Planter wurden bereits an zwei Standorten in Groß-Enzersdorf und Wieselburg umgesetzt und werden nun umfassend gemonitort. Weitere Umsetzungen sollen folgen, Interessierte werden eingeladen, mit dem Projektteam Kontakt aufzunehmen (siehe Box). Optigrün international AG | optigruen.de Stadtklima-Retter planen Gründächer Dachbegrünungen kompensieren die Flächen- Dachbegrünungen kompensieren die Flächenversiegelung, speichern und verdunsten versiegelung, speichern und verdunsten Niederschlagswasser und entlasten dadurch Niederschlagswasser und entlasten dadurch die Kanalisation. die Kanalisation. Gleichzeitig sorgen sie für ein angenehmeres Gleichzeitig sorgen sie für ein angenehmeres Stadtklima und mildern den Hitzeinseleffekt. Stadtklima und mildern den Hitzeinseleffekt. Entwicklung der StreetTREE Baumpflanzmethode, die unabhängig von Einbauten als Schwammstadt- Element eingesetzt wird. Gefördert vom Klima- und Energiefonds der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft. Kontakt: GRÜNSTATTGRAU Forschungs- und Innovations-GmbH Favoritenstraße 50 1040 Wien www.gruenstattgrau.at office@gruenstattgrau.at PROJEKTNAME: STREETTREE Christina Henöckl Institut für Ingenieurbiologie und Landschaftsbau Universität für Bodenkultur Wien christina.henoeckl@boku.ac.at Dr. Irene Zluwa Projektmitarbeit, Forschung GRÜNSTATTGRAU Forschungs- und Innovations-GmbH, Wien irene.zluwa@gruenstattgrau.at AUTORINNEN ANZEIGE 32 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Problemstellung: Um den negativen Auswirkungen des Klimawandels und urbaner Hitze entgegenzuwirken, gewinnt der Einsatz von „Grüner Infrastruktur“ immer stärker an Bedeutung. Allerdings brauchen Grünflächen entsprechende Pflege und Wartung und kontinuierliches Engagement, um die kühlende Wirkung in der Stadt aufrechterhalten zu können. Häufig sind die üblichen Pflegeintervalle externer Unternehmen nicht ausreichend, was zu verwilderten Grünflächen und Pflanzenausfällen aufgrund von Trockenheit führt, und in weiterer Folge die Qualität der Grünflächen beeinträchtigt. Ein Lösungsansatz dafür kann die partizipative Einbindung engagierter Bewohner*innen in die Pflege von Grünflächen sein. Für die Eigentümer*innen und Hausverwaltungen stellen dabei rechtliche Unsicherheiten und die Komplexität in Bezug auf Haftung, Risiko und Gewährleistung bis dato noch hohe Hemmschwellen für die Involvierung privater Nutzer*innen dar, ebenso fehlt es an attraktiven Anreizmodellen für Bewohner*innen. Im Zuge des Projekts wird versucht, diese Hindernisse anhand von Demo Cases zu untersuchen, zu dokumentieren und Antworten zu finden. Ziel des Projektes Care4GREEN ist es, Hausgemeinschaften im Wohnbau zu befähigen, ihre Grünflächen hochwertig und nachhaltig zu begrünen, den Grünbestand zu erweitern und sich aktiv und dauerhaft in die Pflege einzubringen. Dies geschieht über die Einbindung der Bewohner*innen und Hausverwaltungen mittels co-kreativer Workshops, um dem Bestand neue grüne Infrastrukturen hinzuzufügen und um die Bewohner*innen zur Grünpflege zu aktivieren. Im Idealfall entsteht eine Win-win-Situation: Für die Bewohner*innen steigen Zufriedenheit und Identifikation mit ihrem wohnungsnahen Grünraum. Gleichzeitig steigt durch die private Übernahme von Pflegetätigkeiten die Qualität der Begrünung bei gleichen oder geringeren Kosten für Hausverwaltung und Bauträger. Zudem steigert sich noch der Wert der Grünflächen durch die bessere Pflege. Ziele des Projekts sind:  die fachliche Ermächtigung der Bewohner*innen, um einfache Pflegetätigkeiten fachgerecht durchführen zu können,  Muster- und Pflegeverträge zur rechtlichen Absicherung der Bewohner*innen sowie der Hausverwaltungen,  erprobte Anreizmodelle,  eine Open Access Plattform zur Unterstützung der Selbstorganisation,  sowie praxistaugliche Leitfäden für Hausverwaltungen/ Bauträger und Bewohner*innen zur Erhaltung hochwertiger Grüner Infrastrukturen. Anreize zur Teilnahme an der Grünpflege Einsparungen und finanzielle Vergütung: Eine allgemeine Reduktion der Betriebskosten, die sich positiv auf alle Bewohner*innen auswirkt kann nur entstehen, wenn durch die Pflegetätigkeiten der Bewohner*innen auch tatsächliche Einsparungen durch die Reduktion der Leistung von Professionisten erreicht werden. Das heißt: Durch Änderung in den (bestehenden) Verträgen kann der Leistungsumfang der Grünpflegefirmen um den Umfang der Tätigkeiten, die von Bewohner*innen übernommen werden, reduziert Care4GREEN Bewohner*innen-Einbindung zur Pflege gemeinschaftlicher Grünflächen Irene Zluwa, Michael Gräf, Doris Allerstorfer, Julia Salzlechner, Anna Briefer, Peter Skolek, Rosemarie Stangl Im Rahmen des vom Klima- und Energiefonds geförderten Forschungsprojektes „Care4GREEN“ wird die partizipative Erhaltungspflege durch Bewohner*innen entwickelt und an drei Case Studies im großvolumigen Wohnbau erprobt. Ein Bewohner schneidet die Hecke. © Grünstattgrau 33 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum werden. Die daraus resultierenden Einsparungen kommen dann den Bewohner*innen zugute. Voraussetzung für das Greifen dieses Anreizes ist, dass die Kosten, die bei der Unterstützung der Bewohner*innen entstehen (Zurverfügungstellung von Material und Geräten), die Kosten von externen Firmen nicht übersteigen. Eine Aufteilung der eingesparten Kosten auf Einzelpersonen, die die Pflege durchführen, ist gesetzlich nicht vorgesehen. Entsprechende Gutschriften könnten allenfalls über Einzelvereinbarungen erreicht werden, was von den meisten Hausverwaltungen und Bewohner*innen nicht gewünscht ist. Gemeinschaftsgefühl/ Soziale Interaktion: In den Hausgemeinschaften, in denen sich viele Personen für das Gärtnern in der eigenen Anlage interessiert haben, wurde das Plaudern und der Kontakt zu den Nachbar*innen als großer Motivator empfunden. Zur Stärkung des Gemeinschaftsgefühls könnten die Hauseigentümer*innen (oder Hausverwaltungen) etwa einmal im Jahr ein Gartenfest veranstalten. Damit wird die Leistung der Bewohner*innen anerkannt, Bindungen gestärkt und möglicherweise neue Interessierte für die Übernahme von Pflegetätigkeiten gestärkt. Wissenserwerb/ Anleitung: Durch Pflegetätigkeiten und anfängliche Begleitung durch Grünpflegeexpert*innen bzw. spezifische Aufbereitung der anstehenden Pflegetätigkeiten auf der hauseigenen Grünfläche im Jahresverlauf erhält man Informationen und kann sein gärtnerisches und botanisches Wissen erweitern. Um die Pflegetätigkeiten der Bewohner*innen fachlich zu unterstützen wurde eine Lernplattform mit Schrittfür-Schritt-Anleitungen entwickelt; diese sind abrufbar unter: https: / / care4green-lernplattform. fluxguide.com. Es wurden auch Workshops abgehalten, bei denen die Bewohner*innen Anleitung durch Fachkräfte bekamen. Naturerlebnis/ Lust am Gärtnern: Die Freude an gärtnerischen Tätigkeiten und der Aufenthalt in der Natur sind ein Motivator für Bewohner*innen, sich in Pflegetätigkeiten einzubringen. Gestaltungsbeteiligung an der eigenen Wohnhausanlage: Die Motivation, sich an der Pflege der Grünflächen zu beteiligen, ist davon angeregt, den eigenen Wohnraum verbessern und schön gestalten zu wollen. Eigenanbau: Die Nachfrage nach privaten Anbauflächen für Kräuter, Gemüse und Zierpflanzen ist im städtischen Raum sehr hoch. Im Tausch gegen die Möglichkeit, ein privates Beet nützen zu dürfen, erhöht sich die Bereitschaft, sich auch an der Pflege der Begrünung auf Gemeinschaftsflächen zu beteiligen oder einen Geldbetrag bezahlen, der dann in die Pflegekosten der Gemeinschaftsflächen direkt einfließt. Pflege durch Bewohner*innen oder Fachkräfte Tätigkeiten die von Bewohner*innen übernommen werden können: Rasenmähen, Müll einsammeln, Laub entfernen, Kompost sammeln und aufbereiten, Entfernung unerwünschter Beikräuter, Hecken/ Strauchschnitt, Pflege von Kletterpflanzen vom Boden aus, Pflege von Gemüsepflanzen und Stauden, Bewässern der Grünanlage. Nicht ausgelagert werden sollten: Baumschnitt und andere baumpflegerische Arbeiten, Arbeiten in der Höhe (auf einer Leiter, einem Gerüst, oder einer nicht mit Geländer gesicherten Dachfläche) und die Kontrolle, Einstellung und Wartung von komplexen technischen Einrichtungen. Um die Hemmschwelle für Hausverwaltungen zu verringern, Bewohner*innen in die Pflege von Grünanlagen einzubinden, wurden Musterverträge ausformuliert, die im Zuge des Projektes laufend weiterentwickelt und zu Projektende öffentlich zur Verfügung gestellt werden. Conclusio Durch die Befähigung der Bewohner*innen zur Nutzung und Übernahme von Pflegeaktivitäten des wohnungsbezogenen Freiraums wird dessen Qualität erhöht, wie es sonst nur durch kostenintensive Pflege möglich wäre. Wenn funktionierende Strukturen aufgebaut werden, können Kosten durch Vermeidung von Pflanzen-Ausfällen (zum Beispiel durch regelmäßiges Gießen) reduziert werden. Dies führt zur Immobilienaufwertung, Maximierung der positiven mikroklimatischen Wirkungen des Grüns, Vermeidung von Hitzeinseln und Verbesserung der Biodiversität. Nichtsdestotrotz bleibt für gewisse Tätigkeiten, wie dem Baumschnitt, der Pflege von Fassadenbegrünungen oder der Kontrolle von technischen Ausstattungen (Bewässerung) der Einsatz von Professionisten unerlässlich. Dieses Projekt wird aus Mitteln des Klima- und Energiefonds gefördert und im Rahmen des Programms „Smart Cities Demo - Boosting Urban Innovation 2020“ durchgeführt. Dr. Irene Zluwa Projektmitarbeit, Forschung GRÜNSTATTGRAU Forschungs- und Innovations-GmbH, Wien irene.zluwa@gruenstattgrau.at KONTAKT 34 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Vor allem im Sommer macht es sich bemerkbar: Das wilde Summen der Insekten wird langsam stumm. In der Tat ist die fliegende Insektenmenge in Teilen Deutschlands binnen der letzten 30 Jahre um etwa 75 % zurückgegangen. Zu diesem alarmierenden Ergebnis kam 2017 der Entomologische Verein Krefeld in einer vielzitierten Studie, welche die Entwicklung an über 60 Naturschutzorten mitverfolgte. Was für Insektenstich- Allergiker*innen zunächst nach einer guten Nachricht klingt, hat gravierende Auswirkungen auf die Umwelt. Denn ob man die Insekten nun mag oder nicht: Mit ihnen verschwindet ein wichtiger Bestandteil unseres Ökosystems: Sie bestäuben Pflanzen, sind Nahrungsgrundlage für andere Tiere, halten die Böden fit und reinigen Gewässer. Grüne Fassade für mehr Artenvielfalt Vor allem in Städten gibt es immer weniger Lebensraum für die Tiere. Das Problem wird durch den Klimawandel weiter verschärft, der den Lebenszyklus von Wildbienen oder Hummeln gehörig durcheinanderbringt. Steigt die Temperatur an, treiben Pflanzen früher aus - und sind verblüht, wenn die Wildbienen schlüpfen. „Städte sind komplexe Systeme und ein Anstieg der Durchschnittstemperatur von 1,5 °C wird extreme Folgen haben“, erklärt Daniel Hof, Senior Teamleiter und Experte für Grünfassaden bei Drees & Sommer. „Das fängt mit dem Effekt der Wärmeinseln an, mit denen der Städtebau ja schon heute stark zu kämpfen hat. Durch die Art und Weise, wie unsere Städte gebaut sind, sprechen wir lokal nicht über einen Bild 1: Der Laden brummt: Grünfassaden sind ein Mittel, um die Artenvielfalt in Städten wiederzubeleben. © Drees & Sommer SE / Jürgen Pollak Gepflegt abhängen Mit der Grünfassade ein Biotop für Artenvielfalt schaffen Party in der Großstadt - der gelebte Traum vieler Nachtschwärmer. Wieso auch nicht? Städte bieten die Grundlage für pulsierendes und vielfältiges Leben - zumindest für uns Menschen. Die Tier- und Pflanzenwelt kann sich dort jedoch weit weniger ausleben. Graue Betonwüsten dominieren noch immer das Bild vieler Städte. Für Flora und Fauna bleibt leider nur wenig Platz. Die Artenvielfalt wieder in den Mittelpunkt rücken - das zeigte auch der „Tag der Artenvielfalt“ am 17. und 18. Juni in Baden-Württemberg. Der Handlungsspielraum für nachhaltige Veränderung ist groß: Beispielsweise tragen Grünfassaden dazu bei, Tieren und Pflanzen wertvollen Lebensraum zu bieten. Wie eine bepflanzte Fassade sogar an der Nordseite eines Gebäudes funktioniert, das zeigt das auf Bau und Immobilien spezialisierte Beratungsunternehmen Drees & Sommer SE. 35 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Temperaturanstieg von 1,5 °C, sondern von 10 bis 15 °C.“ Abhilfe schaffen grüne Fassaden. Seit zunehmend Photovoltaikanlagen den Platz auf den Dächern beanspruchen, geraten sie als Zuflucht für Pflanzen und Tiere in den Blick. Außerdem sorgen sie für ein besseres Mikroklima, reinigen die Luft und bieten einen besseren Schallschutz. Wie das funktioniert, zeigt die Grünfassade des nach seiner Adresse benannten Büroneubaus Obere Waldplätze 12, kurz OWP12, bei Drees & Sommer in Stuttgart. Alles andere als ein Mauerblümchen Dort erstreckt sich die Grünfassade auf einer Fläche von mehr als 100 m 2 über drei Geschosse mit einer Höhe von 12 m. Statt auf ein bodengebundenes, setzt Drees & Sommer auf ein wandgebundenes Vlies-Substrat-System aus zu über 95 % mineralischen Stoffen. Vlies als Material ist wichtig, um im Hochhausbau den strengen Brandschutzanforderungen zu genügen. Die Firma Vertiko, die das Grünkonzept für die neue Büro-Fassade begleitet, hat das System vorab ausgiebig getestet und einen entsprechenden Großbrandversuch durchgeführt. „Wir setzen bei der Grünfassade auf ein Spezialvlies aus einem Basalt-Glas-Gemisch, das nicht brennbar ist. Die Paneelen lassen sich außerdem gut vor fertige Fassaden setzen und sind vergleichsweise leicht“, erklärt OWP12-Projektleiter Thomas Berner von Drees & Sommer. Wegen ihrer positiven Wirkung auf Umwelt und Mikroklima setzen immer mehr Städte auf Förderprogramme, um die Fassadenbegrünung weiter auszubauen: Gemäß einer Erhebung des Bundesverbands GebäudeGrün e. V. stellen in Deutschland bereits 45-Städte über 50 000 Zuschüsse für Fassadenbegrünungen bereit. Künftig ist sogar zu erwarten, dass viele Kommunen die Fassadenbegrünung in Bebauungsplänen festschreiben. „Wir wollen mit unserem Neubau nicht nur mit gutem Beispiel vorangehen, sondern auch mitwirken, die notwendigen Umsetzungsgrundlagen zu entwickeln. Dafür testen wir am eigenen Gebäude, was hierfür zentral ist“, so Berner. Sind nicht nur Dächer, sondern auch Fassaden begrünt, wirkt sich das insbesondere in unseren Städten positiv auf das Klima der näheren Umgebung sowie die Artenvielfalt aus. Die Immobilie heizt sich weniger auf, Insekten siedeln sich an und die Pflanzenwände filtern Schadstoffe und dämmen Lärm. Ein weiteres Plus: Das Grün schafft eine Wohlfühlatmosphäre. Mit statt gegen die Natur Ist sie erst einmal angelegt, braucht die Grünfassade natürlich auch Pflege: „Wir haben robuste und pflegeleichte Pflanzen ausgewählt, da aufgrund der Lage eine tägliche Arbeit an der Fassade zu aufwändig wäre. Es genügt meist eine wöchentliche Sichtkontrolle. Pflanzen- und Tierliebhaber kommen so auch ohne großen Aufwand auf ihre Kosten“, sagt Daniel Hof. Ein heikler Punkt jedweder Art von Fassadenbepflanzung ist die Versorgung des Grüns mit Wasser. Denn hier kommt es auf die richtige Menge und eine standortgerechte Dosierung an. Das Wasser für die Pflanzen an den OWP12 stammt aus einem Regenwasser-Zisternensystem auf dem Dach. Von einem Computer vollautomatisch gesteuert findet es über verschiedene Leitungen seinen Weg in die Pflanztaschen. Das System lässt sich in Echtzeit online überwachen. Mit zunehmender Begrünung steigt auch die Aufenthaltsqualität für die Menschen in der Stadt, denn als grüne Lunge produzieren Grünfassaden außerdem Sauerstoff und reduzieren Schadstoffe. „Eine grüne Fläche am Gebäude ist nicht nur schön anzusehen. Vielmehr ist sie ein kleines Ökosystem, in dem jedes Lebewesen einen festen Platz hat und zum Fortbestand des Ganzen beiträgt. Das muss man sich als Kreislauf vorstellen“, so Daniel Hof. „Zuerst wurden die Pflanzen angebracht. Die heimischen Insekten beanspruchen diese nun als ihren Lebensraum und dienen wiederum als Bestäuber. Somit sichern beide ihren Fortbestand.“ Um den Insektenbestand in der Grünfassade kümmern sich diverse Vogelarten aus der Region. Sie erhalten nicht nur das ökologische Gleichgewicht aufrecht, sondern nutzen die Begrünung als Rückzugsort und potenziellen Nistplatz. Und somit wird mit der Grünfassade auch in der Stadt ein Leben mit statt gegen die Natur möglich. Bild 2: Bei der Grünfassade wird ein Spezialvlies aus einem Basalt- Glas-Gemisch eingesetzt, das nicht brennbar ist und den hohen Brandschutzanforderungen genügt. ©Drees & Sommer SE / Jürgen Pollak DREES & SOMMER Untere Waldplätze 28 70569 Stuttgart Tel: +49 711 1317-2411 Fax: +49 711 1317-101 Mobil: +49 172 7995752 barbara.wiesneth@dreso.com www.dreso.com KONTAKT 36 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Ein Gründach mit Wärmetauscher - diese Verbindung ist neu auf dem Gebiet der blau-grünen Infrastrukturen. Mit der Kombination wollen die Umweltexperten des Leipziger Dienstleisters Tilia GmbH die Flächenkonkurrenz zwischen energetischen Maßnahmen und blau-grünen Systemen verringern. Ergebnisse ihrer aktuellen Modellierung zeigen: Viele Synergien sind möglich, zudem ergeben sich positive Zusatzeffekte. „Blau-grün ist ein neuer Ansatz“, berichtet Stefan Böttger, Senior Manager beim Leipziger Dienstleister Tilia. „Er verbindet ‚blaues‘ Wasser mit ‚grüner‘ Natur in der Stadt. Mit dem Konzept wollen Planer vor allem das zentrale Abwassersystem entlasten, Energieeffizienz und Mikroklima verbessern sowie Starkregenereignisse optimal auffangen. Hierbei spielen Grünflächen, Plätze und Parks eine zentrale Rolle. Sie können sowohl vor Überschwemmungen schützen als auch beispielsweise Dürreperioden abmildern - und helfen dabei, uns an die Folgen des Klimawandels anzupassen.“ Synergien statt Konkurrenz um Flächen Neben der Anpassung an die Klimafolgen bleibt der Klimaschutz die zweite Hauptaufgabe, vor allem, indem Städte weniger Energie verbrauchen und dafür Erneuerbare Energien nutzen. Das Problem: Beide Ziele stehen aufgrund rarer Flächen im Spannungsverhältnis. „Diese Konkurrenz macht Synergien notwendig“, so Stefan Böttger. „In unserem Ansatz kombinieren wir ein blau-grünes Konzept zum Regenwassermanagement mit einer Technologie der nachhaltigen Energiebereitstellung - der sogenannten „roten Energie“ - praktisch ein Systemansatz blaugrün-rot.“ In einer Modellierung hat Tilia jetzt gezeigt, welche Potenziale dieses Konzept auf Quartiersebene hat. Dafür haben die Modellierer den „Eutritzscher Freiladebahnhof“ in Leipzig gewählt. Hier entsteht in den kommenden Jahren auf 25- ha Fläche ein abflussloses und ressourceneffizientes Stadtquartier, das rund 3 500-Einwohner beherbergen wird. Die innerstädtische Entwicklungsfläche des ehemaligen Freiladebahnhofs ist Leipzigs größtes Bauprojekt und Betrachtungsgegenstand des Forschungsprojekts „Leipziger BlauGrün II“, an dem auch Tilia beteiligt ist. In der theoretischen Betrachtung wird das Quartier mit einem separaten Wärme- und Kältenetz ausgestattet sein. „Im Modell haben wir uns auf die Kühlung fokussiert“, sagt Stefan Böttger. „Bei unseren Überlegungen sind wir davon ausgegangen, dass im Sommer vor allem die Gewerbeeinheiten des neuen Viertels gekühlt werden müssten. Den Energiebedarf einer zentralen Kühlungsversorgung haben wir mit 4 360 MWh/ a und rund 600 Vollbenutzungsstunden pro Jahr angenommen. Und an dieser Stelle kommt das ‚Kühldach‘ ins Spiel.“ Energetisches Upgrade für das Gründach Beim Kühldach handelt es sich zunächst um ein Gründach mit Intensivbegrünung. Zwischen Aufwuchssubstrat und Dachkonstruktion sind Wasser-Retentionsboxen angeordnet. Diese Retentionsboxen dienen als Speicher sowie zur Abflussverzögerung. Zusätzlich wird ein Wärmetauscher installiert. In ihm zirkuliert ein umweltverträgliches Kältemittel, das die Wärme im Sommer aus dem Gebäude in das Gründach transportiert. Dieser Rücklauf wird über das Retentionskühldach vorgekühlt und anschließend an die zentrale Kälteversorgung weitergeleitet. Die Retentionsräume beziehen ihr Wasser aus dem Grundwasserleiter - falls keine Regenwasservorräte mehr vorhanden sind. „Nach der Kühlung des Kälteversorgungsrücklaufs (Aufnahme Gebäudewärme) kann das Wasser wieder in den Grundwasserleiter zurückgeführt werden“, so Stefan Böttger. „Eine Beeinträchtigung des Grundwasserleiters durch höhere Temperaturen ist praktisch nicht vorhanden - Temperaturdifferenz und Wassermengen sind zu gering. Mit dem erwärmten Grundwasser von den Gebäudedächern können beispielsweise auch Grünflächen bewässert werden, es muss nicht zwangsläufig wieder in den Grundwasserleiter fließen.“ Ökologischer Mehrwert, mehr Platz auf dem Dach Kristin Preßler Weniger Konkurrenz um Flächen: Konzept kombiniert Gebäudekühlung mit Gründach. Detaillierte Modellierung bei neuem Leipziger Quartier Gründach - Carport am UFZ im Bau. © M Ueberham UFZ 37 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum • Größte Fachmesse Deutschlands seit über 20 Jahren • Bundesweit einzigartiges Angebot für den kommunalen Bereich • Kombination aus Messe, Kongress, Fachforen und Netzwerkplattform • Digitalisierung, Klima, Energie und Wasser im Fokus • Garantiert dienstreisefähig! • Persönliches Treffen von Mensch zu Mensch KOMMUNALER BEDARF AUF DEN PUNKT GEBRACHT. MESSEZENTRUM NÜRNBERG 18. - 19.10.2023 BUNDESWEITE FACHMESSE UND KONGRESS JETZT TICKET SICHERN! kommunale.de/ besuch twitter.com/ kommunale #kommunale2023 follow us on in Zusammenarbeit mit KOM-23_Ad-Visitor_210x148mm_DE.indd 1 16.05.23 14: 18 Kristin Preßler Senior Manager Transformation Tilia GmbH, Leipzig Kontakt: kristin.pressler@tilia.info AUTORIN Hoher ökologischer Mehrwert 75 % der Dachflächen des Quartiers „Eutritzscher Freiladebahnhof“ wären potenziell für Retention und Kühlung nutzbar. Auf den Gebäudedächern sind das rund 30 100- m², auf den Tiefgaragen 10 500- m². Für das Quartier ist die Mehrfachnutzung des geförderten Grundwassers ein großer Vorteil. Mit dem Wasser werden die Gebäude gekühlt und Gründachflächen und sonstige Vegetation bewässert. Die Bewässerung verbessert aufgrund der hohe Verdunstungskühlung das Mikroklima im Quartier: Die Retentionsgründächer können durch Verdunstung Kühlungsenergie in Höhe von 14 000 MWh/ a bereitstellen. „Aus den Simulationen konnten wir für den ‚Eutritzscher Freiladebahnhof ‘ ermitteln, dass 15 % des gesamten zentralen Kühlungsbedarfs von 4 360- MWh/ a durch den Einsatz von Retentionsgründächern gedeckt werden kann - sofern eine dauerhafte Wasserzufuhr über Regen- oder Grundwasser gewährleistet ist“, resümiert Stefan Böttger. „Damit können wir den Energiebedarf für Kühlung deutlich reduzieren. In Verbindung mit erneuerbarem Strom aus Photovoltaikanlagen leistet das System einen Beitrag zum Klimaschutz. Und die Kombination mit einem Bewässerungskonzept verbessert die ökologische Bilanz noch weiter - ein echter Mehrwert.“ Um das Konzept zu vertiefen und erste praxisnahe Erfahrungen zu generieren, haben die Forschenden bereits im Jahr 2022 eine Pilotanlage auf dem Gelände des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung - UFZ in Leipzig errichtet. Ergebnisse der Tests, die noch in diesem Jahr vorliegen werden, sollen weitere Erkenntnisse für die großtechnische Anwendung bringen. Das Forschungsprojekt „Leipziger BlauGrün II“ ist Teil der Initiative „Ressourceneffiziente Stadtquartiere für die Zukunft“ (RES: Z) sowie der „FONAStrategie“ und wird gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. ANZEIGE 38 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum In einer Wohnanlage in Münster wird dank genialer Planung aller Beteiligten Regenwasser sinnvoll genutzt. So wird das Regenwasser, das vom Dach kommt, in einer kaskadenförmigen Entwässerung auf das begrünte Dach der Tiefgarage geleitet. Hier wird die Optigrün-Systemlösung Retentionsdach eingesetzt. In den auf dem Garagendach installierten Wasser-Retentionsboxen WRB 85 mit rund 80 l/ m² hohem Stauraum-Volumen kann das Regenwasser gespeichert werden. Über Kapillarbrücken wird das gespeicherte Wasser des dauerhaften Anstaus in das Vlies, das auf den Retentionsboxen liegt, transportiert. Das Wasser verteilt sich über das Vlies auf der gesamten Fläche und hält die darüberliegende Substratschicht feucht. Somit steht das Niederschlagswasser der Vegetation auch in längeren Trockenperioden zur Verdunstung zur Verfügung und sorgt somit für ein gesünderes Wachstum der Pflanzen. Gleichzeitig bindet die Vegetation CO 2 sowie Feinstaub und verbessert das Mikroklima. Da sich die Tiefgarage nicht unter der gesamten Fläche der Außenanlage erstreckt, sind die Unterschiede in der Entwicklung der Vegetation - in diesem Falle Rasen - sehr deutlich sichtbar. Unter der grünen Fläche befindet sich das Dach der Tiefgarage mit den Retentionsboxen. Daneben ist der Rasen mit dem herkömmlichen Vegetationsaufbau. Beide Flächen wurden nicht bewässert. Intelligente Nutzung von Dachflächen Mit einer Begrünung von Dachflächen können Auswirkungen des Klimawandels, wie beispielsweise lange Trockenperioden also nachweislich deutlich abgemildert werden. Das System Retention für verschiedene Dachbegrünungsarten kann große Mengen Regenwasser zurückhalten. So kann je nach Ausführung der Wasser-Retentionsboxen (WRB) auf gefällelosen Dächern ein Retentionsvolumen von bis zu 160 l/ m² erzielt werden. Die Wasser-Retentionsboxen sind 80 bis 170 mm hohe Kunststoff-Hohlkörper, die in der Drainage-Ebene eingesetzt werden. Mit Hilfe einer statischen Drossel wird ein definierter Abfluss des Wassers sowie ein dauerhafter Wasseranstau in den Retentionsboxen festgelegt. Der Retentionsraum teilt sich auf diese Weise in einen temporären und einen permanenten Wasserspeicher. Der temporäre Speicher im Retentionsraum entleert sich stark gedrosselt über den Abfluss. So werden niedrige Einleitbeschränkungen eingehalten und der Schutz gegen Überflutungen ist auch bei Regenereignissen mit großen Jährlichkeiten gegeben. Ein wesentlicher Teil der Lösung von Klimaauswirkungen ist also die intelligente Nutzung von Dachflächen mit Dachbegrünungen. Die Lösung gegen Trockenheit im Sommer Das Optigrün Retentionsdach als intelligente Nutzung von Dachflächen Über die Vorteile von Retentionsdächern wurde bereits viel geschrieben. Der Sommer 2022 mit seinen langen Dürreperioden brachte den Beweis, dass eine Vegetation auf Retentionsdächern auch trockene Sommer übersteht. Gleichzeitig wird das Regenwasser effizient genutzt. Bild 2: Das Optigrün Retentionsdach Drossel als 3-dimensionales Schaubild. © Optigrün international AG Bild 1: Deutlicher Unterschied: links: herkömmlicher Aufbau einer Rasenfläche, rechts: begrüntes Tiefgaragendach. © Optigrün international AG KONTAKT Optigrün international AG Am Birkenstock 15 - 19 72505 Krauchenwies-Göggingen Tel: +49 7576 772-207 Fax: +49 7576 772-299 E-Mail: e.gut@optigruen.de www.optigruen.de 39 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Porxos d’en Xifré ist ein aus insgesamt zehn Gebäuden bestehender ikonischer Gebäudekomplex aus dem frühen 19.-Jahrhundert, der von allen drei ihn umgebenden Straßen zugänglich ist und dem übrigens auch das berühmte Restaurant „7- Portes“ innewohnt. Eine echte Sehenswürdigkeit Barcelonas, da die Familie Ruíz-Picasso im Jahre 1895 eine der Wohnungen des Porxos d‘en Xifré bezog. Das begehbare Dach ist ein wunderbarer Rückzugsort, eine eigene Welt inmitten der umtriebigen Stadt. Und in Barcelona sind etwa zwei Drittel der Dächer flach, was bis zu 1 800 Hektar entspricht. „Diese Flachdächer sind leider oft ungenutzt“, weiß Sergio Carratalá Lamarca, CEO des Architekturbüros MataAlta Studio. „Als Architekten fragen wir uns immer, wie können wir die Natur wieder in die dicht besiedelten urbanen Gebiete bringen? Unsere Mission ist das „Rewilding‘, also die Rückführung unserer stark bebauten Welt in ihren natürlichen ökologischen Zustand.“ MataAlta Studio bekam mit Porxos d’en Xifré die fantastische Gelegenheit, ein Vorbildprojekt zu verwirklichen, das dem architektonischen Erbe und der Ökologie gleichermaßen sensibel Rechnung trägt. Folgende fünf Ziele verwirklichten die Planer: Respect heritage Porxos d‘en Xifré erforderte eine denkmalgeschützte Sanierung unter Berücksichtigung des architektonischen Erbes. Insofern wurden die ursprünglichen Strukturen und Materialien des Gebäudes bewahrt und restauriert. Promote biodiversity Eine besonders hohe Artenvielfalt bei Fauna und Flora kommt nicht nur der Natur zugute, sondern auch dem Menschen und seiner Gesundheit. Den Planern gelang, ein lokales Ökosystem mit mehr als 10 000 Pflanzen aus über 50 Pflanzenarten zu schaffen. Sie wählten hauptsächlich Wildnis mitten in Barcelona Dachgarten des Porxos d’en Xifré, Spanien Fabian Kaiser Hoch über dem geschäftigen Hafenviertel von Barcelona ziert ein wild anmutender Dachgarten den historischen Gebäudekomplex Porxos d’en Xifré. Dank feinfühliger Planung und professioneller Umsetzung mit dem ZinCo-Systemaufbau „Lavendelheide“ mischen sich auf einer Gesamtfläche von 1 500 m² idyllische Plätzchen mit naturbelassenen Wegen in ganz ursprünglich gestaltetem und artenreichem Grün. In dieser naturnahen Umgebung hätte Pablo Picasso sicher auch heute noch die besten Inspirationen für seine kreativen Kunstwerke bekommen, denn Erzählungen nach hat der Künstler auf diesen Dächern seine ersten Stadtlandschaften gemalt. Bild 1: Der Dachgarten des Porxos d’en Xifré: So schön könnte es auf jedem Flachdach in Barcelona aussehen. © MataAlta Studio 40 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum einheimische mehrjährige Arten, die trockenheitsverträglich und krankheitsresistent sind, Staub und Schadstoffe filtern, besonders aromatisch duften und das ganze Jahr über zeitversetzt blühen, um Insekten anzulocken. Genauso wichtig wie Futterpflanzen für Insekten und Vögel sind die angelegten Insektenhotels, Nistplätze und kleine Wasserflächen für das Habitat. Be social Sozial ist ein Ort, der die Menschen zusammenbringt und ihnen auch Kraft spendet. Der Dachgarten ist für alle Bewohner gleichermaßen zugänglich und wertvoller gemeinschaftlicher Treffpunkt. Dabei bilden die organisch geformten Sitzbänke und Plätze, die sanft geschwungenen Wege und die bewusst ursprüngliche Vegetation einen wahrlich entspannenden Gegenpol zu den urbanen Gittermustern mit ihren rechten Winkeln und geraden Linien. Reduce any impact Der Dachgarten selbst wurde genau so ausgelegt, dass keine Zusatzmaßnahmen in Bezug auf die Statik erforderlich waren. Auch die Baumaterialien haben die Planer sehr sorgfältig ausgewählt, um den CO 2 -Fußabdruck und die Umweltauswirkungen zu verringern. So wurde zum Beispiel recycelter Tonziegelsplitt für die Dachgartensubstrate verwendet, natürlicher Kalkmörtel für die Mauerarbeiten und Altholz wurde aus dem Gebäude für die Belagsflächen gewonnen. Be self-sufficient Das gesamte Projekt ist von Kreislaufwirtschaft gekennzeichnet und in hohem Maße autark. So sichern beispielweise Photovoltaikmodule auf den Treppenhausdächern die Energieversorgung und speisen Stromüberschuss in das städtische Netz. Auch die kostbare Ressource Wasser wird intelligent genutzt. Überschüssiges Regenwasser vom Dach fließt nämlich nicht in die Kanalisation, sondern wird in einer 9 000-l fassenden unterirdischen Zisterne gesammelt und für die Bewässerung des Dachgartens während der trockenen Sommermonate verwendet. Übrigens sind auf dem Dach auch Kompostierer aufgestellt, deren Humus wiederum der Bodenverbesserung dient. Das ist Kreislaufwirtschaft auf allen Ebenen. Und welche Technik ermöglicht alles? Das Dach von Porxos d’en Xifré ist als sogenanntes „Katalanisches Dach“ gebaut, was von der Bauweise einem belüfteten Kaltdach entspricht und obenauf mehrere Schichten typisch katalanischer Keramikplatten aufweist. Charakteristisch ist also ein Hohlraum, durch den die Luft zirkulieren kann. Über die Gesamtfläche von 1 500 m² ist das Dach unterschiedlich geneigt, in einigen Bereichen bis etwa 5 °. Der Ausführungsbetrieb Eix Verd S.L. verlegte auf dieser Grundlage als erste Lage im ZinCo-Systemaufbau die Speicherschutzmatte SSM 45 und darauf die Drän- und Wasserspeicherelemente Flor- Bilder 2, 3 und 4: Überall dominieren runde Formen und natürliche Materialien das Gartendesign. Geschwungene Wege führen über das bewusst naturnah gestaltete Dach. © MataAlta Studio Bild 5: Der Dachgarten des Porxos d’en Xifré verwirklicht alle Ziele: „Respect heritage“ , „Promote biodiversity“ , „Be social“ , „Reduce any impact“ und „Be self-sufficient“. © Eix Verd S.L. 41 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum • für die dezentrale Rückhaltung und Speicherung von Niederschlagswasser • als Löschwasserbehälter nach DIN 14230 für Neubaugebiete, Industrie- und Gewerbeflächen sowie den landwirtschaftlichen Außenbereich KS-Bluebox ® Regenwasser speichern und nutzen statt ableiten Funke Kunststoffe GmbH info@funkegruppe.de | Tel.: 02388 3071-0 www.funkegruppe.de Regenwasserbewirtschaftung Weitere Informationen: M i t Z u l a s s u n g v o m D e u t s c h e n I n s t i t u t f ü r B a u t e c h n i k • DIBt-Nr. Z - 4 2 . 1 - 5 7 2 230711_funke_anzeige_ks-bluebox-loeschwasser_transforming-cities_78x252_RZ.indd 1 11.07.23 16: 17 drain FD 40. Diese 40 mm hohen Elemente aus tiefgezogenem Recycling-Polyolefin speichern Wasser in ihren Mulden und leiten Überschusswasser dank unterseitigem Kanalsystem sicher ab - und zwar in die bereits erwähnte Zisterne. Auf diese vollflächig verlegte Dränschicht folgte in den Gehbereichen das Systemfilter SF als Abdeckung sowie rund 10 cm Ziegelsplitt Zincolit. In den Terrassenbereichen ist Zincolit teilweise mit Pflastersteinen kombiniert und an anderer Stelle mit Holzhäcksel gemischt. In den späteren Pflanzbereichen wurde als Abdeckung Aquafleece AF 300 verlegt. Auf diesem hochkapillaren Vlies aus Polyacrylfasern sind im Abstand von rund 50 cm Tropfschläuche mit Klettbändern befestigt; diese dienen der Unterflurbewässerung. In Trockenzeiten wird also das in der Zisterne gesammelte Regenwasser in die Tropfschläuche gepumpt und von dem Aquafleece flächig von unten im Substrat verteilt. Erst wenn das Aquafleece und das Substrat wassergesättigt sind, gelangt es durch das Aquafleece hindurch in die darunterliegende Dränschicht. So steht den Pflanzen stets genügend Wasser zur Verfügung. Passend für die Bepflanzung schüttete man hier die ZinCo-Systemerde „Dachgarten“ in einer Höhe von 30 bis 40 cm. Diese Anhügelungen ermöglichen die enorme Artenvielfalt. Gratulation zum Europäischen Bauhauspreis Porxos d‘en Xifré gewann den Europäischen Bauhauspreis 2021 in der Kategorie „Preserved and transformed cultural heritage“ unter mehr als 2 000 Bewerbungen. Von der Europäischen Kommission werden auf diese Weise Projekte ausgezeichnet, die den „grünen Wandel“ verkörpern und dadurch Nachhaltigkeit und Klimaschutz positiv erfahrbar machen. Gerade die Bestandsgebäude sind für etwa 40 % des Energieverbrauchs verantwortlich und bedürfen einer umfassenden Erneuerung. Für die Menschen bedeutet Porxos d‘en Xifré eine spürbare Steigerung ihrer Lebensqualität. Und die 1 500 m² gestalteter Dachgarten sind sogar nur ein Teil der gesamten Dachfläche, die sich über stattliche 5 000- m² erstreckt. Es dürfen also weitere fantasievolle Ideen zur Dachgestaltung folgen. Wie hätte sich wohl Pablo Picasso diesen Dachgarten (aus)gemalt? Fabian Kaiser Leiter Vertrieb International ZinCo GmbH info@zinco-greenroof.com, contacto@zinco-iberica.es AUTOR Bild 6: Die Drän- und Wasserspeicherelemente Floradrain FD 40 liegen vollflächig auf dem Dach und in den Pflanzbereichen ist zur Unterflurbewässerung das Aquafleece AF 300 mit seinen Tropfschläuchen verlegt. © ZinCo ANZEIGE 42 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Der globale Wandel, eingeschlossen Landnutzungsveränderungen, wachsenden CO 2 -Konzentrationen, steigenden Lufttemperaturen und Niederschlagsschwankungen, stellt eine zunehmende Herausforderung für die Gesellschaft dar. Eine Vielzahl der durch den Klimawandel auftretenden Risiken konzentrieren sich auf den städtischen Raum, zudem schreitet die Urbanisierung weltweit rasch fort. Durch Verdrängung der Vegetation, zunehmende Speicherung des fühlbaren Wärmestroms und zusätzliche anthropogene Wärmeemissionen sind besonders mitteleuropäische Städte betroffen [1,- 2]. Zudem lebt der größte Teil der Weltbevölkerung in Metropolregionen. In Deutschland lag die Anzahl der in Städten lebenden Menschen 2021 bei 77,5-%, was rund 64,5 Mio. Menschen entspricht [3]. Die städtische Bevölkerung wird laut Prognosen bis Mitte des 21. Jahrhunderts von einem Anstieg der Lufttemperatur von mindestens 2-°C über dem vorindustriellen Niveau betroffen sein, dabei ist der Effekt der urbanen Wärmeinseln nicht inkludiert [2]. Hitzeperioden werden vermehrt auftreten, die durch den Wärmeinseleffekt zusätzlich verstärkt werden. Mögliche Folgen sind eine zunehmende Luftverschmutzung und Gesundheitsprobleme. Angesichts der globalen Entwicklung, der Entfremdung der Stadtbewohner von der Natur und der wachsenden Anerkennung von städtischem Grund, gewinnt die Bedeutung von Stadtbäumen immer mehr Relevanz [4]. Bäume können das Stadtklima durch eine kombinierte Wirkung der Oberflächenabschattung, der Verdunstung und der Veränderung der Windmuster positiv beeinflussen [5]. Zudem sind ihre Vorteile für die Gesundheit, das Wohlbefinden und das Naturerlebnis längst erkannt. Doch neben ihrer gesellschaftlichen Bedeutung wachsen auch die Anforderungen an Stadtbäume. Immer häufiger geraten heimische Stadtbäume, wie beispielsweise die Sommerlinde (Tilia platyphyllos) und der Bergahorn (Acer pseudoplatanus), nachweislich an die Grenzen ihrer Anpassungsfähigkeit [4, 6, 7, 8]. Aufgrund ihres natürlichen Verbreitungsgebietes zeigen hingegen südosteuropäische Baumarten (zum Beispiel: Fraxinus ornus und Tilia tomentosa ‚Brabant ‘ ) einen besseren Umgang mit höheren Hitzebelastungen, solarer Einstrahlung und Dürreperioden. Sie erreichen dies durch geringere Boden- und Blattwasserpotenziale, das Verhindern der Überschreitung des Welkepunktes, eine gesteigerte Effizienz in der Wassernutzung, niedrigere Transpirationsraten innerhalb der Hitzeperiode, unterschiedliche morphologische Anpassungen der Blätter sowie ein kräftigeres Wachstum der Feinwurzeln [6]. Die Hitzetoleranz heimischer Bäume kann mittlerweile einen limitierenden Faktor für deren Überleben in der Stadt darstellen. Außerdem ist bei der Auswahl von Stadtbäumen zu beachten, dass nicht jede Baumart die gleiche kühlende Wirkung zeigt. Deshalb ist es im Zuge des Klimawandels unerlässlich, die Stadtbaumpflanzungen gründlich und gezielt zu planen, um somit die zunehmende Mikroklimatische Wirkungen blattwendender Baumarten Verbesserte lokalklimatische Bedingungen im urbanen Raum durch die Silberlinde (Tilia tomentosa) Tilia tomentosa, Silberlinde, Stadtklima, Klimaanpassung, grüne Infrastruktur Judith Geib, Sascha Henninger Innerstädtische Begrünung bietet durch Verschattung und Verdunstungsleistung der Vegetation positive Kühlungspotenziale für die umliegende Umgebung. In diesem Zusammenhang gewinnt besonders die Silberlinde (Tilia tomentosa) aufgrund ihrer Fähigkeit, bei starker Sonneneinstrahlung die helle Blattunterseite nach oben zu drehen, zunehmend an Bedeutung. Diese Blattdrehung führt zu einer Veränderung der Albedo und zu einer Absenkung der Oberflächentemperaturen im Kronenbereich und kann somit zur Reduzierung lokaler Wärmeinseln beitragen. 43 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Entwicklung städtischer Wärmeinseln einzudämmen und Kosten aufgrund einer ungeeigneten Artenauswahl zu vermeiden [9]. Die Silberlinde Tilia tomentosa Natürlicherweise kommt die Silberlinde (Tilia tomentosa) auf den Balkanhalbinseln und der nordwestlichen Türkei sowie in Ungarn und Rumänien vor [10]. Sie gehört zu den trockentoleranten und wärmeliebenden Baumarten, die in Südosteuropa beheimatet sind [11]. In deutschen Städten wird sie derzeit als Allee- und Straßenbaum kultiviert. Für die Stadtbzw. Grünflächenplanung ist sie von besonderer Bedeutung, da sie zu den Baumarten gezählt wird, die den zu erwarteten klimatischen Bedingungen standhalten könnten [12]. Aufgrund ihrer Hitze- und Trockentoleranz wurde die Silberlinde 2009 in das Projekt „Stadtgrün 2021“ aufgenommen. Besonders am trocken-heißen Standort Würzburg hat sich die Silberlinde in diesem Projekt bisher als robust erwiesen [7]. Ihre Blätter sind dunkelgrün und auf der Oberseite mehr oder weniger sternförmig behaart, bevor sie später oft ganz kahl werden [12]. Die Unterseite der Blätter ist durch einen dichten Flaum aus Sternhaaren gekennzeichnet, sie weist eine silbrige Färbung auf und hat eingesenkte Stomata [6, 12]. Die behaarten Blattunterseiten beugen zum einen dem Befall mit Blattläusen und damit dem Honigtau vor, sie sind zum anderen aber auch Schutz vor Hitze und einer zu hohen Verdunstungsrate [4]. Sind die Blätter großer Hitze ausgesetzt, dreht die Silberlinde ihre Blätter, sodass die hellere Blattunterseite nach oben exponiert ist. Die einfallende solare Strahlung wird nun reflektiert. Durch die Veränderung der Albedo sinkt sowohl die Oberflächentemperatur am Kronendach (Bild 1) als auch die Lufttemperatur unter dem Kronendach und im Stammbereich [12, 13]. Fragestellung und methodische Vorgehensweise Vor dem Hintergrund der beschriebenen Herausforderungen ist das Ziel dieses Forschungsvorhabens, den Einsatz blattwendender Baumarten als mögliche Anpassungsstrategie an sich verändernde klimatische Rahmenbedingungen im urbanen Raum zu untersuchen. Der Fokus richtet sich vor allem auf die Analyse der sich verändernden Albedo und der sinkenden Oberflächentemperatur am Kronendach der Silberlinde sowie deren potenzielle Wirkung auf die nähere Umgebung, vor allem im Hinblick darauf, dass sie als straßenbegleitendes Grün eingesetzt werden soll. Die Messungen werden in Kaiserslautern (49° 26‘ 44 ‘ ‘ N, 7° 46‘ 08 ‘ ‘ E), einer Universitäts- und Industriestadt in Rheinland-Pfalz, Deutschland, durchgeführt. Die Jahresdurchschnittstemperatur beträgt 9,9- °C, wobei die Lufttemperaturen im Schnitt zwischen 1,9- °C im Januar und 19,3- °C Grad im Juli schwanken [14]. Seit Beginn der Erhebungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts liegt der Anstieg der mittleren Jahrestemperatur in Kaiserslautern bei 2,0- K. Zu bemerken ist hierbei, dass dieser Anstieg vorwiegend in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat [15]. Die jährliche Niederschlagssumme beträgt im Schnitt 764 mm, mit einem Maximum von 69 mm im Mai [14]. Die In-situ-Messungen werden an sechs über die Stadt verteilten Standorten, bei denen es sich immer um straßenbegleitendes Grün handelt, erhoben. Im ersten Durchlauf der Studie erstreckt sich das Messfenster über einen Zeitraum von 14- Stunden, wobei die Messungen morgens um 07: 00 beginnen und abends um 21: 00 enden. Dieser Zeitraum umfasst somit alle Beobachtungszeiten der Mannheimer Stunden und ermöglicht eine spätere Analyse des Tagesverlaufes. Die Daten werden lediglich an weitgehend windstillen (≤ 1,5 m s -1 ) und wolkenlosen bis fast wolkenlosen (Bedeckungsgrad ≤ 1/ 8) Sommertagen (≥ 25 °C) erfasst. Die jeweiligen Straßen werden anhand der Kriterien Baumsorte und Entwicklungsphase ausgewählt. Laut der GALK Straßenbaumliste liegen Unterschiede bezüglich der Eignung verschiedener Arten der Silberlinde als Straßenbaum vor. Daher werden bei den Messungen Tilia tomentosa ‚Brabant ‘ (gut geeignet) und Bild 1: Wärmebildkameraaufnahmen vor der Drehung (links), während der Drehung (mittig) und nach der Drehung (rechts). Hohe Oberflächentemperaturen werden durch rotgefärbte Bereiche dargestellt, niedrigere Oberflächentemperaturen durch blaue Bereiche [13]. © Henninger 44 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Tilia tomentosa (bedingt geeignet) untersucht, um mögliche intraspezifische Differenzen verifizieren zu können. Darüber hinaus wird der Einflussfaktor der Entwicklungsphase bei den Messungen berücksichtigt. Da Bäume je nach Lebensabschnitt auf unterschiedliche Anpassungsstrategien zurückgreifen, werden die Silberlinden in die Phasen Jugend, Reife und Alter eingeteilt. Auf diese Weise kann festgestellt werden, ob in einer bestimmten Altersgruppe die Fähigkeit zum Drehen der Blätter dominiert. Zudem wird die Oberflächentemperatur der Krone des entsprechenden Referenzbaumes und dessen mikroklimatischer Einfluss gemessen. Die Oberflächentemperatur der Baumkrone wird über die Strahlungstemperatur mithilfe einer Wärmebildkamera (Testo 885) erfasst, wobei drei verschiedene Perspektiven der Baumkrone untersucht werden: die zur Hausfassade zugewandte Seite sowie die Ost- und Westseite der Baumkrone. Diese drei Perspektiven sollen spätere Tagesanalysen sowie Rückschlüsse auf einen potenziellen Zusammenhang bezüglich der Oberflächentemperatur der Baumkrone und der Gebäudefassade ermöglichen. Zudem werden drei weitere Lufttemperaturwerte erhoben, um die Auswirkung der Kronentemperatur auf die nähere Umgebung analysieren zu können. Als erste Komponente wird die Lufttemperatur direkt unter der Baumkrone (am Baumstamm) in einer Höhe von 1,5 m über Grund gemessen. Obwohl die Messung von Lufttemperatur normalerweise in einer Höhe von 2 m über Grund erfolgt, fällt die Wahl hier auf 1,5 m über Grund Dies ist darin begründet, dass diese Höhe für die Umgebung, in der der Mensch lebt, repräsentativer ist [16]. Dabei wird berücksichtigt, dass der Temperatursensor vor direkter Sonneneinstrahlung geschützt ist und während den Messungen im Schatten liegt. Die zwei weiteren Erhebungen zur Lufttemperatur erfolgen vom Stamm des Baumes in Richtung Hauswand, um eine möglichst genaue Darstellung der mikroklimatischen Wirkung in diesem Bereich zu erhalten (Bild- 2). Zusätzlich werden Wärmebildaufnahmen der umliegenden Bestandsgebäude erstellt, um eine mögliche Reaktion der Gebäudefassaden, hervorgerufen durch die reflektierte Strahlung der Blattoberflächen, erfassen zu können. Der Wassergehalt im Boden um die jeweiligen Silberlinden wird mit einem Bodenfeuchte-Sensor gemessen. Die Bodenfeuchte wird täglich zu Beginn der Messung vertikal durch das Bodenprofil bis zu einer Tiefe von 30 cm ermittelt (Bild- 2). Der Sensor wird an einer Stelle platziert, die größtenteils im Schatten und am weitesten vom Hauptstamm entfernt liegt [17]. Somit werden zum einen die Auswirkungen der direkten Sonneneinstrahlung minimiert als auch eine repräsentative Stelle der Wasseraufnahme garantiert. Da Stadtbäume vermehrt in kleinen Baumscheiben gepflanzt werden, beschränkt sich die weiteste Entfernung zum Hauptstamm auf die Größe dieser jeweiligen Fläche. Die Aufnahmen der Wärmebildkamera sowie die meteorologischen Parameter Lufttemperatur, Luftdruck, Windgeschwindigkeit und -richtung, relative Luftfeuchte, Beleuchtungsstärke, Bodenfeuchte und UV-Index, die an allen Standorten während der Messung aufgezeichnet werden, dienen zur Identifikation des Stimulus „Blattwende“. Anhand von Nahaufnahmen der Blätter im Kronendach werden zusätzlich die Geschwindigkeit und die Dauer der Blattdrehung erfasst, um die zeitliche Dimension einordnen zu können. Bild 2: Schematische Profilansicht Messaufbau. © Geib Wärmebildkamera Spiegelreflexkamera Temperaturmesser Smart Wetter Sensor Bodenfeuchtesensor Silberlinde Gebäude 1,5 m 30 cm 45 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Ausblick Sollten die Auswertungen nachweislich lokalbzw. mikroklimatische Auswirkungen der Silberlinde auf ihre unmittelbare Umgebung aufzeigen, erwachsen daraus entsprechende Handlungsempfehlungen für die Stadtplanung. Insbesondere im Hinblick auf die Frage, welche Anforderungen auf die grüne bzw. grünblaue Infrastruktur in der Praxis auf die Stadterneuerung hinsichtlich der Nutzung des öffentlichen Raumes, des Einsatzes des „richtigen“ Stadtgrüns und den entsprechenden Gestaltungsfragen zukommen. Handlungsempfehlungen können entwickelt werden, die in gestalterische Strategien und städtebauliche Konzepte eingehen und als Folge über gezielte Anpassungstechniken zur Reduzierung städtischer Wärmeinseln beitragen. Zudem könnte in Abhängigkeit der Ergebnisse an direkt angrenze Bebauung ein Rückschluss darauf gegeben werden, ob sich die Silberlinde als Straßenbegleitgrün tatsächlich eignet oder ob die Reduktion der baumnahen Umgebungstemperatur quasi durch die Tatsache negiert wird, dass durch die Veränderung der Albedo die Strahlung vom Baum zur nächsten Oberfläche, also zur Gebäudefassade, gelenkt wird und diese zusätzliche Erwärmung erfährt. 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Judith Geib Physische Geographie und Fachdidaktik Fachbereich Raum- und Umweltplanung Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau, Standort Kaiserslautern Kontakt: judith.geib@rptu.de Prof. Dr. Sascha Henninger Physische Geographie und Fachdidaktik Fachbereich Raum- und Umweltplanung Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau, Standort Kaiserslautern Kontakt: sascha.henninger@rptu.de AUTOR*INNEN 46 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Die Hauptwache in der Innenstadt von Frankfurt am Main ist ein Ort der weit über die Stadt hinaus bekannt ist. Die Hauptwache ist ein Platz zum Umsteigen, ein Startpunkt für die Samstags-Shopping-Tour auf der Zeil oder ein Treffpunkt für das anschließende Lunch Meeting um die Ecke. Für die Frankfurter*innen ist es auch ein Ort, an dem man sich im September in der Schlange für die ÖPNV- Schülerkarte die Füße platt steht oder an dem es zu Weihnachten nach gebrannten Mandeln duftet. Die wenigsten aber kennen die Hauptwache als einen Lebensraum für Tiere und Pflanzen mitten in der Stadt. Jeden Tag passieren 95 000 Fahrgäste die Hauptwache [1]. Der zentrale Knotenpunkt für viele U-Bahn- und S-Bahnverbindungen ist gleichzeitig Teil einer der meistbesuchten Einkaufsstraßen Deutschlands. Über 9 000 Menschen durchqueren die Zeil pro Stunde [2]. Ein Raum in der Stadt, der also vieles leisten muss: von zuverlässiger Infrastruktur, über Austragungsort für Märkte und Rummel, bis hin zum weltbekannten Skater-Spot. Wildnis Hauptwache Mit anderen Augen auf altbekannte Plätze blicken Artenvielfalt, Reallabor, Partizipation, Interventionen im Stadtraum Natalie Heger, Ruth Schlögl „Wildnis Hauptwache“ ist ein Projekt der Frankfurt University of Applied Sciences, welches gemeinsam mit Frankfurter*innen der Frage nachgeht, welche Tiere und Pflanzen im Herzen der Stadt leben. An Forschungsrad und Forschungstisch vor Ort werden die Fragen der Workshop-Teilnehmer*innen beantwortet: Was krabbelt, fliegt und wächst denn hier? In der Kooperation unterschiedlicher Disziplinen entsteht ein (Mit)Bestimmungsbuch für den urbanen Raum und die Möglichkeit neue Perspektiven im Stadtraum einzunehmen. Oft ein wichtiger Anknüpfungspunkt für die zukünftige Um- und Weiterentwicklung von zentralen Freiräumen. Bild 1: Die Hauptwache in Frankfurt am Main ist einer der zentralen Knotenpunkte in der Innenstadt und den meisten Bewohner*innen ein Begriff, mit Biodiversität, Grün und Natur verbinden ihn aber die Wenigsten. © Robert Metsch 47 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Was wächst, krabbelt und fliegt in der Stadt? Doch welche Pflanzen und Tiere leben eigentlich an der Hauptwache? Was wächst in den Ritzen? Was kreucht und fleucht hier über den Asphalt? Wer fliegt am Himmel? Diesen Fragen geht das Team der Frankfurt University of Applied Sciences im Projekt „Wildnis Hauptwache“ gemeinsam mit Bürger*innen Frankfurts nach. Was lebt hier, neben, unter und über uns? Und was können wir für die Vielfalt an diesem Ort tun? Im Rahmen des urbanen Reallabors Wohnzimmer Hauptwache, koordiniert durch das Deutsche Architekturmuseum DAM und umgesetzt im Rahmen des vom Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen geförderten Forschungsprojektes Post-Corona-Stadt, wurde im Spätsommer 2022 eine mobile Forschungsstation - in Form eines Lastenfahrrads mit ausklappbaren Forschungstisch - erstmals konzipiert und für die Dokumentation der Biodiversität in Städten ausgerüstet. Das Forschungsrad ist der Startpunkt für Forschungsworkshops gemeinsam mit interessierten Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen rund um das Thema Artenvielfalt. Es ist mobil und kann an jeden beliebigen Ort in der Stadt weiterfahren, um neue Räume zu erkunden. Gleichzeitig ist es eine wichtige visuelle Basis für die Teilnehmer*innen und die Kommunikation rund um das Thema Verlust von Artenvielfalt. An der Hauptwache dient es also gleichermaßen als Forschungsstation, als auch als Informationsstand und Hinweisgeber. Neugierige Spürnasen werden hier mit Stift, Erfassungsbögen, Lupen und Bestimmungs-App ausgestattet und können sich, neben der selbstständigen Bestimmung der Pflanzen- und Tierwelt an der Hauptwache, bei der Expertin für Insektenkunde des Senckenberg- Naturmuseums oder den Wissenschaftlerinnen der Frankfurt University of Applied Sciences Unterstützung holen. Mit Workshops und offenen Angeboten, macht das Projekte „Wildnis Hauptwache“ an einem fast gänzlich versiegelten Platz in der Stadt auf den Verlust von Biodiversität aufmerksam und zeigt gleichzeitig die Potenziale von Städten für mehr Vielfalt auf. Was fehlt? Während das Artensterben in Wald, Feldern und Naturschutzgebieten voranschreitet, stellen Städte zunehmend alternative Habitate dar. Diese zu erhalten oder zu schaffen ist eine Aufgabe für uns alle. Unser tägliches Verhalten, welche Räume und Angebote wir schaffen, hat Einfluss auf die Biodiversität. 75 % der Landoberfläche sind heute durch menschlichen Einfluss verändert [3]. Die Fülle der bei uns heimischen Insekten hat in den vergangenen 30 Jahren in Deutschland dramatisch abgenommen, viele Arten sind gefährdet oder vom Aussterben bedroht, darunter Wildbienen und Schmetterlingsarten, aber auch viele weniger bekannte Insekten. Eine Studie des Bundesamts für Naturschutz sieht 42 % der Insektenarten in Deutschland als bestandsgefährdet, extrem selten oder bereits ausgestorben [4]. Vom Rückgang der Insekten sind andere Tiere, die sich von ihnen ernähren ebenfalls betroffen. Aber vor unserer Haustür, im naturnahen Garten und sogar im innerstädtischen Bereich können Insekten, die keine besonderen Ansprüche an ihren Lebensraum stellen, überleben. Dafür brauchen sie jedoch Nahrung und einen geeigneten Platz, an dem ihre Nachkommen aufwachsen können. Wir müssen grundsätzlich in den Städten mehr „Wildnis“ wagen und zulassen. Die Forschungsworkshops „Wildnis Hauptwache“ zur Untersuchung der Artenvielfalt in den Städten sollen auf diese Thematik aufmerksam machen und sowohl jungen als auch älteren Stadtbewohner*innen die Möglichkeit bieten, die Tiere bei ihren spannenden Aktivitäten direkt zu beobachten. Neben der Frage, welche Pflanzen und Tiere in den Städten leben, widmet sich das Projekt auch dem Thema stadträumliche Perspektivwechsel. Inwiefern kann ein Projekt zur Artenvielfalt die Identifikation der Bewohner*innen mit ihrem eigenen Lebensraum verändern und was bewirkt dies im eigenen Umgang mit dem öffentlichen Raum? Wie kann der sehr bewusste Perspektivwechsel auf einen bekannten Ort die Identifikation mit diesem stärken? Für die teilnehmenden Kinder war im Vorfeld meist interessant, wo es an der Hauptwache die besten Pommes gibt und wo sich der verlockende Gummibärchenladen befindet. Für die Erwachsenen Bild 2: An Forschungsrad und Forschungstisch werden die Fragen der Workshop- Teilnehmer*innen beantwortet. © Felix Krumbholz 48 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt stand oft die Frage im Vordergrund, wie sie den Platz am schnellsten wieder verlassen, weil ein Verweilen an diesem Ort gar nicht zur Debatte stand. Die eingehende Erkundung des Platzes, auf der Suche nach Pflanzen und Tieren, ermöglicht eine neue Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit dem städtischen Raum. Das geheime Versteck der schwarzen Wegameise unter den Stufen der Katharinenkirche oder die kleinen Bäume, die aus den Bodengittern hinter dem Café sprießen, rückten so manchen Ort erst ins Bewusstsein. Wie wir in Städten mit Pflanzen und Tieren leben und welche Räume wir für sie schaffen, wird in unterschiedlichen Projekten erkundet. Neben der Methode Animal-Aided-Design von Thomas Hauck und Wolfgang Weisser [5], bei der es darum geht, Tiere bereits frühzeitig in Planungsprozessen von Architektur und Stadt mitzudenken und zu integrieren, verfolgt das Projekt Krautschau der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung das Ziel, den „Ritzenrebellen“ mehr Wertschätzung zu verschaffen, - Pflanzen die sich ihren Weg zwischen Pflastersteinen, in Rinnsteinfugen und Mauerritzen bahnen [6]. Neben Wissenschaft und Praxis richten auch künstlerische Interventionen ihren Blick auf die Natur in der Stadt. Zum Beispiel bei Folke Köbberlings Aktion „Testphase 4“ [7], in der sie im November 2021 Passant*innen aufforderte, mit ihr gemeinsam entlang der „Parade der Apfelbäume“ in Chemnitz versiegelte Flächen durch händische Entsiegelung zurückzugewinnen. Die Auseinandersetzung mit städtischen Räumen und ihrer Beziehung zur Artenvielfalt ist eine wichtige Aufgabe, die nicht neu ist. Ihre Bedeutung ist deshalb aber nicht kleiner geworden, denn es ist noch viel zu tun, bevor Tiere und Pflanzen sich ein Stück Stadt zurückholen können (Rewilding), bis ausreichend Orte der Biodiversität geschaffen werden und bis keine Versiegelung weiterer Freiflächen stattfindet. Was bleibt? Ziel von „Wildnis Hauptwache“ ist es, einen Diskurs zum Thema Biodiversität in urbanen Freiräumen anzustoßen und gleichzeitig die Identifikation der Bewohner*innen mit ihrem Wohnumfeld und den persönlichen Bezug zu ihrem Lebensraum zu stärken. Das Projekt widmet sich der Akzeptanz von Pflanzen und Tieren und ihrer Rolle im Ökosystem und eröffnet den Austausch aus einer neuen Perspektive. Durch die unmittelbare Beteiligung der Bürger*innen am Forschungsprojekt wird ermöglicht, am Wissensprozess teilzuhaben und selbst aktiv zu werden. Im besten Fall nehmen die Bürger*innen aus dem Projekt einen wichtigen Bild 3: Pflanzen finden einen Weg zu wachsen. Auch an vielfrequentierten und versiegelten Plätzen wie der Hauptwache in Frankfurt. © Natalie Heger Bild 4: Mikroskokop, Bestimmungsbögen und Lupenbecher stehen für die eingehende Beobachtung von Pflanzen und Tieren bei der mobilen Forschungsstation zur Verfügung. © Felix Krumbholz Bild 5: Winzige Läuse verstecken sich an der Graswurzel. Genauer beoachten kann man sie unter dem Mikroskop. © Felix Krumbholz 49 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Anstoß für einen nachhaltigen Umgang mit Natur und Ressourcen mit, genauso wie einen neuen Blick auf einen allseits bekannten Ort. Zum Abschluss kommt jedes Wildnis-Projekt, mit der Dokumentation aller Pflanzen und Tiere die durch die Workshop-Teilnehmer*innen bestimmt werden konnten ins sogenannte (Mit)Bestimmungsbuch. So liegt für jeden erkundeten Ort - wie die Hauptwache in Frankfurt am Main - am Ende ein Büchlein vor, das man jederzeit wieder zur Hand nehmen kann, wenn die Frage aufkommt welches Tier hier krabbelt, welcher Vogel hier zwitschert oder welcher Baum sich hier zwischen den Betonplatten seinen Weg erkämpft hat. Die Leser*innen und Bestimmer*innen erfahren mehr über Tiere und Pflanzen in der Stadt. Beispielsweise, dass Stadttauben erstaunlich schlaue Tiere sind. Die Forschung hat gezeigt, dass sie sich über 100 verschiedene Bilder merken können und auch einzelne Menschen wiedererkennen, selbst wenn diese ihre Kleidung wechseln. Beim Durchblättern erfährt man aber auch, dass der feinblättrige Vogelknöterich eine Pflanze ist, die in den Alpen bis 1 500 Meter Seehöhe wächst und nachts Schlafbewegungen ausführt in dem sie die Blätter aufstellt und aneinanderlegt. Mit geschultem Auge lässt sich mit Hilfe des (Mit)Bestimmungsbuches auch die Gemeine Wespe von der Deutschen Wespe unterscheiden und bei der nächsten Begegnung mit einer Wespe, tritt man aufgrund der neu erworbenen Artenkenntnis dem Insekt vielleicht mit mehr Ruhe entgegen, da man dessen Verhalten und seine Bedeutung als Bestäuber besser einschätzen kann [8]. Somit ist das Projekt „Wildnis Hauptwache“ ein wichtiger Impulsgeber für ein Miteinander von Mensch und Natur in urbanen Räumen, ohne dabei allein die bedrohlichen Ausmaße des Verlusts der Biodiversität in den Vordergrund zu stellen. Zentraler Gedanke der Wildnis-Workshops ist es, positive Naturerlebnisse zu schaffen, den Bezug zur Pflanzen- und Tierwelt zu stärken und Verständnis für die unterschiedlichen Voraussetzungen von öffentlichen Räumen zu schaffen. Wir können in Zukunft nicht alle Plätze in blühende Insektenoasen verwandeln, Mammutbäume auf U-Bahnschächte pflanzen oder Fluchtwege durch Sumpfflächen ersetzen. Wir können aber die Versiegelung weiterer Freiflächen vermeiden und immer dann, wenn wir für mehr Grün in der Stadt sorgen die Biodiversität mitdenken und für Pflanzen und Tiere einen Lebensraum in Städten schaffen, der seine ganz eigenen Stärken gegenüber Agrarlandschaften hat. Dabei wünschen wir uns für diese vielfältigen Plätze in der Stadt, genauso wie für die Nutzer*innen, dass sie bleiben, bereit für Veränderungen, bereit Neues zu entdecken und Altes infrage zu stellen - unterwegs mit dem Forschungsrad für mehr Artenvielfalt in Städten und den Austausch untereinander. QUELLEN [1] Hauptwache Frankfurt am Main: https: / / de.wikipedia. org/ wiki/ Bahnhof_ Frankfurt _(Main)_Hauptwache; Zuletzt besucht am 24.5.2023. [2] Erhebung PNB Paribas, 2021: https: / / www.realestate.bnpparibas.de/ dashboards/ footfall-dashboard; Zuletzt besucht am 24.5.2023. [3] IPBES-Assessment zu Biodiversität und Ökosystemleistungen: https: / / www.de-ipbes.de/ de/ Globales- IPBES-Assessment-zu-Biodiversitat-und-Okosystemleistungen-1934.html; Zuletzt besucht 11. Juli 2023 [4] Bundesamt für Naturschutz: https: / / www.bfn.de/ bestand-und-gefaehrdung; Zuletzt besucht am 11.7.2023 [5] Studio Animal Aided Design: https: / / animal-aideddesign.de/ ; Zuletzt besucht 16.7.2023 [6] Klein, A.-M., Krohmer, J.: Das wächst in deiner Stadt, Franckh-Kosmos Verlag, 2023 [7] Köbbernig, F.: „Testphase #1-4: 2017/ 2021: Entsiegelungen in Bonn und in Chemnitz: http: / / www.folkekoebberling.de/ 21-testphase-4-chemnitz.html; Zuletzt besucht 11.7.2023 [8] Heger, N., Schlögl, R.: (Mit)Bestimmungsbuch Hauptwache, Frankfurt University of Applied Sciences, 2022. Prof. Dr. Natalie Heger Architektin und Professorin für Städtebau und Entwerfen Frankfurt University of Applied Sciences Kontakt: Natalie.Heger@fb1.fra-uas.de Mag. Ruth Schlögl Forschungslabor Nachkriegsmoderne, Frankfurter Forschungsinstitut FFin Frankfurt University of Applied Sciences Kontakt: Ruth.Schloegl@fb1.fra-uas.de AUTORINNEN Bild 6: Workshops zur „Wildnis Hauptwache“ wurden zu unterschiedlichen Terminen angeboten. Als offenes Angebot, an dem man spontan teilnehmen konnte, genauso wie für geschlossene Gruppen von Kindern und Jugendlichen. © Cornelius Pfannkuch 50 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Gebäudegrün ist vermehrt ein wichtiger Baustein für Städte zur Anpassung an den Klimawandel. Begrünte Dächer erschließen bisher ungenutzte, zusätzliche Flächenpotenziale inmitten der Stadt. Sie kühlen die Luft ab und erhöhen die Luftfeuchtigkeit. Das schafft ein angenehmes und kühleres Lokalklima. Die Luft wird durch den Pflanzenbestand sauberer, denn er produziert Sauerstoff und bindet Kohlenstoffdioxid, Staub und andere Schadstoffe. Zudem halten Gründächer Regenwasser zurück, verdunsten und verzögern den Abfluss, sodass die Entwässerungssysteme bei Starkregenereignissen entlastet werden. Der Ausbau von Gründächern wird seit Jahren von der Stadt Hamburg in Festsetzungen gefordert und finanziell gefördert. Mit der Hamburger Gründachstrategie (www.hamburg.de/ gruendach) wurde 2014 ein Umsetzungsprozess mit den Handlungsebenen Fördern, Dialog und Fordern begonnen, um Neubauten und geeignete sanierungsbedürftige Dächer zu begrünen. Seit dem Start der Strategie vor neun Jahren hat sich die begrünte Dachfläche in der Stadt um etwa 86 Hektar vergrößert. Neben dem Ziel, den Gründachanteil zu erhöhen, ist die Qualifizierung von Gebäudegrün Teil der Strategie, etwa zur Art und Höhe des Substratauftrags, zu Strukturelementen zur Erweiterung des Lebensraumangebotes und der Vegetationsauswahl [1, 2]. Im Jahr 2020 wurde auf sieben Gründächern, die über die Stadt Hamburg verteilt sind, eine Erfassung und Bestimmung der auf und im Boden lebenden Käferfauna (epigäisch) gestartet (Bild 1 + 2). Das Biomonitoring ist von der Hamburger Umweltbehörde (BUKEA) beauftragt und wird wissenschaftlich von der Züricher Hochschule für Angewandte Käfer, Wildbienen und Wespen erobern Hamburgs Gründächer Biodiversität, Insekten, Arthropoden, Dachbegrünung, Klimaanpassung, Grüne Infrastruktur Hanna Bornholdt, Justus Alexander Quanz, Lukas Kühle, Hannes Hoffmann, Elisabeth Fröhlich, Marco Giardino Begrünte Dächer leisten einen wichtigen Beitrag zur Biodiversität und Klimaanpassung im urbanen Raum. Durch die ökologische Aufwertung von Flachdächern als Lebensraum können die Bedingungen für verschiedene Organismen verbessert und die Artenvielfalt gefördert werden. Auf Hamburgs begrünter Dachlandschaft leben, wie die Auswertung des ersten Teils eines Biomonitorings ergeben hat, mindestens 281 verschiedene Käferarten. Mehrere Käfer stehen sogar auf der Roten Liste der bedrohten Tierarten oder kommen nur sehr selten vor, besonders inmitten einer Großstadt. Neben den Käfern wurden auch Wildbienen und Wespen auf dem Gründach eines Lebensmitteldiscounters erfasst, und auch dort konnte eine überraschende Vielfalt nachgewiesen werden. Die Ergebnisse der Pilotstudie liefern erste Erkenntnisse zum Nutzen von Gründächern für verschiedene Insektengruppen. Die Feststellungen gehen über die eigentliche Nutzung von begrünten Dächern zur Hitzevorsorge und Regenwasserbewirtschaftung hinaus. Gründächer können, indem sie als Lebens- und Rückzugsräume entsprechend gestaltet werden, im Verbund mit anderen Naturräumen, einen Beitrag zum Überleben gefährdeter Arten leisten. Bild 1: Karte von Hamburg mit den Untersuchungsstandorten des Biomonitorings auf Hamburgs Gründächern. © Bornholdt et al. 51 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Wissenschaften (ZHAW) und der Universität Hamburg durchgeführt. Um eine Vergleichbarkeit der Biodiversität unterschiedlicher Dachbegrünungen herzustellen ist es hilfreich eine Indikator-Tiergruppe auszuwählen. Als geeignet erweist sich hier die Gruppe der Käfer (Coleoptera). Käfer repräsentieren die artenreichste Gruppe der Insekten, welche ihrerseits die artenreichste Klasse der Tiere darstellen. Es wird angenommen, dass sich die meisten Käfer über den Luftweg die begrünten Dachflächen als neue Lebensräume erschließen. Zudem kann mit der Aufbringung des Substrats eine Besiedelung erfolgen. In einem weiteren, von der Europäischen Union geförderten Projekt zur Implementierung naturbasierter Lösungen in der Stadtentwicklung, „Clever Cities“ wurde im Stadtteil Neugraben ein 2 400 m 2 großes Supermarktdach mit einer blühenden Kräutervegetation und Habitatelementen angereichert (Bild 3). Bei der Erfassung der Wildbienen- und Wespenfauna auf diesem Standort im Jahr 2021 zeigte sich, dass das Gründach vielen in der Umgebung nistenden Individuen als Ort der Nahrungssuche dient [3]. Vorgehensweise und Ziele Bodenorganismen, wie beispielsweise Käfer, können mit Bodenfallen (Barberfallen) quantitativ gesammelt werden. Dafür werden auf sechs (2020) beziehungsweise sieben (ab 2021) Gründächern mit unterschiedlichen Substratdicken jeweils zehn Becherfallen ausgebracht, um die Käferfauna, die auf und in der Substratschicht des Gründachs lebt, zu erfassen (Bild 4). Die Becherfallen werden in das Substrat eingelassen und zum Schutz vor Vögeln (zum Beispiel: Möwen) mit einem Metalldraht im Abstand von etwa 10 cm überspannt. Jede Becherfalle wird mit einer 10 % verdünnten Essigsäure befüllt und mit wenigen Tropfen Geschirrspülmittel zur Verminderung der Oberflächenspannung der Flüssigkeit angereichert. Alle Fallen werden in einem Rhythmus von 14 Tagen kontrolliert, geleert und mit neuer Fangflüssigkeit ausgestattet. Die erste Fangperiode erfolgte vom 1. Juni bis 31. Oktober 2020, die zweite und dritte zwischen dem 1. April und 31.-Oktober 2021 beziehungsweise 2022. Vergleichbare Untersuchungen mit einem Fokus auf die Käferfauna wurden auf Gründächern in der Schweiz, insbesondere in Basel, durchgeführt, [6]. Das Team um Dr. Stephan Brenneisen (Forschungsgruppe Stadtökologie ZHAW) und Dr. Alexander Szallies (Biologie/ Entomologe) ist bekannt für seine Untersuchungen und Veröffentlichungen über Käfer auf Gründächern. Der Hamburger Datensatz kann dem umfangreichen Datenbestand der Schweizer ZHAW gegenübergestellt und in den Käfersammlungen wissenschaftlich eingeordnet werden [4]. Das Sammeln und erste Sortieren in Hamburg wird von einer Studierenden der Biologie (Universität Hamburg) durchgeführt. Die Studie hat für Norddeutschland Pilotcharakter und schafft die Möglichkeit, die Erkenntnisse in einer größeren bundesweiten Studie weiter zu bearbeiten. Auf dem Gründach in Neugraben (Bild 3) wurden Farbschalen (gelb, weiß, blau) mit Fangflüssigkeit gefüllt, um fliegende Insekten anzulocken. Der Untersuchungszeitraum erstreckte sich vom 21. Mai bis zum 1. Oktober 2021. Außerdem erfolgte der Handfang von Insekten. Bei dieser Methode werden gezielt bestimmte Niststrukturen und Nahrungsressourcen, die für Bienen und Wespen wichtig sind Bild 2: Orte der Käfererfassung A) Betriebshof im Inselpark (© lsadora Tast); B) Sporthalle in der Loogestraße (© Till Neumann); C) Buchten der Hamburger Umweltbehörde (© Conrad Amber); D) Hauptdach der Hamburger Umweltbehörde (© Joseph Heicks); E) Wohnsiedlung „Am Weißenberge“ (© lsadora Tast); F) „Wälderhaus“ im Inselpark (© BUKEA); G) DESY Halle 36 (© Hanna Bornholdt). A B C D E F G 52 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt men. Jahresübergreifend wurden somit bereits 281 Käferarten auf Hamburgs Gründächern nachgewiesen. Die meisten Arten (84 Arten und 21 % der Individuen) lassen sich der Familie der Kurzflügelkäfer (Staphylinidae), gefolgt von den Laufkäfern (Carabidae; 53 Arten) mit den meisten Individuen (61 %), den Rüsselkäfern (Curculionidae; 31 Arten und 11 % der Individuen) sowie 35 weiteren Käferfamilien (nur 10 % der Individuen) zuordnen (Bild 5). Aus der individuenstarken Familie der Laufkäfer sind 21 der 53 Arten in Schleswig-Holstein und/ oder Niedersachsen in einer Gefährdungsstufe der Roten Liste eingeteilt. Auch unter den gefundenen Kurzflügelkäferarten finden sich insgesamt 19 der 83 gefundenen Arten auf einer der Gefährdungsstufen der Rote Liste Arten für das Bundesland Schleswig- Holstein (für Hamburg und Niedersachsen liegt keine Liste vor), siehe Tabelle 1. Über alle Untersuchungsjahre ist eine deutliche Zunahme der Individuen zu verzeichnen gewesen. Dabei war das Vorkommen von bestimmten Käferarten abhängig von verschiedenen Faktoren wie der Umgebung, der Substratdicke, der Pflanzenarten oder der Art des Gründachs. Die meisten Arten konnten beispielsweise im Jahr 2021 auf dem Gründach der sogenannten „Buchten“ der Hamburger Umweltbehörde (Substratdicke 20 cm) gefunden werden (86 Arten) (Bild 2C). Deutlich weniger artenreich war der Betriebshof im Inselpark (Substratdicke 6- cm) mit 16 Arten (Bild 2A). Generell hängt ein höherer Artenreichtum mit der Schichtdicke des Substrats und der damit verbundenen Wasserkapazität zusammen. Hierdurch kann sich ein vielfältiger Pflanzenbewuchs entwickeln und Insektenarten wird mehr Nahrung und Unterschlupf geboten. Generell bilden Gründächer neu hinzukommende (wie Blüten), abgesucht und die Tiere dort gefangen. Diese Methode erfasst insbesondere Arten, die mit herkömmlichen Fallen schlecht gesammelt werden können [5]. Die handlungsleitenden Ziele für die faunistische Untersuchung der Hamburger Gründächer sind:  Abschätzung des Potenzials von Dachbegrünungen für die Biodiversität in Hamburg  Prüfung des Potenzials von Dachbegrünung für naturschutzrelevante Arten (Rote Liste-Arten)  Ableitung von Handlungsempfehlungen für die Planung von Gründächern Ergebnisse und Diskussion Im ersten Untersuchungsjahr 2020 ( Juni bis Oktober) konnten 873 Individuen aus 103 Arten nachgewiesen werden. In der Sammelperiode 2021 (April bis Oktober) kamen auf sieben Standorten bereits 3 211 Käferindividuen (209 Arten) und im letzten Jahr 2022 4 490 Individuen aus 198 Arten zusam- Tabelle 1: Gefährdung der Laufkäfer- und Kurzflügelkäferarten von Hamburgs grünen Dachlandschaften nach Roten Listen von Niedersachsen und Schleswig- Holstein. Gefährdungsstufe Niedersachsen (Laufkäferarten) Schleswig-Holstein (Laufkäferarten) Schleswig-Holstein (Kurzflügelkäfer) Stufe 1: Vom Aussterben bedroht 2 Arten (Amara fusca, Dyschirius angustatus) - 3 Arten (Cousya longitarsis, Philonthus nitidicollis, Scopaeus laevigatus) Stufe 2: Stark Gefährdet 2 Arten (Amara kulti, Harpalus luteicornis) 2 Arten (Amara fusca, Harpalus luteicornis) 2 Arten (Anotylus nitidulus, Quedius semiaeneus) Stufe 3: Gefährdet 6 Arten (Agonum viridicupreum, Amara curta, A. eurynota, Harpalus anxius, H. signaticornis, H. smaragdinus) 7 Arten (Amara curta, Amara eurynota, Calathus ambiguus, Dyschirius angustatus, Harpalus distinguendus, H. smaragdinus, Ophonus puncticeps) 6 Arten (Quedius humeralis, Q. levicollis, Stenus atratulus, S. nanus, Tasgius globulifer, Xantholinus laevigatus Vorwarnliste 2 Arten (Amara tibialis, Notiophilus substriatus) 7 Arten (Amara ovata, Bradycellus csikii, Calathus cinctus, Cicindela hybrida, Harpalus anxius, H. signaticornis, Nebria salina) 2 Arten (Bythinus macropalpus, Tetralaucopora longitarsis) Bild 3: Strukturvielfalt auf dem Gründach des Supermarktes in Hamburg-Neugraben, auf dem die Wildbienen und Wildwespen kartiert wurden. © BUKEA / Maja Berghausen 53 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Pionierflächen im urbanen Gebiet, die, wie dargestellt, durch eine Vielfalt an Arten schnell und erfolgreich besiedelt werden. Hierbei unterliegt diese Besiedelung natürlich jährlichen Schwankungen; die Gründächer verändern sich über die Jahre und mit ihnen die Gemeinschaften der Käfer. Weitere Untersuchungen und Auswertungen sollen in den kommenden Jahren weitere Fragestellungen diesbezüglich beantworten. Bei der Bestimmung der Wildbienen und Wespen auf dem Dach in Neugraben wurden insgesamt 1 560 Individuen (1 239 Bienen und 321 Wespen) festgestellt. Die Bienenindividuen setzten sich aus 30 Arten zusammen, davon zwei der Roten Liste Deutschlands. Eine Art der bundesdeutschen Roten Liste konnte unter den 23 festgestellten Wespenarten nicht erfasst werden. Zehn der gefundenen Bienen- und Wespenarten waren hingegen nach den Roten Listen der Nachbarländer Niedersachsen und Schleswig-Holstein einer Gefährdungsklasse zugeordnet, eine Art befand sich auf der Vorwarnliste. Die höchsten Ansprüche an das Habitat stellt die Hosenbiene, die sandige Böden zum Nisten benötigt. In der Umgebung kann diese Art im Naturschutzgebiet Fischbeker Heide und auf alten Spülsandflächen vorkommen. Begleitend wurden hier die Pflanzenarten auf dem Gründach bestimmt und 60 Arten konnten festgestellt werden. Davon waren fünf Pflanzenarten einer Gefährdungsklasse der Roten Liste Hamburgs zugeordnet, eine Art befand sich auf der Vorwarnliste. Verschiedene Sedum- Arten und Korbblütler boten mit unterschiedlichen Blühphasen ein zeitlich sehr ausgedehntes, geeignetes und ausdifferenziertes Nahrungsangebot. Für blütenaufsuchende Wildbienen waren hier zum Beispiel Erigeron annuus, Erigeron canadensis, Hieracium pilosella, Hypochaeris radicata, Senecio jacobaea sowie Distelarten bedeutsam [5]. Ausblick Um Dachstandorte auch zukünftig als Biotope für Käfer zu erhalten und weiteren schutzbedürftigen Insektenarten in Städten einen Lebensraum zu bieten, sind verschiedene Strukturelemente, unterschiedliche Substratdicken und ein breites Pflanzenangebot auf Gründächern zu empfehlen. Materialien, wie Sand, Erde, Totholz und Steinhügel, sowie höhere Substratdicken scheinen hilfreiche Instrumente zu sein, um Nist- und Raststätten für Käfer zu bieten. So wurden Ende 2020 verschiedene Strukturelemente und eine artenreiche Pflanzenmischung auf dem Gründach der Hamburger Umweltbehörde eingebracht und seitdem hinsichtlich einer weiteren Diversifizierung der Käferfauna beobachtet. Das Gründach des Wälderhauses (Bild 2F) ist mit aufgeständerten Photovoltaikanlagen belegt und zählt in der bisherigen Untersuchung zu den artenreichsten Dächern. Die schattigen Habitate scheinen für Käfer geeignet zu sein und die Artendiversität zu fördern. Aufgrund des Hamburger Klimaschutzgesetzes besteht für alle Neubauten ab 2023 die stadtweite Verpflichtung, die erneuerbare Energiegewinnung auf Dächern unterzubringen. Gleichzeitig werden in vielen Planverfahren Gründächer bei Neubauten festgesetzt. Voraussichtlich werden so eine deutlich höhere Anzahl an kombinierten Solargründächern umgesetzt (Bild 6). Diese Synergie hinsichtlich der Artenvielfalt kann auf weiteren Dachstandorten beobachtet werden. Finanziert ist das Käfer-Biomonitoring bis Ende 2025. Bis dahin sollen die gesammelten Ergebnisse und die Stetigkeit der Populationen geprüft, der Datenbestand erweitert und Gründachgestaltungen mit biodiversitätsfördernden Maßnahmen vertiefend untersucht werden. Ziel ist es, konkretere Handlungsempfehlungen für die Gestaltung von Gründächern zu erarbeiten und diese in die Planungsempfehlungen oder -vorgaben der Stadt einzubringen, um die grüne Dachlandschaft Hamburgs noch artenreicher zu entwickeln. Bild 4: Einrichtung der Becherfallen auf den Gründächern: © Isadora Tast 2020 Bild 5: Diverse Käfer von Hamburgs grünen Dachlandschaften. © Lech Borowiec 54 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt LITERATUR [1] Behörde für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft (Hrsg.): Dachbegrünung. Leitfaden zur Planung, (2018). Download unter www.hamburg.de/ broschueren. [2] Behörde für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft (Hrsg.): Hamburger Naturdach. Pflanzenliste für die extensive Dachbegrünung mit regionalen Arten, (2022). Download unter www.hamburg.de/ broschueren. [3] Bezirksamt Harburg. Freie und Hansestadt Hamburg: Sand, Steine, Totholz für mehr Biodiversität Wildbienen-Gründach auf dem EDEKA-Markt, 2023. U R L : ht tps: / / w w w.hamburg .de / harburg / cle vercities-projekte/ 15172412/ wildbienen-gruendachedeka-markt/ . Letzter Zugriff am 30.06.2023. [4] Brenneisen, S., Szallies, A., Opitz, F.: Wissenschaftliche Erfolgskontrolle Dachbegrünungen Hamburg - Biomonitoring-Käfer. Zwischenbericht 2022 der Forschungsgruppe Stadtökologie, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW, (2023). [5] Haack, A., Schmid-Egger, C.: Erfassung der Wildbienen- und Wespenfauna auf dem Gründach des Edeka-Markts in Neugraben/ Hamburg. Monitoring 2021, (2022). [6] Petremand, G., Chittaro, Y., Braaker, S., Brenneisen, S., Gerner, M., Obrist, M. K., Rocbefort, S., Szallies, A., Maretti, M.: Ground beetle (Coleoptera: Carabidae) communities and green roofs in Switzerland: synthesis and perspectives. Urban ecosystems, 21 (1), (2018) pp. 119 - 132. Dr. Hanna Bornholdt Projektleitung Hamburger Gründachstrategie Behörde für Umwelt, Klima, Energie und Agrarwirtschaft (BUKEA) Amt für Naturschutz und Grünplanung, N132 Kontakt: gruendach@bukea.hamburg.de Justus Alexander Quanz Wissenschaftlicher Mitarbeiter HafenCity Universität Hamburg Kontakt: justus.quanz@hcu-hamburg.de Lukas Kühle Referent BUKEA, N13 Kontakt: lukas.kuehle@bukea.hamburg.de Dr. Hannes Hoffmann Referent Artenkataster/ Artenschutz BUKEA, N33 Kontakt: hannes.hoffmann@bukea.hamburg.de Elisabeth Fröhlich Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels, SHK Kontakt: elisabethfrhl@gmail.com Marco Giardino Referendar BUKEA, N1 Kontakt: marco.giardino@bukea.hamburg.de AUTOR*INNEN Bild 6: Solargründach in der Hamburger Innenstadt. © BUKEA / Lukas Kühle Call for Papers 4|2023 Themen und Termine auf: www.transforming-cities.de Ihre neuen Ergebnisse aus Forschung, Wissenschaft und Praxis in Lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 3|2023 von Internationales Verkehrswesen: Technologie, Innovation - und die Praxis Kaum jemand dürfte noch ernsthaft daran zweifeln, dass sich das Klima global massiv ändert - und dass man auch im Verkehrsbereich (irgendwie) gegensteuern sollte. Der Richtungsstreit freilich ist im vollen Gange: Während die Einen auf Elektrifizierung und die Anderen auf Technologieoffenheit setzen, sehen Viele in einer forcierten Abkehr vom Individualverkehr, beschleunigter Digitalisierung und „Management by AI“ den eleganten Ausweg - Mischformen selbstverständlich nicht ausgeschlossen. Auf diesen Themenkomplex richtet die September-Ausgabe 3|2023 von Internationales Verkehrswesen ihren Fokus - mit innovativen Ideen, klugen Strategien und Praxisberichten aus Deutschland und der Welt. Inhalte im Überblick:  Künstliche Intelligenz gegen Fachkräftemangel: Mensch und Maschine kooperieren  Mobilität auf dem Land künftig autonom, elektrisch, vernetzt?  Wer Lastenräder und Fahrradanhänger wirklich nutzt  Expressgut privat per Bahn versenden - ein Erfolgskonzept?  Dieseltreibstoff auf dem Prüfstand  International: Der Umgang mit Rohstoffen und Batterie-Recycling  ... und vieles mehr ... Erscheinungsdatum 1. September 2023. 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Der Artikel liefert Erkenntnisse aus einer Umfrage zur Nutzung städtischer Grünräume im Ruhrgebiet und in Shanghai, einschließlich kultureller Unterschiede, und gibt Hinweise, inwieweit bestimmte Grünraumeigenschaften zur Nutzung beitragen. Bild 1: Saubere Luft, Bäume und Blumen tragen in Shanghai zur Schönheit eines Grünraums bei. © rinema1demi auf Pixabay Die Bedeutung städtischer Grünräume für die Lebensqualität der Bevölkerung ist unumstritten. Parks, Wälder, Straßenbegleitgrün und Kleingartenanlagen bieten Raum für körperliche Aktivitäten, soziale Interaktionen und Erholung. Diese Nutzungen gehen mit einer Vielzahl von Vorteilen einher, wie dem Stressabbau und einer verbesserten Fitness. Allerdings variieren die Nutzungen und Vorteile von 57 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt auch als Ökosystemleistungen bezeichnet werden (siehe Info-Box), bewertet werden können. Das Projekt verwendet Pilotgebiete in der Metropole Ruhr (Bochum und Gelsenkirchen) und in Shanghai, um die hierfür notwendigen Methoden zu entwickeln und Daten zu generieren. Mit 5,1 Mio. Einwohnern und einer Fläche von 4 440 km² stellt das Ruhrgebiet den größten Ballungsraum Deutschlands dar. Hinsichtlich der Planung von Grünräumen stehen Bochum und Gelsenkirchen, mit einer Fläche von 145,4 km² bzw. 104,94- km², aufgrund der industriellen Umstrukturierung und der Nutzung ehemaliger Kohlegebiete vor vielfältigen Herausforderungen. Denn trotz Fortschritten in der Revitalisierung der Industrielandschaft besteht in dicht besiedelten innerstädtischen Gebieten immer noch ein hoher Nutzungsdruck auf Grünflächen sowie Defizite hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit und Qualität [5]. In Shanghai leben über 25 Mio. Einwohner*innen auf einer Fläche von 6 340 km², von denen der Großteil im dicht besiedelten Kernstadtbereich (etwa 1 920- km²) lebt. Das explosionsartige Städtewachstum Shanghais ging zunächst auf Kosten der Verfügbarkeit von Grünräumen, im Jahr 1982 lag ihr Anteil lediglich bei 0,45 m² Grünfläche pro Kopf [6]. Durch die steigende Bedeutung der öffentlichen Grünraumplanung und die damit verbundenen planerischen Maßnahmen steigerte sich das Pro-Kopf-Verhältnis im Jahr 1999 auf 3,62 m² [7]. Für das Jahr 2035 lautet die Zielvorgabe für den Kernstadtbereich, das Verhältnis auf 7,6 m² Grünfläche pro Kopf zu erhöhen [8]. Trotz dieser ambitionierten Ziele steht auch Shanghai einem hohen Nutzungsdruck gegenüber. Ökosystemleistungen (ÖSL) bezeichnen die Vorteile, die Menschen aus der Natur ziehen. Das Konzept wurde entwickelt, um die Bedeutung der Natur für den Menschen in einen wirtschaftlichen Kontext zu stellen und sie für politische Entscheidungen aufzubereiten. ÖSL werden in der Regel in drei Kategorien unterteilt: Versorgungsleistungen (materielle Outputs wie Nutzholz oder landwirtschaftliche Erträge), Regulierungsleistungen (natürliche Prozesse zur Umweltregulierung, wie dem Hochwasserschutz) und kulturelle ÖSL (immaterielle Vorteile wie Naherholung und ästhetische Werte) [9, 10]. Letztere entstehen im Vergleich mit den anderen Kategorien in besonderem Maße aus der Interaktion des Menschen mit der Natur (Ko-Produktion). ÖKOSYSTEMLEISTUNGEN Grünräumen je nach geografischem Kontext. Um die Zusammenhänge zwischen der Gestaltung von städtischem Grün und den Nutzungspräferenzen zu verstehen, sind kontextspezifische Erfassungen notwendig. Hintergrund In urbanen Gebieten mit hoher Bevölkerungsdichte und unzureichender Bereitstellung von Grünräumen ergeben sich vor dem Hintergrund einer wachsenden Stadtbevölkerung und des Klimawandels besondere Herausforderungen hinsichtlich der Anfälligkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen. Besonders ältere Menschen, Menschen mit chronischen Erkrankungen und Kinder können durch erhöhte Hitzebelastung, Luftverschmutzung und mangelnde Erholungsräume für körperliche Aktivitäten in ihrer Gesundheit beeinträchtigt werden [1]. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt daher eine Bereitstellung von Grünflächen von mindestens 0,5-ha im Umkreis von 300 m einer jeden Wohnbebauung [2]. Die Umsetzung dieser Empfehlung geht jedoch mit eigenen Herausforderungen für Planer*innen einher: Einerseits stehen wachsende Gemeinden in Ballungsräumen durch steigende Bevölkerungszahlen und Nachverdichtung in Folge des Wohnungsbaus vor dem Problem eines erhöhten Nutzungsdrucks auf bereits bestehende Grünräume, andererseits müssen schrumpfende Gemeinden ungenutzte Grün- und Brachflächen in eine sinnvolle Nutzung überführen [3]. Angesichts dieser Herausforderungen ist eine Grünraumplanung, die auf die Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung ausgerichtet ist, von entscheidender Bedeutung für das Wohlbefinden der Menschen in städtischen Gebieten. Um zielgerichtete Maßnahmen zur Gestaltung städtischer Grünräume zu entwickeln, müssen die Nutzungspräferenzen der Menschen in verschiedenen geografischen Kontexten berücksichtigt werden. Eine solche kontextspezifische Herangehensweise ermöglicht es, das volle Potenzial städtischer Grünräume auszuschöpfen [4]. Grünräume im Ruhrgebiet und in Shanghai Im Rahmen des vom BMBF geförderten Projekts IMECOGIP („Implementierung des Ökosystemleistungs-Konzepts in die Planung Grüner Infrastruktur zur Stärkung der Resilienz der Metropole Ruhr und chinesischer Megacities“) 1 wird daher eine Toolbox zur Anwendung in Geoinformationssystemen (GIS) entwickelt, mit deren Hilfe städtische Grünflächen hinsichtlich ihrer Leistungen für den Menschen, die 1 Mehr Informationen unter: https: / / www.sustainable-urbanregions.org/ de/ project/ imecogip/ 58 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Grünraumnutzung in Gelsenkirchen, Bochum und Shanghai Vor diesem Hintergrund wurden die Nutzungspräferenzen der Menschen in den Metropolen Ruhr sowie Shanghai untersucht, um die kulturellen Ökosystemleistungen in diesen Gebieten mess- und kommunizierbar zu machen. Hierfür wurden die Einwohner*innen beider Gebiete in einer 2021 durchgeführten Online-Umfrage hinsichtlich ihrer Vorlieben zu den Nutzungskategorien „Aktive Bewegung“, „Entspannung und Naturbeobachtung“, „Ästhetische Erfahrungen“, „Umweltbildung“, sowie „Kultur und Geschichte“ befragt, wobei ein Fokus auf den ersten drei Kategorien lag. Neben der Nutzung stand zudem die Frage im Vordergrund, welche Merkmale von Grünräumen besonders zu einer Nutzung und demnach zu einem gesteigerten Wohlbefinden der Stadtbevölkerung beitragen. An der Umfrage nahmen insgesamt 2 532 Personen teil, von denen 1 524 Personen aus Bochum und Gelsenkirchen und 1 008 aus Shanghai stammten. Zu Beginn wurden die Teilnehmenden gebeten, die genannten Nutzungskategorien bezüglich ihrer Bedeutung für die Grünraumnutzung zu bewerten. (Bild 2). Dabei wurden „Ästhetische Erfahrungen“ in allen drei Städten als wichtigste Nutzungskategorie bewertet, gefolgt von der Kategorie „Entspannung und Naturbeobachtung“ sowie der „Aktiven Bewegung“. Die Ergebnisse zu diesen Kategorien werden im Folgenden genauer erläutert. Bild 2: Bedeutung der Grünraumnutzungskategorien für die Teilnehmenden in Gelsenkirchen, Bochum und Shanghai. 0 = überhaupt nicht wichtig / 5 = sehr wichtig. © IMECOGIP 0,0 1,0 2,0 3,0 4,0 5,0 4,5 4,7 4,2 4,4 4,6 4,0 3,9 4,2 3,9 3,4 3,4 3,9 2,9 2,8 3,8 Ästhetische Erfahrungen Entspannung und Naturbeobachtung Aktive Bewegung Kultur und Geschichte Umweltbildung Gelsenkirchen Bochum Shanghai Ästhetische Erfahrungen In der Nutzungskategorie „Ästhetische Erfahrungen“ wurde nach spezifischen Grünräumen gefragt, die die Teilnehmenden als besonders schön erachten, sowie nach besonderen Merkmalen, die zur Schönheit eines Grünraums beitragen. In beiden deutschen Städten wurden Parks als die am häufigsten genutzten Grünräume genannt, um die Schönheit der Natur zu genießen. Während die Berger Anlagen, eine weitläufige Parkanlage in Gelsenkirchen als der schönste Grünraum genannt wurde, belegte in Bochum das Weitmarer Holz, ein großflächiges Waldgebiet, Platz 1. Baumbestände stellten generell ein wichtiges Merkmal eines schönen Grünraums dar (Tabelle 1). Auch Teiche und eine natürliche Gestaltung wurden von den Befragten in beiden Städten als wesentliche Charakteristika für die ästhetische Anziehungskraft eines Grünraums angesehen. Diese Gemeinsamkeiten legen nahe, dass die Befragten in beiden Städten ähnliche Vorlieben haben, wenn es um ästhetische Erfahrungen in städtischen Grünräumen geht. Die Ergebnisse aus Shanghai zeigen, dass für die Schönheit von Grünräumen saubere Luft, ein reicher Baumbestand und Blumen entscheidend sind (Bild 1). Entspannung und Naturbeobachtung In der Kategorie „Entspannung und Naturbeobachtung“ wurden die Teilnehmenden nach ihren Vorlieben für passive und beobachtende Aktivitäten befragt. Etwa die Hälfte der Befragten in allen drei Städten (Gelsenkirchen = 45,66 %, Bochum = 47,97 %, Shanghai = 53,67 %) gab an, städtische Grünräume zu besuchen, um Tiere zu beobachten oder sich Pflanzen anzuschauen. Zudem wurden die Grünflächen in beiden deutschen Städten gerne zum Verweilen sowie zum Freunde treffen genutzt. In Shanghai wurden hingegen Freizeitaktivitäten wie Camping und Picknicken genannt. Die Umfrage zeigte, dass in Gelsenkirchen Wälder und Parks den höchsten Stellenwert für diese Nutzungskategorie hatten, während in Bochum Wälder und Naturschutzgebiete besonders geschätzt wurden. In Shanghai spielte vor allem die kostenfreie Nutzung von Parks eine wichtige Rolle für Entspannungszwecke. Zudem wurden natürlich gestaltete Plätze als besonders wichtig bewertet. In Gelsenkirchen und Bochum wurden Baumbestände als wichtigstes Merkmal für diese Nutzungskategorie genannt. Weitere relevante Elemente waren Teiche und Wiesen. In Shanghai wurden ein gut ausgebautes Wegenetz und Blumen als besonders relevant erachtet (Tabelle 1). 59 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Die Mehrheit der Menschen in allen drei Städten besuchte städtische Grünräume zu Entspannungszwecken mehrmals pro Woche. Die Mehrheit der Besuche in Shanghai dauerte zwischen 30 Minuten und einer Stunde, während es in Bochum und Gelsenkirchen ein bis zwei Stunden waren. Aktive Bewegung Bezüglich der Nutzungskategorie „Aktive Bewegung“ stellte in allen drei Städten das Spazierengehen die wichtigste Aktivität dar. In Bochum und Shanghai folgte daraufhin das Joggen, in Gelsenkirchen das Fahrradfahren. Da das Fahrradfahren in Shanghai nicht in allen öffentlichen Grünräumen in Shanghai gestattet ist, zeigten sich hier erste bedeutsame kulturelle Unterschiede in der Grünraumnutzung: Das Fahrradfahren wurde hier nicht erwähnt. Sowohl in Gelsenkirchen als auch in Bochum wurden Wälder als besonders wichtig für die aktive Bewegung bewertet, was sich in Bochum auch in der Antwort zum am häufigsten genutzten Grünraum, dem Weitmarer Holz, widerspiegelte. Generell waren den Menschen in Bochum Baumbestände für aktive Tätigkeiten wichtig. Daneben wurden zudem vorhandene Wegenetze sowie Wiesen und Teiche besonders hoch bewertet. Grünräume in Bochum sollten zudem natürlich gestaltet und ruhig sein, sowie keinen bzw. nur wenig Autoverkehr aufweisen, damit sie sich für Bochumer zur aktiven Bewegung eignen. Des Weiteren war den Bochumern eine getrennte Wegenutzung zwischen Fußgängern und Fahrradfahrern wichtig, um Konflikte zwischen den verschiedenen Nutzergruppen vermeiden zu können. In Gelsenkirchen wurden mit den Berger Anlagen, dem Stadtgarten und dem Nordsternpark hingegen Parkanlagen als die am häufigsten zur aktiven Bewegung genutzten Grünräume genannt. Auch hier waren den Befragten Baumbestände, ein vorhandenes Wegenetz, Wiesenflächen sowie Stillgewässer innerhalb der Grünräume besonders wichtig. Die Befragten in Gelsenkirchen gaben zudem an, dass ihnen die Sauberkeit eines Grünraums sowie ausreichend Sitzgelegenheiten für die aktive Naherholung wichtig seien. Die für die aktive Bewegung als am wichtigsten bewerteten Grünräume in Shanghai waren neben eintrittsfreien Parks kleinflächigere Grünräume in unmittelbarer Wohnumgebung. Dies betrifft insbesondere kleinere Parkanlagen in privaten Wohncompounds, sogenannte „gated communities“. Gut ausgebaute Wege waren den Befragten in Shanghai ebenso wichtig, wie den Befragten in beiden deutschen Städten. Auf Platz 2 der wichtigsten Merkmale befanden sich jedoch Sportgeräte zur körperlichen Ertüchtigung, die sowohl in Gelsenkirchen als auch in Bochum den letzten Platz ausmachten. Fazit Städtische Grünräume tragen signifikant zum Wohlbefinden bei. Die Kategorien „Ästhetische Erfahrungen“, „Entspannung und Naturbeobachtung“ sowie „Aktive Bewegung“ wurden als wichtige Nutzungspräferenzen identifiziert. Obwohl bestimmte Aspekte des Wohlbefindens ähnlich waren, zeigten sich Unterschiede in den Präferenzen zur Rang Gelsenkirchen Bochum Shanghai Ästh. Erfahrungen 1 Wasserflächen Baumbestände Saubere Luft 2 Baumbestände Wasserflächen Baumbestände 3 Natürlichkeit Natürlichkeit Blumen Entspannung, Naturbeobachtung 1 Baumbestände Baumbestände Wegenetz 2 Teiche Teiche Blumen 3 Wiesen Bäche Wiesen Aktive Bewegung 1 Baumbestände Baumbestände Wegenetz 2 Wegenetz Wegenetz Sportgeräte 3 Teiche Wiesen Wiesen Tabelle 1: Top 3 der als am wichtigsten bewerteten Merkmale von Grünräumen je Nutzungskategorie. © IMECOGIP Tabelle 2: Top 3 der meist genannten Aktivitäten in städtischen Grünräumen. © IMECOGIP Rang Gelsenkirchen Bochum Shanghai Entspannung, Naturbeobachtung 1 Tiere und Pflanzen beobachten Tiere und Pflanzen beobachten Natur genießen 2 Verweilen Verweilen Tiere beobachten 3 Freunde treffen Freunde treffen Camping Aktive Bewegung 1 Spazieren Spazieren Spazieren 2 Fahrradfahren Joggen Joggen 3 Joggen Fahrradfahren Fitness 60 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Grünraumnutzung in Gelsenkirchen, Bochum und Shanghai aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Hintergründe und Kontexte der Städte. Die hier beschriebenen Studienergebnisse legen nahe, dass Grünflächen in ihrer Gestaltung sowohl ästhetisch ansprechend als auch erlebnisreich und aktivitätsfördernd gestaltet werden sollten. Für Metropolen sind eine angemessene Bereitstellung und Gestaltung von Grünflächen von großer Bedeutung. Es gilt, ausreichend große und qualitativ hochwertige Grünräume in Wohnnähe zu schaffen, um den Bedürfnissen der Bevölkerung gerecht zu werden. Dabei sollten verschiedene Arten von Grünräumen wie Parks und Wälder berücksichtigt werden, um vielfältige Nutzungsmöglichkeiten zu bieten. Die Ergebnisse zeigen zudem, dass die Planung von Grünräumen auf die spezifischen Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung ausgerichtet sein sollte. Dies erfordert ortsspezifische Kenntnisse und eine enge Zusammenarbeit zwischen Planer*innen und der Bevölkerung, um optimale Lösungen für die Gestaltung von Grünflächen zu finden. Hierdurch können Städte die Lebensqualität ihrer Bewohner*innen verbessern und gleichzeitig Herausforderungen wie dem Klimawandel begegnen. Die Stadtplanung hat daher die Verantwortung, Grünräume als wesentliche Bestandteile einer nachhaltigen und lebenswerten urbanen Umgebung zu berücksichtigen. LITERATUR [1] IPCC: Urban Areas. In: IPCC (Hg.): Climate Change 2014: Impacts, Adaptation, and Vulnerability. Part A: Global and Sectoral Aspects. Contribution of Working Group II to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge und New York, (2014) S. 535 - 612. [2] Weltgesundheitsorganisation (WHO) (Hrsg.): Urban green spaces and health. A review of evidence. Kopenhagen, (2016). [3] Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) (Hrsg.): Drei Jahre Zukunft Stadtgrün. Zweiter Statusbericht zum Städtebauförderungsprogramm. Bonn, (2021). [4] Busch, C., Specht, K.: Wertvolles Stadtgrün. Wie kulturelle Ökosystemleistungen in der Stadtplanung messbar gemacht werden können. ILS Impulse 01/ 23. [5] Zepp, H.: Regional green belts in the Ruhr region. A planning concept revisited in view of ecosystem services. In: Erdkunde 72, (2018). DOI: 10.3112/ erdkunde.2018.01.01. [6] Millennium Ecosystem Assessment (Hrsg.): Ecosystems and human well-being. Synthesis. Washington D.C., (2005). [7] Shanghai Urban Planning Institute: Follow the tracks and inspire the new: The Evolution of Urban Planning in Shanghai. Shanghai. Tongji University Press, (2007). [8] He, J.: Evaluation of plan implementation. Peri-urban development and the Shanghai Master Plan 1999- 2000. PhD thesis. Delft, (2015). [9] Shanghai Urban Planning and Land Resource Administration Bureau: Shanghai Master Plan 2017-2035. Striving for the excellent global city (in Chinese). Shanghai, (2018). [10] TEEB (Hrsg.): Die ökonomische Bedeutung der Natur in Entscheidungsprozesse integrieren. Ansatz, Schlussfolgerungen und Empfehlungen von TEEB - Eine Synthese, (2010). Christin Busch Wissenschaftliche Mitarbeiterin ILS Research gGmbH Kontakt: christin.busch@ils-forschung.de Dr. Matthias Falke Wissenschaftlicher Mitarbeiter „Geographisches Institut der Ruhr-Universität Bochum Kontakt: matthias.falke@rub.de Dr. Kathrin Specht Stellv. Leiterin der Forschungsgruppe „Raumbezogene Planung und Städtebau“ ILS gGmbH Kontakt: kathrin.specht@ils-forschung.de AUTOR*INNEN All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren AA ww 61 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Stärkung der Klimaresilienz in der vietnamesischen Stadt Huế Naturbasierte Lösungen zur Reduzierung von Hitzestress und zur Verbesserung der Luftqualität Urbane Klimaanpassung, naturbasierte Lösungen, grün-blaue Infrastruktur, Südostasien Fabian Stolpe, Thi Binh Minh Hoang, Dac Hoang Long Nguyen Viele Städte Südostasiens sind stark von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen. Herkömmliche urbane Strukturen verstärken häufig die dabei entstehenden Schäden und gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Die zentralvietnamesische Stadt Huế hat großes Potenzial, bei der Klimaanpassung ihren eigenen Weg zu gehen, indem sie Wachstum anstößt, das auf von der Natur inspirierte stadtplanerische Maßnahmen setzt und die von natürlichen Elementen bereitgestellten Ökosystemdienstleistungen nutzt, um die Nachhaltigkeit und Resilienz der Stadt und ihrer Bewohner zu erhöhen. Südostasien gehört zu den am stärksten durch die Auswirkungen des Klimawandels gefährdeten Regionen; die städtische Bevölkerung ist in den letzten Jahrzehnten mit beispiellosen Raten gewachsen und nimmt weiter zu [1]. Die schnelle Urbanisierung führt zu Flächennutzungsänderungen, die die Klimawandelfolgen verschärfen. Obwohl die historische asiatische Stadtplanung auf Harmonie zwischen Natur und Urbanität angelegt war, ist dieses Prinzip in vielen südostasiatischen Großstädten verloren gegangen, sodass ihr Wachstum hauptsächlich von Expansion und Verdichtung geprägt ist. Einige Bild 1: Historische Grünanlage in der Zitadelle von Huế. © Stolpe 62 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Neben den Ozeanen gelten unversiegelte Böden als eine der größten Kohlenstoffsenken der Welt [2], allerdings sind Böden in Städten meist überbaut und versiegelt. Austauschprozesse zwischen Boden, Luft und Wasser, wie Infiltration, Verdunstung, Gasaustausch und biotische Prozesse, werden dadurch unterbunden [3]. Versiegelte Böden können keinen Kohlenstoff aufnehmen und verlieren ihre klimaschützende Wirkung. Zudem steigt auf ihnen der Oberflächenabfluss von Regenwasser und die Evapotranspiration nimmt ab. Dies wirkt sich auf den städtischen Wärmehaushalt aus und verhindert die Abkühlung der Luft. Hinzu kommt die hohe Wärmespeicherkapazität von Beton und Asphalt, die einen niedrigen Albedo-Wert haben, also ein geringes Reflexionsvermögen gegenüber Sonnenstrahlung. Solche Bauteile speichern Wärme, die sie an die Umgebungsluft abstrahlen, was eine nächtliche Abkühlung verhindert [4]. In städtischen Gebieten mit hohem Versiegelungsgrad kann die Temperatur an heißen Sommertagen um bis zu 10 °C und das Sättigungsdefizit der Luft um 10 bis 20 % gegenüber dem Umland erhöht sein [5]. Außerdem steigt in versiegelten Gebieten bei Starkregen der Druck auf die Kanalisation und das lokale Hochwasserrisiko steigt an [6]. Der Klimawandel und die fortschreitende Urbanisierung führen auch zum Verlust der biologischen Vielfalt. Dies gilt insbesondere für die artenreichen tropischen und subtropischen Ökosysteme in und um südostasiatische Städte. Die Folge ist eine verstärkte Freisetzung von Kohlenstoff aus degradierten Ökosystemen, was einerseits die globale Erwärmung verstärkt und andererseits die Anfälligkeit bereits betroffener Ökosysteme gegenüber den Folgen des Klimawandels erhöht. Resilientere Städte durch naturbasierte Lösungen Herkömmliche Katastrophenschutzmaßnahmen stützen sich stark auf technische, so genannte „graue“, Infrastruktur, wie zum Beispiel Hochwasserschutzdämme. Diese sind teuer in Bau und Unterhalt und tragen selbst zu negativen Umweltauswirkungen bei, etwa durch Versiegelung oder Zerstörung natürlicher Ökosysteme. Intelligente Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen sollten neben dem Katastrophenschutz jedoch immer auch die Bedürfnisse der Stadtbewohner und den Schutz der biologischen Vielfalt berücksichtigen. Nur durch diese ganzheitliche Betrachtung können die Maßnahmen ihre volle Wirksamkeit entfalten. In diesem Zusammenhang hat das Konzept der naturbasierten Lösungen zunehmend an Bedeutung gewonnen. Es verfolgt das Ziel, Klimaschutz- und Bild 2: Ho Chi Minh City zeigt eine extreme Verdichtung in der Innenstadt. © Hayden Kim auf Pixabay wenige Städte sind jedoch von diesem Wachstumsmodell noch weitgehend verschont geblieben. Ein Beispiel dafür ist die Stadt Huế in Zentralvietnam, die es bisher geschafft hat, ihre historische Stadtlandschaft weitgehend zu bewahren, dabei verfügt sie über einen vergleichsweise hohen Grünflächenanteil. Doch auch Huế steht vor großen Herausforderungen durch Bevölkerungswachstum und Klimawandel. Der Wunsch nach wirtschaftlichem Wachstum und die Konkurrenz zu anderen Großstädten bergen auch für Huế die Gefahr, in Zukunft die städtebaulichen Fehler anderer Städte zu wiederholen. Allerdings hat die Stadt noch immer das Potenzial, ihren eigenen Weg einzuschlagen, indem sie ein Wachstum anstrebt, das auf Nachhaltigkeit und naturbasierte Lösungen setzt. Städtische Strukturen verstärken die Auswirkungen des Klimawandels Die Stadtentwicklung vieler südostasiatischen Großstädte ist aufgrund des rasanten Bevölkerungswachstums außer Kontrolle geraten. Dies führt zu einer extremen Verdichtung der Innenstädte und einer immer weiteren Ausdehnung ins Umland, einhergehend mit großräumiger Flächenversiegelung und dem Verlust von natürlichen Ökosystemen. Zudem werden städtische Strukturen überwiegend auf der Grundlage städtebaulicher Konzepte gebaut, bei denen Asphalt, Beton, Stahl und Glas als Baumaterialien dominieren. Neben den Treibhausgasemissionen, die in Städten durch die Konzentration von Bevölkerung, Industrie und Verkehr entstehen, tragen auch gebaute Strukturen wie Häuser, Straßen und Plätze zur Verstärkung des Klimawandels und seiner Folgen bei. Die lokalen klimatischen Bedingungen werden durch diese Strukturen und die Materialien, aus denen sie gebaut sind, beeinflusst. 63 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Anpassungsmaßnahmen zu konzipieren, die Ökosystemleistungen von Pflanzen, Böden und anderen natürlichen Elementen nutzen, um die Resilienz von Städten zu erhöhen, indem Ökosysteme wiederhergestellt werden oder, wo dies nicht möglich ist, ihre Wirkungen in kleinem Maßstab nachgebildet werden. Der Begriff der naturbasierten Lösungen umfasst nicht nur städtische Grünflächen, sondern schließt alle städtischen Flächen, die durch Begrünungs- oder Wasserrückhaltemaßnahmen qualifiziert werden können, mit ein. Dadurch entsteht ein stadtweites Netzwerk verschiedener Strukturen, die mit Vegetation (grün) oder Wasser (blau) bedeckt sind, das als urbane grüne und blaue Infrastruktur bezeichnet wird. Die größten Emissionsminderungseffekte können durch vegetationsbedeckte Flächen und unversiegelte Böden erzielt werden, die der Atmosphäre Kohlendioxid entziehen und den Kohlenstoff speichern. Als Beitrag zur Klimaanpassung tragen unversiegelte, begrünte Freiflächen zur Verdunstung des im Boden und in den Pflanzen gespeicherten Wassers und damit zur Abkühlung der Umgebungsluft bei. Schatten spendende Bäume verstärken diesen Kühleffekt und verbessern zudem die Luftqualität. Regenwasser kann direkt in den Boden versickern, sodass der Oberflächenabfluss und das Überflutungsrisiko abnehmen [4]. Die Größe einzelner Grünflächen ist für die Erfüllung der klimatischen Ausgleichsfunktion nicht unbedingt von Bedeutung. Mehrere kleinere, über das Stadtgebiet verteilte Grünflächen sind für die Verbesserung des Stadtklimas und der Luftqualität effektiver als wenige große Parks [7]. Ist eine Wiederherstellung von Grünflächen nicht möglich, können auch Maßnahmen eingesetzt werden, die ökologische Funktionen von Grünflächen bis zu einem gewissen Grad ersetzen. Ein begrüntes Dach mit Sedum entzieht der Atmosphäre über seinen Lebenszyklus etwa 24 kg Kohlendioxid pro Quadratmeter [8]. Außerdem hält es je nach Aufbau 30 bis 99 % des Jahresniederschlags zurück, verdunstet Wasser vor Ort und beschattet die Gebäudeoberfläche. Damit tragen Gründächer zur Verbesserung des Mikroklimas während Hitzeperioden und zur Reduzierung von Niederschlagsspitzen bei, wodurch Entwässerungssysteme und Kläranlagen entlastet werden [4]. Fassadenbegrünung kann mit Kletterpflanzen vertikalen Grünraum schaffen, ohne zusätzlichen Platz zu beanspruchen. Im Durchschnitt bindet eine 20 cm tiefe Wandbegrünung mit Efeu etwa 2,3 kg Kohlendioxid pro Quadratmeter [9]. Darüber hinaus betragen die gemessenen maximalen Unterschiede in den Oberflächentemperaturen von begrünten und unbegrünten Hausfassaden an Sommertagen bis zu 20 °C [8]. Simulationen zeigen, dass eine grüne Fassade den Energieverbrauch für die Klimatisierung um bis zu 19 % senken kann [8]. Sie schützen die Bausubstanz vor Witterungseinflüssen und filtern Schadstoffe aus der Stadtluft [10]. Die Nutzung der Funktionen natürlicher Elemente ist also auch aus wirtschaftlicher Sicht sinnvoll. Ihre Umsetzung und Instandhaltung ist in der Regel kostengünstiger als bei technischen Maßnahmen. Naturbasierte Lösungen sind daher eine kluge Investition in Klimaschutz und Klimaanpassung, insbesondere für Kommunen mit begrenzten finanziellen und technischen Ressourcen, was das Konzept besonders für Städte im globalen Süden attraktiv macht. Huếs Potenzial für eine naturnahe und grüne Stadtentwicklung Die beiden Metropolen Vietnams, Ho Chi Minh City und Hanoi, haben auf ihr beispielloses Bevölkerungswachstum vor allem mit Expansion und einer extremen Verdichtung der Innenstädte reagiert. Darüber hinaus sind informelle Siedlungen in ungünstigen Lagen wie Überschwemmungsgebieten von Flüssen entstanden, die besonders anfällig für Umweltkatastrophen sind und deren Auswirkungen noch verschärfen. Durch unkontrolliertes Wachstum und unkoordinierte Stadtplanung sind immer mehr Grünräume verloren gegangen. Diese Entwicklungen haben das Lebensumfeld der Stadtbewohner verschlechtert und zu mehr Hitzestress, Umweltverschmutzung und Überschwemmungen geführt. Huế hat bisher eine nachhaltigere Entwicklung vollzogen. Ihr historisches Erbe als ehemalige kaiserliche Hauptstadt und ihr noch relativ intaktes Stadtbild heben sie von anderen südostasiatischen Städten ab. Die Stadt ist geprägt von der letzten Bild 3: In Metropolen wie Hanoi sind durch unkontrolliertes Wachstum und unkoordinierte Stadtplanung immer mehr Grünräume verloren gegangen. © Thomas G. auf Pixabay 64 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt kaiserlichen Dynastie und der französischen Kolonialzeit. Sie verfügt über ein harmonisch strukturiertes Stadtgefüge mit ausgedehnten Grünflächen und Gewässern. Die Zitadelle mit den kaiserlichen Palästen, die das Herzstück der Stadt bildet, wurde als Kombination aus westlicher Militärarchitektur und östlichen Feng Shui-Prinzipien erbaut. Innerhalb der Anlage wurden zahlreiche Grünflächen und ein System aus Kanälen und Wasserflächen integriert, wodurch sich Hochwasser selbst reguliert. Um die Zitadelle herum entstanden während der französischen Kolonialzeit für die Stadt typische „Gartenhäuser“. Diese historischen Gebäude zeichnen sich durch begrünte Innenhöfe und umliegende Gärten aus, die zu einem großen alten Baumbestand im Zentrum der Stadt beitragen. Diese Integration von Grün in die Architektur führte dazu, dass trotz des tropisch heißen Klimas stets ein angenehmes Raumklima herrscht, ganz ohne den Einsatz moderner Klimaanlagen. Doch durch die steigende Nachfrage nach modernen Wohngebieten, verschwinden immer mehr historische und natürliche Strukturen. Neu entwickelte Stadtquartiere orientierten sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend an nationalen und internationalen Standards und gingen auch in Huế mit einer zunehmenden Verdichtung einher. Der immense Wert und das Potenzial historischer Stadtstrukturen und Naturräume innerhalb der Stadt wird jedoch von einem Teil der Stadtgesellschaft und lokalen Entscheidungsträgern zunehmend erkannt, vor allem wegen ihres wirtschaftlichen Nutzens für den Tourismus, aber vermehrt auch wegen ihres ökologischen Wertes. In den letzten Jahren sind in Huế viele Initiativen entstanden, um das historische Stadtgrün zu erhalten, auszubauen und zu qualifizieren. Dies geht Hand in Hand mit international geförderten Projekten, die darauf abzielen, die Resilienz der Stadt gegenüber dem Klimawandel zu stärken. So wird seit 2019 das Projekt „GreenCityLabHuế“ durchgeführt, das Bildungsaktivitäten und Veranstaltungen zum Thema naturbasierte Lösungen durchführt, gemeinsam mit relevanten Akteuren Visionen für eine grüne Stadtentwicklung erarbeitet und mit Entscheidungsträgern diskutiert, wie grün-blaue Infrastruktur in die Stadtentwicklung integriert werden kann. Daneben werden kurzfristig umsetzbare Lösungen aufgezeigt, die kostengünstig und schnell an verschiedenen Orten der Stadt realisiert werden können. Durch die beispielhafte Umsetzung solcher kleinräumigen Lösungen, wie die Fassaden- und Dachbegrünung auf einem Kulturzentrum, die Begrünung eines versiegelten Schulhofes durch vertikale Gartenelemente und die Aufwertung von öffentlichen Grünanlagen, wird demonstriert, dass naturbasierte Lösungen auch mit geringen finanziellen Mitteln umsetzbar sind. Wenn diese Beispiele Nachahmer finden, können sie ein engmaschiges Netz kleinräumiger grüner Infrastrukturen schaffen, das in seiner Gesamtheit klimatische Ausgleichsfunktionen entfaltet. Auch in größerem Maßstab leitet die Stadtregierung neue Maßnahmen zur Entwicklung der grünblauen Infrastruktur ein, etwa durch die 2016 verabschiedeten Masterplanung der Stadt. Mit darin veranschlagten 6 m 2 öffentlicher Grünfläche und 15 m 2 Fläche für Stadtbäume pro Einwohner hat sich Huế für 2030 ehrgeizige Ziele gesetzt, die weit über dem nationalen Standard liegen. Der Masterplan formuliert auch das Ziel, neue Stadtviertel umweltfreundlich und im Einklang mit der Natur zu realisieren. Dies soll durch den Erhalt naturnaher Flächen, den Bau neuer Parks und die Förderung von Gründächern, Gemeinschaftsgärten und Stadtgrün erreicht werden [11]. Diese Prinzipien werden aktuell beim Bau eines neuen Stadtteils angewandt, das mit einer geringen Bebauungsdichte, einem hohen Grünflächenanteil und hochwassermindernden Maßnahmen mit örtlichen Versickerungsflächen und Rigolen geplant wird. Angestrebt wird ein ökologisches Stadtviertel mit Wohnbebauung, öffentlichen Einrichtungen und nachhaltigem Tourismus, das einen harmonischen Übergang zwischen innerstädtischen Gebieten und dem naturnahen Umland schafft. Das Potenzial von Huế liegt in seiner Geschichte, seiner Stadtgesellschaft und Entscheidungsträgern, die die Bedeutung naturbasierter Lösungen für Nachhaltigkeit und Resilienz zunehmend erkennen. Die langfristige Umsetzung dieser Lösungen ist jedoch nicht ohne Herausforderungen, erfordert Investitionen und steht in Konkurrenz zu anderen Bild 4: Die Stadt Huế ist geprägt von der letzten kaiserlichen Dynastie und der französischen Kolonialzeit. © Kon Zografos auf Pixabay 65 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt wirtschaftlichen Interessen. Regierungen, internationale Fördermittelgeber und private Investoren müssen den Wert naturbasierter Lösungen anerkennen und ausreichende Finanzmittel für ihre Umsetzung bereitstellen. Huếs Bemühungen zur Förderung grün-blauer Infrastrukturen können für andere Städte Südostasiens als Vorbild dienen und den Weg für eine grünere, resilientere Stadtentwicklung in der Region ebnen. LITERATUR [1] Dahiya, B.: 21st Century Asian Cities: Unique Transformation, Unprecedented Challenges. Global Asia Vol. 7, No. 1, (2012) S. 98 - 104. [2] Paul, C., Weber, M., Mosandl, R.: Kohlenstoffbindung junger Aufforstungsflächen (2009). Literaturstudie. w w w.prima-klimawelt weit.de/ grafiken/ pdf/ paul _ studie.pdf (Zugriff Juni 2023) [3] Wessolek, G., Nehls, T., Kluge, B.: Bodenüberformung und Versiegelung. In: Blume, H. P., Horn, R., Thiele- Bruhn, S.: Handbuch des Bodenschutzes. Weinheim, Wiley-VCH (2010). [4] Stolpe, F., Konopatzki, P.: Boden - die natürliche Klimaanlage der Stadt. In: Knoblauch, D., Rupp, J. (Hrsg.): Klimaschutz kommunal umsetzen. Wie Klimahandeln in Städten und Gemeinden gelingen kann. München, oekom (2018). [5] Wessolek, G.: Bodenüberformung und -versiegelung. Handbuch der Bodenkunde. 1 (2014), S. 1 - 35. [6] Scalenghe, R., Marsan, F. A.: The anthropogenic sealing of soils in urban areas. In: Landscape and urban planning, 90/ 1 (2009), S. 1 - 10. doi: 10.1016/ j.landurbplan.2008.10.011 [7] BMUB: Grün in der Stadt - Für eine lebenswerte Zukunft. Grünbuch Stadtgrün. Bonn, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (2015). [8] Thiele, M.: Klimaschutzpotenzialanalyse von Dach-, Fassaden- und Straßenbaumbegrünung. Ein Beitrag zum Klimaschutzmanagement Klausenerplatz, Berlin Charlottenburg (2015). www.berlin.de/ bacharlottenburg-wilmersdorf/ _assets/ umweltamt/ klimaschutz/ klimaschutzpotenzialanalyse_von_dach-_fassaden-_ und_strassenbaumbegruenung.pdf (Zugriff Juni 2023) Fabian Stolpe Stellvertretender Fachgebietsleiter Umweltrecht & Partizipation Unabhängiges Institut für Umweltfragen - UfU e.V. Kontakt: fabian.stolpe@ufu.de Thi Binh Minh Hoang Projektleiterin Mientrung Institute for Scientific Research (MISR), Hue Kontakt: parihoang@gmail.com Dac Hoang Long Nguyen Wissenschaftlicher Mitarbeiter Mientrung Institute for Scientific Research (MISR), Hue Kontakt: longnguyen12121996@gmail.com AUTOR*INNEN [9] Mazzali, U., Peron, F., Romagnoni, P., Pulselli, R., Bastianoni, S.: Experimental investigation on the energy performance of living walls in a temperate climate. In: Building and Environment, 64, (2013) S. 57 - 66. doi: 10.1016/ j.buildenv.2013.03.005 [10] Stec, W. J., Van Paassen, A. H. C., Maziarz, A.: Modelling the double skin facade with plants. In: Energy and Buildings, 37/ 5: (2005) S. 419 - 427. doi: 10.1016/ j.enbuild.2004.08.008 [11] Decision No. 649/ QD-TTg. The Approval of the adjustment of Hue City ’s master planning to 2030 with a vision to 2050. Ihre Spende hilft! www.drk.de Deutsches Rotes Kreuz e.V. IBAN: DE63 3702 0500 0005 0233 07 BIC: BFSWDE33XXX Überlebenswichtig, aber nicht selbstverständlich. Sauberes Wasser. ANZEIGE 66 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Zum Umgang mit Hitzestress Hitzestress gehört zu den deutlich spürbaren Auswirkungen des Klimawandels [1, 2]. Um besser darauf vorbereitet zu sein und effiziente Anpassungsmaßnahmen ergreifen zu können, soll ein nationaler Hitzeschutzplan nach dem Vorbild Frankreichs umgehend erarbeitet werden. Ein Hitzeschutzplan für Gesundheit (Entwurf) ist am 23. Juni 2023 durch das Bundesministerium für Gesundheit vorgelegt worden [3]. Für die Umsetzung von Maßnahmen auf lokaler Ebene sind viele Städte in Deutschland dabei, Hitzeaktionspläne zu erarbeiten und diese konkret umzusetzen (zum Beispiel: Mannheim, Worms, Köln - Hitzeknigge). Sie zeigen präventive Handlungsoptionen auf und unterstützen die Kommunikation im Umgang mit Hitzestress. Die Stadt Leipzig hat einen Hitzeaktionsplan erarbeitet, der im Sommer 2023 erstmals in Kraft treten soll und die Risikokommunikation sowie das Informieren vulnerabler Bevölkerungsgruppen (speziell Kinder und ältere Menschen) als Schwerpunkte sieht. Daneben wird die Stadt ein Klimaanpassungskonzept erarbeiten, in dem der Aktionsplan einen wichtigen Baustein darstellen soll [4]. Damit diese Pläne unterschiedlichen Risikoausprägungen innerhalb der Stadt gerecht werden, müssen sie die Flächennutzungsstrukturen und vor allem die Baustrukturen berücksichtigen. Die Lokalem Hitzestress im Quartier zielgenau begegnen 3D-Stadtklimasimulationen zur Gestaltung schattiger und einladender Grünräume Hitzestress, Grünflächen, 3D-Stadtklimasimulation, Methodenbaukasten, Sitzgelegenheiten, Einsamkeit Sigrun Kabisch, Uwe Schlink, Daniel Hertel, Janine Pößneck Um auf Hitzestress im Wohnquartier zu reagieren, spielen Grünräume eine wichtige Rolle. Mittels 3D- Stadtklimasimulationen lassen sich das Auftreten extremer Hitze genau lokalisieren und bedürfnisgerechte Gestaltungsoptionen von Grünflächen erarbeiten. In der Kombination mit soziodemographischen Daten werden die Bedarfe vulnerabler Bewohnergruppen herausgestellt. Besonderes Augenmerk wird auf wohnungsnahe Grünflächen mit einer hohen Verweilqualität gelegt. Dabei sind ausreichende und intakte Sitzmöglichkeiten von besonderer Bedeutung, da sie soziales Miteinander und gesundheitliches Wohlbefinden unterstützen. verschiedenen Stadtteile unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Baudichte und ihres Anteils an Grünflächen. Häufig verfügen innerstädtische Bereiche eher über einen begrenzten Grünflächenanteil, wodurch der Hitzeinseleffekt begünstigt wird. Dagegen sind die Randgebiete mit umfangreichen Grünflächen ausgestattet. Neben diesen Merkmalen müssen Hitzeaktionspläne die demographischen und sozialstrukturellen Charakteristika der Bewohnerschaft sowie die jeweils existierende sensible soziale Infrastruktur, wie etwa Krankenhäuser, Altenheime oder Kindertagesstätten, beachten. Parallel zu den Hitzeaktionsplänen auf gesamtstädtischer Ebene werden lokal spezifische, auf Quartiersebene bezogene Anpassungsmaßnahmen benötigt, die auf detaillierten Informationen, spezifischem Wissen und Erfahrungen basieren. Somit bewegt sich eine Anpassungsstrategie hinsichtlich Hitzestress auf unterschiedlichen Ebenen: national, kommunal, quartiersspezifisch. Für alle Ebenen sind verschiedene, miteinander zu kombinierende Methoden anwendbar, um die tatsächliche Betroffenheit von Hitzestress präzise zu erkennen. Einen wissenschaftlich fortgeschrittenen Zugang bieten 3D-Stadtklimasimulationen (zum Beispiel mit dem Modell PALM-4U), die naturräumliche Merkmale auf Basis der Flächennutzung erfassen. Dazu gehören Luftströme im Quartier, die durch die Anordnung der Wohnbauten und des Großgrüns (hohe, 67 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt schattenspendende, hitzeresistente Bäume) beeinflusst werden. Luftströme können modellintern nach saisonalen Bedingungen oder Tageszeiten variieren. Die Verknüpfung der Modellierungsvarianten (Szenarien) mit Sozialdaten der Kommunalstatistik und mit soziologischen Erhebungsdaten, die die gruppenspezifische Wahrnehmung von Hitzestress und den Umgang damit belegen, bieten gute Voraussetzungen, um maßgeschneiderte Anpassungsmaßnahmen abzuleiten [5]. Im Folgenden werden konkrete Forschungsergebnisse vorgestellt, die in einem Leipziger Wohnquartier mit besonders vulnerabler Bevölkerung generiert und mit Praxispartner*innen diskutiert worden sind. Quartier Titaniaweg in der Großwohnsiedlung Leipzig-Grünau und seine Bewohner*innen Das Untersuchungsquartier Titaniaweg (Bild 1) liegt in Grünau-Nord, einem von fünf Ortsteilen der randstädtischen Großwohnsiedlung Leipzig-Grünau. Diese ist komplett in Plattenbauweise errichtet worden. Der Ortsteil erstreckt sich insgesamt über 0,95 km². Davon zählen 46 % als Wohnbaufläche und 15 % als Erholungs- und Waldflächen [6]. In Grünau-Nord lebten Ende 2022 9 337 Menschen. Die Bewohnerschaft weist markante Ausprägungen ihrer soziodemographischen Merkmale auf. Das Durchschnittsalter in Grünau-Nord lag mit 43,0 Jahren etwas über dem städtischen Durchschnitt (42,2-Jahre). Somit ist der Ortsteil durch einen hohen Anteil älterer Bewohner*innen gekennzeichnet. Der Anteil des Erwerbseinkommens als Hauptquelle des Lebensunterhalts lag 2021 mit 35 % erheblich unter dem städtischen Wert von 62 % [6]. Dies ist vorrangig durch den sehr hohen Anteil an Rentner*innen zu erklären. Im Untersuchungsquartier befinden sich vier neungeschossige Wohngebäude der Leipziger Wohn- und Baugesellschaft mbH (LWB), einem kommunalen Tochterunternehmen der Stadt Leipzig. Diese wurden Anfang der 1980er Jahre errichtet und gelten aufgrund ihrer altersgerechten Ausstattung (zum Beispiel: barrierefreier Zugang) und spezieller Service-Angebote für Ältere als „Rentnerwohnhäuser“. Die meisten der insgesamt rund 400 Wohnungen haben ein bis zwei Wohnräume. Sie verfügen über ein Bad, eine offene Küche und einen Balkon. Viele ältere Bewohner*innen sind alleinstehend und körperlich in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Bild 1: Grünfläche im Titaniaweg, mit verbranntem Rasen im Sommer 2022. © Janine Pößneck. 68 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Beobachtungen hinsichtlich der Nutzung der wohnungsnahen Grünflächen ergaben, dass sich selten Personen längere Zeit dort aufhielten. In der Regel wurden die Grünräume nur durchquert. Mögliche Gründe dafür könnten sein, dass Grünräume bei unklar definierter Nutzung meist unbelebt bleiben und sich auf Grünflächen zwischen Hochhäusern oft das Gefühl, beobachtet zu werden, einstellt [7]. Hinzu kommt der Umstand, dass es im fußläufig zu erreichenden Umkreis der Wohngebäude keine akzeptablen Sitzgelegenheiten in geschützter Lage gibt. Die wenigen vorhandenen Bänke sind reparaturbedürftig und mit illegalem Graffiti besprüht, also nicht einladend. Zudem besteht der Weg dorthin aufgrund schiefer Gehwegplatten aus zahlreichen Stolperfallen. Für Personen mit Gehhilfen oder Rollstühlen sind diese Sitzgelegenheiten somit nur schwer oder gar nicht erreichbar. Des Weiteren werden manche Bänke von Menschen eingenommen, die Alkohol trinken, lärmen und das Umfeld verschmutzen. Dies wirkt abstoßend und könnte letztlich dazu führen, dass diese Bänke nach Beschwerden der Anwohner*innen beseitigt werden. Jedoch würden sich die Bewohner*innen nach ihren Aussagen gerne in kühlen Stunden öfter im Freien aufhalten, denn im Falle starker Hitze ist ein Querlüften bzw. Durchzug in Einraumwohnungen fast unmöglich. Manche Bewohner*innen helfen sich dadurch, dass sie mit den Nachbar*innen aus der gegenüberliegenden Wohnung eine Durchlüftung verabreden, indem sie die Wohnungstüren offenstehen lassen. Wohnungen in den oberen Etagen und auf der Süd- oder Westseite heizen sich besonders stark auf, vor allem wenn kein außenliegender Sonnenschutz (zum Beispiel: Markisen) vorhanden ist. Eine Balkonnutzung ist dann ebenfalls ausgeschlossen. Insbesondere im Sommer besteht somit ein starkes Bedürfnis, die Wohnung zu verlassen und frische Luft zu schnappen. Die zentrale Voraussetzung dafür sind wohnungsnahe Grünflächen, die zum Verweilen einladen. Schattige Grünräume, die mit altersangepassten Sitzgelegenheiten ausgestattet sind, bieten hitzestressgeplagten Bewohner*innen eine Aufenthaltsoption. Dabei wird eine Vielzahl an Bänken mit Rücken- und Armlehne benötigt, um vielen Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen eine Sitzgelegenheit zu bieten [8]. Um viele Nutzer*innen einzuladen, können Wasserflächen ebenso eingebunden werden wie Hochbeete, Trinkbrunnen oder Spielflächen und ein Parkour zur körperlichen Bewegung für unterschiedliche Altersgruppen. Durch eine Fülle an Angeboten, die auch voneinander abgrenzbar sind (beispielsweise durch niedrige Hecken), entsteht eine Nutzungsvielfalt. Dies hat gesundheitsfördernde Effekte für Körper und Geist. Die Menschen bewegen sich, sie treffen auf andere Leute und können kommunizieren sowie Kontakte aufbauen. Damit kann einer zunehmenden Einsamkeit im Quartier entgegengewirkt werden. Die Ausweisung von sogenannten „Plauderbänken“, die zum Gespräch miteinander auffordern, unterstützen das Kontakterlebnis. Um konkrete Gestaltungsoptionen wohnungsnaher Grünräume im Quartier zu erarbeiten, zu visualisieren und schließlich mit den potenziellen Nutzer*innen und den Verantwortlichen zu diskutieren, wurden ortsgenaue Klimasimulationen und 3D-Darstellungen erstellt. 3D-Stadtklimasimulationen für das Quartier Titaniaweg mittels Methodenbaukasten Für die mikroklimatische Bewertung von Hitzestress in Stadtquartieren wurde ein Methodenbaukasten entwickelt. Er umfasst 3D-Stadtklimasimulationen für verschiedene räumliche Ebenen mit anschließender Attributierung (Ursachenzuordnung von lokaler Hitze) und Karten zur gefühlten Temperatur (Bild 2). Des Weiteren umfasst er die Bewertung der Betroffenheit durch Hitzestress anhand von Sozialdaten sowie die für die Hitzevermeidung entwickelten Szenarien und deren Visualisierung und Kommunikation. Für das Quartier Titaniaweg wurden die Baustruktur, die Flächennutzung und die soziodemographischen Merkmale der Bewohnerschaft analysiert. Beispielsweise lagen Daten zur Altersstruktur bis auf die sehr kleinteilige Ebene der statistischen Blöcke vor. Anhand dieser hochaufgelösten Information ist ein gebäudegenauer Vergleich mit den 3D-Stadtklimasimulationen möglich. So weisen die Hausnummern 2 und 5, deren Lage in Bild 3 angegeben wird, besonders hohe Werte für die gefühlte Temperatur (PET) auf. Die durchgeführten Stadtklimasimulationen ergaben ein PET-Maximum > 46 °C. In der Hausnummer 2 beträgt der Anteil der über 65-Jährigen 45 % [9], sodass hier ein hoher Anteil vulnerabler Bevölkerung dem Hitzestress ausgesetzt ist. Besonders hohe Werte der gefühlten Temperatur finden sich nordöstlich der Gebäude im Leebereich, da die Windgeschwindigkeit dort deutlich abnimmt. Die 2m-Lufttemperatur wird maßgeblich von kleinräumigen, durch die Bebauung dominierten Luftströmungen (Advektion) bestimmt. Für die hier betrachtete taggenaue Fallstudie (11. August- 2022) herrscht vorrangig West-Südwestwind, sodass die lokale Temperaturentwicklung wesentlich von der 69 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt thermischen Situation aus den südwestlich gelegenen Gebieten geprägt wird. Neben den Luftströmungen spielt der Sonnenstand und somit die Fassadenausrichtung eine wichtige Rolle für die Hitzebelastung. Südfassaden sind fast ganztägig gegenüber Sonnenstrahlung exponiert. Entsprechend finden sich dort nicht nur die höchsten Oberflächentemperaturen, sondern auch die größten Werte der fassadennahen Lufttemperatur. Hinzu kommt bei Südwestanströmung und entsprechendem Wärmetransport die Akkumulation von Hitze an den entsprechenden Hausfassaden. Westfassaden sind besonders am Nachmittag der Sonne ausgesetzt. Von wesentlicher Bedeutung ist eine große Freifläche in der Mitte des Quartiers (Bild 1), wo die Windgeschwindigkeit (in 10-m Höhe) erhöht ist und somit ein Wärmetransport in Gang kommen kann. Die Fläche wird von Bäumen begrenzt, die das Strömungsfeld beeinflussen und modifizieren. Diese Befunde zeigen, dass besonders die Freiflächengestaltung wichtig für die Ausprägung von Hitzestress ist. Aus diesem Grund wurden verschiedene Gestaltungsoptionen für die Grünfläche entwickelt und deren Auswirkungen auf die thermische Situation simuliert. Die verschiedenen Varianten orientieren sich an der Ausrichtung zum Strömungsfeld, der unterschiedlichen Dimensionierung der Baumkronen und der möglichst guten Hitzebeständigkeit der jeweiligen Baumart (zum Beispiel: Platanen). Konkret zeigt sich, dass eine trichterförmige Anordnung der Bäume (Bild 3) besonders günstig für eine Temperaturreduktion ist. Dies betrifft auch die stark belasteten Bereiche nordöstlich der Hausnummern 2 und 5. Während die 2 m-Lufttemperatur nur um etwa 0.3 °C im Vergleich zum derzeitigen Gestaltungszustand zurückgehen würde, sinkt die gefühlte Temperatur um mehr als 14 °C (Bild 2). Das heißt, der Hitzestress reduziert sich erheblich trotz ähnlicher Verhältnisse bei der Lufttemperatur. Die genaue Stärke des Effektes wird maßgeblich von der Baumgröße bestimmt, sodass der zeitliche Rahmen der Wuchsdauer bei entsprechender Umsetzung der Gestaltungsoption in jedem Fall zu berücksichtigen ist. Nutzerkommunikation und Beitrag zum kommunalen Hitzeaktionsplan Um die wissenschaftlichen Erkenntnisse im Sinne einer effektiven Entscheidungsunterstützung in der gesellschaftlichen Praxis zu nutzen, bedarf es einer intensiven und gruppenspezifischen Kommunikation. Dies betrifft sowohl den Austausch zwischen Forscher*innen und Verantwortungsträger*innen als auch den Dialog innerhalb der Praxisvertreter*innen. Dadurch entstehen Einsichten hinsichtlich der jeweiligen Gestaltungsspielräume, der Potenziale und Grenzen und somit Lerneffekte auf unterschiedlichen Ebenen. Intensive Diskussionen bei zwei Arbeitskreistreffen, zu denen die Wissenschaftler*innen Praxisvertreter*innen aus der Stadtplanung und -verwaltung, von Wohnungsunternehmen und NGOs eingeladen hatten, demonstrierten die Wichtigkeit des Austauschs über die Grenzen des eigenen Verantwortungsbereichs hinweg. Übereinstimmend wurde von den Anwesenden der große Nutzen der 3D-Stadtklimasimulationen unterstrichen. Sie wurden als unerlässlicher Bestandteil einer digitalen Stadtplanung eingefordert. Eine Umfrage unter den Anwesenden zeigte, dass 78 % sich vorstellen Bild 3: Gestaltungsszenario bei dem die neu definierten Bäume trichterförmig angeordnet sind (nördlich der Sand- und Wasserflächen). © Visualisierung erarbeitet von Carolin Helbig. Bild 2: Differenz der gefühlten Temperatur (PET - Physiologisch Äquivalente Temperatur; > 20°C wird bereits als Hitzestress empfunden) zwischen einem Gestaltungsszenario (Bild 2) und dem Status Quo. Die Zahlen 2, 3 und 5 im Bild markieren Hausnummern. © Modell erarbeitet von Daniel Hertel 70 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt könnten, den interaktiven Methodenbaukasten bei der eigenen Tätigkeit zu nutzen. Des Weiteren ist die Kommunikation mit Bewohner*innen zu verbessern. Anhand simulierter Szenarien kann die Anpassung von Verhaltensweisen begründet und zugleich ein Beitrag zur Umweltbildung geleistet werden. Bildhafte Darstellungen vermitteln die Notwendigkeit, Lebensgewohnheiten und Tagesabläufe zu ändern, zum Beispiel die zeitliche Verlagerung von bestimmten Aktivitäten in die Morgen- oder Abendstunden. Generell werden geeignete sowie niedrigschwellige Informations- und Kommunikationsmedien gebraucht. Eine Variante stellt die Verlinkung des interaktiven Methodenbaukastens auf der Homepage des Gesundheitsamtes der Stadt Leipzig dar. Er wird dort zur freien Verfügung eingestellt und kann als Beitrag für den kommunalen Hitzeaktionsplan betrachtet werden. Fazit Insgesamt bleibt festzuhalten, dass in der Zusammenschau von 3D-Stadtklimasimulationen, der gefühlten Temperatur und soziodemographischen Daten genaue Empfehlungen für die besonders von Hitze betroffenen vulnerablen Gruppen abgeleitet werden können. Dies schließt die Gestaltung ihrer Wohnbedingungen im Quartier unmittelbar ein. So lassen sich für die wohnungsnahen Freiräume konkrete Hinweise hinsichtlich Schatten spendendem Grün, Sitzgelegenheiten und weiteren Ausstattungsoptionen, die Hitzestress mindern und zugleich der Einsamkeit der Menschen entgegenwirken, formulieren. Die Methoden und Erkenntnisse tragen zu einer Verbesserung bisheriger kommunaler Anpassungsstrategien bei. Sie sollten Bestandteil einer zukunftsorientierten digitalen Stadtplanung sein. Danksagung Die Autor*innen danken der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU), die das Forschungsvorhaben „Hitzestress auf Quartiersebene“ im Rahmen der Fördermaßnahme „Planetary Health“ von Januar 2022 bis Mai 2023 unterstützt hat (Förder-KZ: 37993/ 01). LITERATUR [1] SRU - Sachverständigenrat für Umweltfragen: Umwelt und Gesundheit konsequent zusammendenken. Sondergutachten. Punkt 3.4 Hitze, (2023) S. 78 - 90, Berlin. [2] Fügener, T., Grunewald, K., Ziemann, A., Moderow, U., Goldberg, V., Kochan, N., Brzoska, P.: Das HRC-Hitzetool. Ein Web-Tool zur Bewertung von Hitzeanpassungsmaßnahmen in Städten. In: Transforming Cities, 3 (2022), S. 44 - 49. [3] Bundesministerium für Gesundheit: Hitzeschutzplan für Gesundheit. Impulse des BMG (Entwurf), (2023). https: / / w w w.bundesgesundheitsministerium.de/ fileadmin/ Dateien/ 3 _ Downloads/ H/ Hit zeschut zplan/ 30623_BMG_Hitzeschutzplan.pdf (zugegriffen: 17.7.2023). [4] Stadt Leipzig, Amt für Umweltschutz: Hitzeaktionsplan Leipzig. Leipzig, (2023). https: / / www.leipzig. de/ buergerser vice-und-verwaltung/ buergerbeteiligung-und-einflussnahme/ aktuelle-beteiligungen/ detail/ projekt/ hitzeaktionsplan-2023 (zugegriffen: 22.6.2023). [5] Hertel, D., Pößneck, J., Kabisch, S., Schlink, U. (im Erscheinen): Hitzestress in Stadtquartieren. Methodik und empirische Belege unter Nutzung des Planetary- Health-Ansatzes. In: Kabisch, S., Rink, D., Banzhaf, E. (Hrsg.): Die resiliente Stadt - Konzepte, Konflikte, Lösungen, Springer. [6] Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen: Leipzig- Informationssystem, (2023). https: / / statistik.leipzig. de (zugegriffen: 21.06.2023). [7] Althaus, E.: Sozialraum Hochhaus. Bielefeld, transcript Verlag, (2018). [8] Kabisch, S., Pößneck, J.: Sitzgelegenheiten im wohnungsnahen Freiraum. Erholung zwischen Wunsch und Realität in Leipzig-Grünau. In: Stadt und Grün, 9 (2022), S. 51 - 57. [9] Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen: Zuarbeit von Daten zur Altersstruktur im Ortsteil Grünau-Nord auf Blockebene, (2022), Stand der Daten: 31.12.2021. Prof. Dr. Sigrun Kabisch Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ Kontakt: sigrun.kabisch@ufz.de Prof. Dr. Uwe Schlink Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ Kontakt: uwe.schlink@ufz.de Dr. Daniel Hertel Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ Kontakt: daniel.hertel@ufz.de Janine Pößneck, M.A. Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung - UFZ Kontakt: janine.poessneck@ufz.de AUTOR*INNEN 71 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Einführung Die durch den Klimawandel resultierenden Herausforderungen werden zunehmend sichtbar. Im Juli 2023 wurden weltweit die höchsten Temperaturen seit Beginn der Temperaturaufzeichnung gemessen [1]. Zunehmende Starkregenereignisse, Hitze- oder Trockenperioden üben Druck auf bestehende urbane Infrastrukturen aus. Bisher sind urbane Infrastrukturen oftmals in funktionalen Silos organisiert. Zuständigkeiten für verschiedene Sektoren wie Wasser, Mobilität oder Energie sind einzelnen Fachabteilungen zugewiesen und die erforderlichen Schnittstellen in definierten Prozessen geregelt. Entsprechend werden viele Aufgaben weitestgehend unabhängig voneinander in getrennten Abteilungen und Verantwortungs- Klimaanpassung mittels blaugrüner Infrastrukturen Beschleunigung von Nachhaltigkeitstransformationen mit dem Infrastructure-Transition-Canvas (ITC) Klimaanpassung, blau-grüne Infrastrukturen, Siedlungswasserwirtschaft, Transformation, Infrastructure-Transitions-Canvas (ITC) Claudia Hohmann, Susanne Bieker Unter den fortschreitenden und sichtbaren Veränderungen des Klimawandels und seinen Auswirkungen wird eine (schnelle) Anpassung urbaner Infrastrukturen immer wichtiger. Blau-Grüne Infrastrukturen können dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Die erforderlichen Technologien stehen bereit und die Notwendigkeit einer Anpassung erkennen zunehmend auch die dafür notwendigen Akteure - dennoch geht es mit der Umsetzung nur sehr schleppend voran. Dieser Beitrag führt das Infrastructure-Transition- Canvas (ITC) als ein Tool ein, das Umsetzungshemmnisse aufgrund fehlender Kooperationsstrukturen minimieren kann, indem es die relevanten Akteure und Stakeholder eines Vorhabens identifizieren und als Grundlage zur Entwicklung von Kommunikationsstrukturen und Ausgleichsmechanismen genutzt werden kann. © Hermann Kollinger auf Pixabay 72 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt bereichen bearbeitet. Die Anpassung urbaner Infrastrukturen im Kontext des Klimawandels erfordert jedoch häufig eine Zusammenarbeit zwischen den einzelnen Sektoren, da die Herausforderungen vielfach mehrere Abteilungen und Verantwortungsbereiche betreffen. Entsprechend erfordern die Folgen des Klimawandels neben grundlegenden technischen Innovationen auch neue Wege der Zusammenarbeit zwischen den relevanten Akteuren auf kommunaler Ebene. Kommunen im Klimawandel - neue Herausforderungen in der Siedlungswasserwirtschaft Im Rahmen der Siedlungswasserwirtschaft werden Abwasser und Niederschlagswasser getrennt oder gemeinsam erfasst und über die Kanalisation abgeleitet. Dieses seit über 100 Jahren etablierte System diente ursprünglich grundlegenden hygienischen Bedarfen. Aktuelle Entwicklungen als Folgen des Klimawandels stellen jedoch weitergehende Anforderungen. Eine Möglichkeit ist die Entkopplung des Regenwassers vom zentralen Abwassersystem. Dies kann in Form einer dezentralen Regenwasserbewirtschaftung, beispielsweise durch die Ergänzung um blau-grüne Infrastruktur (BGI), erfolgen. Die Möglichkeiten sind vielfältig, etwa über Speicherung und Versickerung in Mulden und Rigolen, in Wassereinstauflächen oder auf Gründächern. Diese ermöglichen die Annäherung an den natürlichen Wasserkreislauf, indem sie Niederschläge vor Ort zwischenspeichern, die dann zeitverzögert verdunsten oder versickern können. Das reduziert im Starkregenfall die abfließenden Wassermengen, die nicht über die Kanalisation aufgenommen werden können und ermöglicht die Nutzung von Niederschlagswasser zur Bewässerung. Gleichzeitig führt die naturnahe Regenwasserbewirtschaftung zu weiteren ökologischen Vorteilen, zum Beispiel zu einer Verbesserung des lokalen Kleinklimas oder zur Erhöhung der Biodiversität. Die Potenziale von BGI werden zunehmend erkannt, eine flächendeckende Umsetzung ist jedoch noch weit entfernt. Die konventionelle strategische Planung kommunaler Infrastrukturen ist oftmals ein Hindernis für die Umsetzung von BGI-Maßnahmen, da sie bestehende Strukturen begünstigt [2] und die Notwendigkeit koordinierter Planungsaktivitäten zwischen verschiedenen kommunalen Abteilungen und Behörden be- oder sogar verhindert [3]. Auch spielen in Planungsprozessen im Regelfall Kommunen und kommunale Unternehmen die zentrale Rolle - die Perspektiven und Möglichkeiten privater und privatwirtschaftlicher Akteure werden selten berücksichtigt. Dabei sind nur 1,8 % aller Wohngebäude in der Bundesrepublik in kommunaler Hand [4] und nur etwa ein Drittel aller Freiflächen [5]. Im folgenden Kapitel stellen wir das von Hohmann und Truffer [6] entwickelte Infrastructure-Transition- Canvas (ITC) vor, das Planungs- und Umsetzungsprozesse akteursübergreifend und wirkungsscharf abbildet und das dabei unterstützt, neue Infrastrukturmaßnahmen schneller und erfolgreich zu implementieren. Infrastructure-Transition-Canvas (ITC): Planungs- und Analysetool für eine erfolgreiche und zielorientierte kooperative Zusammenarbeit Ziel der Entwicklung des Infrastructure-Transition- Canvas (ITC) ist es eine Methode bereitzustellen, Bild 1: Infrastructure Transition Canvas. ----- Ebene 1: Akteurs- und wertebasierte Komponenten, ------ Ebene 2: Koordinationsstruktur. © Hohmann, Bieker, eigene Darstellung nach [6] Schlüsselakteure Schlüsselaktivitäten Schlüsselressourcen Stakeholder- Segment Stakeholder- Beziehung Kanäle Wertströme/ Erträge Kosten und Risiken Nutzenversprechen Kosten und Risiken Partnerschaft Stakeholder Werte, Kosten und Risiken für Schlüsselakt. Werte, Kosten und Risiken für Stakeholder Intermediär Anreiz und Ausgleich 73 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt die es ermöglicht, die Integration alternativer Infrastrukturen durch einen erweiterten Blick auf Planung, Implementierung und Betrieb zu unterstützen. Das ITC (Bild 1) soll direkt beteiligten Akteuren (links) und indirekt beteiligten Stakeholdern (rechts) die Orientierung in Vorhaben erleichtern, gemeinsames Handeln ermöglichen und als vorbereitende Grundlage für die Formalisierung von Beziehungen und Verantwortlichkeiten sowie dem Interessensausgleich dienen. Das ITC ist in zwei Ebenen untergliedert. Die orangefarbene Ebene umfasst alle Elemente, die sich auf einzelne Akteure und Stakeholder beziehen, die grüne Ebene umfasst die Koordinationsstruktur. Innerhalb der orange gefärbten Ebene sind auf der linken Seite die Schlüsselakteure abgebildet, das heißt, die aktiv zu involvierenden Personen und Institutionen. Diesen zugeordnet sind ihre Aktivitäten und Ressourcen. Als Stakeholder sind auf der rechten Seite Personen und Institutionen dargestellt, die entweder Ansprüche an die Umsetzung der alternativen Infrastrukturen stellen oder davon betroffen sind, zum Beispiel Genehmigungsbehörden oder Bürger*innen. Darunter zugeordnet sind die Beziehungen zwischen Ihnen und den Schlüsselakteuren und dazugehörige Kommunikationskanäle. Schlüsselaktivitäten und Schlüsselressourcen umfassen die wichtigsten Handlungen und materielle sowie immaterielle physische, intellektuelle, menschliche oder finanzielle Einsatzfaktoren, die für eine erfolgreiche Planung, Implementierung und den Betrieb erforderlich sind. Das ITC unterscheidet zwischen dem „Wertstrom“ für die Schlüsselakteure (einschließlich des Umsatzstroms) und dem „Wertangebot“ für die Stakeholder, das auch alle nichtmonetären Werte, wie beispielsweise die Verbesserung des lokalen Kleinklimas oder die Erhöhung der Aufenthaltsqualität, umfasst. Darüber hinaus enthält das ITC die wichtigsten Kosten, Risiken und negativen externen Effekte, mit denen die Akteure und Stakeholder von der Planung bis zum Betrieb konfrontiert sind („Kosten und Risiken“). Die grüne Ebene umfasst die Koordinationsstruktur. Intermediäre können verschiedene Akteurstypen sein, von engagierten Individuen, über Organisationen und Netzwerken bis hin zu Technologien. Essenziell im grünen Teil sind die Anreiz- und Kompensationsmechanismen, die unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse von Akteuren und Stakeholdern thematisieren und ausgleichen. Die Koordinationsstruktur versetzt in die Lage, bessere Lösungen zu erzielen als das, was ein einzelner Akteur allein erreichen könnte, indem sie die Einzelelemente des ITC synergistisch zusammenbringt [6]. Anwendung des ITC: Alternatives Vorgehen in Planung, Betrieb und Implementierung blaugrüner Infrastrukturen in der Stadt Bochum Zur Klimaanpassung müssen alternative Lösungen im kommunalen Kontext zeitnah und in großflächigem Maßstab umgesetzt werden. Die Herausforderungen liegen hierbei oftmals im Bereich der Implementierung und nicht in fehlenden oder hochinnovativen Technologien begründet. Das ITC kann helfen, die bestehende Implementierungslücke zu schließen, indem zu Beginn einer Projektplanung die relevanten Akteurs- und Stakeholdergruppen und deren Rollen und Ansprüche im Vorhaben identifiziert und entsprechende Kooperations- und Ausgleichsmechanismen entwickelt werden. Zur Veranschaulichung der Performanz des ITC wird nachstehend ein Pioniervorhaben für die Umsetzung von BGI in Bochum vorgestellt, in dem 2020 vernetzte Baumrigolen nach dem Stockholmer Modell [7] in einer Hauptverkehrsstraße mit straßenbegleitenden Pflanzungen installiert wurden. Bild-2 zeigt einen Auszug der Ergebnisse des ITC-Workshops, der Ende 2019 mit den relevanten Akteuren in Bochum durchgeführt wurde. Auf die einzelnen Elemente wird nachstehend kurz eingegangen. In konventionellen Infrastrukturprojekten trägt in Bochum das Tiefbauamt/ Abteilung „Entwässerung“ als kommunale Abteilung der Stadtverwaltung die Verantwortung für die Abwasserableitung (inklusive des Regenwassers) über den Mischwasserkanal. Entsprechend hatte die Abteilung auch die Einführung der vernetzten Baumrigolen als Maßnahme zur Siedlungsentwässerung übernommen. Das Tiefbauamt/ Abteilung „Entwässerung“ initiierte als führender Schlüsselakteur für die Stadtentwässerung den Prozess zur Einführung der vernetzten Baumrigolen in der Wasserstraße in Bochum, führte in dieser Rolle die Schlüsselaktivitäten Planung und Bau durch, und stellte die notwendigen Ressourcen für die Planungsleistungen und die Finanzierung des Baus bereit (Bild 2, oben links). Das Tiefbauamt/ Abteilung „Straße“ war bereits in dieser Phase als Schlüsselakteur für die Auswahl der Baumstandorte beteiligt. Das Vorhaben entsprach soweit klassischen Projekten und Erfahrungen des Tiefbauamtes. Das Tiefbauamt beantragte die erforderlichen baulichen und wasserrechtlichen Genehmigungen (zur Versickerung) bei der zuständigen Genehmigungsbehörde, in diesem Fall bei der Unteren Wasserbehörde. Dafür waren die zeitliche und organisatorische Abfolge und die Stakeholder- Beziehung des Tiefbauamts zur Genehmigungsbehörde sowie die dafür notwendigen Kommunikationskanäle bekannt und wurden berücksichtigt. 74 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Auch die Anwohner*innen der Wasserstraße sowie die gewerblichen Anlieger und deren Ansprüche an die Nutzung der Flächen vor Beginn der Arbeiten, während der Umbauphase und nach Fertigstellung der Baumrigolen, zum Beispiel die Nutzung der Parkflächen und die Bereitstellung von Zufahrtswegen für Einsatzfahrzeuge waren bekannt (Bild 2, oben rechts). Das Tiefbauamt kannte die eigenen (Bild 2, unten links) ebenso wie die Wertströme und Erträge anderer (Bild 2, unten zweite von rechts), beispielsweise ein verringertes Überflutungsrisiko, eine verbesserte Versorgungssicherheit der Bäume, durch gespeichertes Regenwasser in den Rigolen sowie die Entlastung der Kanalisation und es berücksichtigte diese in der Projektplanung. Bei der Betrachtung der Kosten und Risiken (Bild- 2, unten rechts) wurde deutlich, dass zwar die Planungsleistungen und Baukosten durch das Tiefbauamt bereitgestellt, die Betriebskosten und notwendige Erfahrungswerte mit dem Betrieb der Baumrigolen allerdings nicht allein durch das Tiefbauamt/ Abteilung „Entwässerung“ erbracht werden konnten. Dafür wurde das Umwelt- und Grünflächenamt als erforderlicher Akteur und von Beginn an in den Prozess eingebunden. Eine wichtige Voraussetzung für die Finanzierung und den Betrieb der Baumrigolen war die Definition der Baumrigole als „wasserwirtschaftliche Anlage“, als „Teil des Baumstandorts“ oder als „Straßenbegleitgrün“. Hierfür gibt es deutschlandweit bisher keine einheitliche Regelung; die Entscheidung muss für den Einzelfall getroffen werden - hat aber weitreichende Auswirkungen auf Finanzierung und Betrieb der Baumrigolen. „Baumstandorte“ verantwortet, finanziert und betreibt (im Bochumer Fall) das Umwelt- und Grünflächenamt (Finanzierung aus dem kommunalen Haushalt), eine „wasserwirtschaftliche Anlage“ obliegt in den genannten Schlüsselaktivitäten dem Tiefbauamt / Abteilung „Entwässerung“ (Umlagefinanziert aus den Abwassergebühren) und „Straßenbegleitgrün“ liegt beim Straßenbaulastträger, in Bochum das Tiefbauamt / Abteilung „Straße“. Im Bochumer Fall einigten sich die Akteure auf die Festlegung als „wasserwirtschaftliche Anlage“. Dieser Prozess erforderte zusätzliche Abstimmungen und Informationsaustausche zwischen dem Tiefbauamt und dem Umwelt- und Grünflächenamt und führte in Folge zu einem Mehraufwand im Projekt. 1 Und zuletzt formierte sich eine Bürgerinitiative gegen die Fällung bestehender Bäume, die einen Teil des Infrastrukturprojektes in der Wasserstraße verhinderte. 1 In der Bochumer Wasserstraße darf der Straßenablauf aufgrund des Verschmutzungsgrades (auch bei Durchleitung durch die Baumrigolen) nicht versickert werden. Die Baumrigolen dürfen in diesem Fall entsprechend nicht als Versickerungsanlage genutzt werden (obwohl dies technisch möglich wäre), sondern übernehmen die Funktion eines Wasserrückhaltebeckens. Überschüssiges Wasser wird stattdessen nach Vorreinigung in ein nahegelegenes Fließgewässer eingeleitet. Schlüsselakteure Schlüsselaktivitäten Ressourcen Stakeholder- Segmente Stakeholder- Beziehung „Kanäle“ Tiefbauamt Umwelt- und Grünflächenamt Stadtwerke / Telekommunikationsanbieter Planung Bau Betrieb Planungsleistungen Finanzierung Bau Organisation und Finanzierung Betrieb Genehmigungsbehörden Anwohner Bürgerinitiative Behörden / Organisationen mit Sicherheitsaufg. bauliche und wasserrechtliche Genehmigung Sicherstellung der Zufahrtswege z. B. Beteiligungsverfahren, Informationsgespräche, Begehungen, ... Genehmigungs- Verfahren Wertströme / Erträge verringert Überflutungsrisiko Versorgungssicherheit Bäume Entlastung Kanalisation und Kläranlagen Lernen am Beispiel für bessere Ökosystemleistungen stadtweit Kosten und Risiken Planungsleistungen Betriebskosten Erfahrungswerte Betrieb Nutzenversprechen Verbesserung Kleinklima Anpassung an den Klimawandel Optische Straßenraumgestaltung Kosten und Risiken „Verlust“ängste (Teilw. auch unbegründete) ggf. fehlende Genehmigungsgrundlagen/ erfahrungen Fällung von bestehenden Bäumen Bild 2: Infrastructure Transition Canvas (Auszug) für die BGI-Maßnahme in Bochum. © Hohmann, Bieker, eigene Darstellung 75 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Prozess zur Umsetzung der vernetzten Baumrigolen in Bochum durch eine späte Integration relevanter Schlüsselakteure und Stakeholder erschwert und verzögert wurde. Deren späte Integration war eine Folge der bisher funktionierenden Silostrukturen in der kommunalen Infrastrukturverwaltung, die zwar einerseits das Fachwissen für die einzelnen Infrastrukturbereiche bündelt, andererseits aber den Austausch zwischen den Beteiligten und Betroffenen und somit den Blick für die Ziele und Zwänge anderer erschwert. Die ex-post-Betrachtungen des Vorhabens im Rahmen der ITC-Workshops zeichneten erstmals ein Gesamtbild aller Beteiligten, Betroffenen, den Risiken und deren Bewertungen. Alle am Workshop teilnehmenden Expert*innen stuften das Ergebnis als sehr hilfreich und zielführend für kommende Projekte ein. Fazit und Schlussfolgerungen Eine Anpassung urbaner Infrastrukturen der Siedlungswasserwirtschaft in Deutschland ist aufgrund der Folgen des Klimawandels erforderlich. Blau- Grüne Infrastrukturen leisten hierzu einen wichtigen Beitrag. In der Praxis besteht allerdings oftmals ein Umsetzungsdefizit aufgrund silohafter Kommunikationsstrukturen und fehlender Kooperationsprozesse. Wie in der Bochumer Fallstudie gezeigt, kann der Einsatz des ITC zu Beginn einer Projektentwicklung wertvolle Beiträge für eine effiziente und erfolgreiche Projektentwicklung leisten. Auf Basis der Visualisierung mithilfe des ITC lassen sich in Vorhaben frühzeitig 1. Transparenz über die benötigten Akteure, Stakeholder und Strukturen herstellen, 2. Kommunikations- und Kooperationsstrukturen ableiten und 3. Ausgleichs- und Kompensationsmechanismen entwickeln. Insbesondere der letzte Punkt wird in Innovations- und Transformationsvorhaben oft vernachlässigt, weil gerne vermittelt wird, dass innovative Veränderungen ein „Gewinn für alle“ seien. Dies ist aber nicht immer der Fall. Veränderungen bringen Vorteile und Nachteile für verschiedene Akteure mit sich, in lokal unterschiedlichen Ausgestaltungen und Formen. Vom „Kontrollverlust“ wegen erforderlicher Abstimmungen mit anderen Ressorts, über neue Verantwortlichkeiten oder andere Flächennutzungen. Besonders sensibel sind daher Projekte, die mit Veränderungen im Bestand ansetzen - und das ist im Rahmen der Anpassung an den Klimawandel überwiegend der Fall. Gewohnte Strukturen, Abläufe und Nutzungen werden ungern aufgegeben oder verändert. Daher ist es einerseits wichtig, die Vorteile von Vorhaben zu identifizieren, deutlich zu machen und akteursgerecht zu kommunizieren. Und anderseits, entstehende Nachteile ernst zu nehmen und im Bedarfsfall Ausgleichsmechanismen zu entwickeln. Für diese Aufgaben bietet das ITC eine geeignete Grundlage. LITERATUR [1] Tagesschau 2023, online: US-Forscher: Montag war der heißeste Tag der Geschichte | tagesschau.de, letzter Zugriff am 21.7.23. [2] Malekpour, S., Brown, R. R., de Haan, F. J.: Disruptions in strategic infrastructure planning - What do they mean for sustainable development? Environment and Planning C: Politics and Space 35 (2017) S. 1285 - 1303. https: / / doi.org/ 10.1177/ 2399654417690735 . [3] Trapp, J. H., Kerber, H., Schramm, E.: Implementation and diffusion of innovative water infrastructures: Obstacles, stakeholder networks and strategic opportunities for utilities. Environmental Earth Sciences 76: 3 (2017). https: / / doi.org/ 10.1007/ s12665-017- 6461-8 . [4] Statistisches Bundesamt: Zensusdatenbank, Ergebnis 3000G-1005, Gebäude: Eigentumsform des Gebäudes (2011). Online verfügbar unter https: / / ergebnisse2011.zensus2022.de/ datenbank, zuletzt abgerufen am 21.7.2023. [5] Hansen, R., Born, D., Lindschulte, K., Rolf, W., Bartz, R., Schröder, A. et al.: Grüne Infrastruktur urbanen Raum: Grundlagen, Planung und Umsetzung in der integrierten Stadtentwicklung. Hg. v. Bundesamt für Naturschutz (2018). [6] Hohmann, C., Truffer, B.: The infrastructure transition canvas: A tool for strategic urban infrastructure planning. Nature-Based Solutions 2: 100039 (2022). https: / / doi.org/ 10.1016/ j.nbsj.2022.100039 . [7] Embrén, B.: Växtbäddar i Stockholms stad - en handbok 2017. Stockholms Stad (2017). https: / / leverantor.stockholm/ globalassets/ foretagochorganisationer/ leverantor-och-utforare/ entreprenad-i-stockholms-stads-offentliga-rum/ vaxtbaddshandboken/ va x tbaddar_ i _ s tock holm _ 2017.pdf ; letzter Zugriff am am 21.7.2023 Claudia Hohmann, MSc. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Wasserwirtschaft Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI Karlsruhe Kontakt: claudia.hohmann@isi.fraunhofer.de Dr.-Ing. Susanne Bieker Querschnittsfeldleitung Transformations- und Innovationssysteme urbaner Räume Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI Karlsruhe Kontakt: susanne.bieker@isi.fraunhofer.de AUTORINNEN 76 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Um das Problem zu verstehen und zu bekämpfen, ist es von entscheidender Bedeutung, die komplexe Beziehung zwischen Stadtgestaltungsmerkmalen und Temperaturschwankungen zu verstehen. Unsere jüngste Studie mit dem Titel „Urban form features determine spatio-temporal variation of ambient temperature: A comparative study of three European cities“ liefert wertvolle Einblicke in Anpassung der Städte an den Klimawandel Eine vergleichende Studie zu Berlin, Zürich und Sevilla Klimawandel, Extremwetter, Hitzestress, städtische Temperaturen, Klimaanpassung, Städtebau Aicha Zekar, Felix Creutzig Der Klimawandel ist keine ferne Bedrohung, sondern eine Realität, mit der sich Städte rund um den Globus heute auseinandersetzen müssen. Hitzestress in Städten wird für einen beträchtlichen Teil der Weltbevölkerung zu einem erheblichen Problem, das die Auswirkungen der globalen Erwärmung noch verstärkt. Extreme Hitzeereignisse und Hitzestress beeinträchtigen nicht nur den Komfort der Stadtbewohner, sondern haben auch erhebliche Folgen für die öffentliche Gesundheit, den Energieverbrauch und das allgemeine Wohlbefinden. © Helena Jankovičová Kováčová auf Pixabay 77 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt diese Beziehung. Unsere Studie nutzt Modelle des maschinellen Lernens, um zu analysieren, wie verschiedene städtebauliche Merkmale - wie der Anteil undurchlässiger Materialien (Straßen, Gehwege, Gebäude), Vegetationsbedeckung und Gewässer - die Temperaturschwankungen in Berlin, Zürich und Sevilla beeinflussen. Der Grund für die Auswahl dieser drei Städte ist die Untersuchung der unterschiedlichen Einflüsse von Stadtgestaltungsmerkmalen, wie beispielsweise Gebäudebestand, Stadtgröße und Klimatyp, auf das Wärmeniveau. Dieser Ansatz bietet eine vielfältige Perspektive auf das Thema. Berlin zeichnet sich durch eine Mischung aus modernen und historischen Gebäuden, ausgedehnten Grünflächen und gemäßigtem saisonalem Wetter aus - ein deutlicher Vergleich zu Zürichs gebirgiger Landschaft, kompakter Stadtstruktur und zu kalten, schneereichen Wintern. Im Gegensatz dazu ist Sevilla für sein mediterranes Klima mit heißen Sommern, historischer Architektur mit engen Straßen und wenig Grün bekannt. Diese Vielfalt bietet einen ganzheitlichen Einblick in die Wechselwirkung zwischen verschiedenen städtebaulichen Elementen und den lokalen Klimabedingungen, die die Temperaturschwankungen beeinflussen. Zum Verständnis der Studie Die in unserer Studie angewandte Methodik ist ein Beweis für die Leistungsfähigkeit moderner Datenanalysetechniken bei der Behandlung komplexer Umweltprobleme. Wir haben ein Modell des maschinellen Lernens verwendet, insbesondere Extreme Gradient Boosting (XGBoost), um die Auswirkungen verschiedener Merkmale der Stadtform auf Temperaturschwankungen zu analysieren. Dieser Ansatz ermöglicht eine Analyse auf Stadtebene, bei der mehrere Variablen gleichzeitig berücksichtigt werden. So lassen sich komplexe Muster erkennen, die bei herkömmlichen statistischen Methoden möglicherweise übersehen werden. Ein weiterer wichtiger Bestandteil der Methodik der Studie ist die Verwendung von hochauflösenden räumlichen Daten. Wir verwendeten stündliche Lufttemperaturdaten für die Sommersaison 2016 bis 2017, die für jede Stadt auf einem 100 x 100 m großen Raster abgebildet wurden (Bild 1). Dieser Präzisionsgrad ermöglicht ein detailliertes Verständnis der relativen Temperaturschwankungen in verschiedenen Teilen der Stadt und zu verschiedenen Tageszeiten (Tag und Nacht). So kann beispielsweise ein dicht bebautes Gebiet mit geringer Vegetation höhere Temperaturen aufweisen als ein nahe gelegener Park, obwohl es sich um dieselbe Stadt handelt und die gleichen Wetterbedingungen herrschen. Um die Kraft dieses Ansatzes zu veranschaulichen, betrachten wir die Stadt Berlin. Die Stadt ist bekannt für ihre ausgedehnten Grünflächen, wie Bild 1: Wärmeabweichungskarten im Berliner Untersuchungsgebiet. Wärmekarten auf der Grundlage der zeitlich angepassten, gemittelten Temperaturabweichung (  T cell = T cell - Tcity.avg) für die Tagesstunden tagsüber (12: 00 - 3: 00 Uhr). Die Daten in den Wärmekarten sind gemittelt über zwei Jahre (2016 - 2017), Sommersaison ( Juni - Aug.). Heatmaps der Temperaturabweichungen ermöglichen es, Hot Spots der Stadt zu identifizieren, also diejenigen mit den größten positiven Temperaturabweichungen (dunkelrot markiert). Für Berlin können wir einige der Hot Spots der Stadt identifizieren: Charlottenburg (Gaußstraße und Lise-Meitner-Straße), Friedrichshain (Helenstraße), Lichtenberg ( Vulkanstraße), Adlershof (Eisenhutweg), Baumschulenweg (Späthstraße). © Zekar, Creutzig 78 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt den Tiergarten, einen großen Park im Stadtzentrum. Mithilfe hochauflösender räumlicher Daten konnten wir im Tiergarten niedrigere Temperaturen als in den umliegenden bebauten Gebieten feststellen (was nicht überrascht) und was die Rolle der Vegetationsdecke bei der Mäßigung der städtischen Temperaturen verdeutlicht. Wir berücksichtigten auch eine Reihe von Merkmalen der städtischen Form, einschließlich des Anteils der städtischen Einheit, der von undurchlässigem Material (zum Beispiel: Straßen, Gehwege, Gebäude), Vegetation, Gewässern und anderen Landnutzungsklassen bedeckt ist. Wir verwendeten diese Merkmale als Eingaben für das maschinelle Lernmodell, wobei die Abweichung der Temperaturen vom städtischen Durchschnitt als Zielgröße diente. Dieser Ansatz ermöglicht ein detailliertes Verständnis dafür, wie jedes Merkmal zu den Temperaturschwankungen in der Stadt beiträgt. Wichtigste Ergebnisse Die Studie unterstreicht den signifikanten Einfluss der Bodenbedeckung auf die räumlichen Temperaturmuster, die zu 60 % zur Erklärung der Temperaturschwankungen beiträgt. Der Einfluss der Bodenbedeckung variiert je nach Tageszeit und untersuchter Stadt. So erwiesen sich beispielsweise Gewässer und Vegetationsbedeckung als die wichtigsten Vorhersagemerkmale im Tagesmodell, wobei Sevilla den größten Kühleffekt aufwies. Umgekehrt wurde die Temperaturschwankung des Nachtmodells in erster Linie durch undurchlässige Bedeckungen erklärt, wobei Berlin den stärksten Erwärmungseffekt aufwies. Zur Veranschaulichung der Auswirkungen der Stadtform und des Klimas auf die unterschiedlichen Kühlungs- und Erwärmungseffekte zwischen den Städten können wir die Ergebnisse der drei verschiedenen Städte betrachten. In Berlin liegt die durchschnittliche Sommertemperatur bei 20 °C. Die Stadt ist reich an Grünflächen, darunter der bekannte Tiergarten, ein großer Park im Stadtzentrum. Die Untersuchung ergab, dass in Regionen mit höherer Vegetation, wie dem Tiergarten, im Allgemeinen niedrigere Temperaturen herrschen als in dicht bebauten Gebieten. Dieser kühlende Effekt ist auf die schattenspendenden und verdunstenden Eigenschaften der Vegetation zurückzuführen. Andererseits zeichnet sich Zürich mit einer durchschnittlichen Sommertemperatur von 19,44 °C durch seine dichte Bebauung und sein bergiges Terrain aus. Laut der Studie haben in Städten wie Zürich die Konfiguration und die Anordnung der Gebäudeblöcke den größten Einfluss auf die Temperaturschwankungen. Enge Straßen, die von hohen Gebäuden gesäumt werden, führen beispielsweise zu einem Canyon- Effekt, der die Wärme staut und zu erhöhten Temperaturen führt. Sevilla, bekannt für sein sommerlich-heißes Mittelmeerklima mit einer durchschnittlichen Sommertemperatur von 27,78 °C, stellt ein anderes Szenario dar. Die historische Architektur der Stadt mit ihren engen Straßen und der geringen Vegetationsdecke kann den Hitzestress in der Stadt noch verstärken. Das Vorhandensein von Gewässern kann jedoch zur Mäßigung der Temperaturen beitragen. Die Studie ergab, dass in Sevilla die Gebiete in der Nähe des Flusses Guadalquivir tendenziell kühler sind als der Rest der Stadt. Auswirkungen auf die Anpassung an den Klimawandel und seine Eindämmung Die in dieser Studie durchgeführte Analyse liefert wertvolle Erkenntnisse darüber, wie städtische Formmerkmale die Temperaturschwankungen in Städten beeinflussen, was entscheidende Auswirkungen auf Strategien zur Anpassung an den Klimawandel hat. Unsere Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung der Stadtplanung für die Abschwächung der Auswirkungen des Klimawandels. Kühlungsstrategien Eine der wichtigsten Erkenntnisse unserer Studie ist der entscheidende Einfluss der Vegetationsdecke auf die Regulierung der städtischen Temperaturen. Dies bedeutet, dass die Umsetzung einer Strategie, die die Ausweitung von Grünflächen und die Verringerung von undurchlässigen Oberflächen in Städten umfasst, den Hitzestress wirksam abmildern könnte. So könnten die Städte beispielsweise ungenutzte Flächen wie Brachflächen oder ungenutzte Parkplätze in städtische Grünflächen umwandeln. Die Anpflanzung von Bäumen auf diesen Flächen könnte Schatten spenden und dazu beitragen, die Umgebungsluft durch Evapotranspiration zu kühlen. In der Studie wird auch die Rolle von Gewässern bei der Minderung der Temperaturen hervorgehoben. Dies deutet darauf hin, dass Städte darüber nachdenken könnten, zusätzliche Wasserelemente wie Teiche oder Springbrunnen in ihre Stadtplanung zu integrieren. Solche Elemente erhöhen nicht nur die visuelle Attraktivität, sondern tragen auch zur Kühlung der umliegenden Regionen bei. Darüber hinaus kann die durch undurchlässige Materialien wie Straßen und Gebäude verursachte Wärmespeicherung durch die Verwendung alternativer Materialien mit geringeren Wärmeabsorptionseigenschaften oder durch „kühle“ Konstruktionen, 79 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt wie begrünte Dächer oder kühle Bürgersteige, die die Wärmeabsorption verringern, reduziert werden. Herausforderungen Da die effizientesten Kühlmethoden erhebliche Wasserressourcen erfordern, stellt dies eine Herausforderung dar, insbesondere für Berlin, das aufgrund des Klimawandels in Zukunft mit einer starken Wasserknappheit rechnen muss. Gegenwärtig haben Straßenbäume aufgrund von Luftverschmutzung und Trockenheit eine relativ kurze Lebenserwartung. Um sich an die durch den Klimawandel verursachten Hitzewellen anzupassen, müssen unbedingt bessere Wassermanagementpraktiken eingeführt werden, zum Beispiel die Nutzung von Regenwasser zur Bewässerung von Straßenbäumen und die Wiederverwendung von Abwasser für städtische Grünflächen. Berlin und andere Städte können sich wertvolle Lektionen von Israel abschauen, das aus der Not heraus das weltweit führende System zur Wiederverwendung von Wasser entwickelt hat. Wir betonen auch, wie wichtig es ist, bei der Entwicklung von Strategien zur Anpassung an den Klimawandel den lokalen Kontext zu berücksichtigen. Die Auswirkungen der städtischen Form auf die Temperaturschwankungen können aufgrund von Faktoren wie der Topografie der Stadt, dem Klimatyp und den Merkmalen des Gebäudebestands variieren. Dies unterstreicht die Notwendigkeit für Städte, auf die Region zugeschnittene Strategien zu entwickeln, die ihre einzigartigen Bedingungen und Merkmale berücksichtigen. Kann die Anpassung ein Gegengewicht zu einem sich erwärmenden Klima bilden? Einige behaupten, dass dies möglich ist. Eine Studie von Matei Georgescu und seinem Team aus dem Jahr 2014 mit dem Titel „Urban adaptation can roll back warming of emerging megapolitan regions“ legt nahe, dass durch kluge Entscheidungen in der Stadtplanung und -gestaltung nicht nur den klimatischen Auswirkungen der Stadterweiterung entgegengewirkt, sondern auch ein erheblicher Anteil der künftigen Treibhausgaserwärmung ausgeglichen werden kann. Die durchschnittliche Auswirkung der Stadtbegrünung auf die Temperaturen bleibt jedoch bescheiden. Der jüngste IPCC-Bericht warnt sogar davor, dass der Anpassung Grenzen gesetzt sind. Mit anderen Worten, wir brauchen auch eine Abschwächung, und das bedeutet eine drastische Reduzierung der Treibhausgasemissionen weltweit und in einem relativ kurzen Zeitrahmen. Die Anpflanzung von Bäumen ist notwendig, aber sie kompensiert nicht das Fehlen von Minderungsmaßnahmen. Auch der physischen Grundlage unserer Städte wird zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. In einer bedeutenden Studie von Jörn Birkmann und Kollegen aus dem Jahr 2010 mit dem Titel „Adaptive urban governance: new challenges for the second generation of urban adaptation strategies to climate change“ betonen sie die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Stadtplanung. Die Studie plädiert dafür, von der bloßen Anpassung der physischen Strukturen zur Verbesserung der Planungsinstrumente und der Governance-Prozesse selbst überzugehen. Diese Erkenntnis ist von großer Bedeutung. So ist beispielsweise das derzeitige Wassermanagement für Stadtbäume unterfinanziert, und den Verwaltungseinheiten fehlen trotz aller Bemühungen die Mittel, um sich effizient mit Freiwilligenbewegungen wie „Gieß den Kiez“ zu koordinieren, die die Bewässerung von Bäumen durch dezentralisierte Bürgeransätze und Online-Tools unterstützen wollen. Dies unterstreicht die Notwendigkeit gut finanzierter Verwaltungsstrukturen und einer intelligenten Nutzung von Datentools und effektiven Managementfähigkeiten durch leitende Mitarbeiter und Politiker. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Forschung die Fähigkeit städtischer Anpassungsstrategien unterstreicht, die Auswirkungen des Klimawandels zu mildern. Durch durchdachte Entscheidungen in der Stadtplanung und -gestaltung können Städte ihre Widerstandsfähigkeit gegenüber den klimatischen Herausforderungen erhöhen. Dies setzt jedoch effektive Verwaltungsstrukturen und engagierte Politiker voraus, die der Anpassung an den Klimawandel (und der Abschwächung, wie bereits erwähnt) entschlossen Priorität einräumen. Aicha Zekar Associate Instructor of Civil Engineering New York University in Abu Dhabi Kontakt: az50@nyu.edu Prof. Dr. Felix Creutzig Leiter der Arbeitsgruppe Landnutzung, Infrastruktur und Transport Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) gGmbH Kontakt: creutzig@mcc-berlin.net AUTOR*INNEN 80 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Digitalisierung als Treiber einer resilienten Stadtentwicklung Ganzheitliche resiliente Stadtplanung in der Europastadt Guben Smart City, Stadtplanung, Resilienz, Digitaler Zwilling, Klimaanpassung Jana Helder, Sophie Knoop, Oskar Starick, Anne Handschick Im Rahmen der Modellprojekte Smart Cities hat sich die Eurostadt Guben das Ziel gesetzt, die Resilienz der Stadt(-bevölkerung) zu stärken. In einem partizipativen Prozess werden in Guben daher die digitalen Anwendungen Resi.Form und Guben Cockpit entwickelt. Die Lösungen sollen zukünftig ermöglichen, dass verschiedene Aspekte der urbanen Resilienz zielgerichtet und effizient in Stadtentwicklungsprozessen berücksichtigt werden können und gleichzeitg bedarfsgerechte Informationsgrundlagen bereitgestellt werden. Der fortschreitende Klimawandel und dynamische Veränderungen lokaler Rahmenbedingungen machen die Weiterentwicklung von Informationsgrundlagen und Planungsinstrumenten für die Stadtplanung erforderlich [1]. Die Smart City Guben entwickelt daher digitale Anwendungen, welche die Resilienz der Kommune und der Gubener*innen gegenüber globalen Krisen wie dem Klimawandel stärken sollen. Im Folgenden sind die Rahmenbedingungen und das bisherige Vorgehen zur Entwicklung von zwei zentralen digitalen Anwendungen und deren geplanten Wirkungsweisen auf die Stadtentwicklung beschrieben. Die Neißestadt Guben ist eines der 73 durch das Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) geförderten Modellprojekte Smart Cities [2]. Ende Juni hat die Stadt Guben die Bild 1: Grenzstadt Guben. © Stadt Guben Strategiephase des Förderprogramms abgeschlossen und startet nun in die Umsetzung der geplanten Digitalisierungsmaßnahmen mit Fokus auf die integrierte, nachhaltige und gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung. Guben als Klein- und Grenzstadt im ländlichen Raum hat den Fokus vor allem auf überregional wirkende Gefahren, wie den Klimawandel, den Seuchen- und Katastrophenschutz gesetzt. Diese machen nicht an Stadt- oder Landesgrenzen halt. Daher soll mit dem Projekt Eurostadt Guben #grenzenlos smart die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zur Stärkung der Resilienz gefördert werden-[3]. Über agile und partizipative Verfahren wurden in der Strategiephase des Modellprojektes digitale Anwendungen konzeptioniert, die die Resilienz Gubens und perspektivisch auch in weiteren Gebie- 81 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt ten steigern sollen. Ziel ist es, über bedarfsgerechte Informationsgrundlagen und ergebnisorientierte Analysen und Simulationen die Öffentlichkeit und die Verwaltung zu resilientem Handeln bzw. einer resilienten Stadtentwicklung zu befähigen. Dazu wurden Anforderungen an Anwendungen zur Kommunikation und Auswertung kommunaler Daten definiert. Initial werden bereits die Basisinfrastrukturen für die digitalen Anwendungen in Form einer Datenplattform und eines Datenkonzeptes entwickelt, welche unter anderem erforderliche Schnittstellen aber auch Zuständigkeiten definieren. Der Entwicklungsprozess In verschiedenen Workshop-Formaten wurden mit ausgewählten Vertreter*innen der Öffentlichkeit und mit Fach-Expert*innen aktuelle Prozesse analysiert, Herausforderungen benannt, Anforderungen gesammelt und anhand von Click-Dummies verfeinert. Dabei ergaben sich zwei zentrale digitale Anwendungen, die in der kommenden Umsetzungsphase entwickelt werden: 1. Die Fachanwendung „Resi.Form“ steht für bedarfsgerechte Datenabfragen, räumliche Analysen und Simulationen. Auf Basis von georeferenzierten Daten soll es ermöglichen, Handlungsspielräume für integrierte Lösungen aufzudecken und die Resilienz Gubens zu stärken. 2. Das öffentliche Portal „Guben Cockpit“ mit niedrigschwelligen und zielgruppenorientierten Darstellungsmöglichkeiten soll Informationen über Aktivitäten und relevante kommunale Daten bereitstellen, um durch transparente Kommunikation die Meinungsbildung aller Akteure in der Stadt zu unterstützen. Beide Anwendungen werden in der Umsetzungsphase entsprechend der folgenden grundlegenden Prinzipien [4] zur Erhöhung der Resilienz in der Stadtentwicklung konzipiert: 1. Feedback-Loops ermöglichen: Das Bereitstellen von bestehenden Daten, das transparente Kommunizieren von aktuellen Tätigkeiten und das Identifizieren von Handlungsspielräumen ermöglichen es der Verwaltung, Politik und Bürgerschaft, sich stärker in aktuelle Entwicklungen einzubringen und diese iterativ nachzuschärfen. 2. Modularität ausbauen: Eine modulare mehrsprachige Datenplattform mit Schnittstellen zu bestehenden Systemen und die Entwicklung von Analyse-, Simulations- und Darstellungsmodulen (für die resiliente Stadtentwicklung) ermöglichen die flexible Anpassung und Erweiterung der Anwendungen, der Datensätze sowie der Schnittstellen. 3. Diversität erhöhen: Das Schaffen offener Schnittstellen zu diversen, bereits bestehenden dezentral gespeicherten Datensätzen und das Qualifizieren dieser Informationen erhöht die Möglichkeiten, diese vielfältig einsetzbar zu machen und eine Vielzahl von Datensätzen abzugleichen. Zudem ermöglichen Simulationen und Szenarien, die Betrachtung komplexer Herausforderungen aus verschiedenen Blickwinkeln. 4. Redundanz einplanen: Um die Resilienz der Stadt Guben weiter zu erhöhen, sollen die derzeit sektorbezogenen kommunalen Tätigkeiten zur Minderung städtischer Vulnerabilitäten (Klimaanpassung, soziale Stadt usw.) durch eine digitale Anwendung für die niedrigschwellige Darstellung von Datensätzen ergänzt werden. Gleichzeitig sollen Analyse- und Simulationsergebnisse eine integrierte Stadtentwicklung befördern, indem sie über das Smart City-Büro in das Handeln der Fachverwaltungen eingebracht werden. Die Fachanwendung „Resi.Form“ Resi.Form als Fachanwendung kann vor allem die Stadtplanung dabei unterstützen, Resilienz als zentralen Parameter in die Planung zu integrieren und die Stadt zukunftsfähig weiterzuentwickeln. Dazu werden, wie auch durch das Umweltbundesamt empfohlen [5], Daten von verschiedenen administrativen Ebenen und von diversen Akteuren über eine Anwendung zur Auswertung zugänglich gemacht. Die Anwendung Resi.Form wird entsprechend der beschriebenen Anforderungen modular aufgebaut. Die Anwendung besteht folglich aus Grundfunktionalitäten, die dynamisch weiterentwickelt werden können und darauf aufbauenden Funktionen, die je nach Anwendungsfall eingebunden oder ausgeblendet werden können. Für die Pilotierung von Resi.Form wurden vier erste Module partizipativ definiert: Ein Planungsmodul, ein Analysemodul, ein Simulationsmodul und ein Vernetzungsmodul. Mit diesen Modulen können vorhandene georeferenzierte Daten abgefragt, bearbeitet und untersucht werden. Zudem soll Resi.Form die Möglichkeit bieten, Projekte anzulegen, um Daten, Auswertungs- und Simulationsergebnisse mit Projektpartner*innen zu teilen. Das Planungswerkzeug (Bild 3) bietet einen Einblick in die Ausgangslage und kann für die Abfrage, Darstellung und Anpassung vorhandener raumbezogener Daten (beispielsweise vorhandene B-Pläne, Altlasten, Bild 2: Die Smart City Strategie der Stadt Guben wurde im Juni 2023 veröffentlicht. Die Maßnahmen, die für die Umsetzungsphase geplant sind, werden auf der Website des Projekts vorgestellt [3]. © Stadt Guben Bild 3: Auszug aus dem Click-Dummy von Resi.Form (Arbeitsstand, Modul 2). © Form Follows You GmbH, Open Street Map 82 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt graue/ grüne/ blaue Infrastrukturen) eingesetzt werden. Das Analysewerkzeug (Modul-2) soll es ermöglichen, georeferenzierte Datensätze mit Parametern (Erreichbarkeit, GRZ, GFZ, solar nutzbare Dachfläche inkl. Strahlungsintensität usw.) zu untersuchen. In diesem Zusammenhang werden unter anderem auch Auswertungsmöglichkeiten für die Daten der Gefahrenabwehr überprüft. So könnten beispielsweise Daten zu vergangenen Einsätzen der Gefahrenabwehr und der Notdienste geografisch ausgewertet und städtebauliche Risikofaktoren identifiziert und perspektivisch reduziert oder behoben werden. Ergänzend dazu soll ein Simulationswerkzeug (Modul 3) das proaktive Aufdecken von Hochwasserrisiken gefährdeter Räume und Gebäude unterstützen. Hochwasser ist eine der zentralen und durch den Klimawandel zunehmenden Gefahren im Stadtgebiet Guben. Daher soll es auf Basis eines digitalen Geländemodells ermöglicht werden, die Auswirkungen verschiedener Pegelstände zu simulieren. Für die Entwicklung dieses Moduls soll auf zahlreiche, in diesem Feld bereits bestehende Forschungen und Entwicklungen zurückgegriffen werden. Das vierte zentrale Module der Anwendung ist ein Vernetzungswerkzeug für den Austausch von Versorgungsakteuren und zur Erhöhung der Zugänglichkeit von lokalen Angeboten. Mit diesem Werkzeug soll es zu Beginn vor allem Akteuren der Gesundheitsversorgung ermöglicht werden, sich zu vernetzen, Angebote gegeneinander abzugrenzen und Synergien zu nutzen. Über die zentrale und georeferenzierte Beschreibung der Angebote können gleichzeitig nicht ausreichend versorgte Gebiete durch die Stadtentwicklung identifiziert werden. Das öffentliche Portal „Guben Cockpit“ Das Guben Cockpit als öffentlich zugängliches Interface einer Datenplattform soll sowohl deutsche als auch polnische Datensätze integrieren und durch Schnittstellen zu verfügbaren kommunalen Serviceleistungen als interaktiver Kontenpunkt für kommunale Informationen (zum Beispiel Veranstaltungen, Gesundheitsangebote) und Angebote (zum Beispiel: digitale Beteiligungsplattform) dienen. Dadurch soll insbesondere die Transparenz in Bezug auf die Verwaltungsaktivitäten für die Gubener*innen gesteigert und die Öffentlichkeit dazu befähigt werden, sich fundiert in partizipative Entscheidungsprozesse einzubringen und die verfügbaren Daten für eigene Zwecke zu nutzen. Im Rahmen der partizipativen Anforderungsdefinition wurden fünf prioritäre Themenbereiche identifiziert, zu welchen möglichst barrierearm bilinguale Daten öffentlich zugänglich gemacht werden sollen. Diese Themen sind „Stadtentwicklung und Teilhabe“, „Energie und Wirtschaft“, „Kultur und Gesundheit“, „Klima und Umwelt“ sowie „nachhaltige Mobilität“. Ein Dashboard (Modul 1) soll die drei im folgenden beschriebenen Module des Guben Cockpits übersichtlich zusammenführen. Neben dem Mitmach-, Karten- und Veranstaltungsmodul sollen jedoch auch nicht georeferenzierte Informationen über das Dashboard eingebunden werden. Dabei ist eine filterbare und durchsuchbare Ansicht, die die Datensätze in den fünf Themenbereichen niederschwellig zugänglich macht, zentral. Die Karte (Modul 2) stellt die georeferenzierten Informationen in den fünf Themenbereichen dar und bietet Möglichkeiten, sich durch das Einblenden und Überlagern verschiedener Ebenen zu informieren. Eine Auswahl von Basiswerkzeugen (Strecken messen, Adressen suchen, Datensätze exportieren etc.) ermöglich es, sich mit den Datensätzen intensiver auseinanderzusetzen und eigene Erkenntnisse abzuleiten. Eine Kalenderfunktion (Modul 3) soll es darüber hinaus ermöglichen, verschiedene Kalender einzusehen; eine Schnittstelle zu einem Raumbuchungssystem, vor allem für Verwaltungsmitarbeitende, kann perspektivisch die Veranstaltungsplanung beispielweise für Beteiligungsformate erleichtern. Das vierte Modul soll Schnittstellen entwickeln, um verschiedene Angebote der digitalen Verwaltung zu verbinden. Dazu zählen neben der bestehenden Beteiligungsplattform Gubens (CONSUL) und Resi.Form auch Schnittstellen zu digitalen Angeboten der Stadtverwaltung (zum Beispiel digitale Bauanträge, Gewerbeanmeldung). Bild 4: Auszug aus dem Click-Dummy des Guben Cockpits (Arbeitsstand, Modul 1). © Form Follows You GmbH, Open Street Map Strategische und perspektivische Ziele Mit digitalen Technologien möchte die Stadt Guben Stadtentwicklungsprozesse fundierter und agiler gestalten (Resi.Form), um Resilienz in der Stadtentwicklung zu fördern und gleichzeitig der Öffentlichkeit Zugriff auf Daten, Verfahrensstände und 83 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Angebote zu geben, um Meinungsbildung und Beteiligungsprozesse zu unterstützen (Guben Cockpit). Beide Anwendungen werden derzeit gemeinsam mit den potenziellen Nutzenden iterativ entwickelt. Eine Ausweitung der abgedeckten Gebiete über die Einbindung weiterer Datensätze wird langfristig angestrebt. Als Modellprojekt Smart City ist die Stadt Guben an einer Skalierung beider Lösungen interessiert und wird diese Open Source zur Verfügung stellen. Um sich als Kommune vorausschauend und widerstandfähig gegenüber Krisen und Herausforderungen (wie Klimawandel, Energiekrise, Strukturwandel, demografischer Wandel) aufzustellen und gleichzeitig dynamisch auf sich verändernde Rahmenbedingungen reagieren zu können [6], ist eine integrierte und resilienten Stadtentwicklung erforderlich. Dabei bieten verschiedene Transformationsprozesse (zum Beispiel Digitalisierung, Klimaanpassung, Energiewende) Handlungsspielräume, um innovative Lösungen zu entwickeln. Mit dem zunehmenden gesellschaftlichen Wissensgewinn lassen sich kontinuierlich Aspekte der integrierten Stadtentwicklung berücksichtigen. Digitale Planungsinstrumente und bedarfsorientierte Informationsgrundlagen ermöglichen lokalspezifische Klima- und Quartiersanalysen, geben entscheidende Planungshinweise in Bezug auf stadtklimatische Belastungen, Hochwasserrisiken und Hitzebelastungen sowie zu wirtschaftlich oder sozial benachteiligten Quartieren und ermöglichen damit ein multidimensionales Betrachten und Analysieren von Zusammenhängen sowie wissensbasierte Entscheidungen. Somit bieten digitale Werkzeuge vielfältige Möglichkeiten, Vulnerabilitäten bestimmter Bevölkerungsgruppen, Umweltgerechtigkeit und soziale Faktoren zu untersuchen [1]. Gleichzeitig unterstützt eine transparente Kommunikation die Bürger*innen dabei, eigene Anpassungsstrategien zu entwickeln und umzusetzen, um auf Veränderungen zu reagieren. Ausblick Über die Entwicklung von Kommunikations-, Analyse- und Bewertungswerkzeugen auf Basis des digitalen Zwillings arbeiten wir bei Form Follows You daran, komplexe Zusammenhänge abzubilden und Vertreter*innen aus Wirtschaft und Verwaltung das richtige Toolset für dynamische Abwägungs- und Entscheidungsprozesse an die Hand zu geben. Über den zunehmenden Einsatz digitaler Lösungen und ein Ausweiten integrierter Ansätze wird so eine vorausschauende, adaptive und smarte Stadtentwicklung in Guben und darüber hinaus ermöglicht. LITERATUR [1] Deutscher Städte und Gemeindebund (DStGB) und Deutsches Institut für Urbanistik (Difu): Hitze, Trockenheit und Starkregen. Klimaresilienz in der Stadt der Zukunft, 2022. Online: https: / / www.dstgb.de/ publikationen/ dokumentationen/ nr-166-klimaresilienzin-der-stadt-der-zukunft/ doku-hitze-duerre-finalweb-1.pdf ? cid=lud [2] Modellprojekte Smart Cities, 2023. Online: https: / / www.smart-city-dialog.de [3] #grenzenlosSMART. Modellprojekt Smart City Guben, 2023. Online: https: / / smart.guben.de/ [4] BBSR: Resilienz in der Smart City - Wie Kommunen besser mit Krisen umgehen und proaktiv eine nachhaltige Zukunft gestalten können, 2023. Online: https: / / www.bbsr.bund.de/ BBSR / DE/ veroeffentlichungen/ sonder veroeffentlichungen/ 2023/ resilienz-smartcity-dl.pdf; jsessionid=5184CA912611320EBB2CF4E4 8BBE949D.live11294? _ _blob=publicationFile&v=4 [5] Umweltbundesamt: Klimaresilienz stärken. Bausteine für eine strategische Klimarisikovorsorge, 2021. Online: https: / / www.umweltbundesamt.de/ sites/ default/ files/ medien/ 479/ publikationen/ uba_empfehlungen_klimarisikovorsorge.pdf [6] BBSR: Beschleunigter Wandel und Resilienz. Leitlinien für die Entwicklung resilienter Städte im digitalen Zeitalter. Nationale Dialogplattform Smart Cities, 2023. Online: https: / / www. b b s r. b u n d . d e / B B S R / D E / v e r o e f f e n t l i c h u n g e n / sonderveroeffentlichungen/ 2023/ leitlinien-entwicklung-resilienter-staedte.html Jana Helder, M. Sc. Form Follows You Kontakt: jana.helder@formfollowsyou.com Sophie Knoop, M. Sc. Form Follows You Kontakt: sophie.knoop@formfollowsyou.com Oskar Starick Smart City Guben Kontakt: starick.o@guben.de Anne Handschick Smart City Guben Kontakt: Handschick.A@guben.de AUTOR*INNEN 84 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Gebäude als Baustein im Ökosystem Stadt Der Mensch und seine Umwelt passen sich seit jeher an sich wandelnde Voraussetzungen an. Selten haben sich jedoch Daseinsgrundlagen, die Technosphäre und die Biosphäre gemeinsam und gleichzeitig so rasch und nachteilig für den Menschen und die Umwelt verändert [1]. Gerade der urbane Kontext muss innerhalb kurzer Zeit an neue gesellschaftliche und klimatische Bedingungen angepasst werden. Nutzungs- und Zielkonflikte sind also keine Überraschung. So kann etwa die Bereitstellung von bezahlbarem Wohnraum in Städten zu einem Konflikt führen, wenn durch Klimaanpassung neue bauliche Qualitäten umgesetzt werden müssen, die unter Umständen zunächst zu höheren Baukosten führen. Als Ausgleich können clevere bauliche Lösungen mehrere Bedarfe gleichzeitig bedienen. Multifunktion und Mehrfachnutzen von Gebäuden, Bauteilen, Oberflächen und der Liegenschaft an sich sind somit wichtig, um Flächenkonkurrenz sinnvoll auszuhandeln. Klimaanpassungsaspekte müssen künftig mit tradierten Funktionen kombiniert werden. 1 Heute und gestern Mehrfachnutzen und Multifunktion sind urtypische und bewährte Qualitäten, seit Jahrhunderten Bausteine von Quartieren und Städten. Die Gebäudehülle (Fassade und Dach) diente immer schon dem Schutz von Leib und Leben, sicherte das Hab und Gut, definierte die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Bereich. Ablesbar an der Hülle sind in der Regel die Gebäudetypologie und somit der Zweck aber oftmals auch der Status der Nutzenden. Die Hülle ist faktisch ein bedeutsamer Potenzialraum. Im Rückblick gibt es gute Beispiele die zeigen, dass Mehrfachnutzen und Multifunktion bei weitem kein neues Konzept darstellen. Sonderbauten und Weltwunder Manchmal waren gebaute Beispiele Einzelphänomene ikonographischer Art, wie die stufenförmigen Dachterrassen „Hängende Gärten von Babylon“ aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Nebukadnezar II. kombinierte für seine Frau Amyitis den Wunsch nach einer grünen Landschaft auf dem Dach eines Gebäudes. Das Vorhaben zeugt gerade im Hinblick auf die vorherrschende Trockenheit in der Region von gewisser Dekadenz. [2] 1 Die Jahresmitteltemperaturen in Deutschland steigen, extreme Starkregen- und Hochwasserereignisse nehmen zu. Das Bauwesen als Teilbereich der Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel (DAS) zeigt gerade vor den aktuellen Klimafolgen wie Hitze, Starkregen, Hochwasser und auch Sturm seine Verletzbarkeit. Die Gefahren sind erkannt und in Veröffentlichungen des Weltklimarates (IPCC) bestätigt. Gebäudehülle Plus Multifunktion und Mehrfachnutzen Gebäudehülle, Klimaanpassung, Resilienz, Multifunktion, blau-grüne Infrastruktur, Ökosystem Stadt Svenja Binz, Stefan Haas Bild 1: Hängende Gärten von Babylon. © (frei von Rechten) Bild 2: Regenwasserspeicher in Angkor Wat. © falco auf Pixabay Bild 3: Dachterrasse unité d‘habitation in Marseille. © Haas BBSR 85 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Hochkultur und Naturbeherrschung Ankor Wat wurde im 11. Jahrhundert nach Christus als Königsstadt der Khmer erbaut und war zu seiner Zeit ein hochentwickeltes städtisches Gefüge. Es bestand aus Siedlungsraum und Anbaufläche, lebensfähig durch kluges Wassermanagement. Dieses dehnte sich auf rund 1 000 Quadratkilometern aus und bestand aus Kanälen, Becken und Dämmen. Der Sommermonsun ermöglichte das Auffüllen der Becken. Die Becken dienten somit gleichzeitig dem lokalen Überflutungsschutz. [3] Prototypen und Visionen Der Architekt Le Corbusier entwickelte in Marseille mit der Unité d’habitation oder auch „Wohnmaschine“ ein prototypisches Multifunktionsgebäude. Das Gebäude bietet durch konstruktive Details Verschattung in den heißen Sommer der Region. Der aufgeständerte Raum unter dem Gebäude spendet Schatten für die Außenfläche auf Straßenniveau. Auch die Dachfläche wurde mehrfach codiert. Auf der begehbaren Dachlandschaft wurden ein Kindergarten, Kinderschwimmbecken, ein Freilufttheater und eine Sporthalle angesiedelt. Die Gestaltung entspricht somit einem von Le Corbusier geforderten fünf Punkten zu einer neuen Architektur aus dem Jahr 1927: dem Mehrfachnutzen. [4] Resilienz plus Gebäude als kleinste bauliche Einheit im Ökosystem Stadt Gerade im urbanen Kontext treffen unterschiedliche Bedürfnisse aufeinander und bringen Flächenkonkurrenzen mit sich. Neben den urbanen Flächen haben aber auch Gebäudehüllen Potenzial für Multifunktion und Mehrfachnutzen. Der Werkzeugkasten für technische Lösungen zur Addition von beispielsweise Grünraum und Regenwassermanagement an Fassade und Dach ist vorhanden. Wirkungen von baulichen Maßnahmen für Klimaschutz und Klimaanpassung sind größtenteils quantifiziert. Dennoch wird beim Planen von Gebäuden oft monofunktional entworfen und die Funktion der Fassade meist auf den Schutz vor äußeren Umwelteinflüssen reduziert, wie es Vitruv bereits in seinem architektonischen Konzept der Urhütte beschrieb. [5] Neben dem eigenen Schutz können robuste und gut geplante Gebäude sogar den urbanen Anpassungsdruck mindern, indem die einzelne bauliche Einheit einen Beitrag zur Entlastung des Gesamtsystems Stadt leistet. Im Sinne der Wirksamkeit und Beständigkeit von Maßnahmen sind insbesondere bauliche und naturbasierte Lösungen interessant, die sowohl standardisiert umzusetzen sind, als auch auf mehrere Klimawirkungen reagieren. Mehrfachnutzen und Multifunktion: Dach und Fassade Der städtische Energiehaushalt - Solarstrahlung und Temperatur - wird durch kurzwellige Einstrahlung der Sonne und langwellige Abstrahlung in Form von Wärme bestimmt. Die Verschattung von Gebäuden und Gebäudeöffnungen sowie eine helle farbliche Gestaltung der Oberflächen bringen einfach umzusetzende Effekte zur Minderung der Oberflächen- und somit der Umgebungs- und Innenraumtemperatur.-[6] Für einen Massivbau mit einer hellen Dachabdichtung reduziert sich die Anzahl der Stunden, die der Innenraum über der zulässigen Höchsttemperatur liegt, um etwa 14 %. Bei einem Holzbau erwirkt die Wahl der Oberflächenfarbe der freiliegenden Dachabdichtung eine Minderung um rund 20 %. Zusätzlich kann die Abdichtungsbahn der direkten Hitzeeinwirkung entzogen werden, indem eine Kiesschicht aufgebracht wird. Weitere Optimierung bringt die Dachbegrünung. Zur Reduktion der Umgebungstemperatur tragen in der Regel üppige Vegetationsräume wie Parks und Baumreihen bei. Die Wirkung und die Effektivität von Dach- und Fassadenbegrünungen sind abhängig von der Struktur des Stadtraumes an sich. [7] Sie sind am wirkungsvollsten, wenn sie als große Fläche oder als mehrere kleinteilige Flächen umgesetzt sind. Doch auch einzelne Begrünungen können sogenannte Hotspots oder Wärmeinseleffekte in städtischen und stark verdichteten Quartieren reduzieren. Die positive klimatische Auswirkung einer Dach- und Fassadebegrünung erreicht nur sein nahes Umfeld, belastbare Zahlen die darüber hinausgehen sind aktuell nicht verfügbar. Insbesondere durch die Wirkung der Verdunstungskühlung und Verschattung kann die Oberflächentemperatur durch Gebäudegrün im Vergleich zu konventioneller Bauweise um etwa 2 bis 25 °C verringert werden. [9] KLIMAANGEPASSTE GEBÄUDE UND L I E G E N S C H A F T E N Empfehlungen für Planende, Architektinnen und Architekten sowie Eigentümerinnen und Eigentümer 2., überarbeitete Aufage ZUKUNFT BAUEN: FORSCHUNG FÜR DIE PRAXIS | Band 30 Bild 4: Die BBSR-Broschüre KLIBAU liefert Beispiele zu Multifunktion und Mehrfachnutzen um Gebäude klimaangepasst zu planen. © BBSR (Hrsg.) (2022), Cover © BBSR Binz, Sessler  120 000 000 m² begrünte Dachfläche in Deutschland [10]  20 % Reduktion der Innenraumtemperatur [8] und  1,7 ° maximale Reduktion der lokalen Umgebungs- Lufttemperatur möglich durch Dachbegrünung [9] DACHGRÜN 86 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt Gute Beispiele für einen Mehrfachnutzen sind Gründächer, die gleichzeitig für Freizeit- oder Gartennutzung freigegeben sind, Biodiversität fördern oder bei Starkregenereignissen ausreichend Regenwasser zurückhalten. Eine Mehrfachbelegung der Fläche durch Gründach und Solarpanele wird immer öfter umgesetzt. Die Verdunstungskühlung der Grünfläche kann gleichzeitig die Energieeffizienz der Panele um schätzungsweise 2 bis 6 % erhöhen. [7, S. 56] Mehrfachnutzen und Multifunktion: Regenwassermanagement Der Begriff „Natur in der Stadt“ wird seit Jahren stetig weiterentwickelt. [7, S. 12] Bausteine von Quartieren sind nunmehr auch Artenvielfalt und Biodiversität sowie die Reduktion der Luftbelastung und die Kohlenstoffspeicherung. Zur Umsetzung dieser Bausteine sind Grünraum und Regenwassermanagement über ihre bisher üblichen Funktionen hinausgehend neu zu denken. Ein kluges Regenwassermanagement spielt eine zunehmend wichtige Rolle zur Abfederung von Starkregen, aber auch für den Funktionserhalt der Grünflächen in Trockenperioden. Natürliche oder modellierte Sickermulden, Rigolen, Zisternen und Retentionsdächer entlasten das öffentliche Kanalsystem bei extremen Starkregenereignissen. Eine bedeutsame Multifunktion von Gebäuden und Liegenschaften wird erreicht durch ihren Beitrag zum dezentralen Regenwassermanagement. Betonoberflächen haben beispielsweise einen Abflussbeiwert von 0,9 bis 1. Das heißt, es fließen 90 % bis 100 % des Wassers von der Oberfläche ab und müssen in der Regel vom Kanalsystem aufgefangen werden. Entsiegelte oder begrünte Oberflächen haben je nach Ausführung einen Abflussbeiwert von 0,3 bis 0,1 und können zwischen 70 % bis 90 % des anfallenden Niederschlagwassers in den Vegetationsebenen oder im Dachaufbau langfristig zurückhalten. (7, S. 18; 11] Gesamtkonzept Blau und Grün Hitze- und Dürrevorsorge in Kombination standen bislang nicht im Fokus bei der Planung der Stadt als ganzheitliches Ökosystem. Der Funktionserhalt und die Nutzbarkeit des Grünraumes sind jedoch nur gewährleistet bei intaktem Grün. Somit ist die Verfügbarkeit von Wasser besonders in trockenen Zeiten essenziell. Das Vermitteln zwischen „zu wenig“ und „zu viel“ Wasser ist eine Herausforderung insbesondere im Gebäudebestand und in bereits gebauten Quartieren. 2 Ein Retentionsgründach oder eine Retentionsbox kann beispielsweise eine erhebliche Menge Regenwasser speichern, sollte dies aber laut Normung nach einer gewissen Haltezeit wieder abgeben. Dabei wäre eine Speicherung vor allem zur Bewässerung in Trockenzeiten durchaus sinnvoll. Um diese Lücke mit Fokus auf Multifunktion und Mehrfachnutzen zu schließen, sind am Gebäude folgende Konflikte 3 zu lösen:  Regelwerke fordern schnelle Entleerung der Regenwasserspeicher zur Starkregenvorsorge  Regenwassernutzung wird nicht auf Hitze- und Dürrevorsorge gleichzeitig ausgerichtet 2 Mehrere Projekte des BBSR widmen sich dem urbanen Grün, siehe Zukunft Bau Forschungsförderung. Vom BBSR beauftragte Studien widmen sich den Konflikten und dem Handlungsbedarf aus Sicht der Fachgesetzgebung und der Normung, siehe Zukunft Bau Ressortforschung. 3 Zwischenergebnisse aus dem laufenden BBSR-Forschungsprojekt Normung und Klimaanpassung - Normungsbegleitung zur Integration „blau-grüner Infrastruktur“ in bautechnischen Standards. Bild 5: Regenwasserspeicherung in Kombination mit Freiraumgestaltung am Potsdamer Platz in Berlin. © BBSR Haas Bild 6: Einbau von Rigolen zur lokalen Versickerung für den Erhalt eines natürlichen Wasserhaushaltes. © FRÄNKISCHE  Starkregen Berlin: Überforderung Kanalsisation 10 mal / Jahr  Regenrückhalt: 140 l/ m 2 möglich bei Gründach  Abflussspitzen: 99 % Abfederung möglich [6, S. 53] REGENWASSERMANAGEMENT 87 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Ökosystem Stadt  Kaskadenentwässerung, zum Beispiel bei Staffelgeschossen, nur in Ausnahmefällen erlaubt Zudem müssen Lücken in Regelwerken zur Flächen- und Stadtraumnutzung angepasst werden:  Planung des Straßenraums berücksichtigt Flächenbedarf für dezentrales Regenwassermanagement nicht ausreichend  Aktivierung des Bodenspeichers durch Forderung nach einem Mindest-Flurabstand beschränkt  Versickerungsanlagen nur auf Böden mit hoher Durchlässigkeit zugelassen Nachhaltigkeitskriterien und Abwägungsprozesse Moderationsprozesse sind erforderlich, um zwischen Bedarfen und Potenzialen, zwischen Quartier und einzelnen baulichen Einheiten zu vermitteln. Dabei sind alle Nutzendengruppen angesprochen. Ebenso komplex gestaltet sich die Abwägung zwischen unterschiedlichen Nachhaltigkeitszielen. Denn eine nicht zwingend erforderliche Anpassungsmaßnahme bringt im Falle Nachteile für den Klimaschutz oder die Ressourcenschonung. Ziel der Baumaßnahme muss ein ganzheitlicher Nachhaltigkeitsansatz sein. [12, 13] Multifunktion und Mehrfachnutzen der Gebäudehülle machen eine Bauaufgabe nicht einfacher. Aber sie lösen vielfach Herausforderungen, um Planungs- und Nachhaltigkeitsziele synergetisch für das Ökosystem Stadt umzusetzen. LITERATUR [1] United Nations Department of Economic and Social Affairs, Population Division: World Population Prospects 2022: Summary of Results, New York, 2022. [2] Schweizer, S.: „Die Hängenden Gärten von Babylon“ Grünes Weltwunder. In: Deutschlandfunk Kultur - Lesart (26.03.2020). https: / / www.deutschlandfunkkultur.de/ stefan-schweizer-die-haengendengaerten-von-babylon-gruenes-100.html, abgerufen 07.2023. [3] Röhrlich, D.: Der Monsun und die Khmer. In: Deutschlandfunk (03.01.2012). https: / / www.deutschlandfunk.de/ der-monsun-und-die-khmer-100.html, abgerufen 07.2023. [4] Le Corbusier, Jeanneret, P.: Fünf Punkte zu einer neuen Architektur. In: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit Nr. 2 (1927), S. 272 - 274. [5] Meisenheimer, W.: Die Urhütte. In: Modelle als Denkräume, Beispiele und Ebenbilder (2018), Springer, Wiesbaden. [6] Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg): Klimaangepasste Gebäude und Liegenschaften, Bonn, 2021. [7] Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg): Förderrichtlinie Dach- und Fassadenbegrünung: Machbarkeitsstudie, Kurzfassung vom 21.01.2022, 2021, S. 39 ff. [8] Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (Hrsg): Weiterentwicklung des Klimaangepassten Bauens - KLIBAU, Bonn, 2020. [9] Pfoser, N., Jenner, N., Johanna Henrich, J., Heusinger, J., Weber, St.: Gebäude, Begrünung und Energie. Abschlussbericht, Darmstadt, 2023. [10] Bundesverband Gebäudegrün e. V.: Zentralverband des Dachdeckerhandwerks und Bundesverband GebäudeGrün beschließen Kooperation (14.06.2021). Gebaeudegruen-BUGG, abgerufen 07.2023. [11] DWA e. V. (Hrsg.): DWA-A 138 - Planung, Bau und Betrieb von Anlagen zur. Versickerung von Niederschlagswasser. [12] Bundesministerium für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (Hrsg.): Nachhaltiges Bauen, siehe BMWSB-Bauwesen, abgerufen 07.2023. [13] Schmidt, M.: Autarkie, Eigennutzung und natürlicher Wasserhaushalt. In: Ernst & Sohn (Hrsg.) Regenwasser-Management 2023. Svenja Binz, M.Sc. Architektin, Politikberaterin Schwerpunkt klimaangepasstes Bauen Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung Referat WB 6 Instrumente des ressourcenschonenden und klimaangepassten Bauens, Berlin Kontakt: svenja.binz@bbr.bund.de Dr.-Ing. Stefan Haas Architekt, Politikberater Schwerpunkt Klimaanpassung und Materialökologie Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung Referat WB 6 Instrumente des ressourcenschonenden und klimaangepassten Bauens, Berlin Kontakt: stefan.haas@bbr.bund.de AUTOR*INNEN Bild 7: Gartenbau auf einem Dach in Berlin Kreuzberg. © Raumstar Architekten 88 3 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FOKUS Fachliteratur IMPRESSUM Transforming Cities erscheint im 8. Jahrgang Herausgeber Eberhard Buhl, M.A. Verlag Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22, D-72270 Baiersbronn-Buhlbach Tel. +49 7449 91386.36 · Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de · www.trialog.de Redaktionsleitung Dipl.-Ing. arch. Christine Ziegler VDI (verantwortlich) Tel: +49 7449 91386.43 Fax: +49 7449 91386.37 christine.ziegler@transforming-cities.de Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 8 vom 01.01.2023 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 vertrieb@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist zum Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. Es ist untersagt, die Inhalte digital zu vervielfältigen oder an Dritte weiterzugeben, sofern nicht ausdrücklich vereinbart. Bezugsgebühren JahresAbo Plus - Inland (Print+ePaper+Archiv): 4 x gedruckte Ausgabe + elektronische Web-Ausgabe + Zugang zu allen bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 172,- (inkl. MwSt., zzgl. EUR 12,- Versandkosten) JahresAbo Plus - Ausland (Print+ePaper+Archiv): 4 x gedruckte Ausgabe + elektronische Web-Ausgabe + Zugang zu allen bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 172,- (mit UID ohne VAT, zzgl. EUR 25,- Versandkosten) JahresAbo ePlus - Inland (ePaper+Archiv): 4 x elektronische Web-Ausgabe + Zugang zu allen bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 160,- (inkl. 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Der Stadtgarten am westlichen Rand der Überlinger Altstadt ist nur 100 Meter vom Ufer entfernt, aber dadurch schon ausreichend vor den flanierenden, oftmals Eis essenden Spaziergängern der Seepromenade geschützt. Er liegt auf der Nordseite der Bahnhofstraße, idyllisch eingebettet zwischen einer Reihe alter Stadtvillen und der steil aufragenden Molasse-Felswand, an der zwischen 2010 und 2020 Uhus ein Versteck für ihren Brutplatz fanden. „Kaum eine zweite Stadt dürfte einen derart bevorzugt gelegenen öffentlichen Garten haben. Es ist eine ganze Landschaft auf gedrängtem Raum.“ Mit diesem Zitat aus dem Jahr 1952 des Konstanzer Autors Friedrich Schnack beginnt der 2023 gedruckte Stadtgartenführer. Er enthält 44 „Steckbriefe“ von Bäumen aus aller Welt, belaubten und benadelten Individuen, einschließlich Lageplan ihrer Standorte. Mit von der Partie, neben einem sechzigjährigen Chinesischen Rotholz, ist eine wenige Jahre alte Wollemie. Beide Arten galten als ausgestorben und haben wohl schon zur Zeit der Dinosaurier existiert. Einige lebende Spezies der Wollemie wurden in kleiner Zahl erst vor 25 Jahren in Australien entdeckt. Der Überlinger Autor Hansjörg Straub verbindet gekonnt und kurzweilig die botanischen Besonderheiten mit den historischen Details, ohne dabei die aktuellen Auswirkungen des Klimawandels auszusparen. In diesem Kontext spielen auch Insekten und Pilze als Störenfriede eine Rolle. Ihnen hat der Autor eine Doppelseite gewidmet. So auch anderen Aspekten von Flora und Fauna, den einzelnen Jahreszeiten und sonstigen Phänomenen, die direkten Bezug zur Botanik haben. Das lockert die ohnehin vielschichtige Beschreibung der Bäume zusätzlich auf und zeigt den ungeahnt großen Querschnitt der Themen, mit denen sich die Stadtgärtnerei an diesem Ort seit 1875 beschäftigt. Das Buch entspricht in puncto Qualität dem beschriebenen Stadtgarten selbst, ist wie dieser auf den zweiten Blick voller Überraschungen. Nutzerfreundlich sind das handliche A5-Format und die englische Broschur der Druckschrift, mit dem Lageplan der Baumstandorte im Umschlag. Und beim Durchblättern wird deutlich, dass die Bilder etwas mehr Platz beanspruchen als der Text. Sie stammen alle vom Überlinger Fotografen Johannes Beller, sind in enger Abstimmung mit dem Autor entstanden, wurden mit Hilfe einer ortsansässigen Agentur grafisch professionell ausgewählt und inszeniert. Das dafür ausgewählte hochwertige Papier macht das Buch zu einem stattlichen Bildband. Dass dies nicht auf den Kaufpreis durchgeschlagen hat, ist dem Verschönerungsverein Überlingen e. V. als Herausgeber und den beiden Sponsoren zu verdanken. Das Buch will kein botanisches Lehrwerk sein. Es bietet eine hochwertige Lektüre zu einem historisch gewachsenen Landschaftspark, zu einem lebendigen Gesamtkunstwerk - und ist damit ein sehr empfehlenswerter Begleiter zum Staunen und Entdecken für aufmerksame Besucher des Überlinger Stadtgartens. Hansjörg Straub: Der Überlinger Stadtgarten. Mit zahlreichen Fotografien von Johannes Beller. 1. Auflage Juni 2023, Format A5, englische Broschur, 152 Seiten, ca. 200 farbige Abb., 15,00 €, ISBN 978-3-00-075665-8 Hansjörg Straub: Der Überlinger Stadtgarten Rezension von Klaus W. König Junge Uhus. © König Urweltmammutbaum. © Beller © Beller Die urbane Verkehrswende Am 4. Dezember 2023 erscheint die nächste Ausgabe von Transforming Cities mit dem Themenschwerpunkt  Unterwegs in der Stadt  Neue Mobilitätskonzepte  Verkehr reduzieren, Emissionen mindern  Mit dem Rad oder zu Fuß  Straßenraum, Verkehrsraum, Lebensraum  Wohnen und arbeiten kombinieren  Urbane Logistik und Lieferdienste  Elektromobilität und neue Kraftstoffe