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Transforming cities
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expert verlag Tübingen
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Wie klimaneutrale Mobilität gelingen kann Wie klimaneutrale Mobilität gelingen kann Quartierskonzepte | Zufußgehen | Radfahren | ÖPNV | Serious Gaming Quartierskonzepte | Zufußgehen | Radfahren | ÖPNV | Serious Gaming 4 · 2023 URBANE SYSTEME IM WANDEL. DAS TECHNISCH-WISSENSCHAFTLICHE FACHMAGAZIN Die urbane Verkehrswende All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren Trialog Publishers Verlagsgesellschaft | Baiersbronn | service@trialog.de 1 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, wo bleibt die Verkehrswende? Trotz jahrzehntelanger Aufrufe, Studien und politischer Redebeiträge sind vor allem vier Problembereiche immer noch weitgehend ungelöst. Klimagase: Rund 20 Prozent des in Deutschland ausgestoßenen Kohlendioxids entstehen bei der Verbrennung fossiler Kraftstoffe im Straßenverkehr. Der Kampf gegen den Klimawandel sollte also auch im Verkehrssektor höchste Priorität haben. Aber die bisher beschlossenen Klimaschutzmaßnahmen reichen bei Weitem nicht aus, um den CO 2 -Ausstoß auf den Straßen zumindest auf ein annehmbares Maß zu reduzieren. Laut Projektionsbericht der Bundesregierung kann das Sektorziel bis zum Jahr 2030 nicht erreicht werden. Geniale Lösung: Das Sektorziel wird aufgegeben. Luftverschmutzung: Die schlechte Luft in Städten, ein Cocktail aus Schadstoffen wie Stickoxide, Feinstaub und Ozon, wird hauptsächlich durch den Straßenverkehr verursacht. Die meisten Stadtbewohner sind Schadstoffwerten ausgesetzt, die über den Richtwerten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegen. Dabei birgt Luftverschmutzung erhebliche Gesundheitsrisiken. Allein in Deutschland waren im Jahr 2020 rund 28 900 Todesfälle auf Feinstaubbelastung zurückzuführen. Verkehrsstaus: Laut ADAC standen Verkehrsteilnehmer vergangenes Jahr rund 330 000 Stunden im Stau, auf einer Strecke von zusammengerechnet über 733 000 Kilometern. Volkswirtschaftlich betrachtet entstehen durch die Verschwendung von Zeit und Ressourcen im Stau sowie die zusätzlich verursachte Umweltbelastung immense Kosten. Verkehrsexperten berechnen direkte und indirekte Kosten von rund 80 Milliarden Euro pro Jahr. Flächenverbrauch: Ein großer Teil des öffentlichen urbanen Raums ist Verkehrsfläche - für den rollenden, vor allem aber auch für den ruhenden Verkehr. Paradoxerweise wird das eigene Auto am wenigsten für Mobilität eingesetzt. Gut 90 Prozent des Tages stehen Autos auf Parkplätzen, also auf Flächen, die eigentlich der Allgemeinheit gehören. Städtische Flächen sind jedoch begrenzt, sie werden wegen des andauernden Zuzugs dringend für neuen Wohnraum und für Orte des sozialen Lebens gebraucht, vor allem aber für mehr Wasser- und Grünflächen, sogenannte blau-grüne Infrastrukturen, um das Stadtklima zu verbessern. Das alles sollte Grund genug sein, sofort beherzt zu handeln. Doch der große nationale Wurf ist nicht in Sicht. Warum nur? Liegt es am Geld? An der Bürokratie? Am politischen Willen? Ein Lichtblick: Auf lokaler Ebene sind die Menschen längst weiter. Viele einzelne Projekte in großen und kleinen Kommunen zeigen, dass vor Ort in Sachen Mobilität einiges in Bewegung kommen kann, wenn sich Bürger engagieren. Lesen Sie mehr dazu in dieser Ausgabe - von innovativen Ideen, guten Ansätzen und vielversprechenden Forschungsaktivitäten zur urbanen Verkehrswende. Christine Ziegler Redaktionsleitung „Transforming Cities“ Die urbane Verkehrswende 2 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES INHALT 4 · 2023 FORUM Standpunkt 4 Automatisch fahren, auch in der Stadt - wollen wir das? Hartmut Topp Veranstaltungen 6 36. Oldenburger Rohrleitungsforum 2024 KI - Wertschöpfungspotenzial in neuer Dimension? PRA XIS + PROJEKTE Stadtraum 8 Stadt der Zukunft: sozial und nachhaltig Nachhaltige Stadtentwicklung ist für stabile Demokratien zentral Kerstin von Aretin Mobilität 12 Einfache, kostengünstige Lösungen für nachhaltige Mobilität Förderung von Innovation und E-Mobilität in fünf europäischen Städten 16 Kompass für Kommunen Aufbau öffentlicher Ladeinfrastruktur Martin Huber, Johannes Bracke 18 Elektromobilität in der Stadt: Das ist der Schlüssel André ten Blomendal 20 H 2 -Nutzung ins Rollen bringen Shaun Pick, Lena Maier 23 Einfach implementierbare Plug-and-play- Lösung Umsetzung der funktionalen Sicherheit in Car-Liftern für Applikationen ohne Innentüren Yasin Yasar 26 Schwebend ins neue Viertel Seilbahnen als innovative Mobilitätslösung für neue Stadtquartiere Robin Bischof, Han Joosten THEMA Die urbane Verkehrswende 30 Bedeutungsplan Fußverkehr in Leipzig GIS-basierte Methodik als Basis für die strategische Netzentwicklung Friedemann Goerl, Frederik Sander, Robert Guschel, Caroline Koszowski, Regine Gerike 36 Mobilitätskomfort und Sicherheitsempfinden für die urbane Verkehrswende Radfahren, Produkte und Services im Fokus Céline Schmidt-Hamburger, Nina Haug, Nicolaj Motzer, David Agola, Martin Moser, Maximilian Heinke, Bernd Resch, Peter Zeile 42 Pendelmobilität nachhaltiger gestalten Mobilitätsexperimente als neue Ansätze für Veränderungen Jutta Deffner, Jason Neuser, Luca Nitschke Seite 4 Seite 8 Seite 12 © LIFE-Magazine, 1956 © Marc Beckmann © Stadt Brügge, Jan D’Hondt 3 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES INHALT 4 · 2023 46 Das Deutschlandticket im Kontext der Stadt- Land-Diskussion Wirkungsmechanismus am Beispiel des Hamburger Verkehrsverbunds (hvv) Andreas Krämer, Anna Korbutt 53 Straßenbahntrassen als energetische Gunsträume Städtebauliche Integration technischer Infrastrukturen bei der Energiewende Christian Larisch, Sarah Hermens, Jannik Wendorff 58 Verhaltensveränderung durch Incentivierung und Gamification Projekt MaaS L.A.B.S. Anke Sauerländer-Biebl, Antje Michel, Christian Berkes, Katharina Lange, Johannes Scherbarth, Titus Wagner, Thomas Wanke 62 Das MobileCityGame Gamification für die Mobilitätswende Claus Doll, Susanne Bieker, Dorien Duffner-Korbee, Konstantin Krauss 67 Bürgerbeteiligung für eine erfolgreiche Verkehrswende Luisa Ritter, Jana Stahl, Hans- Joachim Linke 72 Bauherrschaften für die Verkehrswende Oberursel motiviert zu Mobilitätskonzepten bei Neubauten Uli Molter, Volker Blees, Markus Vedder 77 Ländlich wohnen und mobil sein ohne Auto Richard Kemmerzehl 80 Infrastruktur- Management für Ladelösungen Anwendungsbezogene Praxislösungen für E-Autos als Baustein der urbanen Verkehrswende Philipp Riegebauer 84 Der Beitrag von Mobiltelefonen und intelligenten Arbeitszeitmodellen für die Verkehrswende Michael Heller, Dennis Dreher, Lutz Gaspers 88 Maßnahmensensitives Verkehrs- und Klimamonitoring (GoGreen) Jasmin Rychlik, Jan Kätker, Tom Schilling, Christian Seidel 92 Feinmobilität statt neuer Stadtmauern Hohe Autos versperren Straßenraum, blockieren Sichtbeziehungen, verhindern Orientierung Konrad Otto-Zimmermann PRODUKTE + LÖSUNGEN Mobilität 96 Testflug: Volocopter fliegt über New York City 96 Impressum Seite 53 Seite 58 © Sarah Hermens Seite 67 © Gerd Keim © Tom und Nicki Löschner auf Pixabay 4 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FORUM Standpunkt Auf Autobahnen schon heute, auf vierstreifigen Landstraßen mit Mitteltrennung und auf weitgehend anbaufreien städtischen Magistralen mit Tempo 50 ab etwa 2035 ist automatisiertes Fahren kein Problem - im Gegenteil, der Verkehr wird entspannter und sicherer durch automatische Einhaltung von Tempolimits und Fahrzeugabständen, wie wir das bereits vom assistierten Fahren kennen. Aber wie sieht es aus auf multifunktionalen Stadtstraßen mit Fuß- und Radverkehr, ÖPNV und Autoverkehr? - „in hochkomplexen Umfeldern wie urbanen Räumen“ [3]. Wird es wirklich die schöne neue Welt des Stadtverkehrs, wie in Bild 2 suggeriert? Und passend dazu: „Der City-Pilot kann … im gesamten urbanen Umfeld die Steuerung bis zu einer Geschwindigkeit von 50 km/ h übernehmen“ [3], und im Forschungsprojekt STADT: up [4] geht es um „neue, KI-basierte Methoden … bei komplexen Verkehrssituationen“. Tatsächlich ist es komplizierter oder einfacher - je nachdem, wie man es betrachtet. Gehende und Radfahrende können automatisch fahrende Autos ohne Risiko ausbremsen, da deren Software aus Gründen der Sicherheit so ausgelegt sein muss - „Notbremsassistent mit Fußgängererkennung“ [3, 5]. Es ist ein Unterschied, ob man Autolenkenden ins Auge schaut oder ob man einen Automaten in Form eines Roboterautos vor sich hat. Wenn automatisch gefahren wird, ohne Blickkontakt und mit der Garantie des Anhaltens, kann querender Fuß- und Radverkehr den automatischen Autoverkehr jederzeit stoppen [6]. Und im nachgeordneten Straßennetz mit Shared Space und dem dort üblichen Miteinander aller kämen automatisch fahrende Autos kaum weiter. Nun könnte man argumentieren, dass das Automatisch fahren, auch in der Stadt - wollen wir das? Hartmut Topp Das selbstfahrende Auto ist ein alter Traum (Bild 1), der heute mit vollautomatisiertem und künftig mit autonomem Fahren - so die Fachbegriffe für die Stufen 4 und 5 zum selbstfahrenden Auto [1] - technisch wirklich wird. Was noch fehlt, sind rechtliche Regelungen, insbesondere zu Fragen der Haftung bei einem Unfall, der ja nie völlig auszuschließen ist. Bild 1: Familie beim Domino-Spiel im Pontiac Plexiglas-Coupé. © LIFE-Magazine, 1956 Bild 2: Schöne neue Welt des Stadtverkehrs? [2] © Daimler AG 5 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FORUM Standpunkt ja Gehende bevorteilt. Aber was ist dann mit dem Autoverkehr? Wenn der weiter fließen soll, müsste „illegales“ Queren auf der Strecke zwischen Knotenpunkten und auch das Queren an roten Ampeln verhindert werden. Bei ROT gehen, wenn kein Auto kommt, ist in bestimmten überschaubaren Situationen heute gängige Praxis. Der Appell, dies nicht zu tun, wenn Kinder in der Nähe sind (Bild 3), wird nicht von allen befolgt. Intelligente Ampeln, wie in Wien, mit Erfassung des Fuß- und Radverkehrs und des Autoverkehrs, vermeiden das, indem sie GRÜN entsprechend der aktuellen Nachfrage verteilen [7]. Ein (falscher) Ansatz für einen störungsarmen automatischen Autoverkehr wäre die Einzäunung der Fahrbahn, wie zum Beispiel in Tokyo (Bild 4). Dort werden Straßen in Wohnquartieren häufig als Shared Space gestaltet, aber in einigen Hauptverkehrsstraßen zwischen den Quartieren sind die Fahrbahnen eingezäunt - auch ohne automatischen Autoverkehr. Auch in deutschen Städten gibt es Zäune zur Unterbindung von Querungen, hier allerdings im Mittelstreifen (Bild 5) - optisch weniger störend. Aber wollen wir die Freizügigkeit des Fußverkehrs in unseren Städten zu Gunsten eines automatischen Autoverkehrs weiter einschränken? Nein, (mehr) Zäune sind kein geeigneter Ansatz. Und Gesichtskontrollen wie in China kommen erst recht nicht in Frage. Das entspricht nicht unserer Vorstellung von Offenheit und Stadt. Wie sieht eine Lösung aus, die im Stadtverkehr Fuß- und Radverkehr, ÖPNV und Autoverkehr einschließlich LKW gleichermaßen berücksichtigt und Zäune vermeidet? Autofahrende müssten bei Einfahrt in die Stadt vom automatischen in den manuellen Modus wechseln. Und das muss verkehrsrechtlich durchgesetzt werden. So wird ein verträgliches Miteinander aller am Verkehr Teilnehmenden gefördert unter Bedingungen, die wir gewohnt sind. Das ist insbesondere auch für den manuell fließenden Autoverkehr von Vorteil und kommt ohne Einzäunung der Fahrbahn (Bild 4) aus. LITERATUR [1] ADAC: Autonomes Fahren: Die 5 Stufen zum selbstfahrenden Auto, (2021). [2] ADAC: Autonomes Fahren: So fahren wir in Zukunft, (2023). [3] Prognos: Einführung von Automatisierungsfunktionen in der PKW-Flotte. Auswirkungen auf Bestand und Sicherheit, (2018). [4] STADT: up - Konsortium: Solutions and Technologies for automated Driving in Town: An urban Mobility Project, (2023). [5] O’Neill, D.: Communication is Key. Wenn Verkehrsteilnehmer miteinander sprechen. polis- MOBILITY, (2022) S. 54 - 57. [6] Forschungsgesellschaft für das Straßen- und Verkehrswesen: Chancen und Risiken des autonomen und vernetzten Fahrens aus der Sicht der Verkehrsplanung. FGSV-Bericht, (2020). [7] Possegger, H.: Fußgängerampeln mit Intelligenz - ab Ende 2020 in ganz Wien, TU Graz (2019). https: / / w w w.internationalesverkehrs wesen.de/ fussgaen gerampeln-mit-intelligenz-abende-2020-in-ganz-wien/ Bild 3: (oben links) Gehende queren bei ROT, „Es kommt doch kein Auto“. © topp.plan Bild 4: (oben rechts) Fahren auf eingezäunten Fahrbahnen, hier in Tokyo. © Glotz-Richter Bild 5: (unten) Zaun im Mittelstreifen verhindert das Queren, hier in Kaiserslautern. © topp.plan Prof. Dr. Hartmut Topp topp.plan: Stadt.Verkehr.Moderation Kontakt: topp.plan@t-online.de AUTOR 6 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen Wirtschaftlicher Hoffnungsträger Künstliche Intelligenz gilt als zukunftsweisende Technologie. Doch was eigentlich ist künstliche Intelligenz und wie wird sie unser Leben verändern? Künstliche Intelligenz - so eine von vielen Definitionen - ist die Fähigkeit einer Maschine, menschliche Fähigkeiten wie logisches Denken, Lernen, Planen und Kreativität zu imitieren. Sie ermöglicht es technischen Systemen, ihre Umwelt wahrzunehmen, mit dem Wahrgenommenen umzugehen und Probleme zu lösen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Der Computer empfängt Daten, verarbeitet sie und reagiert. In 36. Oldenburger Rohrleitungsforum 2024 KI - Wertschöpfungspotenzial in neuer Dimension? Wenn sich die Tiefbaubranche am 8. und 9. Februar 2024 auf dem 36. Oldenburger Rohrleitungsforum in den Weser-Ems-Hallen in Oldenburg versammelt, wird das Leitthema der Veranstaltung für reichlich Diskussionsstoff sorgen: „Wasser, Abwasser, Strom, Gase - mit Künstlicher Intelligenz in die Zukunft“ lautet das Motto, um das sich (fast) alles drehen wird. „In den Vortragsreihen ebenso wie an den Ständen in der begleitenden Fachausstellung oder beim persönlichen Netzwerken sowie in der „Diskussion im Panorama Cafe“ und dem „Ollnburger Gröönkohlabend“ - davon ist Prof. Thomas Wegener überzeugt. Nach Aussage des Vorstandsmitglieds des Instituts für Rohrleitungsbau an der Fachhochschule Oldenburg e. V. und des Geschäftsführers der iro GmbH Oldenburg bezogen sich überraschend viele der zum Forum eingereichten Themen auf das gewählte Leitthema und haben damit die Entscheidung des iro-Beirats, die Künstliche Intelligenz (KI) in den Mittelpunkt des Forums 2024 zu stellen, als Volltreffer bestätigt. Folgerichtig werden die Besucher in den 30 Themenblöcken domänenübergreifend Beiträge zu digitalen Prozessen auch und gerade in der Betriebsführung finden. den vergangenen Jahren sind im Bereich der KI enorme technologische Fortschritte erzielt worden. KI wird aus Sicht der Bundesnetzagentur deshalb als eine der zentralen Technologien und als ein treibender Faktor bei der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft angesehen. In allen Wertschöpfungsstufen könnten auf Basis von KI zum Beispiel Kosten gesenkt, Prognoseverfahren verbessert oder auch ganz neue Geschäftsmodelle und Anwendungen entwickelt werden (aus: Künstliche Intelligenz in den Netzsektoren Bericht über den Marktdialog der Bundesnetzagentur, Stand: Dezember 2021). Neue Sichtweise schaffen Doch welche Bedeutung wird das für die Branche - insbesondere Verfahren, Produkte und Arbeitsabläufe - haben, wenn Maschinen intelligenter werden? KI ist im Moment das Bestreben, Prozesse weiter zu digitalisieren und zu automatisieren. KI ist heute nicht unbedingt intelligent, sondern bildet komplexe Entscheidungsprozesse ab. Viele verstehen unter KI Digitalisierung über Automatisierung bis hin zu Logarithmen. Es wird also spannend bleiben, die Entwicklung in den nächsten Jahren aufmerksam zu verfolgen. Das 36. Oldenburger Rohrleitungsforum will hierbei eine Orientierungshilfe geben und eine Plattform für das interdisziplinäre Netzwerken bieten, um den teilweise noch recht unklaren Vorstellungen eine Struktur zu geben und einen neuen Blick in die Zukunft zu werfen. Vorlage am Eröffnungsabend Bereits am Eröffnungsabend, der wieder im Sitzungssaal des ehemaligen Landtagsgebäudes von Oldenburg stattfinden wird, werden die traditionellen Eröffnungsvorträge die thematische Bild 1: Beim 36. Oldenburger Rohrleitungsforum, das am 8. und 9. Februar 2024 in den Weser-Ems-Hallen in Oldenburg stattfindet, geht es um „Wasser, Abwasser, Strom, Gase - mit Künstlicher Intelligenz in die Zukunft“. © iro 7 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES FORUM Veranstaltungen Vorlage für die fünf Vortragsreihen des Forums geben. Welche Rolle wird KI in Bezug auf den Betrieb unserer Wasser-, Abwasser-, Strom- und Gasnetze spielen? Den aktuellen Stand in Forschung und Praxis spiegeln die 30- Vortragsblöcke wider. Fachleute der Branche berichten unter anderem über den „Umgang bei Kanal-TV-Inspektionen mit der KI aus Sicht der Auftraggeber“ und stellen die „Anwendung von KI bei komplizierten Bauvorhaben in Planung und Bau am Beispiel einer Salzwasserpipeline“ vor. Zudem schildern Vertreter großer Kommunen und Verbände ihre Erfahrungen bei der Anwendung von Künstlicher Intelligenz etwa bei der Erstellung von Modellen des Untergrunds, im smarten Brunnenbetriebsmanagement, in der strategischen Netzplanung oder bei der Starkregenfrühwarnung. Gleichzeitig werden Möglichkeiten und Grenzen der KI-gestützten Sanierungs- und Strategieplanung von Abwassernetzen vor dem Hintergrund von Infrastrukturerhalt und Fachkräftemangel aufgezeigt. LNG erobert Versorgungswirtschaft Ähnlich spannend wird es in der Vortragsreihe ablaufen, in der es um Wasserstoff und Erdgas geht. Erobert Flüssigerdgas (LNG) unsere Versorgungswirtschaft? Die Teilnehmer am Forum können sich auf eindrucksvolle Beispiele zu „Strategien und Herausforderungen bei Planung und Ausführung“ etwa zum „Bau einer Pipeline unter dem LNG- Beschleunigungsgesetz“ freuen, ebenso wie auf einen Bericht über die „ETL 180 Anbindung“, über die das am Terminal in Brunsbüttel ankommende Flüssiggas (LNG) in das Gasversorgungsnetz eingespeist werden soll. Weitere Referenten berichten von „Softwaregestützter Bewertung der Wasserstofftauglichkeit von Rohrleitungen auf Basis von GIS-Daten“ und über „Digitales Rohrbuchdatenmanagement “. Praxisbeispiele über Wasserstoff in der Transportkette - zum Beispiel „Get H2 - das erste deutsche Wasserstofftransportnetz“ oder über die „H2-Erweiterung des Kavernenspeichers Epe“ runden diesen Vortragsblock ebenso ab, wie die Diskussion über „Wasserstoff in Regelwerk und Praxis“. Klassiker und weitere Themen Darüber hinaus wird dem Kabelleitungsbau ausreichend Platz eingeräumt, ebenso wie den sogenannten Klassikern. Innovative Kabelverlegetechniken werden vorgestellt. Hersteller von Rohrsystemen aus den bekannten Werkstoffen stellen ihre neusten Entwicklungen vor und kommen genauso zu Wort wie die Anbieter von grabenlosen Verlegetechniken. Und dem Klientel, das sich mit kathodischem Korrosionsschutz (KKS) beschäftigt, wird ebenfalls Platz eingeräumt: „KKS und KI - geht das überhaupt? “ Ansätze zum Einsatz von KI im Außenkorrosionsschutz von Pipelines sollen erste Impulse geben. Last but not least darf auch eine Bestandsaufnahme der zunehmenden Digitalisierung in der Branche nicht fehlen - ein Bereich, der auch die letzten Foren inhaltlich beeinflusst hat. Wie weit fortgeschritten ist Building Information Modeling, kurz BIM? „Machine Learning und KI in Planung und Netzinstandhaltung“ sowie „Innovationen in der Pipelineentleerung - Vermeidung von Methanemissionen in Theorie und Praxis“ stehen darüber hinaus ebenso auf der Tagesordnung wie die Diskussion über Cyberangriffe und Cybersicherheit. „Freuen können sich die Besucher der 36. Auflage des Oldenburger Rohrleitungsforums natürlich auf tradierte Programmpunkte wie den allseits beliebten „Ollnburger Gröönkohlabend“ oder die Diskussion im Panorama Cafe“ erklärt Wegener, für den die kommende Veranstaltung die letzte von ihm thematisch vorbereitete sein wird. Auch mit dem Umzug von der Ofener Straße in die Weser-Ems-Hallen hat sich das Projekt-Team angefreundet. „Insbesondere aufgrund der vielen logistischen und sicherheitstechnischen Vorteile, aber auch aufgrund des großzügigeren Raumangebots in den Hallen und auf den Freiflächen haben wir durchweg positive Rückmeldungen von Ausstellern und Besuchern erhalten“, so Wegener weiter. „Das bestärkt uns darin, das neue Konzept konsequent weiter umzusetzen. Wobei natürlich möglichst viel vom einmaligen Charme und der persönlichen und sympathischen Note des Forums erhalten bleiben soll. Konsequent werden deshalb weiterhin Studentinnen und Studenten das Bild des Forums mit prägen.“ Institut für Rohrleitungsbau an der Fachhochschule Oldenburg e. V. Ofener Straße 16/ 19 26121 Oldenburg E-Mail: info@iro-online.de KONTAKT Bild 2: Der Einsatz von KI bei der Zustandserfassung von Kanalleitungen unterstützt die Netzbetreiber bei der digitalen Auswertung und Planung von Sanierungsarbeiten. © REMONDIS 8 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Mit dem Begriff der Nachhaltigkeit verbindet die Gesellschaft in erster Linie die ökologische Dimension - also umweltfreundliches und ressourcenschonendes Handeln. Politik und Wirtschaft haben in diesem Kontext zahlreiche Programme entwickelt, die zur Erreichung der Klimaschutzziele und Eindämmung der Erderwärmung beitragen. Dazu zählen beispielsweise Maßnahmen zur CO 2 -Einsparung und Optimierung der Energieeffizienz. Völlig außer Acht gelassen wird dabei häufig, dass Nachhaltigkeit auch eine soziale und politische Komponente umfasst. Dies kommt auch in den ESG-Prinzipien (Environment, Social und Governance) zum Ausdruck, einem umfassenden Regelwerk zur Bewertung der nachhaltigen und ethischen Praxis von Unternehmen und öffentlichen Institutionen. In Zukunft wird es daher immer wichtiger, dass im Rahmen einer nachhaltigen Stadtentwicklung auch soziale Kriterien in hohem Maße berücksichtigt werden. Dies ist aktuell noch nicht immer der Fall, wie Wechselwirkungen zwischen ökologischen Maßnahmen und sozialer Gerechtigkeit zeigen. Werden beispielsweise die Grünflächen in einer Stadt erweitert, steigen gleichzeitig die Immobilienpreise massiv an, was potenzielle Käufer und Wohnungssuchende vor Probleme stellt. Verbannt der Magistrat sämtliche Autos aus dem Stadtzentrum, erschwert dies den Zugang für ältere Menschen oder Besucher aus ländlichen Regionen. Auch wenn die Maßnahmen auf den ersten Blick richtig und sinnvoll erscheinen, müssen dennoch Aspekte der sozialen Gerechtigkeit stärker berücksichtigt werden. Wie wichtig der Handlungsbedarf hier ist, verdeutlicht auch folgendes Beispiel: So verschließt sich für sozial schwächere Menschen immer mehr der Zugang zu Infrastrukturen, welche die Daseinsvorsorge gewährleisten und damit die Lebensqualität erhöhen. Die Bewohner können oft nur schlecht ausgestattete Schulen besuchen oder Wohnraum mit geringem Standard nutzen. Menschen mit wenig Einkommen oder Migrationshintergrund sind häufig gezwungen, in preisgünstigen Vororten oder auf dem Land zu wohnen und somit einen hohen Zeitaufwand für das Pendeln zur Arbeit in Kauf zu nehmen. Zudem sind diesen Bürgern viele Möglichkeiten für attraktive Jobs, Freizeitgestaltung, Dienstleistungen oder kulturelle Aktivitäten schlichtweg verbaut, da der Weg in die Innenstadt einfach zu lange dauern würde. Nachhaltige Städte sollten sich daher ihrer Verantwortung stellen und zielführende Antworten auf solche sozialen Benachteiligungen finden. Stadt der Zukunft: sozial und nachhaltig Nachhaltige Stadtentwicklung ist für stabile Demokratien zentral Kerstin von Aretin Städte rund um den Erdball sehen sich in den kommenden 20 bis 30 Jahren mit enormen Herausforderungen konfrontiert: Zu erwarten ist, dass die Einwohnerzahlen weiter massiv steigen und die Migration einen neuen Höchststand erreicht. Zudem werden die Städte zunehmend mit den Auswirkungen des Klimawandels und weltweiter geopolitischer Krisen sowie mit den Langzeitfolgen der Covid-19-Pandemie zu kämpfen haben. Dieser Druck führt langfristig zu sozialer Ungleichheit und das wiederum durch Radikalisierungen zu einem Druck auf Demokratien. Die Verantwortlichen in den Städten müssen darauf reagieren und Konzepte entwickeln, die Nachhaltigkeit mit sozialer Fairness verbinden. Dazu gehört es auch, den Menschen einen gleichberechtigten Zugang zu Wohnraum, Bildung, sauberer Luft, gesunder Ernährung und sozialen Netzwerken zu ermöglichen. Das RISE Cities-Programm der BMW Foundation Herbert Quandt ist ein konsequenter Schritt in diese Richtung. Bild 1: Soziale Dimension der Stadtentwicklumg. © Marc Beckmann 9 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum Rahmenbedingungen für gerechten Immobilienmarkt Dies stellt die Verantwortlichen in den Kommunen allerdings vor große Herausforderungen: Denn in vielen Städten ist bereits ein harter Wettbewerb um Wohnungen, Parks und Gewerbeflächen entbrannt, der einer nachhaltigen Entwicklung entgegensteht. Hier ist die Politik gefordert, um die richtigen Rahmenbedingungen für einen gerechten und sozial verträglichen Markt in den Städten zu schaffen. So darf sich der Fokus beispielsweise nicht ausschließlich auf eine profitable Immobilienentwicklung richten. Auch wenn eine gewisse Rentabilität wichtig ist, müssen dennoch dem Profit Grenzen gesetzt werden. So erscheint es unumgänglich, einen Teil der neu geplanten Hausprojekte für den sozialen Wohnungsbau zu reservieren. Hamburg etwa geht hier mit gutem Beispiel voran: Die Hansestadt hat große Teile ihrer Immobilienplanung an die strikte Vorgabe geknüpft, dass ein Drittel zum Verkauf, ein Drittel zur Miete und ein Drittel für den sozialen Wohnungsbau vorgesehen ist. Ein interessanter Nebeneffekt dabei: Es entstehen heterogene Stadtviertel mit einer gemischten Bevölkerungsstruktur. Von sozial schwächeren Menschen über die Mittelschicht bis hin zu Spitzenverdienern leben alle in unmittelbarer Nachbarschaft. Dies ist ein Paradebeispiel für Integration und ebnet den Weg für eine neue Dimension der Gerechtigkeit - mit gleichen Chancen für alle, sei es hinsichtlich gesunden Lebensraums, Zugang zu qualitativ hochwertigen Schulen, maximaler öffentlicher Sicherheit oder eines umfassenden Angebots an Dienstleistungen. Um solche Konzepte in den Städten flächendeckend umzusetzen, bedarf es eines Umdenkens - sowohl bei den Verantwortlichen als auch bei den Bürgern, die dort leben. Wie können also Städteplaner konkret vorgehen? Wichtig ist die Kreation von Prozessen, bei denen der Mensch im Mittelpunkt steht. Dies setzt verschiedenste Aspekte voraus. Im ersten Schritt empfiehlt es sich, große Mengen Daten zu erfassen, zu sammeln und substanziell auszuwerten. Dadurch entsteht ein klares Abbild der Realität: Was charakterisiert die Bewohner und welchen Zugang zu bestimmten Möglichkeiten haben sie - oder auch nicht? Auf Basis dieser Erkenntnisse lassen sich dann konkrete Entscheidungen treffen, die auf Fakten beruhen, anstatt auf subjektiven Wahrnehmungen oder Spekulationen. Mit einfließen müssen dabei auch alle relevanten rechtlichen Aspekte wie beispielsweise Bauvorschriften. RISE Cities-Programm Eines sollte den Verantwortlichen bewusst sein: Zur Schaffung sozial nachhaltiger Städte gibt es viele unterschiedliche Ansätze, was die Planung und Gestaltung sowie das Verständnis von Führung betrifft. Die Kunst besteht darin, einen optimierten und balancierten Weg zu finden. Um diese Herausforderung zu meistern, hat die BMW Foundation das RISE Cities-Programm ins Leben gerufen. Hierbei steht RISE für Resilient, Intelligent, Sustainable und Equitable. Dementsprechend ist es zentrales Ziel der Initiative, das globale Wissen über resiliente, intelligente, nachhaltige und gerechte Städte zu fördern. In diesem Kontext werden lokale Ökosysteme, die Fähigkeit zu sektorübergreifender Zusammenarbeit und die Beteiligung der Einwohner gestärkt, um bürgernahe Lösungen zu schaffen. Dabei bringt die BMW Foundation ihre langjährige Erfahrung im Aufbau von Gemeinschaften und ihr profundes Wissen über den sektorübergreifenden Austausch ein. So soll durch das RISE Cities-Programm eine Plattform geschaffen werden, die alle städtischen Akteure einbezieht. Ziel dabei ist es, neue Strategien und Projekte für eine nachhaltige Stadtentwicklung zu identifizieren und umzusetzen. Zudem verfügt die BMW Foundation über reichlich Erfahrung Bild 2: Neue, hochwertige Stadträume fördern die Begegnung und sorgen für soziale Kontakte. © Marc Beckmann 10 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum mit evidenzbasierten Planungs- und Designprozessen sowie über eine hohe Leadership-Expertise. Das RISE Cities-Programm dient letztendlich dazu, das Beste aus beiden Welten zusammenzubringen. Lösungen für Bevölkerungsdichte und Platzmangel Darüber hinaus sehen sich die Städteplaner mit einer weiteren Herausforderung konfrontiert: So sind insbesondere Europas Städte in der Regel sehr dicht besiedelt und von alter Bausubstanz geprägt. Es ist kaum möglich, diese gewachsenen Strukturen grundlegend zu ändern und das Stadtbild neu zu formen. Daher muss ein Weg gefunden werden, um mit der hohen Bevölkerungsdichte und dem Platzmangel adäquat umzugehen. Eine Lösung hierfür kann darin bestehen, das Potenzial an Nachverdichtung zu nutzen und es sinnvoll mit Nachhaltigkeitskriterien zu kombinieren. Auf diese Weise lassen sich in einer Stadt viele neue, hochwertige Räume schaffen. Möglich ist es beispielsweise, in hohem Maße mit natürlichen Materialien wie Holz zu arbeiten sowie Dächer und Wände zunehmend zu begrünen. Durch gezielte Investitionen in die Sanierung unansehnlicher Hinterhöfe lassen sich neue, urbane Gartenräume erschaffen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, ineffiziente, ebenerdige Innenhofgaragen zu entfernen und auf diesem Areal mehrstöckige Häuser zu errichten, die zusätzlichen Wohnraum bieten. Letztendlich ist immer der Wille der Planer entscheidend, eine Stadt neu zu gestalten und die Verantwortung für eine kreative, urbane Transformation zu übernehmen. Zudem ist es bei der Planung von essenzieller Bedeutung, stets ein für Menschen adäquates Maß zu finden. Dies bedeutet etwa, dass kompakte, mittelhohe Gebäude möglicherweise zielführender sind als Hochhäuser. Denn Letztere schaffen häufig tote Räume, in denen die Menschen voneinander getrennt sind. Und in puncto Mobilität überzeugen fußgänger- und fahrradfreundliche Konzepte, die durch ein dichtes Netz an öffentlichen Verkehrsmitteln ergänzt werden. Eine Stadt im menschlichen Maßstab ist demnach ein lebendiger Ort, der Verbindungen zwischen den Einwohnern schafft. Pro-Kopf-Lebensraum steigt kontinuierlich Dazu kommt ein weiteres Kriterium: So hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten der Lebensraum einer einzelnen Person von Jahr zu Jahr vergrößert - und damit auch der jeweilige CO 2 - Fußabdruck. Wichtig ist es daher, auf kleinerem Raum eine hohe Wohnqualität zu schaffen. Das international renommierte Architekturbüro für Städtebau und -entwicklung Gehl Architects 1 hat anhand von Befragungen untersucht, wie viel Platz die Menschen tatsächlich benötigen. Dabei wurden Daten darüber erhoben, wie viele Personen beispielsweise durch eine bestimmte Straße gehen und welche Distanz sie zueinander akzeptieren. Hierbei gibt es weltweit große kulturelle Unterschiede. Was den benötigten Wohnraum anbetrifft, gilt in Nord- und Mitteleuropa etwa eine Fläche von durchschnittlich 50 bis 65 m 2 pro Person als Richtschnur. Angesichts des begrenzten Platzes auf der Erde sollte dieser Wert jedoch eher in Richtung 20 m 2 tendieren. Neben des geforderten Downsizings des Lebensraums pro Kopf betrifft eine weitere Herausforderung der Zukunft die Wohn- und Lebenssituation älterer Menschen. Wichtig hierbei ist es, deren zunehmender Vereinsamung in den Städten entgegenzuwirken. In Dänemark beispielsweise kristallisiert sich derzeit ein neuer Trend zum verstärkten Zusammenleben von Senioren heraus. Auch hierzulande gibt es entsprechende Modellversuche: So entstehen in einigen Gegenden gemischte Gemeinschaften. Darin leben ältere Personen zwar weiterhin allein, kümmern sich aber beispielsweise um die Kinder ihres Nachbarn 1 GEHL Architects berät die BMW Foundation beim RISE Cities Programm Bild 3: Ein zentrales Anliegen des RISE Cities-Programms ist die Weiterentwicklung der Mobilität in Städten. © Charlotte de la Fuente, Emil Hougaard 11 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Stadtraum - der dann im Gegenzug etwa die Einkäufe übernimmt. Oder es gibt ein kollektives Stück Garten, das die Menschen gemeinsam bewirtschaften und in dem sie zusammen Zeit verbringen. Solche modernen Modelle des Zusammenlebens schaffen wertvolle soziale Bindungen und erhöhen damit die Lebensqualität enorm. Forschungsprojekt zur Integration von Minderheiten Ein weiteres Thema, mit dem sich die BMW Foundation im RISE Cities-Programm intensiv beschäftigt, ist die Gestaltung barrierefreier und inklusiver öffentlicher Räume. So muss etwa sichergestellt werden, dass für alle Arten von Menschen in einer Stadt angemessener und nicht kommerzialisierter öffentlicher Lebensraum zur Verfügung steht. In einem aktuellen Forschungsprojekt etwa wird das Zugehörigkeitsgefühl von Minderheiten bezüglich ihres kulturellen oder religiösen Hintergrunds sowie ihrer sexuellen Orientierung untersucht. Diese fühlen sich heute an vielen öffentlichen Orten noch nicht ausreichend akzeptiert und willkommen. Die Studie soll dazu beitragen, die Bedürfnisse und Standpunkte jener Menschen besser zu verstehen. Dies macht den Weg frei für eine erfolgreiche Integration und Inklusion. Ein zentrales Anliegen des RISE Cities-Programms ist zudem die Weiterentwicklung der Mobilität in den Städten. So wurde beispielsweise der Ausbau von Fußgängerzonen in innerstädtischen Arealen über viele Jahrzehnte hinweg vernachlässigt und dem PKW-Verkehr ein zu hoher Stellenwert eingeräumt. Zwar sind Autos in bestimmten Gebieten unabdingbar, um eine nahtlose Verkehrsanbindung zu gewährleisten - insbesondere zwischen städtischen und ländlichen Regionen. Starker Autoverkehr ist aber auch ein Faktor, der nachbarschaftliche Beziehungen und soziale Interaktion in den Städten behindert. Um die Dominanz des Autos in den vergangenen fünf Jahrzehnten zu brechen, müssen vermehrt fußgängerfreundliche Areale geschaffen werden. Eine Vorreiterrolle spielen hier die 15-Minuten-Stadtmodelle, wie sie beispielsweise in Städten wie Paris realisiert wurden. BMW Foundation steht für verantwortungsvolle Führung In allen Projekten zur Förderung einer sozial nachhaltigen Stadtentwicklung erfahren die Verantwortlichen wertvolle Unterstützung durch die BMW Foundation. Sie setzt sich in besonderer Weise für verantwortungsvolles Leadership ein und inspiriert Führungskräfte weltweit, sich für eine friedliche, gerechte und nachhaltige Zukunft zu engagieren. Dazu zählt es auch, Städte mit hoher Lebensqualität für die meisten Einwohner zu schaffen. Oft fehlt es den Stadtplanern aber am nötigen Wissen, was selbst mit einem winzigen Budget alles möglich ist. Daher bleibt es allzu oft bei pragmatischen und kostengünstigen Lösungen. Dabei lässt sich der Lebenswert einer Stadt schon mit minimalen Veränderungen auf ein neues Niveau heben. So können beispielsweise Menschen mit geringem Aufwand befragt werden, was ihnen und ihren Familien wichtig ist. Geht es beispielsweise um den Bau einer Vielzahl neuer Spielplätze in einer Stadt, ist dies deutlich kostengünstiger als die Errichtung eines einzigen modernen Hochhauses. Darüber hinaus arbeiten die Experten im RISE Cities-Programm daran, mehr Experimente und Modellversuche in den Städten auf den Weg zu bringen. Dazu zählt auch die Einbeziehung innovativer Rapid-Prototyping- und Design-Thinking-Methoden in die städtischen Entscheidungsprozesse. Diese Verfahren gestalten sich jedoch sehr komplex und konzentrieren sich in vielen Fällen auf die Instandhaltung öffentlicher Einrichtungen oder die Verwaltung von Schulen, Gesundheitsdiensten oder der Müllentsorgung. Mehr denn je ist hier eine verantwortungsvolle Führung sowie die Fähigkeit gefragt, über alltägliche Management- Aufgaben hinaus zu denken. Netzwerk für nachhaltige und gerechte Städte Dabei sollte man nicht die Chance verpassen, von erfolgreichen Städten zu lernen. Hier kommt das globale Responsible Leaders Network der BMW Foundation ins Spiel: Mit einer innovativen Idee sehen sich Akteure zunächst nach geeigneten Sparringspartnern um, vernetzen sich mit diesen, entdecken vergleichbare Ansätze und gewinnen dabei möglicherweise eine ganz neue Perspektive. Im Netzwerk lassen sich dann gute zu exzellenten Lösungen verbinden und Ideen, Produkte oder Dienstleistungen noch weiter optimieren. Dieses ungeahnte Synergiepotenzial kann genutzt werden, um voneinander zu lernen, an einem Strang zu ziehen und gemeinsam die besten Konzepte zu entwickeln - mit dem ultimativen Ziel, Städte resilienter, intelligenter, nachhaltiger und gerechter zu machen. AUTORIN Kerstin von Aretin Program Lead RISE Cities BMW Foundation Kontakt: bmwfoundation@milkandhoneypr.com 12 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität E-Mobilität in Bremen und Stockholm Die Stadt Bremen hat sich zum Ziel gesetzt, sowohl die Verkehrsemissionen durch die Ausweitung des Einsatzes von Elektrofahrzeugen in der Stadt zu reduzieren, als auch die Anzahl der Autos auf den Straßen durch die Förderung eines Car-Sharing- Konzepts zu reduzieren. In einem der Projekte ging es darum, eine kostengünstige, batteriebasierte Ladelösung auf Firmenparkplätzen zu entwickeln. Dazu wurden Traktionsbatterien aus stillgelegten Elektrofahrzeugen integriert und eine Plattform für das Flottenmanagement eingerichtet, zusammen mit einer App für ein Buchungssystem zum nutzerfreundlichen, nachhaltigen und profitablen Laden der Fahrzeuge. In einem zweiten Projekt förderte Bremen öffentliche intermodale E-Carsharing-Stationen in der ganzen Stadt sowie in neuen Wohnsiedlungen. Deren Bewohner wurden ermutigt, statt privater Autos Carsharing-Angebote zu nutzen. Die Stadt war sich der Herausforderungen bewusst, die sich durch veränderte Denk- und Mobilitätsgewohnheiten ergeben können. Sie führte Aufklärungskampagnen zu den Vorteilen des Ladens am Arbeitsplatz und an vorab gebuchten Ladegeräten durch. Das örtliche Projekt-Team plant nun, Park-and-ride-Anlagen mit Photovoltaik-Modulen auf dem Dach zu entwickeln, damit Besucher ihre Elektrofahrzeuge am Rande der Stadt parken und aufladen und dann ihr Ziel in der Einfache, kostengünstige Lösungen für nachhaltige Mobilität Förderung von Innovation und E-Mobilität in fünf europäischen Städten Europäische Städte, die weitgehend auf Autos im Straßenverkehr ausgerichtet sind, stehen auf dem Weg zu einer CO 2 -freien Mobilität vor enormen Hürden. Doch gerade in Städten sind deutliche Innovationen zu erkennen, um diese Herausforderungen zu bewältigen. Andere Kommunen - ob groß oder klein - können davon lernen und erprobte Lösungen übernehmen. Der folgende Artikel gibt Einblicke in verschiedene Aktivitäten vor Ort: von der Entwicklung der E-Mobilität in Bremen und Stockholm, über ein geradezu revolutionäres Parkierungskonzept im baskischen Vitoria-Gasteiz bis hin zur wachsenden Zahl von Lastenfahrrädern in Lecce in Italien. Bild 1: Nutzerfreundliches, nachhaltiges und profitables Laden von E-Fahrzeugen in Schweden. © City of Stockholm 13 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Innenstadt mit anderen nachhaltigen Transportmitteln erreichen können. Die schwedische Stadt Stockholm hat Elektrofahrzeuge für häusliche Pflegedienste eingeführt - ein Sektor, der aufgrund besonderer Zeiten im Schichtbetrieb und der speziellen Verfügbarkeit von Lademöglichkeiten vor Herausforderungen steht. In Abstimmung mit den städtischen Fuhrparkmanagern und Bezirksämtern erfolgte dann der schrittweise Austausch der Fahrzeuge und der Ladeinfrastruktur in den Parkhäusern. Eine Umfrage unter Mitarbeitern, die Elektrofahrzeuge nutzen, sowie ausführliche Einträge in Fahrtenbüchern ergaben, dass 85 % der Befragten Elektrofahrzeuge inzwischen sowohl für den beruflichen als auch für den privaten Gebrauch empfehlen würden. Sie bewerteten die Elektrofahrzeuge als einfach und komfortabel im Fahrbetrieb. Die Mehrheit der Befragten gab außerdem an, dass Elektrofahrzeuge nicht teurer wären und sahen einen zeitsparenden Vorteil darin, dass sie „tanken“ könnten, während ihr Auto auf einem normalen Parkplatz steht. Ein wesentlicher Treiber dieses Projekts - und ein Schlüssel zum Erfolg in Stockholm - war eine klare politische Vision für eine groß angelegte Elektrifizierung des Verkehrssektors. Parkraummanagement in Vitoria-Gasteiz - für Autos wie auch für Fahrräder Vor der Planung einer nachhaltigen städtischen Mobilität im baskischen Vitoria-Gasteiz im Jahr 2008 war der Anteil privater Fahrzeuge am lokalen Verkehr stetig angestiegen. Als Reaktion darauf initiierte die Stadt verschiedene Maßnahmen, um die Zahl der Autofahrten zu reduzieren und den öffentlichen sowie den Rad- und Fußverkehr zu fördern. Zudem wurden die Richtlinien für das Parkraummanagement für Autos und Fahrräder angepasst. Wichtig ist zu bedenken, dass die Anzahl der Parkplätze, die bei Neubauprojekten bereitgestellt werden müssen, häufig durch Parkstandards in lokalen, regionalen oder nationalen Vorschriften festgelegt wird. Anders sieht es jedoch bei der Bereitstellung von Fahrradabstellplätzen aus. Auf nationaler Ebene haben nur sechs EU-Mitgliedstaaten Mindestanforderungen für das Abstellen von Fahrrädern festgelegt. Aber einige einzelne Städte - darunter Vitoria-Gasteiz - sind in diesem Bereich proaktiv. Zu den Initiativen von Vitoria- Gasteiz gehörten der Rückbau von rund 1 400 Parkplätzen auf den Straßen, um Platz für eine neue Straßenbahnlinie zu schaffen, die Umwandlung von Vierteln mit engen, historischen Straßen in Fußgängerzonen sowie die Bild 2: Parkraummanagement in Vitoria Gasteiz. © Harry Schiffer Bild 3: Fahrradkultur in Brügge. © Stadt Brügge, Jan D’Hondt 14 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Entwicklung eines intelligenten, sicheren und kommunalen Angebotes namens VGBiziz für das Abstellen von Fahrrädern. In einem Verbund wird sicheres Abstellen in Gebieten mit hoher Nachfrage und in Wohngebieten mit Parkplatzmangel angeboten. Aktuell besteht der Verbund aus zehn kostengünstigen Abstellflächen für Fahrräder, die zusammen über 500 Stellplätze aufweisen, sowie aus Abstellmöglichkeiten innerhalb von Gebäuden und auf Parkplätzen mit Überwachungssystemen. Zusätzlich zu VGBiziz hat das örtliche Projekt-Team 12 000 Fahrradständer auf den Straßen im gesamten Stadtgebiet installiert. Dieses bemerkenswerte Beispiel nachhaltiger Mobilitätsplanung mithilfe von Parkraummanagement ermöglichte es der Stadt Vitoria-Gasteiz, den Trend beim Modal Split umzukehren. Die Nutzung von Autos ist seitdem zurückgegangen, Mobilität mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Fahrrad und zu Fuß hat zugenommen. Darüber hinaus hat das Parkraummanagement dazu beigetragen, öffentlichen Raum zurückzugewinnen, der nun eine Basis für eine künftige Stadtentwicklung bildet, die Gemeinschaft unterstützt und die Umwelt respektiert. Zunahme der Fahrradkultur in Brügge Der Ansatz „Weniger Geschwindigkeit, mehr Stadt“ war das Leitprinzip bei der Entwicklung des neuen Verkehrskonzepts der belgischen Stadt Brügge, das darauf abzielt, das Fahrradnetz der Stadt zu stärken und gleichzeitig die weiterreichende Vision einer nachhaltigen Mobilität zu fördern. Im Ergebnis wird Fahrradfahren dadurch direkter, intuitiver und komfortabler. Ein wichtiger Ansatz zur Verbesserung des Radverkehrs in Brügge waren zweifellos Veränderungen am Bahnhof. Dieser Bereich verzeichnet die höchste Anzahl von Radfahrern innerhalb der Stadt. In diesem Gebiet müssen jedoch sowohl Radfahrer als auch Fußgänger eine schwierige und unsichere Ringstraßenkreuzung überqueren. Um Lebensqualität und Sicherheit des Bahnhofsbereichs für alle Verkehrsteilnehmer zu verbessern und die Qualität des Ortes - der auch das Haupttor zum historischen Stadtzentrum ist - zu erhöhen, hat die Stadt Fußgänger- und Radwege unter der Ringstraße mit Verbindung zum Bahnhof angelegt, eine Unterführung am Unesco-Kreisverkehr in Richtung Innenstadt und eine „Kiss & Ride“-Zone auf dem Bahnhofsparkplatz. Da die Reaktionen der Bürger auf die Lösungen „einhellig positiv“ seien, sieht Brügge das Projekt als „großen Fortschritt“ in Bezug auf die Sicherheit von Radfahrern und Fußgängern. Darüber hinaus dürfte sich diese Neugestaltung positiv auf motorisierte Fahrzeuge auswirken und den Verkehrsfluss auf der Ringstraße verbessern. Das große Potenzial von Lastenrädern in Lecce Lastenfahrräder - Fahrräder, die speziell für den Transport von Gütern und Personen entwickelt wurden, oft mit großen Behältern - sind umweltfreundlich, praktisch und haben das Potenzial, Verkehrsstaus in der Stadt zu verringern und gleichzeitig Logistikabläufe effizienter und nachhaltiger zu gestalten. Die Stadt Lecce in Italien will mit dieser Transportmöglichkeit ihre lokalen Unternehmen in den engen und verwinkelten Straßen unterstützen, um so verkehrsberuhigte Zonen schaffen zu können. Ein lokaler Hersteller aus Lecce bot Familien seiner Gemeinde an, sich für bis zu zwei Wochen kostenlos ein Lastenfahrrad auszuleihen. Die Akzeptanz wurde so gefördert und das Unternehmen konnte aus den Erfahrungen der Benutzer lernen. Gleichzeitig testeten fünf Bed & Breakfast- Betreiber die gemeinsame Nutzung eines Lastenfahrrads, um Waren wie saubere Bettwäsche und Lebensmittel liefern zu lassen oder abzuholen. Das Lastenrad wurde sicher an einem Hub im Stadtzentrum abgestellt und die teilnehmenden Gastronomen hatten Schlüssel für den Zugang zum Parkplatz. Auch die Pizzaabholung wurde für Restaurants innerhalb der verkehrsberuhigten Zone erleichtert. Anstatt dass Kunden ihre Autos außerhalb der Bild 4: Lastenfahrräder im italienischen Lecce ermöglichen eine schnellere und direktere Lieferung. © Cosimo Chiffi Zone parken und ihre Pizzen zu Fuß abholen mussten, ermöglichten Lastenräder eine schnellere und direktere Lieferung. Die nächsten Schritte dieser Initiative sind: die Schaffung eines neuen reservierten Bereichs, um den Umstieg auf Lastenräder zu erleichtern, die Sicherung von Parkplätzen und Unterstellmöglichkeiten für Fahrräder sowie der Einsatz von GPS-Geräten, um Unternehmen eine gemeinsame Nutzung von Lastenrädern und die Verfolgung der Stopps zu ermöglichen. Wissensvermittlung Ständig werden neue innovative Mobilitätslösungen erforscht und auf den Markt gebracht. Allerdings kann es für Städte und Regionen eine Herausforderung sein, herauszufinden, welche Lösungen für sie am besten sind und wie sie diese umsetzen können. Durch die aufgeführten Projekte und von der Europäischen Kommission finanzierte Plattformen wie der CIVITAS-Initiative haben Städte Zugang zu Open-Source-Ressourcen, Tools und Richtlinien, die sie zur lokalen Replikation von Lösungen nutzen können. Networking-Veranstaltungen sind auch eine großartige Gelegenheit für Praktiker, voneinander zu lernen und die Kräfte auf dem Weg zu einer CO 2 freien Mobilität zu bündeln. Zuletzt veranstaltete die Europäische Kommission vom 4. bis 6. Oktober 2023 in Sevilla, Spanien, ihre Flaggschiffveranstaltung „Urban Mobility Days“. Dabei kamen Politiker, lokale Behörden, Industrie und städtische Verkehrsexperten zusammen, um sich zu vernetzen, auszutauschen und den Weg zu einer nachhaltigen, innovativen und gerechten Zukunft der städtischen Mobilität in Europa zu diskutieren. Eine zentrale Botschaft, die sich während der gesamten Veranstaltung verbreitete war, dass Mobilitätsplanung viel mehr als nur Mobilität umfasst. Es geht auch um Themen wie physische und digitale Infrastruktur, Energie, Regulierung, Finanzierung und Finanzen. Es geht vor allem um die Lebensqualität im urbanen Raum. Da 2023 das Europäische Jahr der Kompetenzen ist, wurde ein besonderer Schwerpunkt auch auf die Kenntnisse und Fähigkeiten gelegt, die Mobilitätsfachkräfte benötigen, um mit allen Interessengruppen zusammenzuarbeiten und einen transparenten und effektiven Übergang unserer städtischen Räume in lebenswerte Städte und Gemeinden mit nachhaltiger Verkehrsinfrastruktur zu ermöglichen. Weitere Informationen zu den Beispielen in diesem Artikel finden Sie in der Publikation CIVITAS Success Stories. ACO GmbH Am Ahlmannkai 24782 Büdelsdorf ACO Produkte sorgen für mehr Sicherheit und Laufruhe auf Radwegen Der Bund fördert - ACO unterstützt in der Planung Gemeinsam die Radverkehrsnetze nachhaltig gestalten und so die Klimaziele erreichen. ACO Produkte für Radwege: Schachtabdeckungen ACO Multitop Aufsätze für Straßenabläufe ACO Multitop Bordsteinentwässerung ACO KerbDrain City Kombination aus Linien- und Punktentwässerung ACO Drain®Box mit der ACO Drain®Box Weitere Informationen: www.aco.de/ radwege Klimaziele erreichen Radwege neu gestalten ACO. we care for water 16 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Wiesbaden ist eine der wenigen deutschen Großstädte ohne U-Bahn- oder Straßenbahnnetz, weshalb der Individualverkehr stark ausgeprägt ist: Im Jahr 2021 kamen in Wiesbaden 96,2- PKW auf 100 Haushalte - statistisch gesehen besaß also fast jeder Haushalt ein Auto. Den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) bedienen Busse, S-Bahnen und haben oder derzeit planen. Für eine valide Planungsgrundlage empfiehlt sich eine Bedarfsermittlung mindestens für die kommenden 10 Jahre. Im Rahmen des Umsetzungskonzeptes für die Stadt Wiesbaden wurde der Bedarf an öffentlicher Ladeinfrastruktur im Stadtgebiet bis zum Jahr 2030 ermittelt. Dabei wurden Hochlaufszenarien und der zukünftige Energiebedarf der Elektrofahrzeuge als Prognosegrößen eingesetzt. Das Ergebnis: Bis 2030 werden in Wiesbaden rund 50 000 Elektrofahrzeuge erwartet, was einem Anteil von 35-% an den Gesamtzulassungen entspricht. Daraus ergibt sich für 2030 ein Bedarf von insgesamt rund 1 700 öffentlichen Ladepunkten. Besonders hoch ist der Bedarf im innerstädtischen Gebiet, wo den Bewohner*innen von Mehrfamilien- und Mietshäusern nur selten private Lademöglichkeiten am Wohnhaus zur Verfügung stehen. Mangelnde Transparenz und viele Beteiligte Eine Herausforderung bei der Bedarfsermittlung auf kommunaler Ebene stellen fehlende Daten zu Ladepunkten im privaten Raum dar: Diese müssen zwar dem Netzbetreiber gemeldet werden, unterliegen aber dem Datenschutz. Kommunen erhalten deshalb meistens keine detaillierten Informationen darüber, wo genau im Stadtgebiet bereits private Ladepunkte installiert wurden. Ebenfalls sind Informationen zu abgerufenen Fördermitteln im Stadtgebiet, aus denen Rückschlüsse auf den Bestand privater Ladeinfrastruktur gezogen werden können, für Kommunen nur schwer einsehbar. Um eine bedarfsgerechte und wirtschaftlich sinnvolle Erweiterung der Ladeinfrastruktur im gesamten Stadtgebiet zu gewähr- Kompass für Kommunen Aufbau öffentlicher Ladeinfrastruktur Martin Huber, Johannes Bracke 15 Mio. E-Autos sollen bis 2030 auf Deutschlands Straßen unterwegs sein - etwa ein Drittel aller PKW wäre damit elektrisch betrieben. Städte und Kommunen stehen derzeit vor der enormen Herausforderung, ihre Infrastruktur für den Markthochlauf der E-Mobilität fit zu machen. Für die Verwaltungen ist es jetzt wichtig, ihren zukünftigen Bedarf an öffentlicher Ladeinfrastruktur zu ermitteln und ein Umsetzungskonzept als langfristige Planungsgrundlage zu erstellen. Die Stadt Wiesbaden hat deshalb gemeinsam mit dem Beratungsunternehmen Drees & Sommer SE ein Konzept zum Aufbau öffentlicher Ladeinfrastruktur in der hessischen Landeshauptstadt erarbeitet. Darauf aufbauend ist ein Leitfaden entstanden, der anderen Städten und Kommunen als Kompass und Orientierungshilfe bei ihren Vorhaben dienen kann. Regionalbahnen. Die ohnehin angespannte Verkehrssituation im Stadtgebiet wird zu den Hauptverkehrszeiten durch zahlreiche Einpendelnde noch verschärft. Bis 2019 hat Wiesbaden die Grenzwerte des Stickstoffdioxid- Jahresmittelwerts mehrfach überschritten. Die Aufgaben für die kommenden Jahre lauten deshalb: den Anteil an Elektrofahrzeugen im Individualverkehr erhöhen, Rad- und Fußverkehr fördern, den klimafreundlichen ÖPNV stärken und innovative Konzepte für den innerstädtischen Lieferverkehr entwickeln. Wiesbaden macht sich fit für die E-Mobilität Gefördert vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie will die Stadt Wiesbaden im Rahmen des Forschungsprojektes „E-Mobility-Hub“ die öffentliche Ladeinfrastruktur gezielt aufbauen und hat Drees & Sommer mit einem Umsetzungskonzept beauftragt. Darüber hinaus unterstützt das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML die Stadt mit einer Expertenbefragung in anderen Städten und Gemeinden, die bereits eine öffentliche Ladeinfrastruktur aufgebaut Bild 1: Bis 2030 werden in Wiesbaden rund 50 000 Elektrofahrzeuge erwartet. Mit einem Umsetzungskonzept geht die Stadt den Aufbau einer öffentlichen Ladeinfrastruktur gezielt an. © Pixabay / nathaliemeyer0 17 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität leisten und Parallelplanungen zu vermeiden, ist ein frühzeitiger Dialog mit bereits tätigen Betreibern sowie Stakeholdern des halböffentlichen und privaten Raums notwendig. Dabei sollten auch die Ausbauziele der Infrastrukturanbieter berücksichtigt werden. Zu den relevanten Stakeholdern zählen unter anderem große Arbeitgeber, Parkhausbetreiber, der Einzelhandel, Akteure der Immobilienwirtschaft sowie die Netzbetreiber. Der Austausch ist deshalb wichtig, weil jede Kommune über einen Gesamtbedarf an Ladeinfrastruktur verfügt, der sich auf den privaten, den öffentlichen sowie den halböffentlichen Raum verteilt. Die drei Räume stehen in direktem Zusammenhang zueinander: Steigt die Verfügbarkeit von Ladepunkten in einem der Räume, sinkt der Bedarf in den anderen. Eine allgemein gültige Verteilung gibt es dabei nicht. Laden bei der Arbeit, im Hub oder an der Laterne Zur privaten Ladeinfrastruktur zählen neben der sogenannten Wallbox für private Wohnhäuser auch Lademöglichkeiten bei Arbeitgebern. Immer mehr Unternehmen bauen diese aus und bilden damit eine wichtige Säule beim Ausbau der Ladeinfrastruktur, denn eine verlässliche Lademöglichkeit ist für viele Menschen eine wichtige Voraussetzung für die Anschaffung eines rein elektrischen Fahrzeugs. Sofern zuhause keine private Lademöglichkeit besteht, bekommt der Arbeitgeber als potenzieller Anbieter von Ladeinfrastruktur eine besondere Relevanz. Je nach Akkukapazität und Anfahrtsweg reichen in vielen Fällen ein bis zwei Ladevorgänge pro Woche aus, sodass ein Ladepunkt beim Arbeitgeber den Strombedarf diverser Elektrofahrzeuge abdecken kann. In Wiesbaden kommen zudem Lademöglichkeiten auf öffentlichen Parkplätzen und im halböffentlichen Raum, zum Beispiel auf Kundenparkplätzen von Supermärkten, in Frage. Schnellladesäulen eignen sich dort, wo es schnell gehen muss - beispielsweise innerorts auf öffentlichen Parkplätzen oder an Tankstellen. Ein Parkhaus außerhalb des Stadtzentrums soll zukünftig als innovativer E-Mobility-Hub fungieren, an dem unterschiedliche Mobilitätsangebote und Services miteinander verknüpft werden. PKW können hier parken und E- Fahrzeuge laden. Pendler nutzen anschließend den Umweltverbund für den Weg in die Innenstadt. Der Begriff „Umweltverbund“ bezeichnet die Gruppe der umweltverträglichen Verkehrsmittel. Dazu zählen der ÖPNV, Sharing-Angebote sowie nicht motorisierter Individualverkehr mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Eine weitere Lademöglichkeit, deren Umsetzbarkeit jedoch von verschiedenen Faktoren abhängt und in Wiesbaden voraussichtlich nicht zum Tragen kommt, ist das Laden an Straßenlaternen. Vereinfacht ausgedrückt wird die Laterne dabei mit einer Steckdose ausgestattet, sodass ein Elektroauto daran angeschlossen werden kann. Allerdings sind die Laternen in den meisten deutschen Städten gruppenweise anstatt einzeln mit der Hauptstromleitung verbunden, wodurch sich niedrige Anschlussleistungen je Laterne und damit lange Ladezeiten ergeben. Sind die Laternen auf den Innenseiten der Gehwege angeordnet, ist das Laternenladen ebenfalls keine Option, da das Ladekabel über den Gehweg geführt werden müsste. Die Machbarkeit des Laternenladens ist darum in jeder Stadt individuell zu prüfen, kann aber eine sinnvolle Alternative zu Ladesäulen sein. Leitfaden für Städte und Kommunen Auch wenn es für den Aufbau einer öffentlichen Ladeinfrastruktur keinen Standardprozess gibt, können Städte und Kommunen dennoch voneinander lernen. Deshalb haben die Stadt Wiesbaden, Drees & Sommer und das Fraunhofer IML die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Umsetzungskonzept, den Experteninterviews sowie einem Dialogprozess mit Vertreter*innen aus Politik, Stadtverwaltung, städtischem Energieversorger, Wohnungswirtschaft, Arbeitgebern, Parkhausbetreibern und Einzelhandel in einem Leitfaden gesammelt. Dieser kann anderen Städte und Kommunen als Kompass und Orientierungshilfe bei ihren eignen Konzepten dienen. Der Leitfaden steht auf der Webseite www.dreso.com im Media-Center zum Download zur Verfügung. Martin Huber Senior Consultant Drees & Sommer SE Kontakt: smart.charging@dreso.com Johannes Bracke Senior Consultant Drees & Sommer SE Kontakt: smart.charging@dreso.com AUTOREN Bild 2: Wer nicht zu Hause oder beim Arbeitgeber laden kann, ist auf öffentliche Ladeinfrastruktur angewiesen. Für Wiesbaden haben die Experten einen Bedarf von insgesamt rund 1 700 öffentlichen Ladepunkten bis 2030 ermittelt. © unsplash / Ernest Ojeh 18 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität E-Fahrzeuge sind allgegenwärtig: Sie drücken mittlerweile dem Straßengeschehen ihren Stempel auf. Ladesäulen auf Parkplätzen und am Straßenrand sind ebenfalls keine Seltenheit mehr. Dieses Bild bestätigen die Neuzulassungen von Elektrofahrzeugen in Deutschland: Innerhalb der letzten zweieinhalb Jahre haben sie sich verfünffacht. Damit dieser Trend anhält, gilt es, die Entwicklung von Ladeinfrastruktur im Auge zu behalten. Denn nach Angaben des Statistischen Bundesamts bleibt das beliebteste Reiseverkehrsmittel der Deutschen unangefochten das Auto und laut einer aktuellen Studie von HUK- Coburg sind 72 % der Befragten der Meinung, dass dieses auch in Zukunft ihre Mobilitätsanforderungen am besten erfüllen werde. Städte sollten deshalb schon jetzt planen, um sicherzustellen, dass ihre Ladeinfrastruktur skalierbar und flexibel ist. Meist reichen Wechselstrom- Ladesäulen Während die Reichweite von E- Fahrzeugen heute nur noch selten ein Thema ist, müssen elektrifizierte Flotten jederzeit schnell einsatzbereit sein. In den vergangenen Jahren standen daher immer wieder Gleichstrom- oder DC-Schnellladesäulen im Mittelpunkt der Mobilitätsdiskussion. Idealerweise sollte es nicht länger dauern als ein Besuch an der Tankstelle, um die Batterien eines E-Fahrzeugs voll aufzuladen. Überall, wo nur kurze Aufenthalte vorgesehen sind, etwa an Tankstellen und Raststätten oder bei Hochleistungsanwendungen wie im Transportwesen, sind Schnellladesäulen unerlässlich. Im Gegensatz dazu reichen im Alltag meist die langsamer ladenden Wechselstrom- oder AC-Ladestationen aus. Werden E-Autos zu Hause oder während der Arbeit geladen, spielt Zeit keine allzu große Rolle. Viel wichtiger ist hier die Verfügbarkeit von Lademöglichkeiten. Hier bewähren sich die um den Faktor sieben bis zehn günstigeren Wechselstromlader. Durch den geringeren Kostenaufwand sind sie besonders für Unternehmen und Kommunen interessant, können in Wohngebäuden aufgestellt werden und so für ein flächendeckendes Ladenetzwerk sorgen. Hürden für Ladestationen an Wohnhäusern Wohnhäuser mit Ladestationen auszustatten, wird allerdings durch komplizierte Verwaltungsvorschriften behindert - und das, obwohl Elektrofahrzeuge zentral für das Konzept des intelligenten Gebäudes sind: Sie können dazu beitragen, erneuerbare Energien in das Stromnetz zu integrieren, und werden bald in der Lage sein, Energie in das Netz zurück zu speisen oder sogar auszugleichen, wenn die Energienachfrage hoch ist, beispielsweise durch den Einsatz der Vehicle-to-Grid- Technologie. Darüber hinaus ist das Laden von E-Fahrzeugen zu Hause deutlich günstiger als an öffentlichen Ladestationen. Dies macht das Heimladen für Verbraucher attraktiver, was für die breite Akzeptanz von Elektroautos entscheidend ist. Der Ausbau privater Lademöglichkeiten wird deshalb zu erheblichen Energieeffizienzsteigerungen führen und kann Städten und Kommunen helfen, ihre Klimaziele zu erreichen. Elektromobilität in der Stadt: Das ist der Schlüssel André ten Blomendal Sollen Elektrofahrzeuge eine valide Alternative zum Verbrenner werden, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Es gibt genügend Ladestationen und diese sind gut vernetzt. Denn E-Fahrer wollen wissen, wo sie die nächste Station finden, ob sie frei oder wann die ideale Zeit zum Laden ist. Bild 1: Kaffee trinken und Auto laden. © ChargePoint 19 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Ein notwendiger Schritt auf EU-Ebene Auf EU-Ebene ist eine Überarbeitung der EU-Gebäuderichtlinie (EPBD, Energy Performance of Buildings Directive) der dazu nötige Rechtsakt. Da fast die Hälfte der EU-Bevölkerung in Mehrfamilienhäusern lebt und nahezu 75 % der E-Fahrzeuge zu Hause oder am Arbeitsplatz aufgeladen werden, ist ein klarer Rechtsrahmen für die Installation von Ladepunkten in Gebäuden erforderlich. Die größte Hürde ist derzeit der technische und administrative Aufwand für die Installation einer Ladestation in bestehenden Wohngebäuden. Deshalb muss mit einem starken und kohärenten „Recht auf Anschluss“ für EU-Bürger sichergestellt werden, dass niemand von der Installation einer Ladestation in seinem Gebäude ausgeschlossen werden kann. Im Hinblick auf das Jahr 2035, wenn keine neuen Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor mehr zugelassen werden sollen, werden Heimladelösungen noch wichtiger. E-Autos können dazu beitragen, Gebäude energieeffizienter zu machen, die Kapazität des Stromnetzes besser zu nutzen, indem sie intelligent laden, und letztendlich Energie ins Netz zurückspeisen. All das trägt dazu bei, die Ziele des EU Green Deal zu erreichen. Vernetzung: Software erhöht die Reichweite Kombiniert mit digitalen Technologien wie Echtzeit-Ladesäulen-Findern, App-basierten Wartelisten oder intelligenten Lademanagementsystemen erhalten E-Fahrer heutzutage die für sie wichtigen Informationen schneller und einfacher und müssen sich zudem seltener Sorgen um die Reichweite ihres Fahrzeugs machen. Mit Apps und Auto-Dashboard integrierten Systemen, wie zum Beispiel der ChargePoint-App, finden E-Fahrer mühelos Ladestationen und können digital einsehen, ob eine Station verfügbar oder belegt ist. Je besser die Ladeinfrastruktur ausgebaut und vernetzt ist, desto einfacher werden auch grenzübergreifende Fahrten. „Vernetzt“ ist hier das Stichwort. Es reicht nicht, wenn genügend Ladesäulen auf dem Papier verzeichnet sind. Standort, Verfügbarkeit und ideale Ladezeiträume müssen sofort zu sehen sein. Dazu gehört außerdem eine übergreifende Verfügbarkeit. Moderne Ladelösungen sollten dem Open Charge Point Protocol (OCPP) folgen. Über dieses Protokoll können sich E-Fahrzeuge und Ladesäulen herstellerunabhängig verbinden. Dadurch lässt sich eine anbieterübergreifende Interoperabilität über Landesgrenzen hinaus herstellen. CP6000: Eichrechtskonformes Laden für Elektrofahrzeuge Die flexible Wechselstrom-Ladelösung CP6000 von ChargePoint folgt diesem Protokoll. Sie entspricht den strengen Anforderungen für das Laden von Elektrofahrzeugen in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Kürzlich hat sie die Baumusterprüfbescheinigung vom VDE Prüf- und Zertifizierungsinstitut erhalten, was bedeutet, dass sie E-Fahrzeuge unterschiedlicher Typen und Größen eichrechtskonform laden kann. Zusätzlich zur Erfüllung der deutschen Eichrechtsanforderungen erfüllt sie auch die anspruchsvollen Anforderungen der unabhängigen französischen Zulassungsbehörde ASEFA, was ihre Leistungsfähigkeit, Sicherheit und Interoperabilität bestätigt. Solche Lösungen, die sich an Fahrern orientieren und auch für technisch weniger versierte Nutzer einfach zu bedienen sind, erhöhen wiederum die Attraktivität und Zugänglichkeit zur E- Mobilität. Zentrale Faktoren: Komfort und Zugänglichkeit Je beliebter elektrische Mobilitätskonzepte werden, desto größer wird auch ihre wirtschaftliche Bedeutung. Unternehmen nutzen sie verstärkt, um Güter und Personen zu transportieren. Einerseits hilft das Betrieben dabei, ihre Nachhaltigkeitsziele zu erreichen und Treibstoffsowie Wartungskosten zu senken. Andererseits kurbelt es den Wettbewerb unter Flottenbetreibern an. Wer seinen Kunden und Mitgliedern die besten Angebote macht, sorgt für mehr Umsatz und zieht neue potenzielle Kunden an. Darauf müssen sich Städte vorbereiten. Die Möglichkeit, privat zu laden, hilft beim Ausbau der Infrastruktur. Wenn Besitzer von Ladesäulen und Netzbetreiber kooperieren, ist ein komfortables und zuverlässiges Ladeerlebnis für alle möglich. Darin liegt die Zukunft einer Stadt ohne Verbrennungsmotor. AUTOR André ten Blomendal Senior Vice President Europe ChargePoint europepressoffice@chargepoint.com Bild 1: Ladesäulen auf Parkplätzen und am Straßenrand sind keine Seltenheit mehr. © ChargePoint 20 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Im Zuge der weltweiten Bemühungen um den Klimaschutz und die Erreichung von Klimaneutralität setzt die Stadt Hagen ein Zeichen des Wandels. Mit dem visionären Projekt „HyExperts Hagen“ möchte die Stadt einen nachhaltigen Beitrag zur Reduzierung von CO 2 -Emissionen leisten und den Weg in eine klimafreundliche Wasserstoffzukunft ebnen. Im Fokus des Projekts steht die Integration von Wasserstoff als nachhaltigem, zukunftsweisendem Energieträger für die Industrie und den Transport. Hagen nimmt dabei eine Schlüsselrolle ein und bietet optimale Voraussetzungen für die Gestaltung des Wasserstoffzeitalters. HyExperts - Wasserstoffexperten vor Ort „HyLand - Wasserstoffregionen in Deutschland“ ist ein vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) im Jahr 2019 ausgerufener Wettbewerb, der Akteure in Deutschland dazu motiviert, Konzepte mit Wasserstoffbezug zu initiieren, zu planen und umzusetzen. Ziel ist es, die innovativsten und erfolgversprechendsten regionalen Konzepte zu identifizieren und zu fördern. Die Teilnahme erfolgt in drei Kategorien: HyStarter, HyExperts und HyPerformer. Im Rahmen von HyLand II wurden im September 2021 und April 2023 33- Kommunen und Regionen als HyStarter, HyExperts und Hy- Performer ausgezeichnet. Die Stadt Hagen ist eine von 15 Städten und Kommunen, die sich als Standort mit vielen ansässigen Wasserstoffakteuren im Wettbewerb durchsetzen konnte. Die ausgewählten Kommunen erhalten entsprechende Förderinstrumente und Unterstützung bei der Erstellung von regional integrierten Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologiekonzepten im Verkehrsbereich. Die Finanzierung dieses ambitionierten Projekts erfolgt im Rahmen des Nationalen Innovationsprogramms Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie (NIP2), mit einer Gesamtförderung von 400 000 EUR durch das H 2 -Nutzung ins Rollen bringen Shaun Pick, Lena Maier Die Stadt Hagen geht neue Wege, um die urbane Verkehrswende zu gestalten. In Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen und Unternehmen hat sie das ehrgeizige Wasserstoffprojekt „HyExperts Hagen“ ins Leben gerufen. Bild 1: Bahnhof Hagen bei Nacht. © Christian auf Pixabay 21 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Bundesministerium für Digitales und Verkehr. Die NOW GmbH koordiniert die Förderrichtlinie, während der Projektträger Jülich (PtJ) die Umsetzung überwacht. Die Unternehmen BBH Consulting AG, EMCEL GmbH sowie umlaut energy GmbH (Teil von Accenture Industry X) sind Partner beim HyExperts-Programm und arbeiten an einem Gesamtkonzept für den Einsatz von Wasserstoff in der Hagener Region. Weitere Dienstleister für das Hy- Experts-Programm in Hagen sind Becker Büttner Held, die Fernuniversität Hagen, die sbc soptim business consult GmbH und die Tracemaker Strategie- und Kommunikationsberatung. CVD und THG als gesetzliche Leitplanken Mobilität ist nicht nur in Hagen ein wichtiger Schwerpunkt. Der Verkehrssektor konnte seine Treibhausgas-Emissionen bislang nicht spürbar senken - im Gegenteil. Eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen sollen das ändern. Mit der Clean Vehicles Directive (CVD) hat die EU zum Beispiel eine Richtlinie erlassen, die Neubeschaffungsquoten emissionsarmer und -freier Fahrzeuge in Fuhrparks vorgibt. Für Deutschland wird das seit dem 2. August 2021 im Saubere- Fahrzeuge-Beschaffungs-Gesetz (SaubFahrzeugBeschG) geregelt. Im Klartext heißt das: Wenn Kommunen neue Busse oder Nutzfahrzeuge für die Abfallentsorgung anschaffen, müssen feste Quoten für saubere Fahrzeuge eingehalten werden - etwa durch die Nutzung von Wasserstoff. Diese gesetzliche Vorgabe hat zur schnellen Einführung von Wasserstoffbussen sowie anderen Fahrzeugtypen wie Abfallsammelfahrzeugen in kommunalen Fuhrparks geführt. Zudem schafft die seit 2015 bestehende Treibhausgasminderungs- (THG) Quote zusätzliche Motivation sowohl für private als auch für kommunale Akteure. Innerhalb dieses gesetzlichen Rahmens sind Kraftstoffinverkehrbringer, hauptsächlich Raffinerien, verpflichtet, die CO 2 -Emissionen zu reduzieren, die durch die Herstellung von Diesel- und Otto-Kraftstoffen entstehen. Bis 2030 soll damit die Quote zur Treibhausgasminderung bei Kraftstoffen im Vergleich zum Basiswert auf 25 % angehoben werden, so die Vorgabe. Wer die Quote nicht erfüllt, muss mit Strafzahlungen rechnen. Den Unternehmen werden zwei Mechanismen zur Erfüllung ihrer Quoten zur Verfügung gestellt: Durch die Nutzung erneuerbarer Energien in ihren vorgelagerten Prozessen oder durch den Kauf von Quoten von nachgelagerten Betreibern von Tankstellen, die erneuerbare Energie in den Verkehrssektor bringen. Durch den Handel von Quoten werden zusätzliche Einnahmen für die Betreiber von Tankstellen generiert. Diese Einnahmen haben das Potenzial, den Wasserstoffpreis je nach heutigem Quotenpreis erheblich um 2 bis fast 6 EUR/ kg H 2 zu reduzieren. Durch die Senkung der Kraftstoffkosten für Wasserstoff und andere erneuerbare Energien haben private und kommunale Akteure nun einen größeren Anreiz, in die Technologien zu investieren. H 2 kommt an Was tut sich denn bereits konkret in Hagener Unternehmen in der Kommune und der Wirtschaft mit Blick auf die gesetzlichen Verpflichtungen? Wie sieht es in ihren Fuhrparks aus und welche Überlegungen gibt es dabei in Sachen Wasserstoff? Dazu haben die HyExperts erste Gespräche mit Akteur*innen in der Region geführt. Beteiligt waren Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen, darunter aus der Kommune, aus Verkehr und Logistik sowie der Energieversorgung. Von 27 Betrieben, so die beiden Fachleute, interessieren sich 23 für das Thema Wasserstoff. Dabei lassen sich mehrere Tendenzen erkennen: Während etwa die Busunternehmen im ÖPNV für ihre Flotten eher auf batterieelektrischen Antrieb setzen, um die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen, zeigen insbesondere die örtlichen Logistik-Unternehmen starkes Interesse am Antrieb mit Wasserstoff. Die meisten Akteure sind noch in der Phase der Bild 2: Hagens Oberbürgermeister Erik O. Schulz beim Wasserstoffdialog - Perspektiven für Hagen im September 2023. © Tracemaker, Kleinert/ Baumgarten 22 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Konzeption und Ideenfindung. Nur eine sehr geringe Zahl ist bereits auf dem Weg der konkreten Umsetzung. Laut dem Beraterkonsortium beträgt die bisher bestätigte Wasserstoffnachfrage im Verkehrsbereich ungefähr 30 t H 2 / a, wenn die Fördermittel für die Brennstoffzellen-Fahrzeuge bewilligt werden. Dennoch ist das theoretische Potenzial enorm. Basierend auf Flottendaten von drei weiteren Akteuren, die aktiv die Einführung von Wasserstofffahrzeugen in ihre Flotten in Erwägung ziehen, könnte die Nachfrage bei einer vollständigen Umstellung der Fahrzeugflotten auf Wasserstoff bis zum Jahr 2030 bei 1 400 t H 2 / a liegen. Von der Gasleitung zur H 2 -Pipeline Dass insbesondere in und um Hagen Wasserstoff als ernstzunehmende Option für die Wirtschaft gehandelt wird, mag auch mit einem Vorteil zu tun haben, den man hier gegenüber anderen HyExperts-Regionen ins Feld führen kann: Es gibt sehr gute infrastrukturelle Voraussetzungen. Dazu zählen zum Beispiel regionale Gasleitungen, die in naher Zukunft auf Wasserstoffnutzung umgestellt werden könnten. Damit wäre ein sogenanntes Inselnetz denkbar, ein Anschluss an ein übergeordnetes Fernnetz erfolgt ab 2030. Ein wichtiger Aspekt, wie die Gespräche ergaben, ist auch der Standort einer zukünftigen Wasserstoff-Tankstelle für den Schwerverkehr. Hier ist bei der Planung neben den üblichen Kriterien wie Wirtschaftlichkeit oder Flächennutzung auch auf die Besonderheiten der Hagener Region zu achten. Für die LKW, die die H 2 - Lieferung für die erste Zeit nach dem Markthochlauf sicherstellen, aber auch für einen entspannten Stadtverkehr, wäre eine etwas außerhalb gelegene H 2 -Tankstelle sicher günstiger als eine im ohnehin viel befahrenen Innenstadtbereich. Tankstellen außerhalb der Innenstadt können auch den Transitverkehr entlang der Autobahnen und Bundestraßen besser bedienen. Eine Analyse des Beraterkonsortiums hat gezeigt, dass die durch aktuelle Vorschriften getriebene Nachfrage nach Wasserstoff entlang der A1 in der Nähe von Hagen im Jahr 2025 zu einer Nachfrage von etwa 20 t H 2 / a und im Jahr 2030 zu 140 t H 2 / a führen könnte, insbesondere bei Schwernutzfahrzeugen. Technische Probleme lösbar Die weiteren Herausforderungen, mit denen sich vor allem die Logistik-Unternehmen befassen, betreffen die Fahrzeuge selbst. Es sind schon erste Brennstoffzellen-Fahrzeuge im Schwerlastsegment auf dem Markt. LKW ist aber nicht gleich LKW. Zum Teil wird an technischen Herausforderungen noch gefeilt, etwa bei der Fahrerkabine, hinter der bislang häufig der Wasserstofftank eingebaut ist. Der Tank zwischen den Radständen bringt beispielsweise mehr Platz, wie es bei ersten Herstellern umgesetzt wird. Eine andere Position des Tanks brächte mehr Platz im Führerhaus, was insbesondere im Fernverkehr notwendig ist. Sich über all diese Details auszutauschen, hat nicht nur dem HyExperts-Team viel gebracht. Auch die teilnehmenden Stakeholder profitieren. Miteinander ins Gespräch zu kommen, ein Forum zum gegenseitigen Austausch zu haben, das wird aufseiten der Akteur*innen sehr begrüßt. Im Laufe der Gespräche war oft zu hören, dass mehr Netzwerk-Arbeit rund um das Thema dringend nötig ist. Positiver Ausblick Die Partner des Konsortiums sind dabei, ein sogenanntes „Verbundprojekt“ zu entwickeln, um die identifizierten Akteure zusammenzubringen und Synergien zwischen ihren eigenen Initiativen zu nutzen. Die Idee ist, einen Kern von Wasserstoffaktivitäten in der Region Hagen zu schaffen, in den weitere Akteure und Projekte in späteren Phasen integriert werden können. Dadurch profitiert die Region nicht nur von niedrigeren Systemkosten durch eine bessere Ressourcennutzung, sondern auch von der erhöhten Wahrscheinlichkeit der Umsetzung. Kurz gesagt, der Hochlauf hat eine höhere Erfolgschance bei geringeren Kosten. Derzeit umfasst das Verbundprojekt vier potenzielle Wasserstofferzeuger und vier Akteure im Mobilitätsbereich. Die Hoffnung ist, dass Akteure durch das Aufzeigen der starken Vorteile einer solchen Zusammenarbeit zur Kooperation motivieren werden können. Damit lässt sich der Kurs für den Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft in Hagen sicherstellen. Shaun Pick Projektleiter BBH Consulting AG shaun.pick@bbh-beratung.de Lena Maier Projektingenieurin EMCEL GmbH Kontakt: lena.maier@emcel.com AUTOR*INNEN Auftraggeber für das HyExperts-Projekt sind die Stadt Hagen, die Hagen Wirtschaftsentwicklung sowie die Enervie Gruppe. https: / / www.wasserstoff-hagen.de/ HyExperts Hagen 23 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Infrastruktur Einfach implementierbare Plug-and-play-Lösung Umsetzung der funktionalen Sicherheit in Car-Liftern für Applikationen ohne Innentüren Yasin Yasar Wenn Mensch und Maschine korrelieren, erweist sich der Leitspruch „Safety first“ als obligatorische Normdirektive. Da aufgrund der Urbanisierung immer häufiger Hebebühnen als Parksysteme eingesetzt werden, sind hier zuverlässige, einfach implementierbare Sicherheitsvorkehrungen notwendig. Beispielhaft kann dies eine gemäß EN ISO 13849 PL d, Kategorie 2 vorgefertigte und zertifizierte Sicherheitslösung von Phoenix Contact für den Schaltschrank sein. Bild 1: Sicheres und effizientes Parken auf neuem Niveau: der Car-Lifter mit funktionaler Sicherheit. © lunopark@ shutterstock.com Bild 2: Einsatz von Hebebühnen als Car-Lifter. © Phoenix Contact Bei der sukzessiven Verbreitung von Parkinfrastrukturen in den Innenstädten handelt es sich um eine direkte Antwort auf die wachsende Anzahl von Fahrzeugen in einem begrenzt verfügbaren Raum. Urbane Gebiete sind oft dicht besiedelt, sodass die Nachfrage nach Parkplätzen nahezu unentwegt steigt. In diesem Zusammenhang bieten Hebebühnen einen wesentlichen Mehrwert. Sie verfügen über verschiedene Funktionen und werden daher vielseitig genutzt, unter anderem als Fahrzeugaufzug, auch Car-Lifter genannt. Dieser funktioniert ähnlich wie ein Personenaufzug, nur dass er vornehmlich für den Transport von Fahrzeugen entwickelt wurde und deshalb unter die Maschinenrichtlinie 2006/ 42/ EG fällt. Eine solche Hebebühne besteht aus einer Plattform, die das Fahrzeug trägt, und sich je nach Modell entweder hydraulisch oder mit Hilfe von Scheren oder Säulen auf die gewünschte Ebene bewegen lässt (Bild 2). Der Car-Lifter eröffnet vielfältige Vorteile sowohl für den privaten als auch für den gewerblichen Sektor. Als besonderer Nutzen zeigt sich die Platzersparnis, denn die Fahrzeuge können vertikal manövriert werden, sodass weniger Raum benötigt wird. Darüber hinaus sind die Hebebühnen in unterschiedlichen Größen und Konfigurationen erhältlich, um den Erfordernissen der Umgebung gerecht zu werden. Neben den zahlreichen positiven Aspekten des Car-Lifters können je nach Umgebung und Situation Gefährdungen auftreten, beispielsweise Schäden an Fahrzeugen oder Verletzungen von Personen. Daher ist es wichtig und nach bestimmten Regularien auch bindend, dass die Hersteller derartiger Parksysteme geeignete Schutzmaßnahmen ergreifen, damit sich die Gefährdungen minimieren und der Sicherheitsschutz von Personen und Fahrzeugen gegeben ist. 24 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Bild 3: Identifizierung von Gefährdungen an Maschinen gemäß der harmonisierten A-Norm EN ISO 12100. © Phoenix Contact Bild 4: Konzeptdarstellung der Sicherheitsfunktion. © Phoenix Contact Bild 5: Die Sicherheitslösung für unterschiedliche Anwendungsfälle: PSS-M-B1-PI-CLx-DR-4SC-zR. © Phoenix Contact Gefährdungen auf ein akzep tables Restrisiko reduzieren Abhängig von ihrer Bauweise und Funktion stellen Maschinen und Anlagen Gefährdungen für Personen dar. Diese Gefährdungen müssen vor dem Inverkehrbringen der Maschine identifiziert und Maßnahmen zu ihrer Reduzierung ergriffen werden. Aus diesem Grund erweist sich die in der Norm EN ISO 13849 verankerte funktionale Sicherheit als essenzieller Baustein für den Maschinenbauer. Zur Erfüllung der erhöhten Sicherheitsanforderungen sind die festgestellten Gefährdungen durch definierte Sicherheitsfunktionen auf ein akzeptables Restrisiko zu verringern, und das erforderliche Sicherheitsniveau ist anhand zertifizierter Bausteine zu validieren (Bild 3). Zur Erreichung der ermittelten und unumgänglichen Sicherheitsanforderungen der Schutzeinrichtungen mit dem errechneten Performance Level spielen passende Hardwarearchitekturen der Teilsysteme - vom Sensor über die Logik bis zum Aktor - eine zentrale Rolle. Die Hardwarearchitektur bezieht sich grundsätzlich auf eine Klassifizierung von elektronischen Systemen hinsichtlich ihrer Sicherheit. Systeme mit höheren Kategorieziffern sind darauf ausgelegt, einen gewissen Grad an Fehlertoleranz und Redundanz zur Verfügung zu stellen, um das Risiko von Fehlfunktionen und Ausfällen zu begrenzen. Dies lässt sich zum Beispiel durch die Umsetzung redundanter Komponenten, Fehlererkennungsschaltungen und Überwachungseinrichtungen realisieren. Kombination von Sensoren und ausfallsicherer Logik Sensoren sind insbesondere für die Erfassung dynamischer Situationen zuständig. Im Zusammenhang mit der ausfallsicheren Logik tragen sie zu einem fallabhängigen, sicheren und effizienten Arbeitsverhalten der Anlage bei. Zur Umsetzung eines solchen Arbeitsverhaltens hat Phoenix Contact eine applikationsorientierte Sicherheitslösung entwickelt. Mit den vertikal innerhalb der Aufzugskabine ausgerichteten Laserscannern werden die Zufahrtsbereiche überwacht und potenzielle Hindernisse detektiert. Sofern durch die Unterbrechung des Lichtvorhangs ein Hindernis identifiziert worden ist, sendet der Laserscanner ein digitales Sensorsignal, das vom sicherheitsgerichteten Eingang der Kleinsteuerung aufgenommen wird. Die Kleinsteuerung kontrolliert das Sensorsignal kontinuierlich und verarbeitet die Daten entsprechend der vorprogrammierten Softwarekonfiguration. Diese umfasst die Überprüfung auf bestimmte Zustände und Ereignisse, die eine sicherheitsgerichtete Reaktion erfordern, etwa das Abschalten von speziellen Komponenten und die damit verknüpfte Versetzung des Car- Lifters in den sicheren Zustand gemäß der Norm EN 60204-1 Stopp-Kategorie 0. Zudem sorgt die Sicherheitslösung zu jeder Zeit dafür, dass der Car-Lifter so lange nicht wiederanläuft, bis das Fahrzeug auf einer festgelegten Position auf der Plattform steht. Aufgrund der zugänglichen manuellen Rückstelleinrichtung lässt sich die Anlage nach dem Fehlerzustand wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzen (Bild 4). Zusätzliche Sicherheit zum zertifizierten Gesamtsystem Bei der Klemmenleiste PSS-M- B1-PI-CL handelt es sich um eine Lösung mit Produkten aus dem bewährten Portfolio von Phoenix Contact. Diese setzt sich aus zwei Hauptkomponenten zusammen: einer Kleinsteuerung aus der Produktfamilie PSRmodular als Logikeinheit sowie zwei redundant verschalteten Koppelrelais 36. Oldenburger Rohrleitungsforum 2024 www.iro-online.de Wasser, Abwasser, Strom, Gase mit Künstlicher Intelligenz in die Zukunft Termin: 08. und 09. Februar 2024 Veranstaltungsort: Weser-Ems-Hallen Oldenburg ca. 100 Fachvorträge ca. 440 Aussteller AUTOR B. Eng. Yasin Yasar Product Management Safety Geschäftsbereich Automation Infrastructure Phoenix Contact Electronics GmbH Kontakt: info@phoenixcontact.de Bei PSRmodular handelt es sich um eine konfigurierbare Kleinsteuerung, mit der sich mehrere Sicherheitsfunktionen in einer Applikation überwachen lassen. Die Sicherheitslogik wird mit der entsprechenden Software einfach per Drag-and-drop erstellt. Das System, das als Standalone-Konzept funktioniert, kann an kleineren Maschinen die gesamte Maschinensteuerung übernehmen. Zu diesem Zweck wird das Grundmodul als einzelne Komponente eingesetzt. Auf einer Baubreite von 22,5 mm stehen folgende Funktionen zur Verfügung:  acht sichere Eingangssignale zur Auswertung sicherer Sensoren  bis zu vier sichere Ausgänge (bis Kategorie 4)  Takt- und Meldeschaltausgänge  Kontaktvervielfachung oder -verstärkung durch externe Schütze in Verbindung mit einer integrierten Überwachung möglich. Reicht die I/ O-Zahl nicht aus, ist das System modular mit bis zu 14 sicherheitsgerichteten Erweiterungsmodulen ausbaubar. Diese werden über den Tragschienen-Busverbinder einfach an das Basismodul angeschlossen. Über ein Gateway lässt sich die modulare Sicherheitstechnik in bestehende Netzwerke einbinden. MODULARE ERWEITERBARKEIT UM BIS ZU 14 SICHERE I/ O-MODULE der Baureihe Rifline als Ausgangseinheit, die im Zusammenspiel mit den Laserscannern des Unternehmens BEA das optimale Sicherheitsniveau PL d, Kategorie 2 bieten. Die Sicherheitsbauteile der Klemmenleistenlösung, die bis PL e, Kategorie 4 vorzertifiziert sind, schaffen neben dem Zertifizierungsverfahren des gesamten Systems zusätzliche Sicherheit. Darüber hinaus stellt die Lösung in jeder Lebensphase des Car-Lifters stets den notwendigen Sicherheitsschutz zur Verfügung und deckt mit bis zu vier Laserscannern die wesentlichen Sicherheitsfunktionen der Anlage ab. Durch die Vorverdrahtung, Bereitstellung von Klemmen für die Laserscanner und die vorkonfigurierte Software für die Logikeinheit PSRmodular erhält der Anwender eine Plug-and- Play-Lösung. Ferner umfasst das Produktportfolio von Phoenix Contact weitere Geräte für die Automatisierung der Hebebühne - beispielsweise eine Spannungsversorgung der Baureihe Quint Power -, um zusätzlichen Anforderungen an die Sicherheitslösung gerecht zu werden (Bild 5). Ein Car-Lifter muss nach einer Risikobewertung gemäß EN ISO 12100 mit verschiedenen Sicherheitsfunktionen ausgestattet sein, welche die Vorgaben der harmonisierten Normen erfüllen. Die Klemmenleistenlösung PSS- M-B1-PI-CL von Phoenix Contact trägt zu einem sicheren Transport der Fahrzeuge bei und schließt Gefährdungen für Personen bestmöglich aus. Die integrierten Bauteile sind in Teilsysteme untergeordnet und erreichen in jeder Hinsicht das notwendige Sicherheitsniveau PL d. Die definierten Sicherheitsfunktionen implizieren die Überwachung der Zu- und Abfahrtsbereiche sowie des Raums im Über- und Unterdeck und stellen schließlich wichtige Not-Halt- Funktionen sicher. Die Sicherheitsfunktionen können je nach Modell des Car-Lifters variieren. 26 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Neue Stadtquartiere, neue Herausforderungen, neue Lösungen Der Mangel an Wohnraum in unseren Städten und Ballungszentren ist aktuell eine der drängenden Fragen unserer Zeit. Ursächlich hierfür sind das zu geringe Angebot an Wohnraum sowie die stetig steigende Nachfrage. Zur Schaffung von mehr Wohnraum, werden neben kleinteiligen Nachverdichtungen in bestehenden Siedlungsstrukturen auch neue Stadtquartiere entwickelt. Sie entstehen auf ehemaligen Bahn- oder Gewerbearealen, wie die Hafencity in Hamburg oder auf der grünen Wiese wie das Rieselfeld in Freiburg oder der geplante Stadtteil Alte Schäferei in Berlin-Pankow. Alle Projekte eint die Frage, wie die Mobilität effizient und klimagerecht gestaltet werden kann. Denn ein „Weiter so“ kommt nicht in Frage und ein Umdenken ist nötig. Zu den Stoßzeiten sind die Straßen verstopft und die Bahnen überfüllt. Dazu kommen Gesundheitsbelastungen durch Luftverschmutzung und Lärm sowie der Mangel an Flächen im urbanen Raum. Die Palette an Lösungen ist vielfältig: Bei der Planung neuer Stadtquartiere müssen der Fuß- und Radwegeverkehr sowie der ÖPNV priorisiert werden. Der ÖPNV muss hierfür konsequent ausgebaut werden sowie kosteneffizient und klimaverträglich gestaltet werden. Diese Ziele stehen jedoch oftmals den Gegebenheiten der Realität entgegen. Planung und Betrieb sind zeit- und kostenintensiv, Ausbauflächen sind kaum vorhanden, lange Planungs- und Genehmigungszeiten zögern die Inbetriebnahme hinaus und die Anpassung an sich wandelnde Mobilitätsbedürfnisse, den Klimawandel und die demografischen Veränderungen benötigen neue Ansätze. Lösungen zu finden, ist eine der zentralen Aufgaben bei der Entwicklung neuer Stadtquartiere. Eine Lösung: die Seilbahn. Die urbane Seilbahn - ein neues Puzzlestück Urbane Seilbahnen bieten eine Vielzahl von spezifischen Einsatzmöglichkeiten und Vorteilen. Ihre Haupteigenschaft ist, dass sich ihr Fahrweg auf der Ebene +1 befindet. Diese wird in alpinen Regionen dazu genutzt, um Berge und Täler zu überwinden. Auch im urbanen Raum bietet dies die Möglichkeit, topografische Unterschiede oder Flüsse zu überwinden. Der Einsatzbereich kann hier sogar erweitert werden: zum Überwinden von Hindernissen wie Bahntrassen oder Gewerbegebieten, zur Erweiterung bestehender Verkehrsnetze, um Lücken im Netz zu schließen oder strategisch wichtige Punkte anzubinden. Daneben bedeutet die Ebene +1, dass kaum Bodenflächen benötigt werden. Schwebend ins neue Viertel Seilbahnen als innovative Mobilitätslösung für neue Stadtquartiere Seilbahnen, urbane Mobilität, nachhaltige Stadtentwicklung, Quartiersentwicklung Robin Bischof, Han Joosten U-Bahn, Eisenbahn und Auto, sie alle bringen uns von A nach B. Doch, dass wir unsere täglichen Wege heute auf diese Art bestreiten, ist nicht selbstverständlich. Sie waren alle einmal neu und die Skepsis in der Bevölkerung war groß. Eine neue Mobilitätslösung, die heute vor den gleichen Herausforderungen steht: die Seilbahn. Unter welchen Voraussetzungen sie ein alternatives Verkehrsmittel für den öffentlichen Nahverkehr ist und welche Effekte sich daraus für neue Stadtquartiere ergeben, untersuchten wir von BPD gemeinsam mit der Hochschule Darmstadt und UNStudio in einer Forschungsarbeit. Bild 1: Urbane Seilbahn. © BPD 27 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität Ein weiterer Vorzug ist, dass Seilbahnen keinen Fahrplan benötigen, wenn sie als Umlaufsystem betrieben werden und so als Stetigförderer fungieren. Fahrgäste haben kaum Wartezeiten, da stetig eine Kabine kommt. Außerdem sind Seilbahnsysteme im Vergleich zu anderen Verkehrssystemen äußerst klimafreundlich, da sie nur wenig Energie benötigen. Darüber hinaus können Seilbahnen schnell realisiert werden und sind kostengünstig in der Herstellung. Gleiches gilt für den Betrieb: die Betriebskosten sind gering, da nur wenig Personal benötigt wird. Neben diesen technischen Eigenschaften gibt es weitere, die von Bedeutung sind. Seilbahnen tragen als markante „Landmarke“ zur Identitätsbildung einer Stadt bei und bieten den Fahrgästen eine einzigartige Aussicht und eine neue Perspektive auf die Stadt. Diese Faktoren können zur Steigerung der Attraktivität des ÖPNV beitragen. Dennoch sind Seilbahnen als Teil des ÖPNV im europäischen und insbesondere im deutschen Raum noch Exoten, obwohl die Technik bewährt ist. Erfahrungen im Winterbetrieb in Bergregionen, wie auch urbane Seilbahnen in Südamerika haben gezeigt, dass Seilbahnen als robust, zuverlässig und sicher gelten. Die Probleme im urbanen Raum sind andere: Die Unsicherheit der Bevölkerung gegenüber dem neuen Verkehrsmittel. Gegen die Seilbahn gibt es vergleichbare Einwände wie einst bei der Einführung der Eisenbahn, U-Bahn oder dem Auto. Waren es bei der Tube in London die Ängste vor der Fahrt unter der Erde und massive Emissionen durch die Dampfloks, so musste sich die Eisenbahn gegen die Angst vor der Größe der Lokomotive und der hohen Geschwindigkeit durchsetzen - Pferd und Kutsche waren damals noch der Maßstab. Auch die Seilbahn ruft Ängste und Bedenken bei der Bevölkerung hervor: die Verletzung der Privatheit, wenn bei der Fahrt möglicherweise Gärten oder Wohnungen eingesehen werden, Schattenwurf und Geräuschentwicklung bei Stützen und Kabinen sowie Unsicherheiten bei unvorhergesehenen Situationen im Betriebsablauf. Auf diese Herausforderungen und Unsicherheiten kann bei der Entwicklung eines neuen Stadtquartiers besondere Rücksicht genommen werden, wenn dieser Faktor von Beginn an beachtet wird. Herausforderungen können so bewältigt und die Vorteile der Seilbahn bestens genutzt werden. Seilbahneffekte für lebenswerte Stadtquartiere Inwieweit die Eigenschaften der Seilbahn auf die Stadt- und Quartiersentwicklung wirken, wurde in einer Forschungsarbeit 1 identifiziert. Grundlage hierfür waren Workshops und Interviews mit Expert*innen aus unterschiedlichen Fachrichtungen. Beteiligte aus der Stadt- und Verkehrsplanung, aus Verwaltung und Politik, von Seilbahnherstellern und -betreibern sowie Bürger*innen identifizieren in der Studie eine Vielzahl unterschiedlicher „Seilbahneffekte“ und deren Auswirkungen auf Menschen, Stadt sowie Klima und Natur. Seilbahneffekt Inklusion: Demografischer Wandel und Inklusion sind zu wichtigen Treibern in der Stadtentwicklung geworden. Dies erfordert, dass Zuwegungen, Stationen und Kabinen der Seilbahn barrierefrei gestaltet sind, um allen Men- 1 https: / / www.bpd-immobilienentwicklung.de/ media/ qfsnldu3/ bpd_studie_ seilbahn_230615c.pdf. schen Zugang zu ermöglichen. Auch für Menschen, die mit Gepäck, Fahrrädern oder Kinderwagen reisen, ist dies ein wichtiger Faktor. Sichergestellt wird dies bei Stationen auf Ebene +1 über Rampen, Rolltreppen und Aufzüge - vergleichbar mit der Ausstattung einer U-Bahnstation. Befindet sich die Station auf Ebene 0 ist die Zuwegung deutlich einfacher zu gestalten, hier sind Rampen oft ausreichend. Zusätzlich sind Kabinen entsprechend zu dimensionieren und barrierefrei zu gestalten. Seilbahneffekt „Komfortabel“ Mobilität muss den Reisenden Komfort bieten, um im Alltagsverkehr akzeptiert zu werden. Dies erfordert kurze Wege in den Stationen, bequemes Ein- und Aussteigen, geringe Wartezeiten und ausreichende Fahrgastinformationen. Darüber hinaus muss die Seilbahn mit anderen Verkehrsträgern vernetzt und in die Tarifstruktur des öffentlichen Verkehrs integriert sein, um als attraktive Alternative wahrgenommen zu werden. Seilbahneffekt „Begegnung“ Neue Stadtquartiere sollten so gestaltet sein, dass die Bewohner*innen ihre sozialen Bedürfnisse erfüllen können. In den Seilbahnstationen und -kabinen begegnen sich Menschen. Sie stellen so einen wichtigen Begegnungsraum dar, in dem Kommunikation und Interaktion stattfinden. Es entstehen Beziehungen, die für die Gemeinschaft und den Zusammenhalt wichtig sind. Seilbahneffekt „Flächenverbrauch“ Ein ökologischer Vorteil von Seilbahnen liegt darin, dass nur geringfügig Flächen versiegelt werdenn. Lediglich für die Stützen und Stationen werden Flächen gebraucht. Die linearen Flächen 28 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität unter den Seilen benötigen keinen Platz auf dem Boden und es werden keine Flächen versiegelt. Diese können anderweitig genutzt werden - für Parks, urbane Gärten oder Sportflächen. Diese Freiflächen entfalten dann positive Wirkung auf das Stadtklima und den Wasserhaushalt und bieten bei entsprechender Gestaltung wichtige Habitate für Pflanzen und Tiere. In diesem Kontext ist die Entschärfung der Herausforderung der Privatsphäre zu nennen. In einem neuen Stadtquartier kann die Seilbahntrasse von Beginn an so geplant werden, dass in den untenliegenden Flächen keine kritischen Nutzungen liegen, sondern beispielsweise eine öffentliche Grünfläche. Seilbahneffekte „Trennwirkung“ Straßen und andere Verkehrswege entfalten oft eine Trennwirkung, welche die Bewegung von Menschen und Verkehr einschränkt, das Stadtbild beeinträchtigt und zur Aufteilung von Stadtvierteln in isolierte Bereich führt. Seilbahnen verursachen diese Trennwirkung nicht. Seilbahneffekte „Energie, Effizienz und Emissionen“ Weitere ökologische Vorteile einer Seilbahn sind die hohe Energieeffizienz, der Einsatz erneuerbarer Energien und die ausbleibenden Lärm- und Geruchsemissionen. Sie weist die zuvor beschriebene hohe Energieeffizienz auf und kann durch erneuerbare Energien klimaneutral betrieben werden. Keine Luftverschmutzung und etwas lauter wird es höchstens an den Stationen und Stützen. Das kann durch technische Maßnahmen jedoch stark reduziert werden. Seilbahneffekt „Ökonomie“ Lebendige Stadtquartiere entstehen, indem sie möglichst viele urbane Funktionen - Wohnen, Gewerbe, Einkaufen, Bildung und Freizeit - umfassen. In diesem Kontext spielt die Ökonomie eine wichtige Rolle. Seilbahn und Ökonomie können auf zwei Ebenen betrachtet werden: Im Bereich der lokalen Ökonomie schafft die Seilbahn Effekte in der Nähe der Stationsgebäude. Dort ist mit einer hohen Fußgängerfrequenz zu rechnen, welche wiederum die lokalen Geschäfte besuchen. Zusätzlich können im Stationsgebäude Flächen für Gewerbe zur Verfügung gestellt werden. Im Bereich der gesamtstädtischen Ökonomie besteht ein Vorteil darin, dass Seilbahnen schneller zu realisieren sind im Vergleich zu etablierten Verkehrsmitteln wie Straßenbahnen. Zusätzlich können sie nahezu autonom betrieben werden, was sie zu einer kosteneffizienten Alternative macht und dadurch die öffentlichen Finanzen schont. Seilbahneffekt „Landmarke“ Seilbahnen sind aufgrund ihrer Höhe ein einprägsames und weit sichtbares Element in der Stadtlandschaft. Im urbanen Raum können sie daher für ein neues Stadtquartier identitätsstiftend als „Landmarke“ eingesetzt und betrachtet werden. Insbesondere wenn neue Stadtquartiere entwickelt werden, kann sie als zentrales Element zur Identitätsbildung genutzt werden. Wichtig hierbei ist eine entsprechende Gestaltung von Stationen und Stützen. Seilbahnstationen - neue Anker im Stadtquartier Im Rahmen der Quartiersentwicklung kommt den Seilbahnstationen eine besondere Rolle zu, da sie als bauliche Elemente des Seilbahnsystems Teil des städtischen Raums werden. Daher lag im Rahmen der Forschungsarbeit ein besonderes Augenmerk darauf, zu untersuchen, wie sie diese Rolle bestmöglich erfüllen können. Insbesondere die Frage, welche weiteren Funktionen sie neben den technisch-verkehrlichen Aufgaben übernehmen können, stand im Fokus. Die Mobilitätsfunktion und der reibungslose Ablauf des Seilbahnsystems bilden immer die Basis. Aufbauend darauf kann über weitere Funktionen nachgedacht werden. Die Seilbahnstation kann in urbanen Gebieten eine zentrale Rolle spielen und als „urban Generator“ für das Stadtquartier fungieren. Dabei ist die Platzierung von großer Bedeutung. Die Stationen sollten dort platziert werden, wo auch andere Verkehrsträger ihre Stationen Bild 2: Multifunktional gestaltete Seilbahnstation ( Visualisierung). © UNStudio 29 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRAXIS + PROJEKTE Mobilität haben. Dadurch entstehen wichtige Verknüpfungspunkte, die einen nahtlosen Übergang zwischen verschiedenen öffentlichen Verkehrsmitteln ermöglichen. Um die Mobilitätsfunktion zu erweitern, sollten Angebote der Sharing-Mobility (Car- und Bikesharing, E-Roller und E-Scooter) ergänzt werden. Außerdem sollten Abstellmöglichkeiten für Individualverkehrsmittel zur Verführung stehen. Besonderer Vorteil der Seilbahn: Da sie auf der Ebene +1 verkehrt, kann auch die Station auf dieser Höhe verortet werden, dadurch bleiben die Flächen auf der Ebene 0 für diese und weitere Funktionen frei. Neben dem Mobilitätsangebot können Seilbahnstationen zusätzliche für ein Stadtquartier relevante urbane Funktionen übernehmen. Dazu gehören Gastronomie, Versorgungseinrichtungen, Gesundheits- und Sportangebote, soziale Dienstleistungen, Bildung und Kultur. Mit der Gestaltung des Umfeldes von Seilbahnstation kann die Aufenthaltsqualität erhöht und Raum für verschiedene Aktivitäten geschaffen werden. Dies trägt zur Aufwertung des städtischen Umfelds bei. Gestaltung und Nutzung hängen dabei von der Wahl des Systems, den örtlichen Gegebenheiten, den städtebaulichen Planungen und den Bedürfnissen der Gesellschaft ab. Bei Platzierung, Dimensionierung und Gestaltung der Angebote sind die Anforderungen und Bedürfnisse von Anwohner*innen und Pendler*innen zu berücksichtigen. Zustimmung und Vertrauen gewinnen durch Partizipation In der Quartiersentwicklung wie auch bei Seilbahnprojekten ist eine umfassende Beteiligung der Bevölkerung ein entscheidender Faktor, um einem Projekt zum Erfolg zu verhelfen. Ziel ist es, die Akzeptanz und Legitimation in der Bevölkerung zu erhalten und die Bedürfnisse der unterschiedlichen Stakeholder in Einklang zu bringen. Die Beteiligung ermöglicht es, die Seilbahn an lokale Gegebenheiten und Bedürfnisse anzupassen, die Zustimmung und das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen und mögliche Konflikte oder Widerstände zu lösen. Wichtige Grundsätze der Beteiligung sind: eine frühzeitige und umfassende Beteiligung, eine transparente Kommunikation und ein kontinuierlicher Prozess. Da es sich bei der Seilbahn noch um ein wenig bekanntes Verkehrsmittel im ÖPNV handelt, sollte bei der Partizipation auf die besonderen Eigenschaften der Seilbahn und die Effekte auf das Stadtquartier eingegangen werden. Durch die Beteiligung kann auch das Projekt selbst profitieren, indem das lokale Wissen und die Bedürfnisse der Bevölkerung einbezogen werden. Dass eine Seilbahn schließlich akzeptiert wird, zeigt die Seilbahn in Koblenz, die anlässlich der BUGA 2011 entstanden ist. Die Koblenzer*innen möchten sie heute nicht mehr missen. Seilbahnen als Mobilitätslösung mitdenken Die Seilbahn im urbanen Bereich und als Teil des ÖPNV ist nach wie vor noch ein zu wenig beachtetes Verkehrsmittel in Deutschland, obwohl die Einsatzmöglichkeiten und die Seilbahneffekte für einen Einsatz im ÖPNV sprechen. Insbesondere dann, wenn die etablierten Verkehrsträger an ihre Grenzen geraten. Dass die Seilbahn in diesen Fällen eine gute Alternative ist, zeigen unterschiedliche Beispiele weltweit und auch in Europa. Im französischen Toulouse stellt eine urbane Seilbahn heute ein wichtiges Element des ÖPNV der Stadt dar. Doch auch in Deutschland bewegt sich etwas: Das Bundesministerium für Digitales und Verkehr hat vergangenes Jahr einen Handlungsleitfaden vorgestellt, um die Integration von Seilbahnen in die urbane Mobilität zu fördern. Außerdem laufen in mehreren deutschen Städten die Planungen für urbane Seilbahnsysteme. Vorreiter ist die Stadt Bonn: Dort zeigen Machbarkeitsstudie und standardisierte Bewertung, dass eine Seilbahn technisch möglich und volkswirtschaftlich sinnvoll ist. In der Forschungsarbeit von BPD, der Hochschule Darmstadt und UNStudio kommen wir zu dem Schluss, dass die Entwicklung eines neuen Stadtviertels eine Chance sein kann, eine urbane Seilbahn als Mobilitätslösung zu realisieren. Zeitgleich ist die Seilbahn eine Chance, neue Stadtquartiere schnell, effizient und nachhaltig an bestehende Stadtstrukturen anzuschließen und insgesamt nachhaltig und sozial gerecht zu gestalten. Es braucht einen ergebnisoffenen Ansatz und den Mut, auch unkonventionelle Wege zu gehen. Dass es sich lohnt, erleben wir täglich, wenn wir in U-Bahn, Eisenbahn und Auto steigen: Verkehrsmittel, die wir uns ohne Vorreiter nicht hätten vorstellen können. Robin Bischof Projektleiter Innovationsmanagement BPD Immobilienentwicklung GmbH Kontakt: r.bischof@bpd-de.de Han Joosten Leiter Gebietsentwicklung BPD Immobilienentwicklung GmbH Kontakt: h.joosten@bpd-de.de AUTOREN 30 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Fußverkehr sowohl als Bewegung zwischen Quellen und Zielen als auch als Aufenthalt in öffentlichen Straßenräumen ist mit vielfältigem Nutzen verbunden. Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist eine wesentliche Qualität städtischen Lebens, die Belebtheit öffentlicher Räume fördert den ökonomischen Erfolg angrenzender Nutzungen und die soziale Sicherheit. Fußverkehr ist ökonomisch, ökologisch sowie auch bezüglich des Flächenverbrauchs die effizienteste Fortbewegungsart und als Zugang zu und als Abgang von motorisierten Verkehrsmitteln und insbesondere zum öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) notwendiger Bestandteil der allermeisten Wege. Zu Fuß gehen bedeutet körperliche Aktivität, so dass Fußverkehr auch direkt zur Förderung der öffentlichen Gesundheit beiträgt. Diese vielfältigen positiven Effekte von Fußverkehr werden zunehmend erkannt, viele Akteure zeigen hohes Engagement bei seiner Förderung - von der strategischen Ebene der Fußverkehrskonzepte [1, 2] bis hin zur konkreten Gestaltung attraktiver und sicherer Straßenräume [3]. Diese hohe Bedeutung des Fußverkehrs an der Schnittstelle zwischen Stadt-, Verkehrs- und Gesundheitsplanung steht im deutlichen Widerspruch zur unzureichenden Datenlage. Straßenräumliche Daten zu Fußverkehrsaufkommen werden traditionell kaum erhoben, vornehmlich aus Gründen des Erhebungsaufwands und der Planungsprioritäten: Die Erhebung von Fußverkehrsaufkommen ist aufwändig, da diese bisher vor allem manuell erfolgt, automatische Zählstellen werden kaum angewendet und zeigen erhebliche Ungenauigkeiten bei der Erfassung [4]. Zudem liegt der Fokus der Untersuchungen und Planungen bisher häufig auf dem KFZ- Verkehr (individuell und öffentlich), zunehmend auch auf dem Radverkehr und weniger auf dem Fußverkehr. Technologische Innovationen bieten vielversprechende Chancen zur Verbesserung der Datenlage, zum Beispiel auf Basis von Erhebungen mit Videokameras oder anderen bildgebenden Verfahren mit zunehmend automatisierter Ableitung von Fußverkehrsstärken und auch von Bewegungslinien. Diese neuen Technologien werden aber bisher nur punktuell angewendet. Die Sichtbarkeit des Fußverkehrs in Mobilitätserhebungen ist durch das Prinzip des Hauptverkehrsmittels eingeschränkt. Übliche Modal Split-Auswertungen zur Verteilung der Wege in der Bevölkerung über die verschiedenen Verkehrsmodi zeigen beim Fußverkehrsanteil von rund 30 % nur die Wege, in denen von Quelle zum Ziel komplett zu Fuß gegangen wird. Die vor allem in den mit dem ÖPNV zurückgelegten Wegen enthaltenen Fußverkehrsetappen sind nicht sichtbar [1]. Relevante Einflussfaktoren betreffend sind die „5 Ds“ (Density/ Dichte, Diversity/ Diversität der Landnutzung, Design/ Gestaltung, Distance to Public Transport/ Erreichbarkeit des Öffentlichen Verkehrs (ÖV), Destination Accessibility/ Erreichbarkeit nahräumlicher Ziele) das in der internationalen Literatur am weitesten verbreitete System zur Klassifizierung räumlicher Determinanten von Fußverkehrsaufkommen [5]. Die Dichte wird in der Regel als Bevölkerungsdichte oder Anteil der bebauten an der gesamten Fläche („Floor Area Ratio“) in einem bestimmten Radius um einen Straßenabschnitt operationalisiert [6]. Die Diversität der Landnutzung wird über Entropiemaße oder einfacher über Anteile bestimmter Nutzungen beschrieben [7]. Dichte und Diversität sind die beiden wichtigsten Variablen für die Erklärung von Fußverkehrsauf- Bedeutungsplan Fußverkehr in Leipzig GIS-basierte Methodik als Basis für die strategische Netzentwicklung Fußverkehr, Netzplanung, Stadtstraßenentwurf, Points-of-Interest, Geodaten Friedemann Goerl, Frederik Sander, Robert Guschel, Caroline Koszowski, Regine Gerike Dieser Beitrag stellt die Methodik zur Erarbeitung eines Bedeutungsplans Fußverkehr am Beispiel der Stadt Leipzig vor. Auf Basis von Annahmen zu Relevanz und Reichweite von Quellen und Zielen für den Fußverkehr werden dem öffentlichen Raum Bedeutungsstufen zugewiesen. Diese stehen für das Fußverkehrspotenzial, das durch die im Umfeld der jeweiligen öffentlichen Räume vorliegenden städtebaulichen Strukturen erwartet werden kann. Der so erstellte Bedeutungsplan ermöglicht die Identifikation von Netzen und Priorisierung von Planungen für den Fußverkehr, ohne dass Zählungen vorliegen. 31 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende kommen, sie sind konsistent signifikant und zeigen die höchsten Effektstärken. Auch kürzere Distanzen zu Haltestellen des ÖPNV erhöhen das Fußverkehrsaufkommen. Design-Variablen auf Netzebene sind nur in manchen Studien signifikant und werden zum Beispiel über die Dichte an Knoten im Netz pro Fläche oder Blockgrößen operationalisiert [7]. Der Netzindikator „Betweenness Centrality“ zeigt in jüngeren Studien signifikante Zusammenhänge mit Fußverkehrsaufkommen, die aus der Zentralität von Knoten und Kanten in einem Netz abgeleitet werden [8]. Die Erreichbarkeit von nahräumlichen Zielen wie zum Beispiel Supermärkten zeigt deutliche Wechselwirkungen mit der Diversität der Landnutzung und hat weniger Gewicht für die Erklärung von Fußverkehrsaufkommen [5]. Typische Radien im Umkreis um die zu untersuchenden Straßenabschnitte variieren zwischen 250 m und 800 m, wobei häufig unterschiedliche Radien für unterschiedliche Ziele (zum Beispiel ÖPNV-Haltestellen oder Supermärkte) angewendet werden [9]. Diese Erkenntnisse zu den Determinanten von Fußverkehr können genutzt werden, um die Bedeutung von Straßen und öffentlichen Räumen für den Fußverkehr auf Basis von Daten zur gebauten Umwelt abzuschätzen und damit eine Hierarchisierung von Netzen und eine Priorisierung von Planungen zu ermöglichen, ohne dass Zählungen vorliegen. Dieser Beitrag stellt am Beispiel der Stadt Leipzig einen solchen Ansatz vor. Auf Basis von Annahmen zu Relevanz und Reichweite von Quellen und Zielen (Points of Interest = POI) sowie flächenhaften Nutzungen (zum Beispiel Parks) für den Fußverkehr, werden jedem Element des öffentlichen Raumes Bedeutungsstufen zugewiesen. Diese stehen für das Fußverkehrspotenzial, das für die im Umfeld der jeweiligen Räume vorliegenden städtebaulichen Strukturen unter anderem auf Basis der in der Literatur generierten Erkenntnisse erwartet werden kann. Die Methode schätzt damit implizit auch Fußverkehrsaufkommen. Durch die bisher fehlende Validierung mit tatsächlichen Zählungen bleibt sie aber auf der qualitativen Ebene der Zuweisung von Potenzialen und erhebt nicht den Anspruch, quantitativ Fußverkehrsaufkommen zu schätzen. Es können dadurch jedoch bereits Vergleiche zwischen den unterschiedlichen städtischen Räumen und deren Bedeutung für den Fußverkehr gezogen werden. Ausgangslage in der Stadt Leipzig Die Stadt Leipzig bietet mit dichten städtebaulichen Strukturen, breiten Boulevards, einer attraktiven autoarmen Innenstadt sehr gute Bedingungen für den Fußverkehr und hat sich früh zur Förderung dieser Verkehrsart bekannt. Bereits das im Jahr 1997 beschlossene Konzept für den Fußgängerverkehr in Leipzig bekennt sich zu den Zielen der Stadt der kurzen Wege und der Stärkung des Fußverkehrs. Diese hohe Priorität ist auch in den dann folgenden strategischen Planungsdokumenten und Aktivitäten sichtbar. Dies sind vor allem der Stadtentwicklungsplan Verkehr und öffentlicher Raum aus dem Jahr 2015, die Schaffung der Position eines Fußverkehrsverantwortlichen - in Leipzig als erste Stadt Deutschlands - in 2018 und die Mobilitätsstrategie 2030 in 2018 [1]). Zur fortlaufenden systematischen Förderung des Fußverkehrs ist ein dreistufiger Ansatz vorgesehen mit den Komponenten a) der Fußverkehrsstrategie als konzeptionelle Grundlage, b) des Fußverkehrsentwicklungsplans zur Identifizierung von Netzen und Schwerpunkten für Maßnahmen auf gesamtstädtischer Ebene und 3) teilräumlicher integrierter Verkehrskonzepte auf Stadtteilebene, die ebenso den Fußverkehr inkludieren. Die in der im Jahr 2021 verabschiedeten Fußverkehrsstrategie formulierten nachfrageseitigen Ziele fokussieren auf den wegebezogenen Modal Split-Anteil des Fußverkehrs, welcher stabilisiert werden soll. Angebotsseitige Ziele betreffen die Identifikation von Netzen, die Entwicklung von attraktiven, barrierefreien und sicheren Infrastrukturen, die Stärkung fußverkehrsfreundlicher Mobilitätskulturen sowie die Umsetzung von Monitoring und Evaluation. Der nachfolgend vorzustellende Bedeutungsplan zahlt auf verschiedene dieser Ziele ein. Er ermöglicht unter anderem die evidenzbasierte Identifizierung von gesamtstädtischen Entwicklungsschwerpunkten als Basis für die Netzentwicklung, die Priorisierung von Maßnahmen zur Umgestaltung oder Instandsetzung von Straßenräumen bis hin zur Verkehrsüberwachung und der ÖPNV-Netzplanung. Methodik zur Erstellung des Bedeutungsplans Die oben zusammengefasste Literatur zeigt, dass Fußverkehr im Unterschied zu anderen Verkehrsarten insbesondere nahräumliche Zusammenhänge hat. Für Fußverkehrsaufkommen relevant sind weniger Quell- und Zielbeziehungen entlang von Routen und Achsen über große Distanzen, sondern eher das direkte Umfeld mit den jeweiligen städtebaulichen Nutzungsmöglichkeiten und räumlichen Gegebenheiten. Die Grundidee der Methodik zur Erstellung des Bedeutungsplans für die Stadt Leipzig besteht vor diesem Hintergrund in der Annahme, dass spezifische fußverkehrsrelevante und -generierende Orte in den straßenräumlichen Randnutzungen als Points of Interest (POI) sowie auch Flächennutzungen wie beispielsweise Grünräume jeweils typische 32 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Fußverkehrsaufkommen mit typischen Reichweiten generieren. Die Auswahl der POI und flächenhaften Nutzungen erfolgt auf Basis der in den Empfehlungen für Fußverkehrsanlagen (EFA) der FGSV [10] gelisteten Einrichtungen mit erhöhten Anforderungen an Gehwege, welche in Typisierung und Reichweiten auf Basis der Literatur in Kombination mit Plausibilitätsprüfungen vor Ort und darüber hinaus gehenden Überlegungen adaptiert werden (Tabelle 1). Einwohnendenschwerpunkte werden als 100 m x 100 m- Rasterdaten eingebunden; Bildungseinrichtungen, Dienstleistungen, öffentliche Gebäude, Versammlungs-/ Sport- und Freizeiteinrichtungen werden im Vergleich zu den EFA [10] stärker ausdifferenziert; für den ÖPNV wird nach Bus-, Straßenbahn- und SPNV-Haltestellen (schienengebundener Personennahverkehr) unterschieden und die Reichweiten in Übereinstimmung mit dem Nahverkehrsplan angepasst; eine eigene Gruppe für Grün-, Blau- und Platzflächen wird ergänzt, um deren Bedeutung für den Fußverkehr Rechnung zu tragen. Neben der Reichweite wird jeder Klasse von POI eine Bedeutung zugewiesen, welche in der Aggregation einer Gewichtung der verschiedenen Klassen gleichkommt. Die Bestimmung der Bedeutungen wird unter Berücksichtigung von Erkenntnissen aus der Literatur zu Fußverkehrspotenzialen bestimmter Typen von POI, Expert*innenwissen sowie politischen Abstimmungen zur Priorisierung ausgewählter Nutzer*innengruppen wie Kindern und Senior*innen vorgenommen bei einer Bandbreite von eins bis 20 für die Bedeutungsstufen. In die Erstellung des Bedeutungsplans wurden dabei Fachausschüsse der Kommunalpolitik, die Fachöffentlichkeit in Form der städtischen Arbeitsgemeinschaft Fußverkehrsförderung und der Runde Tisch Fußverkehr, sowie die Stadtbezirksbeiräte und Ortschaftsräte intensiv einbezogen. Für die Zuordnung der Bedeutung der Einwohnendenschwerpunkte werden die in dem 100 m x 100 m- Raster gemeldeten Personen mit einem Koeffizienten von 0,02 multipliziert und somit eine Bandbreite von eins bis zehn erzeugt. Diese Gewichtung wurde ebenfalls mehrfach verwaltungsintern und über die Arbeitsgemeinschaft Fußverkehrsförderung in ihrer Auswirkung auf das Gesamtergebnis evaluiert und angepasst. ÖPNV-Haltestellen wird ein Grundwert nach Tabelle 1 zugewiesen. Darüber hinaus erhalten Umstiegshaltestellen fünf weitere Bedeutungspunkte, welche auf Basis des Nahverkehrsplans der Stadt Leipzig bei größeren Bedienhäufigkeiten weiterhin erhöht werden [11]. Um einen differenzierten Ausgleich zwischen innerstädtischen und randstädtischen Lagen zu erreichen, wurden die Zentren der historischen Ortslagen im Leipziger Stadtgebiet erhoben und in ihrer Bedeutung gesteigert. Ehemalige Dorfkerne der Stadtrandlagen gehen somit mit 10- Punkten als Sonderfälle in die Bewertung ein. Zur Bestimmung der Bedeutung für Parkanlagen wird auf Bewegungs- und Trackingdaten des Unternehmens Strava zurückgegriffen, um den von POI unabhängigen Fußverkehr abzuschätzen. Da durch die Bewegungsdaten insbesondere der Freizeitfußverkehr ( Joggen, Spazieren) abgebildet ist, können dadurch die Grünflächen detaillierter analysiert werden. Räume in Grünflächen mit einer besonders hohen Frequenz erhalten bis zu 150 Punkte, um hier eine Vergleichbarkeit zu den Straßenräumen herstellen zu können. Dies ermöglicht die adäquate Berücksichtigung dieser für den Fußverkehr wichtigen Flächennutzungen einschließlich auch des weniger auf POI orientierten Freizeitverkehrs. Zur Bestimmung der Gesamtbedeutung eines Straßenabschnitts über alle berücksichtigten POI und Flächennutzungen wird um jeden Bedeutungsträger eine Netzwerkanalyse mit der jeweiligen Reichweite durchgeführt, wobei keine Kreise gezogen werden, sondern differenziert entlang des tatsächlichen Straßen- und des Wegenetzes geroutet wird. Die Bedeutungen der das jeweilige Straßensegment überstreichenden Einflussbereiche werden gewichtet aufaddiert und so die Gesamtbedeutung für jedes Straßensegment ermittelt. Das der Analyse zugrundeliegende Wegenetz basiert auf zwei Datensätzen. Dies sind zum einen das Wegenetz von OpenStreetMap (OSM) als Linien und zum anderen Verkehrsflächen als Polygone von der Stadt Leipzig. Während die Verkehrsflächen nur jene Flächen umfassen, die in der Liegenschaft des Verkehrs- und Tiefbauamtes der Stadt Leipzig liegen, umfasst das Wegenetz von OSM auch Wege in Grünanlagen (Verantwortlichkeit beim Amt für Stadtgrün und Gewässer), Wege im halböffentlichen und privaten Raum und teilweise auch informelle Wege, die letztlich auch bedeutsame Verbindungen für den Fußverkehr darstellen. Der Datensatz der OSM-Wege wurde lediglich um jene Wege bereinigt, die nicht durch zu Fuß Gehende begangen werden können (zum Beispiel Autobahnen und Autobahnauffahrten). Die Geodaten der POI lagen der Stadt Leipzig größtenteils direkt vor. Sie wurden durch OSM- Daten ergänzt, falls keine flächendeckenden gesamtstädtischen Datensätze vorhanden waren. Teilweise wurden Datensätze aus beiden Quellen zusammengeführt, dabei identifizierte Dopplungen wurden bereinigt. Einige Datensätze wurden 33 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Gruppe Klasse Datenquelle Datentyp Einflussbereich Bedeutung Wohnen Einwohnerschwerpunkte Stadt Raster Fläche des Rasters 1 - 10 Einwohnerzahl * 0,02 Altenpflegeheime Stadt POI 500 m 7 Bildungseinrichtungen Kindergärten Stadt POI 200 m 7 Grundschulen Stadt POI 200 m 7 weiterführende Schulen Stadt POI 200 m 7 Hochschulen Stadt/ OSM POI 400 m 7 Dienstleistungen, Einzelhandel und Gastronomie Geschäfte OSM POI 200 m 1 Großflächiger Einzelhandel OSM, selbst erstellt POI 300 m 10 Gastronomie OSM POI 300 m 27 Öffentliche Gebäude Öffentliche Verwaltung, Bürgerämter Stadt POI 300 m 6 Bibliotheken, Post Stadt/ OSM POI 300 m 6 Polizei, Justiz OSM POI 300 m 3 Versammlungsstätten, Sport, Freizeit Sportanlagen Stadt/ OSM POI 200 m 2 Spielplätze OSM POI 200 m 4 Bäder Stadt POI 200 m 6 Großveranstaltungen selbst erstellt POI 500 m 20 Hotels, Pensionen OSM POI 300 m 3 Museen, Gebäude mit überörtlicher Bedeutung Stadt/ OSM POI 200 m 6 Haltestellen des ÖPNV Bushaltestelle Stadt POI 300 m 10 Straßenbahn haltestelle Stadt POI 300 m 15 SPNV-Haltestelle Stadt/ selbst erstellt POI 500 m 20 Gesundheit Krankenhäuser selbst erstellt POI 500 m 20 Praxen, Gesundheitsbedarf, Sozialeinrichtungen Stadt/ OSM POI 300 m 3 Grün-, Blau- und Platzflächen Friedhof Stadt Polygone Fläche 10 Wald/ Gehölz Stadt Polygone Fläche 10 Kleingärten Stadt Polygone Fläche 5 Platz Stadt Polygone Fläche 10 Gewässer Stadt Polygone Fläche + 100 m 15 Park/ gestaltetes Grün Stadt Polygone Fläche + 100 m 20 Historische Ortskerne in randstädtischer Lage Ortskerne Kartendienst Meilenblätter Sachsen, Berliner Exemplar Polygone Fläche 15 100m Puffer um Ortskerne Kartendienst Meilenblätter Sachsen, Berliner Exemplar Polygone Fläche 5 Bewegungsdaten keine bis wenige Frequenz Strava Metro Linie + 20 m Puffer Fläche 0 niedrige Frequenz Strava Metro Linie + 20 m Puffer Fläche 10 mittlere Frequenz Strava Metro Linie + 20 m Puffer Fläche 50 hohe Frequenz Strava Metro Linie + 20 m Puffer Fläche 100 sehr hohe Frequenz Strava Metro Linie + 20 m Puffer Fläche 150 Tabelle 1: Typisierung der Points of Interest (POI) und Flächennutzungen einschließlich Einflussbereich und Bedeutungsstufe. 34 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende mangels Verfügbarkeit händisch recherchiert und nachgetragen. Neben den als Punktdaten vorliegenden POI wurden Rasterdaten für die Einwohnendendichte und Polygone als Flächendaten für die Grün-, Blau- und Platzflächen sowie historische Ortslagen eingebunden. Ebenso wurden räumliche Bewegungsdaten hinzugezogen, die den Freizeitverehr (Spazierengehen, Joggen) abbilden. Dies war vor allen Dingen innerhalb der Grünflächen von Relevanz. Die so umgesetzte Analyse stützt sich auf einen umfangreichen Datensatz an Einzelelementen von Bedeutungsträgern wie POI (6 629 Datensätze), Einwohnendenraster (46 000 Datensätze), Grün- und Gewässerflächen (3 085 Datensätze), sowie den Bewegungsdaten. Ergebnisse Bild 1 zeigt den finalen Bedeutungsplan für das gesamte Gebiet der Stadt Leipzig und Bild 2 für einen innerstädtischen Ausschnitt. Die höchsten Bedeutungswerte werden mit über 650 Punkten in der Leipziger Innenstadt erreicht, da sich dort besonders viele Einzugsbereiche von Geschäften, Dienstleistungen, Gastronomie, Bildungseinrichtungen (vor allem Hochschulstandorte) und öffentlichen Gebäuden überlagern. Generell zeigt sich, dass Dienstleistungen, Einzelhandel und Gastronomie aufgrund räumlicher Ballungen die Bedeutungsräume des Fußverkehrs deutlich prägen. Entsprechend zeichnen sich auch die im Stadtentwicklungsplan 2016 (StEP) [12]) definierten Zentren der Stufen A bis D deutlich ab. Hier besteht demnach eine gute Übereinstimmung zwischen den mit der hier beschriebenen Methode ermittelten Fußverkehrspotenzialen und den räumlichen Entwicklungszielen der Stadt Leipzig. Auch in der Abstufung der Zentren zeigt sich eine gute Übereinstimmung mit vereinzelten Abweichungen. So zeigt zum Beispiel das D-Zentrum Connewitzer Kreuz eine sehr hohe und das C-Zentrum Eutritzsch/ Delitzscher Straße eine eher niedrige Ausprägung in den Bedeutungsstufen auf. Die B- und C-Zentren im StEP 2016 haben maximale Bedeutungsausprägungen von etwa 200 - 250, während die D-Zentren zwischen 100 - 150 liegen. Auch abseits der im StEP 2016 definierten Zentren gibt es Räume mit sehr hohen Bedeutungsausprägungen wie beispielsweise der Johannisplatz, der Bayerische Platz, das Musikviertel und erhöhte Bedeutungsräume innerhalb der Stadt- und Ortsteile wie zum Beispiel der Coppiplatz, der Stannebeinplatz oder der Ortskern Zweinaundorf. Dies zeigt das Potenzial dieser Bereiche für künftige Entwicklungen auf. Insgesamt zeigt sich, dass Räume mit guter Erreichbarkeit im Netz besser abschneiden. Je mehr Zufahrten ein Knotenpunkt hat und je mehr Wege dementsprechend zu einem Ort führen, desto mehr Einflussbereiche überlagern sich dort tendenziell, was wiederum zu höheren Bedeutungsausprägungen führt. Zusammenfassung und Ausblick Mit dem für die Stadt Leipzig vorliegenden Bedeutungsplan können erstmalig evidenzbasiert gesamtstädtisch Potenziale und Entwicklungsschwerpunkte für den Fußverkehr identifiziert werden. Unter Bezugnahme des Bedeutungsplanes ist es nun möglich, bei allen aufkommenden Initiativen und Maßnahmen eine Priorisierung und Hierarchisierung aus Sicht des Fußverkehrs vorzunehmen. Bei der Vielzahl von notwendigen Maßnahmen für Bild 1: Bedeutungsplan Fußverkehr der Stadt Leipzig. © Stadt Leipzig Bild 2: Innerstädtischer Ausschnitt aus dem Bedeutungsplan Fußverkehr der Stadt Leipzig . © Stadt Leipzig 35 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Friedemann Goerl Fußverkehrsverantwortlicher Stadt Leipzig, Verkehrs- und Tiefbauamt Kontakt: friedemann.goerl@leipzig.de Frederik Sander Sachbearbeiter strategische Rad- und Fußverkehrsplanung Stadt Leipzig, Verkehrs- und Tiefbauamt Kontakt: frederik.sander@leipzig.de Robert Guschel Koordinierungsstelle Leipzig weiter denken Stadt Leipzig, Stadtplanungsamt Kontakt: robert.guschel@leipzig.de Caroline Koszowski, M.Sc. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Technische Universität Dresden, Integrierte Verkehrsplanung und Straßenverkehrstechnik Kontakt: caroline.koszowski@tu-dresden.de Prof. Dr.-Ing. Regine Gerike Professur für Mobilitätssystemplanung Fakultät Verkehrswissenschaften „Friedrich List“ Institut für Verkehrsplanung und Straßenverkehr Technische Universität Dresden Kontakt: regine.gerike@tu-dresden.de AUTOR*INNEN den Fußverkehr im gesamten Stadtgebiet ist eine solche Systematik zwingend erforderlich, um die systematische und strategische Einordnung der Belange des Fußverkehrs unter den Zwangspunkten der finanziellen und personellen Ressourcen zu ermöglichen - entsprechend der in den verschiedenen strategischen Planungsdokumenten formulierten Zielstellungen [1]. Der auf Geodaten beruhende Ansatz ist transparent und übertragbar auch auf andere Städte, er erlaubt zudem durch den gewählten raumdifferenzierten Ansatz die ausgewogene Berücksichtigung der Ansprüche der stark urbanisierten Siedlungsstrukturen sowie auch der Anforderungen der Außen- und Siedlungsgebiete und der peripheren Großwohngebiete. Zur Validierung der abgeschätzten Potenziale und Bedeutungsstufen wäre die umfassende Erhebung tatsächlicher Fußverkehrsaufkommen geeignet, dies würde die Belastbarkeit der Aussagen und damit auch das Gewicht des Instruments Bedeutungsplan in der Planung weiter verbessern. LITERATUR [1] Stadt Leipzig: Fußverkehrsstrategie - Die Overtüre; 2021. Verfügbar unter: https: / / static.leipzig.de/ fileadmin/ mediendatenbank/ leipzig-de/ Stadt/ 02.6_ Dez6_Stadtentwicklung_Bau/ 66_Verkehrs_und_Tiefbauamt/ Verkehrskonzepte/ Fussverkehrsstrategie_ Online_2021.pdf (Stand: 17.07.2023). [2] Bauer, U., Hertel, M., Buchmann, L., Frehn, M., Spott, M.: Geht doch! Grundzüge einer bundesweiten Fußverkehrsstrategie: Umweltbundesamt; 2018. Verfügbar unter: https: / / www.umweltbundesamt.de/ publikationen/ geht-doch (Stand: 17.07.2023). [3] Aichinger, W., Frehn, M.: Straßen und Plätze neu denken: Umweltbundesamt; 2017. Verfügbar unter: https: / / w w w.umweltbundesamt.de/ publikationen/ strassen-plaetze-neu-denken (Stand: 17.07.2023). [4] Pestalozzi, C., Bucheli, D., Sauter, D.: Empfehlungen zur Zählung des Fussverkehrs: Bundesamt für Straßen; 2022. Verfügbar unter: https: / / monitoring-fussvelo. ch/ images/ Bilder/ D_empfehlungen_zaehlung _fussverkehr_svi_bericht_1720.pdf (Stand: 17.07.2023). [5] Ewing, R., Connors, M.B., Goates, J.P., Hajrasouliha, A., Neckerman, K., Nelson, A.C. et al.: Validating Urban Design Measures; 2013. [6] Gascon, M., Götschi, T., Nazelle, A. de, Gracia, E., Ambròs, A., Márquez, S. et al.: Correlates of Walking for Travel in Seven European Cities: The PASTA Project. Environ Health Perspect 2019; 127(9): 97003. doi: 10.1289/ EHP4603. [7] Ewing, R., Cervero, R.: Travel and the Built Environment. Journal of the American Planning Association 2010; 76(3): S. 265 - 94. doi: 10.1080/ 01944361003766766. [8] Kirkley, A., Barbosa, H., Barthelemy, M., Ghoshal, G.: From the betweenness centrality in street networks to structural invariants in random planar graphs. Nat Commun 2018; 9(1): 2501. doi: 10.1038/ s41467-018- 04978-z. [9] Aurich, A.: Modelle zur Beschreibung der Verkehrssicherheit innerörtlicher Hauptverkehrsstraßennetze unter besonderer Berücksichtigung der Umfeldnutzung (PhD Thesis): TU Dresden; 2012. Verfügbar unter: https: / / tu-dresden.de/ bu/ verkehr/ ivs/ vnm/ ressourcen/ dateien/ institutsschriftenreihe/ Heft-14. pdf ? lang=de (Stand: 19.08.2022). [10] FGSV: Empfehlungen für Fußgängerverkehrsanlagen: EFA. Ausg. 2002. Köln: FGSV-Verl.; 2002. [11] Stadt Leipzig: Nahverkehrsplan der Stadt Leipzig: Zweite Fortschreibung; 2019 Verfügbar unter: https: / / static.leipzig.de/ fileadmin/ mediendatenbank/ leipzig-de/ Stadt/ 02.6_Dez6_ Stadtentwicklung _Bau/ 66_ Ve r ke h r s _ u n d _T i e f b a u a m t / N a h v e r ke h r s p l a n / Zweite-Fortschreibung-Nahverkehrsplan-Stadt-Leipzig-2019.pdf (Stand: 17.07.2023). [12] Stadt Leipzig: Stadtentwicklungsplan Zentren 2016; 2016 Verfügbar unter: https: / / static.leipzig.de/ fileadmin/ mediendatenbank/ leipzig-de/ Stadt/ 02.6_ Dez6_Stadtentwicklung_Bau/ 61_Stadtplanungsamt/ Stadtentwicklung/ Stadtentwicklungsplaene/ STEP_ Zentren/ STEP_Zentren_2016_Blaue-Reihe-Nr-62.pdf (Stand: 17.07.2023). 36 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Mobilitätskomfort und Sicherheitsempfinden für die urbane Verkehrswende Radfahren, Produkte und Services im Fokus Radfahren, Zufußgehen, Planung, digitale Werkzeuge, Partizipation, Simulation Céline Schmidt-Hamburger, Nina Haug, Nicolaj Motzer, David Agola, Martin Moser, Maximilian Heinke, Bernd Resch, Peter Zeile Das persönliche Sicherheitsempfinden und erwarteter Komfortverlust sind für viele potenziell am Radfahren interessierte Bürger*innen oftmals Hinderungsgründe sich aktiv für das Fahrrad, das Pedelec oder sogar für das Zufußgehen zu entscheiden. Zusätzlich spielen die mangelhafte Beschaffenheit von Radinfrastrukturen und diverse äußere Einflüsse (zum Beispiel: Wetter, Luftqualität) einen wichtigen Trumpf aus gegen die Wahl des Umweltverbundes und somit in die Karten der MIV-Nutzung. Für die Betrachtung dieser subjektiven Hemmnisse beim Umstieg auf das Rad spielt eine ganzheitliche Analyse von Einflussfaktoren auf das Sicherheitsempfinden und den Mobilitätskomfort der Radfahrenden eine immer wichtigere Rolle. Für die Untersuchung dieser hemmenden Faktoren bedarf es neuer, datengestützter Ansätze. In diesem Kontext können biostatistische Daten zur Wahrnehmung und kognitiven Aktivierung („Emotionswahrnehmung“) von Radfahrenden dabei helfen, Produkt- und Servicedemonstratoren zu entwickeln, Radinfrastrukturen und Verkehrsmanagementsysteme besser zu verstehen und schlussendlich einen wichtigen Baustein zur Steigerung von Sicherheit und Komfort der Radfahrenden darstellen. Diese Ansätze untersucht das vom BMDV im mFUND geförderte Projekt „Emotionswahrnehmung für (E-)Fahrradsicherheit und Mobilitätskomfort“, ESSEM. Anhand der Beispielskommune Osnabrück erläutert der Artikel verschiedene Bausteine, wie mithilfe von Stressmessungen neue Einsichten zum Sicherheitsempfinden erzeugt werden können. Bild1: Alle Fahrten (orange) aus der zweimonatigen Erhebungsphase mit 60 Teilnehmenden in der Stadt Osnabrück. Die Teilnehmenden sammelten 1,5 Mio. Wegpunkte pro Sekunde, was einer Fahrtzeit von knapp 417 Stunden entspricht. Erste Visualisierung von Stresshotspots mit KDE auf städtischer Ebene sind möglich. © KIT | ESSEM 37 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Biostatistische Stresserkennung „Emocycling“ Ein zentraler Baustein zur objektiven Einschätzung des subjektiven Sicherheitsempfindens von Personen ist die Nutzung von biostatistischen Daten. Die Anwendbarkeit ist niederschwellig, personenzentriert und zielgruppenübergreifend. Proband*innen erkunden ihre Stadt zu Fuß oder mit dem Fahrrad und sind dabei mit Sensoren ausgestattet, die die Hautleitfähigkeit, Hauttemperatur, Geoposition und Distanzen zu Objekten aufzeichnen. Das Muster einer sogenannten „Stresssituation“ im Stadtraum ist dabei eindeutig in der Auswertung der biostatistischen Werte zu erkennen. Ein zuverlässiger Indikator ist in diesem Kontext der Anstieg von Hautleitfähigkeit und einem unmittelbar darauffolgenden Abfall der Hauttemperatur. Zur schnelleren und verständlicheren Kommunikation der Messergebnisse können sogenannte Kerndichteschätzungen (KDE) durchgeführt werden. Umgangssprachlich wird dieses Verfahren oftmals auch als „Heatmap“ bezeichnet. Solche Dichtekarten können für einzelne oder alle Proband*innen, beziehungsweise auch selektiv für bestimmte Personengruppen erzeugt werden. Sie visualisieren Stresspunkte an einer bestimmten Position innerhalb der Stadt (Bild 1). Darüber hinaus dienen diese Karten auch als Indikator für eine Fokusuntersuchung: Ist der Stress „infrastrukturbedingt“, so dass planerisch interveniert werden muss? Sind die vorherrschenden Verkehrsströme vor Ort verantwortlich für die gemessenen Stressreaktionen? Ablauf Datenerhebungen in Osnabrück Die Datenerhebungen von ESSEM finden im Projekt in den beiden Städten Osnabrück und Ludwigsburg statt. In diesem Beitrag werden die Ergebnisse der ersten Phase in Osnabrück vorgestellt, die im September 2022 durchgeführt wurde. In einer Vorlaufphase wurden dabei zunächst über den damaligen Projektpartner Bike Citizens Nutzende der gleichnamigen App als Teilnehmende akquiriert. Mithilfe deren Analysetool gelang es, erste Einblicke über die genutzten Wege der Radfahrenden innerhalb der Stadt, Geschwindigkeiten sowie bevorzugte und gemiedene Strecken zu gewinnen (Bild 2). Nach einer Registrierung als Teilnehmer*in am Projekt konnten auf diese Weise von rund 350 Personen Daten gesammelt werden. Aus diesem Pool wurden dann für die nachfolgende erste Erhebungsphase 30 Radfahrende ausgewählt, die jeweils zwei Wochen, während ihrer täglichen Wege geolokalisiert ihre Hautleitfähigkeit und Hauttemperatur zur Stress-Erkennung aufzeichneten. Begleitend dazu füllten die Teilnehmenden einen standardisierten Fragebogen aus, um dem Projekt parallel erste Erkenntnisse über die Stressexposition verschiedener Radfahrtypen zu gewähren. Anhand der Stresskarte (Bild 3) werden beispielhaft drei interessante Orte mit verschiedenen Radführungsformen an Hauptverkehrsstraßen vorgestellt und es wird der Frage nachgegangen, ob es Korrelationen zwischen Stressniveaus und bestimmten Designlösungen gibt. Abstand zu anderen Verkehrsteilnehmenden gleich Sicherheit? Eine Frage, die bei der Diskussion um den Komfort beim Radfahren immer wieder auftaucht, ist die Frage nach den Abständen zu anderen Verkehrsteilnehmenden. Aber ist ein größerer Abstand auch wirklich immer „stressfreier“? Um dieser Bild 2: Hauptroutennetz der Radfahrenden auf der linken Seite sowie bevorzugte (grün) und gemiedene Routen (rot) in Osnabrück. © Bike Citizens 38 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Fragestellung nachzugehen, wurden drei Bereiche an Hauptverkehrsstraßen in Osnabrück exemplarisch ausgewählt (Bild 3 und Bild 4), die sich durch ihre Gestaltungslösungen stark unterscheiden. Eine detailliertere Ausführung ist bei Schmidt-Hamburger et al. [1] zu finden. Zum einen ist das der Berliner Platz als zentraler Knoten an einer Ringstruktur, der durch eine extrem hohe KFZ-Belastung (Abendspitze mit 3 633 KFZ/ h und 345 Fahrrädern/ h), enge Radfahrstreifen (teilweise unter 1,5 m) und einer Vielzahl von Busspuren sowie einem hohen Fußgängeraufkommen gekennzeichnet ist. Demgegenüber steht die Katharinenstraße als „Fahrradstraße“ mit Mischverkehr. Sie beginnt im Westen und endet am Innenstadtring. Die Innenstadt ist über eine Ampelschaltung erreichbar. Da diese Route von Radfahrenden gut angenommen ist, ist sowohl das Überholen in Spitzenzeiten als auch das Linksabbiegen nicht unproblematisch. Als ein Beispiel für einen temporären Umbau aufgrund von hohem Verkehrsaufkommen und mangelnder objektiver Sicherheit ist der Bereich Lotter Straße / Natruper Wall zu nennen. Der Radweg wurde hier an den Fahrbahnrand verlegt und ist nun geschützt. Der „Berliner Platz“ lässt sich als Standardbeispiel für die Gestaltung vieler großer Kreuzungen in deutschen Städten identifizieren. In der Vergangenheit wurden vielfach Gestaltungsentscheidungen durch Richtlinien wie die „Richtlinien für die Anlage von Stadtstraßen“ RAST standardisiert. Die Dichte der Moments of Stress (MOS) in diesem Bereich legt nahe, die Entwurfsentscheidungen im Hinblick auf Bild 3: Fokusbereiche auf der Heatmap von Osnabrück. © KIT | ESSEM die subjektive Sicherheit und die allgemeine Qualität des Radverkehrs insbesondere an Kreuzungen zu überdenken. Ähnlich gestaltet und räumlich vergleichbar war in der Vergangenheit die Situation an der Kreuzung Lotter Straße/ Natruper Wall. Durch die Umwandlung einer Abbiegespur in eine ausgewiesene und geschützte Fahrspur für den Radverkehr sind hier jedoch deutlich weniger Stresspunkte gemessen worden. Leider liefert die Messkampagne hier keine Daten vor der Umgestaltung, die MOS-Analyse zeigt allerdings einige Anzeichen für eine Verbesserung des Belastungsniveaus im Vergleich zum Berliner Platz, was auf die Umgestaltung des nördlichen Abschnitts der Kreuzung zurückzuführen sein könnte. Die Katharinenstraße zeigt recht interessante und aufschlussreiche Ergebnisse. Die Straße wurde zu einer Fahrradstraße umgestaltet, die zwar weiterhin den motorisierten Verkehr zulässt, aber dem Radverkehr Vorrang einräumt. Die in der Kampagne aufgenommenen Daten suggerieren, dass die Katharinenstraße auf verschiedenen Routen, die von Osten nach Westen führen, gut angenommen wird. Gleichzeitig herrschen hier trotzdem höhere Stresswerte vor. Ursächlich hierfür könnten die große Anzahl von PKW-Parkplätzen mit 45 °-Winkel, sowie die zahlreichen Einmündungen in Nord-Süd-Richtung sein. Bei der Ursachenforschung, wer warum „Stress“ empfindet, werden die Teilnehmenden in einem weiteren Schritt in Radfahrtypen unterteilt und anschließend untersucht, inwieweit diesbezüglich Unterschiede in der Wahrnehmung der subjektiven Sicherheit identifiziert werden können. 39 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Fragebögen - Beteiligte Radfahrtypen Verschiedene persönliche Dispositionen diversifizieren den EmoCycling-Ansatz. So gibt es beispielsweise Unterschiede bei Personen, die in der Regel wenig Fahrrad fahren, beim Geschlecht, dem Reisezweck, dem Alter und der psychischen Konstitution der Personen bei der Bewertung von Stressoren [2]. Darüber hinaus ergeben sich aus biopsychologischer Sicht Hinweise darauf, dass genetische oder psychische Prädispositionen Stressreaktionen verstärken oder abschwächen können. In diesem Zusammenhang sind vor allem die Faktoren Persönlichkeit, Kontrollüberzeugungen und Risikotoleranz maßgebend [3, 4]. Diese Daten werden mittels standardisierter Fragebögen vor den Sensormessungen erhoben und in die Auswertung einbezogen. Dadurch sollen besonders gefährdete Gruppen in Bezug auf Stress identifiziert werden, um Erkenntnisse über Barrieren zur Gleichstellung von Radfahrenden zu gewinnen. Weitere Erkenntnisse können aus der Zunahme des Radfahrverhaltens gewonnen werden. Nach Geller [5] lassen sich Radfahrende in vier Gruppen einteilen: „die Starken und Furchtlosen“, „die Begeisterten und Souveränen“, „die Interessierten, aber Besorgten“ und „keine Chance, ganz egal wie“ [5]. Ein Überblick über die Merkmale ist in Tabelle 1 zu finden. Die Übergänge zwischen den Gruppen sind dynamisch zu betrachten. Auf diese Erkenntnisse aufbauend, zeigt Tabelle 2 eine deskriptive Auswertung der Stichprobe von 26 Radfahrenden aus dem ersten Erhebungszeitraum 2022 in Osnabrück. Eine detailliertere Ausführung ist bei Haug et al. [6] und Schmidt- Hamburger et al. [1] zu finden. Die Stressreaktionen der Radfahrtypen werden daraufhin in einem weiteren Schritt räumlich verortet, um festzustellen, ob es hier Unterschiede gibt, auf die gegebenenfalls auch planerisch eingegangen werden kann. Weiter dient dieser methodische Ablauf der Beantwortung der Fragestellung, ob mithilfe von Emotionsmessungen und Fragebögen auch Produkte evaluiert werden können, die die subjektive Sicherheit beim Radfahren erhöhen können. Produktevaluation Viel hilft viel - oder auch nicht? Die Auswahl an Radfahr-Equipment ist nahezu unendlich. Doch inwieweit unterstützen unterschiedliche Produkte das Sicherheitsempfinden von Radfahrenden tatsächlich? Dieser Frage wird im Rahmen einer Experimentalstudie innerhalb von ESSEM nachgegangen, bei der Radfahrende unter konstanten Rahmenbedingungen unterschiedliche „sicherheitsfördernde“ Gruppe Die Starken und Furchtlosen (Furchtlose Radfahrende) Die Begeisterten und Souveränen (Alltagsradfahrende) Die Interessierten aber Besorgten (Interessierte) Keine Chance, ganz egal wie! Eigenschaften  stetige Radnutzung  sicher und souverän  tägliche Nutzung  souverän, mittleres Sicherheitsbedürfnis  unregelmäßige  Nutzung  besorgt um Sicherheit  aufgeschlossen bzgl. Radfahren  keine Radnutzung Fahrkönnen tadellos selbstbewusst, teilweise defensiv wegen Sicherheit wenig souverän schlechte Kontrolle über das Fahrrad, kaum Fahrpraxis Stresstoleranz hoch mittel niedrig sehr niedrig Bild 4: Ansichten mit Fahrradinfrastruktur der verschiedenen Fokusbereiche. © Heinke | ESSEM Tabelle 1: Radfahrtypen nach Geller [5]. 40 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Produkte einzeln oder in Kombination tragen. Die Erhebung biostatistischer Daten ermöglicht dabei die Erfassung des objektiv empfundenen Stresses, wohingegen nachfolgende Kurzbefragungen der Proband*innen Informationen zum subjektiven Sicherheitsempfinden liefern. Mittels statistischer Auswertungsverfahren lassen sich zum einen Informationen über die Kongruenz zwischen subjektivem und objektivem Sicherheitsempfinden gewinnen. Zum anderen kann so der grundsätzliche Beitrag sicherheitsfördernder Radfahrprodukte, aber auch deren spezifischen Kombinationen identifiziert werden. Eine Analyse erfolgt zudem nach diversen Nutzendengruppen, zum Beispiel segmentiert nach soziodemografischen Kriterien, aber auch solchen zum Mobilitätsverhalten und zu Persönlichkeitsmerkmalen. Dies erlaubt die Ableitung zielgruppenspezifischer Ergebnisse. Bei den ausgewählten Produkten handelt es sich um die folgenden: Radar mit Dashcam und Rücklicht, Überholabstandsmesser, Protektor-Rucksack, Sturzhelmsensor. Diese Produkte sind weniger als „Standard“-Sicherheitsprodukte, wie beispielsweise Helm oder Licht, zu charakterisieren, sondern vielmehr als Zusatzprodukte, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten beim Radfahren zu mehr Sicherheit beitragen sollen. Die Studie wird Anfang 2024 am Fraunhofer IAO in Stuttgart durchgeführt, mit den Ergebnissen kann gegen Mitte bis Ende des Jahres gerechnet werden. Fazit Die präsentierten Bausteine innerhalb des ESSEM- Projektes zeigen einmal mehr auf, dass die Messung von Emotionen sowohl für die Planung als auch für die Produktevaluation sehr große Potenziale und Chancen mit sich bringt. Was aber auch klar wurde ist, dass die Ergebnisse nicht immer eindeutig sind. Dies liegt zum einen an dem immer noch jungen Forschungsansatz und zum anderen an den sich im städtischen Kontext immer schneller wechselnden Rahmenbedingungen: Faktoren, wie zum Beispiel das Wetter mit Wind und Regen, oder aber auch die Verkehrsdichte, sind stark veränderlich und tages-, beziehungsweise jahreszeitenabhängig. Labor-Bedingungen sind in der Realität schwer herzustellen. Durch die räumlich gut darzustellenden Ergebnisse werden zudem schnell Diskussionen über die Messbarkeit subjektiver Eindrücke angestoßen. Dies kann helfen, das Verständnis über die Ängste von Verkehrsteilnehmenden besser zu verstehen, und schließlich einen wichtigen Baustein zur aktiven Gestaltung der Verkehrswende beisteuern. LITERATUR [1] Schmidt-Hamburger, C., Haug, N., Eltner, T., Zeile, P.: Urban Stress and Bicycle Infrastructure in the City of Osnabrück. Analysing well-being and infrastructure relationships in streetscapes through a triangulation approach. In: Schrenk, M., v. Popovich, V., Zeile, P., Elisei, P., Beyer, C., Ryser, J., Kaufmann. H. R. (Eds.): REAL CORP 2023 Proceedings/ Tagungsband, (2023). CORP - Competence Center of Urban and Regional Planning. https: / / archive.corp.at/ cdrom2023/ papers2023/ CORP2023_88.pdf [2] Schmidt-Hamburger, C., Zeile, P., Herbeck, J.: Stresstest Fußverkehr: Eine experimentelle Studie zur Messung des Stressempfindens Zufußgehender am Marienplatz in Stuttgart. In: Schrenk, M., v. Popovich, V., Zeile, P., Elisei, P., Beyer, C., Ryser, J., Kaufmann. H. R. (Eds.): REAL CORP 2022: Mobility, knowledge and innovation hubs in urban and regional development (2022) Variable/ Beschreibung N Teilnehmende = 26 (in %) N MOS = 11996 (in %) Alter (> 45) 54 61 Geschlecht (weiblich) 46 46 Bildungsniveau, hoch 42 Radfahrtypen Keine Chance, ganz egal wie! 0 0 Interessierte 27 22 Alltagsradfahrende 70 68 furchtlose Radfahrende 3 10 Antriebsart Muskelkraft 60 Elektrisch 40 Meist genutzte Rad-Typen Trekking Bike 42 City Bike 31 Auswertung Radverkehrsinfrastruktur Osnabrück sehr gut, gut 0 befriedigend 12 ausreichend 42 mangelhaft 31 ungenügend 15 Big Five Persönlichkeit Extraversion (über Durchschnitt) 54 52 Neurotizismus (über Durchschnitt) 69 75 Offenheit (über Durchschnitt) 65 68 Gewissenhaftigkeit (unter Durchschnitt) 73 77 Verträglichkeit (unter Durchschnitt) 58 59 Kontrollüberzeugung Internal (unter Durchschnitt) 62 54 External (unter Durchschnitt) 81 54 Risikoaffine 62 59 Statistische Kennzahlen MW = 461 MOS; Median = 443 MOS Tabelle 2: Exemplarische Auswertung der Stressmomente nach Radfahrtypen sowie weiteren Merkmalen. 41 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Martin Moser, M.Sc. FB Geoinformatik - Z_GIS Universität Salzburg Kontakt: martin.moser@plus.ac.at Maximilian Heinke Referat Mobile Zukunft Stadt Osnabrück Kontakt: heinke@osnabrueck.de Prof. Dr. Bernd Resch FB Geoinformatik - Z_GIS Universität Salzburg Kontakt: bernd.resch@plus.ac.at Dr.-Ing. Peter Zeile Senior Researcher Fachgebiet Stadtquartiersplanung STQP Karlsruher Institut für Technologie KIT Kontakt: peter.zeile@kit.edu pp. 701 - 711). CORP - Competence Center of Urban and Regional Planning. https: / / doi.org/ 10.48494/ RE- ALCORP2022.0030 [3] Schandry, R.: Biologische Psychologie. Beltz, (2011). [4] Kovaleva, A., Beierlein, C., Kemper, C. J., Rammstedt, B.: Eine Kurzskala zur Messung von Kontrollüberzeugung: Die Skala Internale-Externale-Kontrollüberzeugung-4 (IE-4). GESIS Working Paper, (2012). [5] Geller, R.: Four Types of Cyclists. Portland Bureau of Transportation, Portland, Oregon, (2009). [6] Haug, N., Schmidt-Hamburger, C., Zeile, P.: Identifying urban stress and bicycle infrastructure relationships: a mixed-methods citizen-science approach. In: Urban, Planning and Transport Research, Vol. 01, (2023) - Issue 01, Taylor & Francis Open Access. http: / / doi.or g/ 10.1080/ 21650020.2023.2267636 Céline Schmidt-Hamburger, M.A. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Karlsruher Institut für Technologie KIT Kontakt: celine.schmidt-hamburger@kit.edu Nina Haug, M.Sc. Wissenschaftliche Mitarbeiterin Karlsruher Institut für Technologie KIT Kontakt: nina.haug@kit.edu Nicolaj Motzer, M.Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement IAT Universität Stuttgart Kontakt: nicolaj.motzer@iat.uni-stuttgart.de David Agola, M.Sc. Institut für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement IAT Mobilitäts- und Innovationssysteme Universität Stuttgart Kontakt: david.agola@iat.uni-stuttgart.de AUTOR*INNEN Ihre Spende hilft! www.drk.de Deutsches Rotes Kreuz e.V. IBAN: DE63 3702 0500 0005 0233 07 BIC: BFSWDE33XXX Überlebenswichtig, aber nicht selbstverständlich. Sauberes Wasser. 42 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Pendeln ist für viele Menschen Alltag und beschreibt die Überwindung der Wegstrecke zwischen der eigenen Wohnung und dem Arbeitsplatz inklusive Zwischenstopps. Nach wie vor nutzen die meisten Berufspendler*innen dafür tagtäglich das eigene Auto. Am Beispiel des Ballungsraums Frankfurt Rhein-Main ergab sich in den letzten 20 Jahren allein für die Stadt Frankfurt ein Zuwachs des Pendelaufkommens von 30 %. Insgesamt pendeln rund 400 000 Personen täglich in die Metropole. Pendeln kann als sozial-ökologisches Problem verstanden werden. Neben den verkehrlichen und den ökologischen Belastungen der lokalen und globalen Umwelt hat der Pendelverkehr auch weitreichende Folgen für die Lebensqualität und das soziale Umfeld der Pendler*innen. So zeigt sich beispielsweise, dass lange Pendelstrecken zu einem erhöhten Stressempfinden bei Pendler*innen führen. Noch immer sind es Männer, die regelmäßig und weitere Strecken pendeln [1]. Dies trägt zur Verfestigung traditioneller Rollenaufteilungen in Familienhaushalten bei. Im Kontrast dazu sind pendelnde, berufstätige Frauen oft einer dreifachen Belastung aus Arbeitsalltag, Sorgearbeit und Stress durch das Pendeln ausgesetzt. Besonders in solchen Konstellationen führt die Pendelmobilität häufiger zu negativen gesundheitlichen Auswirkungen [2]. Der Pendelverkehr hat aber vor allen Dingen starke negative Auswirkungen auf die Umwelt: 25 % der verkehrsbedingten klimaschädlichen CO 2 -Emissionen fallen allein auf Pendelverkehre mit dem PKW zurück [3]. Auch lassen sich Lärm- und Stickoxidbelastungen maßgeblich als Folge des motorisierten Pendelverkehrs identifizieren. Schließlich orientiert sich die Auslegung von Verkehrsinfrastruktur an der Auslastung in Spitzenzeiten, was das Pendeln zusätzlich zu einem starken Treiber für den verkehrsbedingten Flächenverbrauch identifiziert. Die vielfachen Bemühungen, den Pendelverkehr auf den Umweltverbund zu verlagern und die Folgen abzumildern, haben bislang kaum gefruchtet. Ansatzpunkte für eine nachhaltigere Gestaltung der Pendelmobilität zu identifizieren war Gegenstand des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung BMBF geförderten Forschungsprojekts „PendelLabor“. Pendelmobilität wurde aus einem ganzheitlichen Blickwinkel betrachtet und als Alltagspraktik verstanden. Demnach ist Pendeln ein gesellschaftlich geteiltes und individuell ausgeübtes Handlungsmuster. Insbesondere die damit verbun- Pendelmobilität nachhaltiger gestalten Mobilitätsexperimente als neue Ansätze für Veränderungen Nachhaltige Mobilität, Pendelmobilität, Mobilitätswende, Transformation Jutta Deffner, Jason Neuser, Luca Nitschke Immer mehr Menschen pendeln zur Arbeit. Nach wie vor nutzen die meisten für ihren Pendelweg das Auto. Die Folgen sind Stress und Ärger in der Rushhour, Gesundheitsprobleme, Auswirkungen auf die Lebensqualität - und Belastungen für Klima und Umwelt. Wie kann es auch nachhaltiger gehen? Ein regionales Mobilitätsexperiment im Rhein-Main Gebiet zeigt Ansatzpunkte für Maßnahmen auf, wenn die Einbettung von der Pendelmobilität in den Alltag genauer betrachtet wird. © Heybike auf Unsplash 43 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende dene Verkehrsmittelwahl ist nur in seltenen Fällen eine Entscheidung, die täglich bewusst und neu getroffen wird, sondern läuft - wie Mobilitätsverhalten allgemein - sehr routiniert ab. Mit diesem Blick wird deutlich, warum es schwierig ist, etablierte Pendelpraktiken zu verändern. Sie sind zudem eng mit anderen Alltagspraktiken wie der Kinderbetreuung, der Haushaltsversorgung oder Freizeitbeschäftigungen verbunden. Diese Verbundenheit mit anderen Praktiken erklärt, weshalb rein verkehrsbezogene Maßnahmen allein zu kurz greifen, um Pendelmobilität nachhaltiger zu gestalten. Das Mobilitätsexperiment Neben der detaillierten empirischen Untersuchung bestehender Pendelpraktiken ging es im Projekt darum, nicht nachhaltige Pendelpraktiken zu hinterfragen und Alternativen aufzuzeigen. Das Kernelement bestand daher darin, Berufspendler*innen nachhaltige Alternativen für ihre (tägliche) Pendelmobilität anzubieten. Insgesamt 40 Teilnehmende aus den zwei hessischen Landkreisen Hochtaunus und Groß-Gerau erhielten für den Zeitraum des Experimentes, von Mitte Juli 2022 bis Ende Februar 2023, die Möglichkeit neue Pendelpraktiken auszuprobieren und statt wie bisher ihren PKW zu nutzen, auf die angebotenen Alternativen umzusteigen. Der Aufbau des Experimentes ist in Bild 1 dargestellt. Bevor die Teilnehmenden neue Routinen erprobten, erhielten sie eine persönliche Mobilitätsberatung in der die konkreten Wege, die Verkehrssituation und Rahmenbedingungen durchgesprochen wurden. Ebenso wurden die Wünsche für das Experiment diskutiert. Die Auswahlmöglichkeiten umfassten die E-Bike-Nutzung, eine ÖPNV-Flatrate, die Nutzung eines Elektroautos und eines Arbeitsplatzes in einem Co-Working Space. Darüber hinaus stand den Teilnehmenden ein kleines Mobilitätsbudget zur Verfügung, von dem sie Ausstattung für ihre neue Pendelpraktik kaufen konnten, wie beispielsweise Fahrradregenkleidung oder ein Podcast-Abo. Das Experiment war für einen mehrmonatigen Zeitraum unter Bedingungen des realen Alltagslebens konzipiert, um tatsächlich neue Pendelpraktiken etablieren zu können und diesen Prozess wissenschaftlich zu begleiten. Zur Evaluation wurde mit allen Teilnehmenden ein strukturiertes Vorher- und Nachher- Interview, sowie eine Halbzeit- und Abschlussbefragung durchgeführt und diese sowohl qualitativ als auch quantitativ ausgewertet. Veränderung von Pendelpraktiken Ein zentrales Ergebnis aus dem Experiment ist, dass sich für viele Teilnehmer*innen während des Experimentes die Art und Weise, wie sie ihre Pendelmobilität bewerten, verändert hat. Die Wahrnehmung veränderte sich in Bezug auf emotionale Faktoren und in Bezug auf persönlichen Nutzen, den die neue Pendelpraktik gegenüber der alten hatte. Dabei zeigte sich vor allem für Nutzende von E-Bikes, dass das Pendeln als tägliche körperliche bzw. sportliche Betätigung an der frischen Luft, oftmals auf Streckenabschnitten durch die Natur, als sehr attraktiv bewertet wurde. Die Teilnehmenden berichteten von einem für sie ganz neuen Pendelerlebnis. Das Fahren hat ihnen Spaß gemacht, die körperliche Betätigung brachte ein positives Gefühl mit sich, etwas „getan“ zu haben und bot zudem nach der Arbeit die Möglichkeit abzuschalten und den Stress des Tages „in die Pedale zu treten“. Auch wurde es als positiv wahrgenommen, die Zeit auf dem E-Bike als Eigenzeit für sich persönlich zu haben und den Tag reflektieren zu können. Letzteres war ein Aspekt, der auch von den Nutzenden des öffentlichen Verkehrs häufiger erwähnt wurde. Der ÖPNV hatte, im Vergleich zur Autonutzung, eine Entlastung zur Folge, die mit der Aufmerksamkeit auf den Straßenverkehr verbunden ist. Sie hatten den kompletten Weg über die Möglichkeit, die Fahrtzeit individuell zu gestalten. Dies ermöglichte es ihnen entweder schon auf dem Weg zur Arbeit, erste Aufgaben zu erledigen, beispielsweise E-Mails zu beantworten oder die Zeit zum Entspannen und Abschalten zu nutzen, indem sie lasen, Serien schauten oder einfach nur Musik hörten. Obwohl sich für die Tester*innen von E-Autos keine derartigen neuen Möglichkeiten ergaben, haben auch sie neue Sichtweisen auf die Pendelmobilität entwickelt. Die Teilnehmenden bewerteten die Nutzung positiv als ökologisch-zukunftsweisend und empfanden das Pendeln dadurch attraktiver und sich selbst als fortschrittlich. Ein weiteres, wichtiges Ergebnis bezieht sich auf die Ausbildung neuer Fähigkeiten, die für eine multimodal ausgerichtete Pendelmobilität hilfreich und notwendig sind. An erster Stelle stand dabei für viele Teilnehmenden die Nutzung von Smartphone-Apps. Bild 1: Aufbau des Mobilitätsexperimentes. © PendelLabor 2023 Individuelle Mobilitätsberatung Mobilitätsexperiment Wahlmodule Module für alle E-Bike ausprobieren Dezentrales Arbeiten/ Co-Working Budget „Pendelalltag erleichtern“ ÖPNV-Monatsticket nutzen E-Auto ausprobieren Online Forum 44 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Apps der regionalen Verkehrsunternehmen wurden genutzt, um die Fahrpläne, mögliche Verspätungen oder Ausfälle festzustellen. Weiterhin wurden Wetter-Apps genutzt, um die Fahrradbekleidung an die Witterungsbedingungen anzupassen oder grundsätzlich abzuwägen, ob mit dem E-Bike gefahren wird oder einem wetterunabhängigeren Verkehrsmittel. Auch Routing-Apps spielten eine wichtige Rolle, um bessere Streckenführungen ausfindig zu machen sowie Apps, mit denen sich Lademöglichkeiten für das E-Auto am Zielort lokalisieren ließen. Die Nutzung und Kombination neuer Verkehrsmittel im Alltag ermöglichte den Teilnehmenden, sich Fähigkeiten anzueignen, um mit auftretenden Hindernissen umzugehen, dadurch Sicherheit zu erlangen und Bedenken abzubauen. Dazu zählte zum Beispiel mit schlechten Witterungsbedingungen oder Pannen bei der E-Bike-Nutzung umzugehen, alternative Routenplanung bei Ausfällen im ÖPNV zu finden oder die Reichweite von E-Autos abzuschätzen. Eine dritte Betrachtungsdimension richtete sich auf Infrastruktur und Angebote. Hier haben alle Teilnehmenden Mängel festgestellt. Diese bestanden in einer zu geringen Verfügbarkeit von Ladestationen, fehlenden Ausweichrouten und alternativen Verbindungen von öffentlichen Verkehrsmitteln, schlecht ausgestatteten und unattraktiven Bahnhöfen sowie Fahrradwegen in schlechtem Zustand oder mit unzureichender Beleuchtung. Als letzter Ergebniskomplex steht die Passung der neu etablierten Pendelpraktiken in die bestehenden Alltagspraktiken. Hier zeigten sich Schwierigkeiten vor allem für die ÖPNV- und E-Bike-Nutzenden beim Verbinden der neuen Pendelroutine mit den anderen Routinen im Haushalt und der Familie. Zum einen musste mit einer geringeren Transportkapazität als beim Auto umgegangen werden. Zum anderen kam es teilweise zu Schwierigkeiten, etwa bei der Einbindung von Kindern oder Haustieren in das Experiment. Hier machten es mangelnde Flexibilität und Verspätungen häufig schwer, den Herausforderungen gerecht zu werden. Daher griffen die Teilnehmenden in Zweifelsfällen auf den privaten PKW zurück. Folgerungen Mit Blick auf die Zielsetzung des Projektes, neue Perspektiven auf das Pendeln zu schaffen und dabei nachhaltige Alternativen anzubieten, liegt das übergeordnete Ergebnis des Experiments in der erreichten Verhaltensänderung der Teilnehmenden. Das Einlassen auf neue Formen des Pendelns hat zu neuen Alltagserfahrungen und über die Dauer des Experimentes zur Etablierung neuer, kreativer Routinen geführt. Selbstverständlich war der Umgang mit schwierigen Erfahrungen, wie der Erkenntnis über eine geringere Flexibilität, die noch unzureichend ausgebaute Ladeinfrastruktur oder der Mehraufwand in der Alltagsorganisation für viele auch ernüchternd. Diese wurden in den meisten Fällen aktiv bewältigt und führten zur Aneignung neuer Routinen, die in Verbindung mit den neuen Pendelpraktiken standen. Hier sind beispielsweise mobiles Arbeiten im Zug, die Veränderung auf monatlichen statt wöchentlichen Familieneinkauf mit dem Auto, um öfter mit dem E-Bike zur Arbeit zu fahren oder andere einfache alltägliche Anpassungen (abendliches Laden des E-Autos zu Hause, Wechselkleidung am Arbeitsplatz) zu nennen. Dominierender waren jedoch die positiven Erfahrungen, die die Teilnehmenden bestärkten, ihre neuen Routinen beizubehalten: gesteigertes Wohlbefinden, geringeres Stressempfinden durch mehr Bewegung oder auch das leistungsfähigere Ankommen am Arbeitsplatz, die Möglichkeiten nach der Arbeit im ÖPNV oder auf dem Fahrrad abzuschalten oder ein insgesamt besseres Gefühl, durch die nachhaltigere Mobilität. In der standardisierten Auswertung zeigt sich: Über zwei Drittel der befragten Teilnehmer*innen gaben an, ihre Einstellung gegenüber dem Pendeln im Allgemeinen geändert zu haben und weitere rund 76 % sagten, dass sich durch das Experiment ihr Blick auf nachhaltige Mobilität geändert hat. Die Veränderung der Verkehrsmittelwahl vor und nach dem Experiment ist in Bild 2 dargestellt. Von 39 Befragten zeigt sich lediglich bei acht Teilnehmenden keine Veränderung. Die übrigen 31 Teilnehmenden hingegen haben ihr Pendelverhalten bereits geän- Bild 2: Veränderung im Pendelverhalten. n= 39. © Nitschke et al. 2023 [4] 45 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende dert oder haben dies in Zukunft vor. Aufschlussreich dabei ist, dass die Mehrzahl angab, zukünftig mehrere Verkehrsmittel kombinieren zu wollen, das heißt, multimodal zu pendeln. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass solche Mobilitätsexperimente eine transformative Wirkung auf die Entwicklung neuer Alltagspraktiken haben können. Das Experiment zeigt nicht nur die Komplexität von Veränderungsprozessen auf, sondern dass eine entsprechende unterstützende Rahmung Veränderungen im Alltag attraktiv machen kann. Mobilitätsverhalten in Richtung Nachhaltigkeit zu verändern kann so als Gestaltungs- und Lernprozess gesehen werden. Durch die Möglichkeit Alternativen kennenzulernen, kann das herkömmliche Privatauto als Selbstverständlichkeit relativiert werden und die Hemmschwelle neue Alltagspraktiken aufzunehmen, gesenkt werden. Mobilitätsexperimente können so die Mobilitätswende in den Köpfen der Menschen entscheidend in Gang setzen. Der Projektverbund hat aus den Erkenntnissen Empfehlungen formuliert [5], um Akteuren aus Planung, Politik, Unternehmen und Zivilgesellschaft direkt umsetzbare Möglichkeiten und Anregungen aufzuzeigen, wie Pendelmobilität nachhaltiger gestaltet werden kann: 1. Die emotionale Bewertung des Pendelwegs ist ein wichtiger Hebel zur Veränderung von Pendelmobilität. 2. Einkaufs-, Freizeit- und Kinderbetreuungseinrichtungen müssen mit dem Umweltverbund sicher erreichbar sein. 3. Flexibilität beim Arbeiten ermöglicht nachhaltige Pendelmobilität. 4. Nachhaltiges Pendeln braucht multimodale Mobilitätsangebote. 5. Wer Pendeln verändern will, muss Maßnahmen passgenau kombinieren. 6. Experimentierräume bieten die Möglichkeit, neue Pendelpraktiken zu erproben und neue Kompetenzen zu erlernen. 7. Co-Design-Prozesse und Planspiele ermöglichen Perspektivwechsel, um Pendelmobilität neu zu denken. 8. Mit betrieblichem Mobilitätsmanagement übernehmen Arbeitgeber Verantwortung und schaffen Anreize. 9. Zielgerichtete Formen der Zusammenarbeit stärken die regionale Handlungsfähigkeit. Insbesondere der Transfer der aktivierenden Methode „Mobilitätsexperiment“ in eine breitere Anwendung in Kommunen und Regionen und stellt eine wirkungsvolle Möglichkeit dar, um die Mobilitätswende erfahrbar zu machen [6]. Gleichwohl ist es wichtig zu betonen, dass nachhaltiges Pendeln keine Angelegenheit ist, die Pendelnde allein individuell lösen können. Die Gestaltung der Rahmenbedingungen, damit nachhaltige Pendelmobilität einfach und für alle zugänglich wird, liegt in der Verantwortung von Kommunen, Planung und Politik sowie den Arbeitgebern. LITERATUR [1] Skora, T., Rüger, H., Schneider, N. F.: Räumliche Mobilitätserfahrungen im Lebenslauf und der Übergang in die Erstelternschaft. Bevölkerungsforschung Aktuell (1), (2015) S. 2 - 10. [2] Augustijn, L.: Berufsbedingte Pendelmobilität, Geschlecht und Stress, Duisburger Beiträge zur soziologischen Forschung, No. 2018-02, Universität Duisburg Essen, (2018). https: / / doi.org/ 10.6104/ DBsF-2018-02. [3] Schelewsky, M., Follmer, R., Dickmann, C.: CO 2 -Fußabdrücke im Alltagsverkehr: Datenauswertung auf Basis der Studie Mobilität in Deutschland. Umweltbundesamt. Dessau-Roßlau, (2020). [4] Nitschke, L., Stein, M.: Ich habe mein Mobilitätsverhalten komplett umgestellt. Vortrag. 18. Jahrestagung AK „Mobilität und Verkehr“, Frankfurt a.M., (2023) 15.06.2023. [5] Nitschke, L., Albers, V., Bruns, A., Buscher, J., Deffner, J., Mühlhans H., Quentin, P., Weber, S.: Pendelmobilität nachhaltiger gestalten - Neun Empfehlungen an lokale und regionale Akteure. Frankfurt am Main, (2023). [6] Deffner, J., Sunderer, G.: Alternativen zum privaten Auto - was es dazu braucht. Wege zu einem multioptionalen Verkehrsmittelmix. Fact Sheet Dessau- Roßlau, (2023) Dr. Jutta Deffner Leiterin Forschungsfeld Nachhaltige Gesellschaft ISOE - Institut für sozial-ökologische Forschung Kontakt: deffner@isoe.de Dr. Luca Nitschke Wissenschaftlicher Mitarbeiter ISOE - Institut für sozial-ökologische Forschung Kontakt: nitschke@isoe.de Jason Neuser Studentischer Mitarbeiter ISOE - Institut für sozial-ökologische Forschung Kontakt: jason.neuser@isoe.de AUTOR*INNEN 46 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Stadtverkehr: Homeoffice und das Deutschlandticket Aktuelle Analysen weisen für große deutsche Städte einen - verkehrspolitisch erfreulichen - Rückgang des Autoverkehrs aus, so zum Beispiel in Berlin, wo im ersten Halbjahr 2023 der Autoverkehr gegenüber der Vergleichsperiode des Vor-Krisenjahres 2019 um 14 % zurückgegangen sein soll. Etwas schwächer fällt der Rückgang in Hamburg aus [1]. Ein in diesem Kontext immer wieder genannter Bestimmungsgrund ist die nach wie vor große Bedeutung der Arbeit im Homeoffice. Offen ist allerdings, wie stark der Einfluss der Arbeit von zuhause erstens auf die Mobilität insgesamt und zweitens auf die Verkehrsmittelwahl ist. Potenzial für eine stärkere Verlagerung der Mobilität vom PKW zugunsten des ÖPNV bringt das im Mai 2023 eingeführte Deutschlandticket mit sich. Die Absatzzahlen bleiben aufgrund des höheren Preises (49 EUR) deutlich hinter dem Vorgängerangebot 9-Euro-Ticket zurück, allerdings ist die bundesweit gültige Monatskarte für den Nahverkehr trotz offener Fragen zur Finanzierung für die Verbraucher mittelfristig planbar. Die Analysen zur Auswirkung des Deutschlandtickets zeigen deutliche Fahrtensteigerungen bei Bussen und Bahnen. Diese sind dringend nötig, wenn der öffentliche Verkehr wieder an das Vor-Krisen-Fahrgastniveau herankommen will. Ähnlich wie beim 9-Euro-Ticket wird auch das Deutschlandticket häufiger kritisch in einen Stadt-Land-Kontrast gestellt („ein Ticket für Großstädter“). In diesem Kontext sind Berufspendler eine besonders relevante Zielgruppe. Durch das spezielle Deutschlandticket- Jobticket-Angebot liegt der Monatspreis bei höchstens 34,30 EUR, weil Zuschüsse von Arbeitgeber und Staat zusammenkommen. Es wird also ein zusätzlicher Anreiz für Personen gegeben, die bisher mit dem Auto zur Arbeit gefahren sind, auf den ÖPNV umzusteigen [2]. Auf Basis einer eigenen empirischen Untersuchung (April bis August 2023) sollen am Beispiel des Hamburger Verkehrsverbunds (hvv), des ältesten deutschen Verkehrsverbunds, folgende Fragen beantwortet werden:  In welchem Umfang erfolgt die Arbeit im Homeoffice und welchen Einfluss hat diese auf die Mobilität im Verbundgebiet?  Inwieweit erreichen die Fahrgastzahlen des hvv bis Apil 2023 das Vor-Corona-Niveau und welche Effekte sind danach durch das Deutschlandticket zu beobachten?  Wie beeinflusst der Besitz des Deutschlandtickets die Verkehrsmittelwahl und wie stark ist die Fahrtenverlagerung vom PKW zugunsten des ÖPNV im hvv eingetreten?  Wie verändert das Deutschlandticket die Mobilität von Berufspendlern in Hamburg und Umgebung? Das Deutschlandticket im Kontext der Stadt-Land-Diskussion Wirkungsmechanismus am Beispiel des Hamburger Verkehrsverbunds (hvv) Deutschlandticket, 9-Euro-Ticket, Verkehrswende, Verkehrsmittelverlagerung, Berufspendler Andreas Krämer, Anna Korbutt Im Rahmen einer empirischen Studie für das Gebiet des Hamburger Verkehrsverbunds (hvv) werden die Abhängigkeiten zwischen einer veränderten Arbeitsorganisation (Homeoffice), dem im Mai 2023 eingeführten Deutschlandticket und den Nachfrageentwicklungen im Nahverkehr beleuchtet. Durch das Deutschlandticket erreicht der hvv einerseits einen Rekordwert beim Abonnement-Bestand und andererseits Fahrgastzahlen, die das Vor-Corona-Niveau überschreiten. Dämpfende Mobilitätswirkungen durch das Homeoffice werden so überkompensiert. Fahrtenverlagerungen vom PKW zum ÖPNV betreffen besonders stark mittlere und längere Strecken innerhalb des Verkehrsverbunds bzw. darüberhinausgehend und verändern den Pendlerverkehr. 47 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Homeoffice: Dämpfender Faktor für Mobilität Methodischer Ansatz Im Folgenden werden Ergebnisse einer Studie vorgestellt, die die exeo Strategic Consulting AG im Auftrag des hvv durchgeführt hat. Es handelt sich dabei um eine repräsentativ angelegte Onlineerhebung im Zeitraum April bis August 2023. Die Befragung erfolgte in Wellen jeweils zum Ende des Monats bzw. der Ticket-Gültigkeit, um einen Blick auf den gerade zu Ende gehenden Monat richten zu können. Befragt wurden monatlich mindestens 1 000 Personen ab 18 Jahren mit Wohnort im hvv-Einzugsgebiet (Dauer der Befragung: etwa 15 Min.). Besitzer des Deutschlandtickets können dabei auch hinsichtlich spezieller Segmente beschrieben werden. Ein vergleichbarer Studienansatz diente bereits 2022 zur Evaluierung des 9-Euro-Tickets, so dass eine vergleichende Betrachtung möglich ist. Reversibilität der Corona-bedingten Nachfrageverluste und Homeoffice Die überwiegende Anzahl der Forschungsstudien, die die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Mobilität im Stadtverkehr beleuchtet haben, sehen gerade in den ersten Monaten der Krise starke Einbrüche, die auf wegbrechende Mobilität, aber auch auf Kontaktängste zurückzuführen waren. In diesem Fall ist von einer Reversibilität der Nachfrage auszugehen [3, 4]. Gleichzeitig manifestierte sich im Laufe der Corona-Krise aber auch ein Faktor, der einen nachhaltig dämpfenden Effekt auf die Mobilität in der Region zu haben scheint, und zwar die Arbeit von zuhause (Homeoffice) [5]. Die Studienreihe OpinionTRAIN, die zu Beginn der Corona-Pandemie aufgesetzt wurde, erfasst unter anderem die Homeoffice-Quote im Bundesgebiet in den Jahren 2020 bis 2023. Die Studienteilnehmenden werden im Falle der Erwerbstätigkeit gebeten, die Arbeitstage eines aktuellen Monats auf Tätigkeit im Homeoffice bzw. auf der Arbeitsstelle (oder unterwegs) aufzuteilen [6]. Der Anteil der Arbeitstage mit Homeoffice an allen Arbeitstagen wird als Homeoffice-Quote definiert. Im April 2023 werden in Deutschland im Mittel 23 % der Arbeitstage im Homeoffice geleistet (1,2 Arbeitstage pro Woche), deutlich weniger als noch im November 2020 (36 %). Der Anteil der Beschäftigten, die mindestens zu 80 % im Homeoffice arbeiten, ist dabei von 25 % (November 2020) auf 11 % (April 2023) gesunken. Viele Unternehmen haben Anstrengungen unternommen, das hohe Niveau der Homeoffice-Tätigkeit während der Corona-Krisenjahre wieder abzubauen. Einer internationalen Studie zufolge planten Arbeitgeber in Deutschland Homeoffice für durchschnittlich 1,2-Arbeitstage pro Woche (24 %), während sich Arbeitnehmer 1,8 Tage wünschten (36 %) und tatsächlich 1,0 Tage (20 %) von zuhause arbeiteten [7]. Die eigene Studie kommt für das hvv-Einzugsgebiet mit dem oben beschriebenen Messansatz auf eine Homeoffice-Quote von etwa 20 bis 22 % (ohne nennenswerte Unterschiede zwischen Hamburg und Umland). Dies übersetzt sich in folgende Verteilung: Etwa 58 % der Beschäftigten arbeiten nicht im Homeoffice, bei 23 % der Befragten liegt die Homeoffice-Quote bei 1 bis 49 % und bei 19 % der Beschäftigten bei 50 % und mehr. Aus Bild 1 Bild 1: Anzahl und Verteilung der Wege im Großraum Hamburg auf unterschiedliche Verkehrsmittel, differenziert nach Wohnort und Homeoffice- Tätigkeit (Mai- August 2023). © exeo Strategic Consulting AG Öffentliche Verkehrsmittel des hvv (U‐Bahn / S‐Bahn / AKN / Regionalbahn / Bus / Fähre) Pkw als Fahrer*in Pkw als Mitfahrer*in Taxi Ride-Sharing (inkl. MOIA, ioki/ hvv hop, AST) Car-Sharing Eigenes Fahrrad Bike-Sharing Motorrad (E-)Tretroller Zu Fuß 1) Wie viele Wege (Fahrten) haben Sie mit den Verkehrsmitteln in den letzten 7 Tagen unternommen? Eine Hin- und Rückfahrt entspricht 2 Wegen (Fahrten). Bitte denken Sie an Strecken von 500 und mehr Metern. Genutzte Verkehrsmittel letzte 7 Tage: Wegeanteile in % (gestützte Abfrage) 1) Homeoffice 0 % Homeoffice 50+ % Σ 55 % Σ 55% Homeoffice 50+ % Σ 32 % Homeoffice 0 % Σ 36 % Wohnort Hamburg Wohnort Umgebung hvv Ø 15,6 Ø 14,1 Ø 16,9 Ø 20,2 Wege pro Woche Modalanteil Pkw Dämpfender Effekt Dämpfender Effekt 48 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende wird erkennbar, dass Personen mit hohem Anteil an Arbeit von zuhause zwar über einen ähnlichen ÖPNV-Modalanteil verfügen wie Personen ohne Homeoffice, allerdings ist die Mobilität insgesamt reduziert. Damit ist die Anzahl der Wege pro Woche, die mit dem ÖPNV unternommen werden, geringer als in der Vergleichsgruppe. Beim Wohnort Hamburg ist dieser Effekt besonders stark ausgeprägt. In einer anderen empirischen Analyse bestätigt die Stadt Hamburg diesen Effekt und weist eine Reduktion der Gesamtmobilität aus: So soll die Gesamtzahl der absolvierten Wege pro Tag von 5,8- Mio. (2017) auf 5,3 Mio. (2022) abgenommen haben [8]. ÖPNV-Fahrgastzuwachs durch das Deutschlandticket Mittelfristige Entwicklung der Fahrgastzahlen Um ein besseres Verständnis für die Marktsituation im hvv und die spezielle Wirkungsweise des Deutschlandtickets sowie rückblickend des 9-Euro- Tickets zu ermöglichen, ist die mittelfristige Analyse der Fahrgastzahlen im hvv als Ergänzung zu den vorliegenden Befragungsdaten sinnvoll. In Bild 2 sind im linken Teil die Veränderung der Fahrgastzahlen im ÖPNV ab Januar 2019 erkennbar, im rechten Teil die des Autoverkehrs in Hamburg. Die Darstellung erfolgt indexiert, wobei der mittlere Monatswert des Jahres 2019 gleich 100 % gesetzt wurde. Nach dem drastischen Einbruch das Fahrgastzahlen mit Beginn der Corona-Pandemie wird ein Hochlauf in Wellen erkennbar. Vor Einführung des 9-Euro-Tickets ( Juni bis August 2022) lagen die ÖPNV-Nutzerzahlen bei etwa 80 % des mittleren Monatswertes aus 2019. Nach Ablauf der 9-Euro-Ticket-Aktion, welche einen Sprung in der ÖPNV-Nutzerzahl bewirkte, lag die Nachfrage bei etwa 85 % des Vor-Corona- Niveaus. Die Situation Anfang 2023 ähnelt vielen anderen Kommunen und Verkehrsverbünden. Das Statistische Bundesamt berichtete im April 2023 [9]: „Im ÖPNV … stieg das Fahrgastaufkommen im Jahr 2022 gegenüber 2021 ... um 29 % und blieb damit 14 % unter dem Wert von 2019.“ Umso erfreulicher: Mit dem Deutschlandticket werden im hvv die Nutzerzahlen aus 2019 dann ab Juni 2023 übertroffen. Hierbei sind zwei Aspekte zu berücksichtigen. Erstens wurde das Tarifgefüge im hvv bereits zum Marktstart des Deutschlandtickets radikal vereinfacht. Aufgrund des relativ hohen Preisniveaus wurden die meisten Zeitkarten im Abo automatisch in das Deutschlandticket migriert. Zusätzlich zu den etwa 540 000 Alt-Abonnenten (Stand Ende September 2023) haben etwa 330 000 Personen über Vertriebswege des hvv ein Deutschlandticket bestellt (Abo-Neu-Kunden), so dass insgesamt rund 870 000 Deutschlandtickets über den hvv verkauft wurden. Inklusive der weiterhin bestehenden Zeitkarten im Abo kommt der hvv damit auf mehr als 1 Mio. Abo- Kunden (ein Plus von etwa 31 % gegenüber September 2019 mit 780 000 Stück Abo-Bestand [10]). Abschätzung des ÖPNV-Fahrgastzuwachses durch das Deutschlandticket Um zu beziffern, wie stark der Effekt des Deutschlandtickets auf die Nachfrage im hvv ist, wird in einer „No-Change-Prognose“ ein Szenario entworfen, in dem kein Deutschlandticket angeboten wird. Hierzu werden Zeitreihendaten herangezogen, so dass sich die Entwicklung bis April 2023 unter Einbeziehung saisonaler Schwankungen und Trendeffekte für die kommenden Monate fortschreiben lässt. Für Bild 2: Fahrgastzahlen im hvv und Kfz-Verkehr in Hamburg ( Januar 2019 bis August 2023). © exeo Strategic Consulting AG 49 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende die Monate ab Mai 2023 werden die Ist-Werte mit dieser Referenzlinie verglichen. Der dabei ermittelte Nachfrage-Zuwachs beläuft sich im Mittel der Monate Mai bis August 2023 auf etwa 16 % (Bild 2, linker Teil). Die Wirkungen sind erheblich, aber geringer als beim 9-Euro-Ticket (20 bis 25 % Fahrtenzuwachs, monatlich rund 1,8 Mio. Nutzer im hvv [11]). Während der Ticket-Gültigkeit ist der Auto-Verkehr in der Stadt Hamburg reduziert (Bild 2, rechter Teil). Deutschlandticket: Stadt-Land-Kontrast im hv v Da sich die Bevölkerung im hvv jeweils zur Hälfte auf die Stadt Hamburg und zur anderen Hälfte auf das Umland verteilt (Schleswig-Holstein, Niedersachen), ermöglichen die Studienergebnisse eine Gegenüberstellung der Wirkung des Deutschlandtickets im Stadt-Umland-Vergleich. Aufgrund der relativ hohen Abo-Dichte in der Stadt Hamburg war erwartbar, dass die Quote an Besitzern des Deutschlandtickets in Hamburg (38 %) größer als im Umland ist (18 %). Allerdings sind die Kunden, die im Umland für das Deutschlandticket gewonnen werden konnten, in geringerem Maße ÖPNV-Stammkunden. Auch die Mobilisierung von bisherigen Non-Usern des Nahverkehrs ist im Umland vergleichsweise stärker. Insgesamt entfallen von allen Deutschlandtickets etwa zwei Drittel auf die Stadt Hamburg und ein Drittel auf das hvv-Umland. Der Hamburger Verkehrsverbund wies beim 9-Euro-Ticket für die Stadt Hamburg eine Nutzerquote von etwa 72 % aus, während diese im Umland bei etwa 49 % lag (hvv gesamt 61 %) [12]. Beim Deutschlandticket sind es in den Monaten Mai bis August 2023 rund 38 % bzw. 18 % (hvv gesamt 28 %). Bereits beim 9-Euro-Ticket wurde eine relativ deutliche Abhängigkeit zwischen der Größe des Wohnorts und dem Ticketbesitz diskutiert [13] - teilweise drängte sich der Eindruck auf, das Ticket sei vorwiegend von Großstädtern genutzt worden [14]. Daten der Studienreihe OpinionTRAIN wiesen ebenfalls eine Abhängigkeit der Nutzerquote von der Größe des Wohnortes (gemessen an der Zahl der Einwohner) aus. Wurden allerdings die Ticket-Besitzer insgesamt und deren Verteilung auf die Wohnortklassen betrachtet, ergab sich folgendes Bild: 56 % der Ticket-Besitzer entfielen auf Wohnortklassen unterhalb der Schwelle von 100 000 Einwohnern (Grenze für Großstädte [15]). Beim Deutschlandticket beläuft sich der korrespondierende Anteil auf knapp 50 % (OpinionTRAIN, September 2023). Verkehrsmittelwahl und Fahrtenverlagerung durch das Deutschlandticket Mobilität nach Kundensegmenten In der eigenen Erhebung wurden die Studienteilnehmer unter anderem zum aktuellen Besitz (Kaufabsicht) des Deutschlandtickets, zum früheren Besitz eines Zeitkarten-Abonnements im hvv, zur Verkehrsmittelnutzung und zum Einfluss des Tickets auf die Verkehrsmittelwahl befragt. In Bild-3 ist die Struktur der Verkehrsmittelnutzung für unterschiedliche Teilsegmente dargestellt. Zu unterscheiden sind dabei:  Personen, die bereits vor Einführung des Deutschlandtickets über ein ÖPNV-Abo verfügt haben (sogenannte Alt-Abo-Kunden). Der Anteil in der Erhebung beträgt 18 %. Öffentliche Verkehrsmittel des hvv (U‐Bahn / S‐Bahn / AKN / Regionalbahn / Bus / Fähre) Pkw als Fahrer*in Pkw als Mitfahrer*in Taxi Ride-Sharing (inkl. MOIA, ioki/ hvv hop, AST) Car-Sharing Eigenes Fahrrad Bike-Sharing Motorrad (E-)Tretroller Zu Fuß 1) Wie viele Wege (Fahrten) haben Sie mit den Verkehrsmitteln in den letzten 7 Tagen unternommen? Eine Hin- und Rückfahrt entspricht 2 Wegen (Fahrten). Bitte denken Sie an Strecken von 500 und mehr Metern. Genutzte Verkehrsmittel letzte 7 Tage: Wegeanteile in % (gestützte Abfrage) 1) Kaufabsicht Kein Kauf DT Σ 27 % Σ 41 % Neu-Abo-Kunde Σ 15 % Alt-Abo-Kunde Σ 14 % Besitz Deutschlandticket Kein Deutschlandticket Ø 15,5 Ø 17,2 Ø 19,8 Ø 20,1 ÖPNV- Fahrten Mehrverkehr: 5 % Shift Pkw: 2 % ÖPNV- Fahrten Mehrverkehr: 36 % Shift Pkw: 19 % Segmentgröße 18 % 10 % 9 % 57 % Wege pro Woche Modalanteil Pkw Ö Ö Bild 3: Anzahl und Verteilung der Wege im Großraum Hamburg nach Besitz (Kaufabsicht) des Deutschlandtickets (Mai- August 2023) © exeo Strategic Consulting AG 50 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende  Personen, die vor Einführung des Deutschlandtickets nicht über ein ÖPNV-Abo verfügt haben (sogenannte Neu-Abo-Kunden, 10 % der Befragten).  Personen, die zwar zum Zeitpunkt der Erhebung nicht über das Deutschlandticket verfügt haben, aber angeben, das Ticket in den nächsten zwei Monaten zu kaufen (Segment „Kaufabsicht“, 9 % der Befragten).  Personen, die den Kauf des Deutschlandtickets nicht planen, machen etwa 57 % der Befragten aus (6 % der Befragten sind sich unsicher). Allein aus dem Verhältnis der bestehenden Ticketbesitzer (28 %) und dem zusätzlichen Kaufpotenzial (9 %) wird erkennbar, dass auch mehrere Monate nach Markteinführung kein „Sättigungsniveau“ erreicht ist. Im Segment der Alt-Abo-Kunden wird bereits vor Einführung des Deutschlandtickets ein hoher Modalanteil für den ÖPNV erreicht. In der aktuellen Momentaufnahme werden hier 46 % der Wege mit Bussen und Bahnen unternommen (der PKW kommt auf 14 %). Von besonderem Interesse ist die Veränderung der Mobilität bei Neu-Abo-Kunden, die den ÖPNV aktuell ähnlich intensiv nutzen wie die „Abo-Umsteiger“, vor Mai 2023 aber eher Wenig- und Gelegenheitsnutzer des ÖPNV waren. In dieser Kundengruppe ergeben sich besonders dynamische Mobilitätsveränderungen. Die durch die eigenen Analysen abgeschätzte Mehrverkehrsquote ist hier besonders groß (und somit auch die Fahrtenverlagerung vom PKW). Von 100 Fahrten werden 64 Fahrten auch ohne das Deutschlandticket unternommen, 36- Fahrten werden zusätzlich durchgeführt. Auch andere empirische Studien bestätigen beim Deutschlandticket den verhältnismäßig starken Nachfrage-Shift vom PKW hin zum Nahverkehr im Segment der Neu-Abo-Kunden [16, 17]. Ein signifikantes, bisher unausgeschöpftes Fahrtenpotenzial für den ÖPNV wird im Bereich der Deutschlandticket-Potenzialkunden erkennbar. In diesem Segment ist der Modalanteil für Busse und Bahnen mit 25 % noch ausbaufähig, während 27 % der Wege mittels PKW erfolgen. Für die weitere Evaluation des Tickets wird essenziell sein, wie stark sich das bestehende Absatzpotenzial in den kommenden Monaten ausschöpfen lässt. Heterogene Nachfrageentwicklung Insgesamt sind die Nachfragezuwächse für den Nahverkehr nicht nur von unterschiedlichen Kundengruppen abhängig, sondern auch von spezifischen Reiseparametern. Die eigene Studie weist die geringsten Nachfragezuwächse bei Fahrten am Wohnort aus. Mit zunehmender Entfernung ergeben sich stärkere Nachfragezuwächse für den Nahverkehr: Die größten Effekte sind bei Fahrten festzustellen, die über die Verbundgrenzen hinausgehen (Anteil an allen Fahrten mit dem Deutschlandticket rund 10-bis 15 %). Hier ist die Nutzung des Bahnregionalverkehrs dominierend. Konsistent dazu deuten die Auswertungen von Mobilfunkdaten von O2 Telefónica auf einen deutlichen Anstieg der Zugreisen von mehr als 30 Kilometern seit Anfang Mai 2023. Der Anteil der Schiene an der Personenbeförderung nahm im Vergleich zu der Zeit vor Einführung des Deutschlandtickets um etwa 2,5 Prozentpunkte zu [18]. Im Fazit heißt es: „Wahrnehmbare Verlagerung von der Straße auf die Schiene“. Gleichzeitig berichtet DB Regio, im Juni 2023 seien 25 % mehr Fahrgäste in Zügen gefahren Kennziffer Pendler Stadt Hamburg 1) Pendler hvv-Umland Pendler gesamt im hvv hvv Total Anteil des Segments an der hvv-Bevölkerung (%) Personen absolut (Tsd. Personen 18+ Jahre) Alt-Abo-Kunden (%) Neu-Abo-Kunden (%) 2) Besitzer gesamt (%) 49% (100%) 24% (100%) 36% (100%) 28% (100%) Nicht-Besitzer mit Kaufabsicht (%) 3) Kauf unsicher (%) Keine Kaufabsicht (%) Stammkunden ÖPNV (%) 4) Zumindest gelegentlich im Homeoffice tätig (%) Anteil des Segments an den DT-Besitzern im hvv (%) Bild 4: Deutschlandticket-Besitz bei Berufspendlern im hvv (Mai-August 2023). © exeo Strategic Consulting AG 51 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende als noch im April 2023 [19]. Ähnliche Nachfrage- Effekte in Abhängigkeit von Kundengruppen und Fahrttypen zeigten sich bereits beim 9-Euro-Ticket, nur früher auf einem intensiveren Niveau [20, 21]. Deutschlandticket und Berufspendler Besonders groß sind die Erwartungen an das Deutschlandticket in Bezug auf die Veränderung des Pendlerverkehrs. Hintergrund dafür ist, dass mit der Entscheidung für ein Verkehrsmittel für die Fahrten zum Arbeitsplatz über einen Monat bzw. ein Jahr sehr viele Nutzungen gebündelt werden. Deutschlandweit erfolgen mehr als zwei Drittel aller Fahrten zum Arbeitsplatz mit dem PKW [22]. Laut Pendleratlas kommt das Bundesland Hamburg auf 1,2 Mio. Pendler täglich [23]. Wie Bild 4 zeigt, handelt es sich in der eigenen Studie für das hvv-Gebiet bei 38 % der Befragten um Personen, die mehrere Tage pro Woche zur Arbeit fahren und dabei Entfernungen von 5 oder mehr km zurücklegen (hochgerechnet 1,17 Mio. Menschen). Die Quote der Besitzer eines Deutschlandtickets liegt in der Gruppe der Pendler mit 36 % deutlich über dem hvv-Mittelwert (28 %). Dabei handelt es sich bei fast einem Drittel der Pendler mit Deutschlandticket um Neu-Abo-Kunden. Wie oben beschrieben, sind hier besonders starke Verlagerungseffekte erwartbar. Die Mobilisierung von Nachfrage wird auch erkennbar, vergleicht man den Anteil der Deutschlandticket-Besitzer mit dem Anteil ÖPNV-Stammkunden bis April 2023. Bezogen auf alle Deutschlandticket-Besitzer erreicht die Gruppe der Berufspendler einen Anteil von 50 %. Das entspricht hochgerechnet rund 400 000 bis 450 000 Menschen im hvv-Gebiet. Ausblick: Das Deutschlandticket und die Verkehrswende Während wenig Zweifel daran besteht, dass das 9-Euro-Ticket zu mehr Fahrgästen für den ÖPNV führte, gab es bereits während der Gültigkeitsperiode Thesen, das Ticket bewirke keine nennenswerte Verkehrsmittelverlagerung. Insbesondere die Verlagerung von PKW-Fahrten zum Nahverkehr wurde in Frage gestellt [24, 25], obwohl die meisten empirischen Untersuchungen genau das Gegenteil belegten [21, 26, 27]. Fast deckungsgleich sind die Vorbehalte gegenüber dem Deutschlandticket. So stellt Mietsch die Aussage in den Raum, dass „pauschale ÖPNV-Rabattierungen eher zu Lasten der Rad- und Fußverkehrsanteile im Verkehr, denn zu Lasten des Kraftfahrzeugverkehrs gehen“ [28]. Die eigenen empirischen Analysen, verzahnt mit Sekundärdaten, belegen genau dies für den hvv nicht. Bei etwa 7 % aller Fahrten mit dem Deutschlandticket handelt es sich um Fahrten, die vom PKW verlagert wurden, im Segment der Neu-Abo-Kunden sind es sogar 19 %. Insgesamt werden damit pro Monat etwa 2 Mio. Autofahrten im hvv-Gebiet substituiert. Das Deutschlandticket wird unter anderem im Kontext „Stadt-Land-Verkehrsanbindung“ oder „Mittel zum Brechen der PKW-Dominanz im Verkehr“ diskutiert. Dabei ist klar: Das Ticket kann wesentliche Probleme nicht alleine lösen, weder dass der PKW-Bestand in 2023 in Deutschland einen neuen Rekordwert erreicht, noch dass etwa ein Drittel der Bevölkerung nicht über einen ÖPNV- Zugang verfügt. Daher sind weitere Maßnahmen im Bereich Push und Pull erforderlich (Bild 5). Im Bereich Tarif testet der hvv derzeit mit ausgewählten Unternehmen ein Konzept, bei dem alle Mitarbeitenden ein Ticket für den ÖPNV erhalten, und zwar entweder ein kostenloses Set an drei verbundweit gültigen Tageskarten je Monat („Klimaticket S“) oder ein „Klimaticket XL“ (= Deutschlandticket als Jobticket) gegen Zuzahlung von monatlich maximal 34,30 EUR. Erste Ergebnisse unterstreichen: Nicht nur die Quote der Jobticket-Nutzer steigt, sondern auch die Mobilisierung von bisherigen ÖPNV-Nichtnutzern, jeweils einhergehend mit einer stärkeren Nutzung von Bussen und Bahnen bei gleichzeitigem Verzicht auf das eigene Auto [10]. Seit Oktober wird im hvv mit dem Jobticket Premium eine weitere attraktive Option geboten, wenn Unternehmen ihren Mitarbeitenden einen Zuschuss von mindestens 21,55- EUR zahlen: Mitarbeitende erhalten dann für maximal 25 EUR bundesweite Mobilität und zusätzlich die Mitnahmemöglichkeit an Wochenenden im hvv Gesamtnetz (eine weitere Person und bis zu drei Kinder kostenlos). Bild 5: Verzahnung der Verkehrsmittel Bahn und Carsharing im hvv. © hvv 52 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende LITERATUR [1] Dambeck. H.: Der private PKW verliert drastisch an Bedeutung. Der Spiegel v. 09.08.2023, https: / / www.spiegel.de/ auto/ berlin-hamburg-muenchen-und-andere-pkw-verkehrin-deutschen-metropolen-nimmt-deutlich-ab-a-c4dd7b21a3ba-4db3-bdac-db23c49c752f (Abruf 13.9.2023). [2] Haitsch, A.: Wie das Deutschlandticket das Pendeln verändert. Der Spiegel v. 09.08.2023. https: / / www.spiegel. de / auto/ deut s c hl andti c ketal s jobti c ketw i e der-f l atrate -fahr s chein das pendeln veraender ta c 916 e 0 42- 0f7e-490b-8b13-7f11c6378aa6 (Abruf: 13.9.2023). [3] Isfort, A., Jödden, C.: Wie gelingt der Umgang mit der Pandemie. Der Nahverkehr Jh. 40 Heft 1+2 ( Jan.-Feb. 2022), S. 24 - 28. [4] Sunder, M., Hagen, T., Lerch, E.: Mobilität während und nach der Corona-Krise: erneute Analysen für Deutschland. ReLUT Research Lab für Urban Transport, Frankfurt University of Applied Sciences, Frankfurt/ M. 2021 [5] Krämer, A., Bongaerts, R., Reinhold, R.: Veränderte Mobilität von Abo-Kunden und Ansätze für alternative Ticketangebote am Beispiel Frankfurt a. M. Verkehr und Technik Jg. 75 Heft 3 (Mrz. 2022), S. 85 - 89. [6] Krämer, A., Hercher, J.: „Homeoffice mit Luft nach oben aus Sicht der Beschäftigten“, Die Studie „OpinionTRAIN© 2023“ untersucht die Entwicklungen bei der Homeoffice-Tätigkeit seit Beginn der Corona-Pandemie. Presseinformation vom 20.07.2023, https: / / www.marktforschung.de/ marktforschung/ a/ homeoffice-mit-luft-nach-oben-aus-sicht-derbeschaeftigten/ (Abruf: 13.9.2023). [7] ifo Institut: Deutsche im Mittelfeld mit einem Homeoffice Tag pro Woche. Pressemitteilung v. 18.7.2023, https: / / www.ifo. de/ pressemitteilung/ 2023-07-18/ deutsche-im-mittelfeldmit-einem-homeoffice-tag-pro-woche (Abruf: 13.9.2023). [8] Stadt Hamburg: Mobilitätswende 68 Prozent aller Wege wurden 2022 im Umweltverbund absolviert Mobilitätswende in Hamburg nimmt weiter Fahrt auf. Behörde für Verkehr und Mobilitätswende, 8.5.2023. https: / / www.hamburg.de/ bvm/ medien/ 17104782/ 2023-05-08-bvm-mobilitaetswende/ (Abruf: 13.9.2023). [9] Destatis: Fahrgastzahl im Linienverkehr mit Bussen und Bahnen 2022 um 29 % gestiegen. Pressemitteilung - 6. 4. 2023, https: / / www.destatis.de/ DE/ Presse/ Pressemitteilungen/ 2023/ 04/ PD23_140_461.html. (Abruf: 13.9.2023). [10] Hamburger Verkehrsverbund (hvv): Historische Marke erreicht: eine Million hvv-Abos, Presseinformation v. 13.9.2023, https: / / www.hvv.de/ de/ ueber-uns/ neuigkeiten/ neuigkeiten-detail/ historische-marke-erreicht-eine-millionhvv-abos--110718 (Abruf: 14.9.2023). [11] Krämer, A., Korbutt, A.: Das 9-Euro-Ticket - Ziele, Wirkungsmechanismen und Perspektiven, Internationales Verkehrswesen, Jg. 74, Heft 3 (Sep. 2022), S. 10 - 13. [12] hvv: 9-Euro-Ticket: Wie geht es weiter? Pressemitteilung v. 2.8.2022, https: / / www.hvv.de/ de/ ueber-uns/ neuigk[12] [12]eiten/ neuigkeiten-detail/ 9-euro-ticket-wie-geht-es-weiter--84558 (Abruf: 3.8.2022). [13] DLR: Hintergrundpapier - 6. DLR-Erhebung zu Mobilität & Corona, 9-Euro-Ticket und Senkungen der Kraftstoffpreise, DLR-Institut für Verkehrsforschung. https: / / www.dlr. de/ content/ de/ downloads/ 2022/ dlr-studie-mobilitaet-inkrisenzeiten-9-euro-ticket.pdf ? _ _blob=publicationFile&v=2 (Abruf: 3.10.2022). [14] Neumann, P.: Kommentar - Vom Nachfolger des 9-Euro- Tickets werden die Falschen profitieren Berliner Zeitung v. 5.9.2022, https: / / www.berliner-zeitung.de/ mensch-metropole/ nach-dem-9-euro-ticket-kommt-jetzt-ein-foerderprogramm-fuer-fernpendler-69-euro-koalition-li.263867 (Abruf: 3.10.2022). [15] Krämer, A.: Das 9-Euro-Ticket in Städten - Wirkungsmechanismus im Stadt- und Regionalverkehr, Transforming Cities, Jg. 7, Heft 4, (2022) S. 64 - 69. [16] Loder, A., Cantner, F., Dahmen, V., Bogenberger, K.: Germany ’s Newest Fare: The Deutschlandticket - First Insights on Funding and Travel Behavior. Paper submitted for presentation at the 103rd Annual Meeting Transportation Research Board, Washington D.C., January 2024. [17] Verband Deutscher Verkehrsunternehmen e. V. (VDV) / Deutsche Bahn AG / DB Regio AG: Evaluation zum Deutschland-Ticket. Berichtszeitraum Mai bis August 2023, Berlin 25.09.2023. [18] O2 Telefónica: Das Deutschlandticket bewirkt deutlich mehr Pendel- und Wochenendfahrten. O2 Telefónica Mobility Monitor - Ausgabe 3 v. 24.07.2023, https: / / www.telefonica.de/ news/ corporate/ 2023/ 07/ o2-telefonica-mobility-monitorausgabe-3-das-deutschlandticket-bewirkt-deutlich-mehrpendel-und-wochenendfahrten.html? tag=%23mobilit y_ monitor; cat=blogartikel (Abruf: 13.9.2023). [19] Sternberg, J.: DB-Regio-Chefin Evelyn Palla: „Deutschlandticket ist großer Erfolg“. RND v. 30.07.2023, https: / / www.rnd. de/ politik / deutschlandticket-ist-grosser-erfolg-db-regiochefin-palla-im-interview-RJILBU4R7RHHZMSEIABIZZ33T Y. html. (Abruf: 13.9.2023). [20] Korbutt, A., Krämer, A.: Veränderte Sicht auf die Kundenbeziehungen im ÖPNV: Der Hamburger Verkehrsverbund (hvv). In: Krämer, A., Kalka, R., Merkle, W. (Hrsg.), Stammkundenbindung versus Neukundengewinnung, Springer Gabler 2023, S. 187 - 207. [21] Krämer, A., Wilger, G., Bongaerts, R.: Das 9-Euro-Ticket - Erfahrungen, Wirkungsmechanismen und das Nachfolgeangebot. Wirtschaftsdienst, Jg. 102, Heft 11 (Nov. 2022), S. 873 - 879. [22] Destatis: Berufspendler. https: / / www.destatis.de/ DE/ Themen/ A rbeit / A rbeit smark t / Er werbs taetigkeit / Tabellen/ pendler1.html (Abruf: 12.9.2023). [23] Pendleratlas: Hamburg. https: / / www.pendleratlas.de/ hamburg/ (Abruf: 12.9.2023). [24] MDR Thüringen: Erfurter Verkehrsforscher: „Große Sehnsucht nach einfachem ÖPNV “, MDR THÜRINGEN v. 31.8.2022, unter https: / / www.mdr.de/ nachrichten/ thueringen/ neuneuro-ticket-verkehr-oepnv-100.html (Abruf: 12.9.2023). [25] Anonymus: Deutsche nutzen trotz 9-Euro-Ticket oft das Auto, ZEIT ONLINE v. 8. August 2022, https: / / www.zeit.de/ mobilitaet/ 2022-08/ oepnv-9-euro-ticket-auto-bahn-studie (Abruf: 12.9.2023). [26] VDV, Deutsche Bahn AG, DB Regio AG: Bericht zur bundesweiten Marktforschung im Aktionszeitraum v. 30.09.2022. [27] Adenaw, L., Ziegler, D., Nachtigall, N., Gotzler, F., Loder, A., Siewert, M.B., Bogenberger, K.: A nation-wide experiment: fuel tax cuts and almost free public transport for three months in Germany--Report 5 Insights into four months of mobility tracking. arXiv preprint arXiv: 2211.10328. [28] Mietzsch, O.: Vom 9-Euro-Ticket zum Deutschlandticket. Rabattierte Pauschalpreistickets als Gamechanger für die Verkehrswende? Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, Jg. 93 Heft 1 ( Jan. 2023). Prof. Dr. Andreas Krämer Vorstandsvorsitzender exeo Strategic Consulting AG, Bonn Direktor des VARI (Value Research Institute), Iserlohn Kontakt: andreas.kraemer@exeo-consulting.com Anna Korbutt Geschäftsführerin hvv Hamburger Verkehrsverbund Gesellschaft mbH Kontakt: korbutt@hvv.de AUTOR*INNEN 53 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Gilt dies künftig auch für die Weiterentwicklung urbaner Energiesysteme? Die Sektoren Energie und Mobilität sind im besonderen Maße steigenden Anforderungen unterworfen (Klimawandel, Energiekrise) und erfahren dementsprechend einen hohen Veränderungsdruck. Zur Adressierung der bestehenden Herausforderungen bedarf es der fortwährenden Suche nach Synergieeffekten, Möglichkeiten der Optimierung sowie der Identifizierung räumlicher Nischen zur Etablierung entwickelter Innovationen. Straßenbahnsysteme bieten mit ihrem Stromnetz vielversprechende Ansatzpunkte (räumlich und energetisch) zur Förderung von E-Mobilität und Gleichstromsystemen. Diese Potenziale sollen auch unter Berücksichtigung städtebaulicher Gestaltungsanforderungen im vorliegenden Beitrag dargelegt werden. Wandel der Energieinfrastruktur Die Transition von wenigen zentralen, mit fossilen oder radioaktiven Brennstoffen betriebenen und damit gut zu prognostizierenden Kraftwerken hin zu dezentralen und erneuerbaren Energieerzeugungsanlagen stellt insbesondere die Versorgungssicherheit sowie die Netzstabilität vor große Herausforderungen. Gleichzeitig nimmt die Elektrifizierung des Mobilitätssystems immer weiter zu und führt so zu einem gesteigerten und zeitlich variableren Energiebedarf. Beide Aspekte stellen bereits heute eine ernstzunehmende Probe für unsere elektrischen Netze dar. Perspektivisch dürfte die Belastung der Netze weiter zunehmen. Bestehende und vielerorts im Ausbau befindliche Straßenbahnnetze und die damit verbundenen technischen Infrastrukturen stellen theoretisch einen spannenden Ansatzpunkt dar, um ergänzende Netzanschlüsse und -kapazitäten zu schaffen. Straßenbahntrassen als energetische Gunsträume Städtebauliche Integration technischer Infrastrukturen im Kontext der Energiewende Energieerzeugung, E-Mobilität, Infrastruktur, Netzstabilität, Straßenbahntrassen Christian Larisch, Sarah Hermens, Jannik Wendorff Der urbane Raum ist seit jeher ein Ort des Wandels - ein Ort, in dem sich Transformationsprozesse und gesellschaftliche Veränderungen am schnellsten und anschaulichsten kristallisieren. Die Straßenbahn, als Rückgrat des nachhaltigen Verkehrs in unseren Städten, erfährt in den letzten Jahren eine Renaissance. Die vielerorts neu entstehenden Strecken zeugen von der steigenden Bedeutung des schienengebundenen Verkehrs in den Städten [1, 2]. „Straßenbahnen sind seit mehr als 100 Jahren Instrumente der Stabilisierung und Weiterentwicklung der ,europäischen Städte‘ (…)“ [1]. © Sarah Hermens 54 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende So bieten sich bestehende und neu zu schaffende Unterwerke - als Umspannwerke für Bahnstrom - beispielsweise als Ausgangspunkte für lokale Micro-Grid-Strukturen oder als Anschlusspunkt für (Schnell)-Ladeinfrastrukturen für PKW und Busse an. Als Microgrid wird in diesem Kontext ein Netz oder Teilnetz, welches bei Bedarf als Inselnetz betrieben werden kann und somit einen autarken Betrieb ermöglicht, verstanden. So können Energieerzeuger, die oftmals Energie aus erneuerbaren Energiequellen gewinnen, und Stromverbraucher in einem Netz zusammengebracht werden. Während im Neubau die Hebung potenzieller Synergien frühzeitig berücksichtigt werden kann, birgt die Umsetzung im Bestand größere Hürden. Die Straßenbahn als energetischer Anker - Anwendungsbeispiele Demonstrationsprojekte zur Nutzung des Stromnetzes von Straßenbahnsystemen zur Förderung von E-Mobilität sind in der Praxis bereits vereinzelt zu finden. Die verschiedenen technischen Umsetzungen werden im Folgenden kurz dargelegt. Beispiel A: Energie aus der Fahrleitung der Straßenbahn Am Pausenplatz des Bahnhofs Oberhausen Sterkrade wird vorhandene Straßenbahninfrastruktur zur Schnellladung von Elektrobussen und Elektrofahrzeugen genutzt (Bild 1). Dabei wird Energie für die Ladevorgänge aus der Fahrleitung der Straßenbahn und der dortigen Gleichstrominfrastruktur verwendet (Bild 2, Beispiel a). Die Batteriefahrzeuge können dort über einen Buslademast und drei PKW- Schnellladestationen geladen werden. Beispiel B: Energie aus Gleichrichterunterwerken Ein weiterer Ansatz der Nutzung bestehender Energieinfrastrukturen von Nahverkehrssystemen zur Ladung von Elektrobussen und -fahrzeugen ist der Energiebezug aus Gleichrichterunterwerken, mit deren Hilfe aus dem Wechselstrom der für viele Nahverkehrssysteme notwendige Gleichstrom erzeugt wird. Dies ist an der Oberhausener Haltestelle Neumarkt umgesetzt [3] (Bild 2, Beispiel b). Für die elektrische Versorgung der Straßenbahn befinden sich in Abständen von 1,5 bis 2 km entlang der Strecke Gleichrichterunterwerke. Diese liegen meist an Orten, an denen in der Regel auch weitere Flächenpotenziale zu finden sind und/ oder Restflächen, die entsprechend genutzt werden könnten, wie zum Beispiel an Linienendpunkten, im Umfeld von Wendelanlagen oder an Park-and-ride-Parkplätzen [4]. Beispiel C: Nutzung zwischengespeicherter Rekuperationsenergie aus Bremsvorgängen der Straßenbahn Am Standort der Kölner Haltestelle Bocklemünd wird ein weiterer Ansatz angewandt. Für die Ladung von Elektrobussen und -fahrzeugen im Umfeld der Haltestelle wird, anders als in den vorherigen Beispielen, Energie aus einem Batteriespeicher verwendet, der den Strom, der während der Bremsvorgänge der dortigen Stadtbahn freigesetzt wird (Rekuperation), speichert (Bild 2, Beispiel c). Der Lademast für den Elektrobus steht an der Haltestelle Bocklemünd und in dem naheliegenden Park-andride-Parkhaus befinden sich zwei Ladesäulen für Elektrofahrzeuge [5]. Durch den Energiespeicher ist dieser Ansatz etwas flexibler bei der Ortswahl hinsichtlich der technischen Limitation. Die aufgeführten Konzepte zeigen das Potenzial bestehender Energieinfrastrukturen von Nahverkehrssystemen, die Nutzung von Elektromobilität zu fördern und Haltestellen um entsprechende Bausteine, beispielsweise in Form von (Schnell-)Ladeinfrastruktur, zu erweitern. Die Konzepte erfordern ausreichend Platz sowohl für die Ladeinfrastruktur als auch für die notwendigen Parkplätze für die Dauer des Ladevorgangs bei den jeweiligen Fahrzeuge. Die Dimensionierung der Ladeplätze für E-Busse (Länge > 10 m) und die Sicherstellung der Anfahrbarkeit stellen bei der räumlichen Integration - auch städtebaulich - eine besondere Herausforderung dar. Während die Anwendungsbeispiele plastisch räumliche und energetische Synergien aufgezeigt haben, spielte die gestalterische Integration der (technischen) Infrastruktur hier nur eine untergeordnete Rolle. Bild 1: Energie-Infrastrukturen am Bahnhof Oberhausen Sterkrade. © Sarah Hermens 55 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Zur Bedeutung der Gestaltung Haltestellen sind das Aushängeschild des Öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV), fungieren als Zugang zum Nahverkehrssystem und oft auch als multimodaler Knoten [2, 6]. Der Integration anderer Modi und Funktionen (zum Beispiel: Ladeinfrastruktur) kommt im Kontext der Verkehrswende eine Schlüsselrolle zu. Hier ergeben sich nicht nur Potenziale zur positiven Selbstdarstellung des ÖPNV und der Verkehrsunternehmen, sondern auch die Möglichkeit, sogenannte „wahlfreie“ Nutzer für den ÖPNV zu gewinnen [7]. „Die Bewohner der Städte lassen sich von guten verkehrlichen und städtebaulichen Konzepten für die Tram überzeugen - und dann nutzen sie diese! “ [1]. Eine attraktive Gestaltung von Haltepunkt und Umfeld hat einen positiven Einfluss auf die Wahrnehmung von Zeit und Entfernung. Der großen Bedeutung oftmals negativ empfundener Wartezeiten kann so entgegengewirkt werden, während gleichzeitig ein wertvoller Beitrag zur Aufenthaltsqualität im Quartier geleistet wird [2, 7]. Infrastrukturelemente sind als elementare Bausteine der Stadtgestaltung zu begreifen und mit einer entsprechenden Sorgsamkeit zu integrieren. Die technischen Komponenten stellen in diesem Zusammenhang eine der größten Herausforderungen dar. Dabei sind die grundsätzlichen Anforderungen wie beispielsweise Barrierefreiheit, Witterungsschutz und Übersichtlichkeit nicht außer acht zu lassen. Die hohe Präsenz von ÖPNV-Infrastruktur im öffentlichen Raum erfordert einen sensiblen Umgang bei Fragen zur Ausgestaltung. In den letzten Jahren rückte das Handlungsfeld Gestaltung in der Praxis stärker in den Vordergrund. Dies spiegelte sich nicht zuletzt im vom VDV-Industrieforum e. V. erarbeiten Handbuch „Gestaltung von urbaner Straßenbahninfrastruktur“ wider [7]. Die Gestaltung beschränkt sich jedoch nicht nur auf den engeren Haltestellenbereich, sondern auch auf das Quartier als Ganzes mitsamt seiner Zuwege zum Haltepunkt. Wie bei vielen gestalterischen Herausforderungen erweist sich die Transformation des Bestandes als weitaus schwieriger als die Realisierung neuer Projekte, bei denen die identifizierten Anforderungen frühzeitig in die Planung implementiert werden können. Im Bestand limitieren die Rahmenbedingungen die Ausgestaltungsmöglichkeiten, sei Bild 2: Beispiele für die Energieentnahme aus bestehenden Nahverkehrssystemnetzen zur Ladung von Batteriefahrzeugen. © Larisch et al. 56 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende es beispielsweise durch unzureichend verfügbare Flächen, dem bestehenden Ortsbild oder dem Bestandsschutz im Allgemeinen. Die Regiotram als städtebauliche und energetische Chance für die Städteregion Aachen Mit der Regiotram laufen in der Städteregion Aachen Planungen für eine neue Schienenpersonennahverkehrs-Verbindung (SPNV), die die Stadt Aachen mit dem nördlichen Teil der Städteregion verbindet und einen wesentlichen Beitrag zur nachhaltigeren Abwicklung des Pendlerverkehrs in der Region leisten soll. Die in der abgeschlossenen Machbarkeitsstudie favorisierte Trasse erschließt zum einen zahlreiche Bestandsquartiere und führt zum anderen durch Freiraumstrukturen (Bild 3). Bei einer entsprechenden technischen Ausgestaltung der Schieneninfrastruktur ergeben sich aus energetischer Perspektive zahlreiche Anknüpfungspunkte, sowohl für die erschlossenen Bestandsstrukturen als auch für potenzielle Neubauprojekte entlang der Regiotram. Neben der Möglichkeit kleinteilig entlang der Trasse mit Ladeinfrastruktur anzudocken, beispielsweise im direkten Umfeld der Haltepunkte (Stichwort: Mobilstationen), könnten auch Microgridsysteme (DC) sowohl im Bestand (zum Beispiel im Rahmen einer städtebaulichen Nachverdichtung) als auch bei Neubauquartieren entlang der Trasse (Transit Oriented Development) implementiert werden - die Tram und ihre Trasse als Nukleus für technische Innovationen. Die bei der Umgestaltung des Straßenraums anfallenden Restflächen, respektive entstehende Insellagen, sollten dabei als Möglichkeitsräume für die Andockung von kleinteiliger Energieinfrastruktur verstanden werden. Nachdem vor knapp zehn Jahren das Projekt der Campusbahn in Aachen scheiterte, ergibt sich nun mit der Regiotram eine neue Chance für die Städteregion. Bereits im ursprünglichen Konzept wurden die Synergien zwischen SPNV und Elektromobilität erkannt und entsprechende Schnittstellen bei der Planung mitgedacht [8]. Diesen Gedanken gilt es nun wieder aufzunehmen und weiterzuentwickeln. Das Problem der Flächenverfügbarkeit Im Rahmen einer möglichen Umsetzung ist die Flächenverfügbarkeit ein limitierender Faktor. Sowohl Ladeinfrastruktur inklusive der dazu gehörenden Stellplätze als auch die Unterwerke sind tendenziell flächenintensiv. Der Straßenraum als solcher ist konkurrierenden Nutzungsanforderungen unterworfen. Eine entsprechend gelungene Integration dieser Nutzungsbausteine kann, speziell in verdichteten/ historischen Bestandsstrukturen mit schlanken Straßenquerschnitten, zu einer planerischen Herausforderung werden. Hier bedarf es kreativer Lösungen. Die bestehenden Restflächen im Umfeld der Straßenbahn sollten zwar proaktiv als Potenzialflächen gesehen werden, reichen aber auch oftmals nicht für die vorgeschlagenen Infrastrukturbausteine aus. Auch sollte eine etwaige Versiegelung von beispielsweise Begleitgrün oder Grüninseln kritisch diskutiert werden. Die Neuplanung von SPNV-Infrastruktur oder die Entwicklung neuer Baugebiete ist hingegen nur bedingt durch diese Einschränkung betroffen und kann derlei Flächenanforderungen frühzeitig im Planungsprozess berücksichtigen. Technische Limitationen In der technischen Umsetzbarkeit besteht ein grundlegender Unterschied für Bestand und Neubau. Im Bestand lassen sich keine pauschalen und übertragbaren Aussagen zur Machbarkeit der hier vorgestellten Ansätze treffen. Durch die verschiedenen Systeme und verbauten Komponenten ist die Frage nach der Möglichkeit der Integration von Ladeinfrastruktur stets eine Einzelfallentscheidung. Die Netzkapazität, welche in der Regel erweiterbar ist, Bild 3: Möglicher Trassenverlauf der Regiotram gemäß Machbarkeitsstudie (Stand: Juli 2023). © Larisch et al. 57 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende ist für die mögliche Dimensionierung der Ladeinfrastruktur rahmengebend. Auch die Frage, ob Gleich- oder Wechselstromsysteme im Straßenbahnsystem genutzt werden, ist beim Andocken von Schnellladesäulen und Microgrids (ohne ergänzenden Wechselstromrichter) an die SPNV-Trasse zu berücksichtigen. Auch bei Microgrids limitiert die vorliegende Netzkapazität die mögliche Größe. Die Netzstabilität des SPNV ist jeweils sicherzustellen. Bei einem Neubauprojekt kann der Bedarf der Ladeinfrastruktur bei der Dimensionierung der benötigten Energieinfrastrukturen mitgeplant, auf die entsprechende Last ausgelegt und so frühzeitig mitgedacht werden. Synergien und Chancen einer integrierten Planung frühzeitig mitdenken Die aufgezeigten räumlichen und funktionalen Synergien bieten Lösungsansätze für die steigenden Anforderungen an Energieversorgung und Mobilität. Die vorhandene Infrastruktur sowie die entstehenden und bestehenden räumlichen Nischen entlang von Straßenbahntrassen bieten vielfältige Möglichkeiten zur Implementation innovativer Ansätze. Eine erfolgreiche Umsetzung erfordert dabei ein frühzeitiges Mitdenken der Möglichkeiten und Anforderungen. Dabei sind die gestalterischen Anforderungen der Energie- und Verkehrsinfrastruktur mehr als nur „nice to have“, sondern integraler Bestandteil für den Erfolg und die Akzeptanz von Veränderungen im öffentlichen Raum! LITERATUR [ 1] Beckmann, K. J.; Metzmacher, M.: Bewährte und innovative Impulse für städtische Mobilität und integrierte Stadtentwicklung - die Tram in Deutschland. In: BBSR (Hrsg.): Straßenbahnen und Stadtentwicklung. Informationen für Raumentwicklung Heft 4.2016. Stuttgart: Franz Steiner Verlag, (2016) S. 391 - 406. [2] Priebs, A.: Qualifizierung von Stadtrand und Suburbia durch schienengebundenen Nahverkehr. In: Hannemann et al. (Hrsg.): Jahrbuch StadtRegion 2019/ 2020. Wiesbaden: Springer Fachmedien, (2020) S. 153 - 173. [3] Müller-Hellmann, A., Thurm, S.: Batteriebusse im ÖPNV. Grundsätzliche Überlegungen und Demonstrationsprojekte in Oberhausen. In: Der Nahverkehr 11/ 2015. (2015) S. 30 - 34. [4] Müller-Hellmann, A., Baumann, R., Stahlberg, U.: Mitbenutzung von Gleichspannungsanlagen des ÖPNV zur DC-Ladung von Batteriefahrzeugen. Beitrag zu einem Tagungsband. In: Internationaler ETG-Kongress 2013 - Energieversorgung auf dem Weg nach 2050. Berlin (2013). [5] Anemüller, S.: Stadtbahn macht Pkw zu Klimaschützern. Blog Kvb Köln, (2021). https: / / blog.kvb-koeln.de/ stadtbahn-macht-pkw-zu-klimaschuetzern. (zugegriffen am: 05.09.2023) [6] Besier, S.: Städtebauliche Integration und Gestaltung der Infrastrukturanlagen von Stadt- und Straßenbahn. In: BBSR (Hrsg.): Straßenbahnen und Stadtentwicklung. Informationen für Raumentwicklung, Stuttgart: Franz Steiner Verlag. Heft 4 (2016) S. 407 - 420. [7] Verband Deutscher Verkehrsunternehmen e. V. (VDV) (Hrsg.): Gestaltung von urbaner Straßenbahninfrastruktur. Handbuch für die städtebauliche Integration. Köln: beka Gmbh, (2016). [8] Stadt Aachen: stadtseiten - Bürgerinformationen der Stadt Aachen, Nr. 1, Jahrgang 5 (2012). Abgerufen von: https: / / w w w.aachen.de/ de/ stadt _ buerger/ politik _ verwaltung/ Stadtseiten/ stadtseiten_print/ stadtseiten_22012012.pdf (zugegriffen am 05.09.2023). Christian Larisch, M. Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter RWTH Aachen University Institut für Städtebau und Europäische Urbanistik Kontakt: larisch@staedtebau.rwth-aachen.de Sarah Hermens, M. Sc. Wissenschaftliche Mitarbeiterin RWTH Aachen University Institut für Städtebau und Europäische Urbanistik Kontakt: hermens@staedtebau.rwth-aachen.de Jannik Wendorff, M. Sc. Wissenschaftlicher Mitarbeiter RWTH Aachen University Institut für Städtebau und Europäische Urbanistik Kontakt: wendorff@staedtebau.rwth-aachen.de AUTOR*INNEN All you can read Alles zusammen zum Superpreis: Die Papierausgabe in hochwertigem Druck, das ePaper zum Blättern am Bildschirm und auf dem Smartphone, dazu alle bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv - so haben Sie Ihre Fachzeitschrift für den urbanen Wandel immer und überall griffbereit. AboPlus: Print + ePaper + Archiv www.transforming-cities.de/ magazin-abonnieren AA ww 58 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Die Bewältigung der Folgen von Klimawandel, Schadstoff-Grenzwertüberschreitung und hoher Verkehrsbelastung sind aktuelle und künftige Herausforderungen für viele Städte in Deutschland und Europa. Dabei ändert sich das Mobilitätsverhalten der Verkehrsteilnehmenden langsam. Umweltverträglichere Mobilitätsformen wie das Fahrrad werden wieder attraktiver (bessere und mehr Radwege sowie Radabstellmöglichkeiten), das Angebot und die Nutzung von unterschiedlichen Sharing-Angeboten nimmt zu. Das Ziel der Mobilitätswende ist in allen Städten gleich, die Voraussetzungen und Gegebenheiten können jedoch sehr unterschiedlich sein. Das interdisziplinäre MaaS L.A.B.S.-Projektteam aus den Sozial-, Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften sowie aus beteiligten Verkehrs-IT- Unternehmen und Verkehrsbetrieben stellt hierzu die Verkehrsteilnehmer*innen ins Zentrum seiner Forschung und strebt eine schrittweise Erprobung von Technologien und Geschäftsmodellen an. Die hier berichteten Ergebnisse stammen aus dem Living Lab Potsdam, welches Teil des Gesamtprojekts ist. Im Living Lab Potsdam wurde getestet, wie innovative Mobilitätsangebote - zusammengeführt in einer integrierten Mobilitäts-App - den öffentlichen Verkehr stärken und eine klimafreundliche Stadtentwicklung unterstützen können. Übergeordnete Ziele sind die Reduktion des individuellen Autoverkehrs und von schädlichen Emissionen. Die beteiligten Projektpartner des Potsdamer Teams sind die Fachhochschule Potsdam, der ViP Verkehrsbetrieb Potsdam, die highQ Computerlösungen GmbH, das DLR-Institut für Verkehrssystemtechnik und die Universität Siegen. Verhaltensveränderung durch Incentivierung und Gamification Ein öffentlicher Test in Potsdam im Rahmen des Projekts MaaS L.A.B.S. Verhaltensänderung, Incentivierung, Gamification, Verkehrswende, Emissionsreduktion Anke Sauerländer-Biebl, Antje Michel, Christian Berkes, Katharina Lange, Johannes Scherbarth, Titus Wagner, Thomas Wanke Im vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten, interdisziplinären Projekt MaaS L.A.B.S. wurde getestet, wie innovative Mobilitätsangebote den öffentlichen Verkehr stärken und eine klimafreundliche Stadtentwicklung unterstützen können. Übergeordnete Ziele waren die Reduktion des individuellen Autoverkehrs und von schädlichen Emissionen. Fokus der Erprobungen als Living-Lab war unter anderen die Stadt Potsdam. Hier wurde eine integrierte Mobilitäts-App entwickelt und erprobt sowie die Integration von Formen des On-Demand-Angebotes im öffentlichen Verkehr und das Mobilitätsverhaltens von Probanden durch Tracking und Gamification getestet. Ein Test mit dem Ziel, CO 2 einzusparen, hat aufschlussreiche Ergebnisse geliefert. © Tom und Nicki Löschner auf Pixabay 59 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Öffentliche Tests Das Living-Lab Potsdam bearbeitete diese Forschungsziele unter Beteiligung der Öffentlichkeit sowie mit Stakeholdern von Planungsprozessen zwischen Mai 2020 und Mai 2023. Seitdem fanden verschiedene Aktivitäten zu den einzelnen Komponenten des integrierten Mobilitätsservices statt, wie beispielsweise die Durchführung einer Mobilitätstrackingstudie („Digitale Spuren Potsdam“), der Entwurf eines MaaS-Kartenspiels für Laien und Profis („Shuttle Dreams“), das Mitfahrexperiment „Soulmachine - der selbstlernende Robobus“ als mobiles Interaktionsspiel, der DRT-Tag mit Vorträgen, Diskussionen und Demonstrationen zum Thema Demand Responsive Traffic (Bedarfsverkehr/ DRT) mit Bürger*innen, Forschenden und Stakeholdern, die Durchführung von Umfragen zu Themen der Gestaltung von DRT-Verkehren und Mobilitätshubs, Testbetriebe mit On-Demand-Verkehren für die Öffentlichkeit im Stadtteil Bornstedter Feld (Bedarfsbus „juu-Limo“) mit unterschiedlichen Szenarien oder dem App-Test mit Incentivierungs- und Gamification-Anteilen mit dem Ziel, emissionsärmere Verkehrsmittel für die täglichen Wege zu benutzen. App-Test: Ihre Mobilität in Klima-Coins - 04/ 2023 Im Rahmen dieses Tests zur Verhaltensänderung durch Incentivierung und Gamification wurde untersucht, inwiefern Prämien und/ oder spielerischer Wettbewerb dazu beitragen können, das Mobilitätsverhalten nachhaltiger zu gestalten. Hierzu wurden auf der Basis einer Literatur- und Best-Practice-Analyse Strategien der Incentivierung und Gamification entwickelt, die unterschiedliche Ziele verfolgten:  die Information über das eigene Verhalten und seine Auswirkungen in Bezug auf seine Klimabilanz,  individuelle und gruppenbezogene spielerische Ansätze zur Motivation von Verhaltensänderungen,  materielle Belohnung  sowie Wohltätigkeit. Im Rahmen dieses Tests wurde die Nutzung eines App-basierten Anreizsystems in einem qualitativexpermimentellen Forschungsdesign mit einem kleinen Teilnehmer*innenkreis erprobt, der hinsichtlich Alter, bevorzugtem Verkehrsmittel und auch bestehender Alterantiven bei der Verkehrsmittelwahl heterogen war. Das Anreizsystem ist in die Mobilitätsapp „juu“, die im Projekt entstanden ist, integriert. Sie zielt darauf ab, Menschen über Incentivierung zu einem klimafreundlicheren Mobilitätsverhalten zu bewegen. Die Konzipierung des Tests erfolgte in enger Zusammenarbeit zwischen den Projektpartnern: Die technischen Komponenten wurden von highQ und dem DLR bereitgestellt, die zu gewinnenden Preise und Teilnahmeprämien von der ViP Verkerhsgesellschaft Potsdam bereitgestellt, die Gesamtkonzeption der Incentivierungsstrategien und ihrer Evaluation sowie die Akquise der gemeinnützigen Projekte wurde von der FHP durchgeführt. Die Planung, die Vorbereitungsveranstaltung und die Begleitung während der Durchführung wurde von allen Projektpartnern im Team ausgeführt. Während der zweiwöchigen Testphase haben die insgesamt 16 Testeilnehmer*innen ihre Bewegungsdaten mit der App getrackt. Die App erkannte dabei automatisch, auf welche Weise bzw. mit welchen Verkehrsmitteln sich die Testpersonen fortbewegt haben (zu Fuß, Fahrrad, ÖPNV oder Auto). Für alle Wege, die mit umweltfreundlichen Verkehrsmitteln zurückgelegt wurden (zu Fuß, Fahrrad, ÖPNV), erhielten die Testpersonen sogenannte „Klima-Coins“. Nr. Datum von Datum bis Titel Bemerkung Typ Zielwert ZM 1 20.03.2023 27.03.2023 50 km/ 7 Tage Radfahren => 50 juu-Klima-Coins Rad 50 km 50 2 22.03.2023 25.03.2023 5 kg CO 2 einsparen (3 Tage) => 50 juu-Klima-Coins CO 2 5 kg 50 3 24.03.2023 26.03.2023 Wochenende! Nutze den ÖPNV Ein Wochenende mit dem ÖPNV, lass das Auto stehen ÖPNV 10 km 50 4 27.03.2023 30.03.2023 Lauf 5 km/ 4-fache Punkte Schaff es, erhalte 200 Klima-Coins Laufen 5 km 200 5 28.03.2023 29.03.2023 Rad 5 km/ 2 Tage/ 4-fache Punkte Schaff es, erhalte 200 Klima-Coins Rad 5 km 200 6 31.03.2023 02.04.2023 Nutze die ViP Schaff es, erhalte 200 Klima-Coins ÖPNV 5 km 200 7 31.03.2023 02.04.2023 Lauf bei Sonnenschein Schaff es, erhalte 200 Klima-Coins Laufen 5 km 200 8 31.03.2023 02.04.2023 Spar CO 2 Schaff es, erhalte 200 Klima-Coins CO 2 3 kg 150 Tabelle 1: Die „Challenges“. 60 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende In der App konnte eine Testperson einsehen, wie viele Klima-Coins sie schon gesammelt hat, welchen Platz sie damit im Ranking mit den anderen Testteilnehmer*innen belegt und wie viele Klima- Coins durch die gesamte Teilnehmergruppe bereits gesammelt wurden und wie viel CO 2 dadurch eingespart wurde. Der App-Prototyp enthielt einen „Prämienshop“, in dem angezeigt wird, welchen Gegenwert die gesammelten Coins haben. Zum einen konnten Coins gegen Gutscheine für unterschiedliche Fahrkarten der ViP oder einem Guthaben bei den in Potsdam verfügbaren Sharing-Dienstleistern Volt oder Miles eingelöst werden. Zum anderen konnten die Klima-Coins für eine Spende an lokale gemeinnützige Projekte in Potsdam eingelöst werden. Die 16 Teilnehmer*innen haben sich zwei Wochen lang durch die Test-App tracken lassen. Aus den Trackingdaten wurden Wege ermittelt, die auch mit verschiedenen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden konnten, zum Beispiel mit dem Fahrrad zur Bahn. Je genutztem Verkehrsmittel wurde der CO 2 -Verbrauch berechnet und mit dem, der für die gleiche Strecke mit einem PKW angefallen wäre, verglichen. Bei der Planung wurde bewusst auch nicht der CO 2 -Verbrauch in den Vordergrund gestellt, sondern die CO 2 -Ersparnis auf den durchgeführten Wegen, also Lob statt erhobener Zeigefinger. Diese CO 2 -Einsparungen wurden je Teilnehmer*in gesammelt, aufaddiert und in Klima-Coins umgerechnet. Diese Klima-Coins konnten entweder eingelöst (ViP- Tickets, Guthaben für die Nutzung Miles oder TIER) oder ganz bzw. teilweise an gemeinnützige Projekte der Bürgerstiftung Potsdam (Bürgermobil oder Stadtgrün) gespendet werden. Zusätzlich wurden zeitlich versetzt „Challenges“/ Sonderaufgaben in der App angeboten, an denen die Probanden teilnehmen konnten. Wurden deren Ziele erreicht, gab es nochmal extra Klima-Coins für das erfolgreiche Absolvieren der Aufgabe. Beispiel für solch eine Challenge: „Ein Wochenende mit dem ÖPNV - Lass das Auto stehen“. Die Teilnehmenden hatten sich zu Beginn einen Spitznamen gegeben, unter dem sie sich in einer Rankingliste mit den anderen vergleichen konnten. Gemessen wurde jeweils die Gesamteinsparung von CO 2 . Für die ersten drei der Rangliste gab es am Ende des Tests nochmals eine Extraprämie zu gewinnen. Vor Start des Tests und am Ende des zweiwöchigen Tracking-Zeitraums haben die Teilnehmer*innen einen Eingangs- und Ausgangsfragebogen beantwortet. Im Eingangsfragebogen wurden Fragen zum Alter und zum Mobiltätstyp sowie der Verfügbarkeit von Fahrzeugen im Haushalt gestellt. Der Ausgangsfragebogen enthielt Fragen zur Beeinflussung der Verkehrsmittelwahl durch die unterschiedlichen Anreize in der App sowie durch den Wettbewerbscharakter der Challenges und des Rankings. Dem Bilder 2 a, b, c: Sreenshots der App. © Sauerländer- Biebl et al. 1. User 250 2. FilouOnBike 3. Xtian 4. User 242 5. Nightwood 6. User 241 7. Bohne 8. EjtnaMic 9. Brady (Du) 10. Buntfisch 27KG 27KG 20KG 19KG 15KG 15KG 13KG 11KG 11KG 10KG Rangliste Challenges März 61 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende MaaS L.A.B.S.-Team ist natürlich bewusst, dass die 16- Teilnehmer*innen bei weitem keine repräsentative Auswahl sind und die Anzahl sehr klein, doch lassen die Antworten aus der Befragung zur Verhaltensänderung aufhorchen. Die Zuordnung der Teilnehmenden zu verschiedenen Altersgruppen zeigt einen deutlichen Schwerpunkt bei Testteilnehmer*innen in der Altersgruppe von 36 bis 55. Hieraus lässt sich erkennen, dass ein überwiegender Teil der Testteilnehmenden bezogen auf das Alter zur Gruppe der Berufstätigen gehört. Daraus lässt sich schließen, dass sie regelmäßige Wege zur Arbeit zurücklegen müssen. Auf die Frage, „Haben die Anreize Ihr Mobilitätsverhalten innerhalb der zwei Wochen beeinflusst“ antworteten 50 % mit „ja“ und 50 % mit „nein“. Jeder zweite hat also auf die Anreize und/ oder den Wettbewerbscharakter reagiert. Auf die Frage „Können Sie sich vorstellen, dass ein solches Anreizsystem langfristig zu einer nachhaltigeren Mobilität beitragen kann? “ haben immerhin 66 % mit „ja“ geantwortet und nur 8 % mit „nein“. Der Rest war unsicher. Um herauszufinden, welche Aspekte konkret zur Verhaltensänderung geführt haben, wurden die Elemente abgefragt, die am meisten motiviert haben, das Verhalten zu ändern. Mehrfachantworten waren möglich:  Übersicht CO 2 -Ersparnisse: 50 %  Einzelchallenges: 41 %  Ranglistenplatzierung: 33 %  Ansammeln von Clima-Coins: 33 %  Aussicht auf die Clima-Coin-Präemien: 33 %  Aussicht auf die Mitmachprämie: 33 %  Keines der Elemente: 33 % Bemerkenswert ist, dass die Übersicht der CO 2 -Einsparungen der meistgenannte Antrieb war. Interessant ist dies, weil somit die reine Information über die Auswirkungen des eigenen Verhaltens auf den CO 2 -Verbrauch als relativ einfach zu implementierende Strategie den höchsten Effekt auf die Motivation der Teilnehmenden hatte. Noch einmal sei betont: Der Teilnehmerkreis war weder hinsichtlich der Auswahl der Proband*innen noch im Hinblick auf Umfang und Zusammensetzung der Stichprobe repräsentativ für alle potenziellen Nutzer*innen. Die Potsdamer Mobilitäts-App „juu“ und der App-Test haben wahrscheinlich eher digital-affine Menschen angesprochen. Jedoch sind die Ergebnisse ein Hinweis darauf, dass die positive Information von Verkehrsteilnehmenden über die Auswirkungen ihrer Verkehrsmittelwahl und (in geringerem Maße) spielerische Challenges zur Verhaltensänderung Potenzial haben, für ein klimafreundlicheres Mobiliätsverhalten zu motivieren. Anke Sauerländer-Biebl Wissenschaftliche Mitarbeiterin Institut für Verkehrssystemtechnik Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt DLR Kontakt: anke.sauerlaender-biebl@dlr.de Prof. Dr. Antje Michel Forschungsprofessur für Informationsdidaktik und Wissenstransfer FH Potsdam Kontakt: antje.michel@fh-potsdam.de Christian Berkes Akademischer Mitarbeiter FH Potsdam Kontakt: christian.berkes@fh-potsdam.de Katharina Lange FH Potsdam Kontakt: katharina.lange@fh-potsdam.de Johannes Scherbarth Leiter Mobilitätsmanagement/ Marketing/ Vertrieb ViP Verkehrsbetrieb Potsdam GmbH Kontakt: johannes.scherbarth@vip-potsdam.de Titus Wagner highQ Computerlösungen GmbH Kontakt: t.wagner@highq.de Thomas Wanke Leiter Büro Berlin highQ Computerlösungen GmbH Kontakt: t.wanke@highq.de AUTOR*INNEN 62 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Motivation und Zielsetzung Städte und Regionen stehen zunehmend unter Druck, die Klimaziele der EU und der nationalen Gesetzgebung [1, 2] zu erfüllen. Gleichzeitig werden finanzielle Spielräume kleiner und unterschiedliche Erwartungen an einen guten Lebensstandard erschweren zusätzlich politische Entscheidungen. Gut entwickelte Planungsinstrumente wie die SUMP- Methode [3] oder detaillierte Verkehrsmodelle sind komplex und teuer. Zudem sind sie in der Anwendung und für Laien schwer nachzuvollziehen, während gleichzeitig zentrale politikrelevante Ergebnisindikatoren fehlen. Vor diesem Hintergrund hat ein Team von Fraunhofer, Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und takomat GmbH sich die Aufgabe gestellt, die Kernfunktionen größerer Verkehrs- und Nachhaltigkeitsmodelle zu vereinfachen, sie zu dynamisieren, und für Laien mit Informationen und zusätzlichen Outputs zu sozialen und finanziellen Fragen anzureichern und in einer leicht zugänglichen Form zu präsentieren. Das daraus resultierende Tool ermöglicht es Entscheidungsträgern, verschiedene Optionen zukünftiger Mobilität zu testen und auch ohne Modellkenntnisse umfänglich selbständig zu bewerten. Zudem kann das Tool öffentliche Informations- und Beteiligungsprozesse unterstützen und die Ausbildung zukünftiger Mobilitäts- und Nachhaltigkeitsexpert: innen an Universitäten fördern. Dieser Anspruch mündete im dreijährigen Forschungsprojekt MobileCityGame, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurde. Am Beispiel von Karlsruhe (300 000 Einwohner*innen) wurde ein kostenloses und frei zugängliches Serious Game für iOS und Android entwickelt. Es umfasst ein einfaches aber voll funktionsfähiges Verkehrsmodell, das auf lokalen Geräten läuft und eine intuitive Benutzeroberfläche hat. In diesem Beitrag werden zunächst die Kernfunktionen und Merkmale von MobileCity vorgestellt. Dann wird über die Einführung in definierte Szenarien und deren Bewertung berichtet und abschließend auf (potenzielle) Anwendungsbereiche und Erfahrungen in der Anwendung hingewiesen. Methode und Daten die Game Engine Die Modellstruktur MobileCity folgt der Logik eines systemdynamischen Modells mit geografischer Nutzerschnittstelle. In jährlichen Zeitintervallen können Maßnahmen begonnen oder beendet werden. Berücksichtigt werden PKW mit elektrischem (E-PKW) und fossilem (V-PKW) Antrieb, Carsharing, öffentlicher Verkehr (ÖPNV) elektrisch mit Tram und S-Bahn sowie fossil und elektrisch mit Bussen, Radverkehr und zu Fuß. Die Bevölkerung in den Altersklassen 0 bis 19, 20 bis 64 und ab 65 Jahren wird den Wegezwecken Ausbildung, Arbeit, Besorgungen und Freizeit zugeordnet. Die App arbeitet auf der Ebene von 27 Stadtteilen und 15 Umlandbezirken, die durch Hyper-Netze für PKW, ÖPNV und Fahrrad über Hauptverbindungen und in die Stadtteile über Zugangslinks verbunden sind. Flottenmodelle unterteilen Verkehrsmittel in elektrische und fossile Antriebe. MobileCity gliedert sich in acht Berechnungs- und drei Ausgabemodule. Bevölkerung (BEV), Regionalstruktur (REG), Infrastruktur (INF) und Verhalten (SOZ) bestimmen die Verkehrsmittelwahl (MOD), die mit der Technologie (TEC) kommuniziert. Energie (ENG), Infrastruktur und Altersstruktur steuern wie- Das MobileCityGame Gamification zur Unterstützung frühzeitiger Planung, Partizipation und Bildung für eine erfolgreiche Mobilitätswende Mobilitätswende, Urbane Mobilität, Strategieentwicklung, Wirkungsabschätzung, Serious Gaming Claus Doll, Susanne Bieker, Dorien Duffner-Korbee, Konstantin Krauss Strategische Planung ist für Städte von größter Bedeutung, um Klimaziele zu erreichen, die Zufriedenheit der Bürger zu erhalten und finanziellen Zwängen zu genügen. Bewertungsmodelle sind oft kostspielig und komplex. Das Serious Game MobileCity ist ein intuitives und dynamisches Verkehrssimulationswerkzeug für Strategieprozesse, Partizipation und Bildung. Ein vollständig kalibriertes Verkehrsmodell, das auf lokalen Geräten läuft, ermöglicht die kontextsensitive Kombination unterschiedlicher Mobilitätsmaßnahmen und zeigt Wirkungen für Klima, Finanzen und Lebensqualität. 63 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende derum die Technologien. Diese acht Module kommunizieren dynamisch über Bestands- und Flussgrößen sowie über Matrizen und liefern schließlich Daten für die drei Bewertungsmodule Klima (ENV), Lebensqualität (LEQ) und Finanzen (FIN) (Bild 1). Die einzelnen Module sind anhand von Daten für die Stadt Karlsruhe sowie anhand von Algorithmen und Ergebnissen aus bestehenden Verkehrs- und Nachhaltigkeitsmodellen definiert und kalibriert. Dabei handelt es sich um das am KIT entwickelte agentenbasierte Modell mobiTopp [4] und die von Fraunhofer und Partnern entwickelten Systemdynamikmodelle ASTRA für die Ökonomie und ALADIN für die Fahrzeugflotten [5, 6]. Diese wurden durch eine Literaturübersicht über Wirkungsmechanismen ergänzt [7, 8, 9]. Die Ergebnisse wurden mit der Stadtverwaltung Karlsruhe und in drei Stakeholder-Workshops im Zeitraum Januar bis Juni 2023 diskutiert. Benutzeroberfläche und Outputs Die Ergebnisse von MobileCity sind vornehmlich didaktischer Natur, liefern jedoch auch jährliche numerische Werte für Wirkungen bis 2050. Hierzu werden die drei Output-Indikatoren (Klima, Lebensqualität und Finanzen) über Daten aus den Analysemodulen und zum Teil direkt über die angewählten Maßnahmen bestimmt. Über variable Emissions- und Kostenfaktoren lassen sich so Wirkungen von Mobilitätsstrategien im Zeitverlauf und abhängig vom Kontext bereits ausgeführter Maßnahmen abschätzen. Durch den systemdynamischen Ansatz kann MobileCity neben den Endergebnissen im Zieljahr 2050 auch die Einhaltung oder Verfehlung von Zielen auf dem Weg dorthin, etwa zur Kontrolle von Emissionsbudgets, bewerten. Da MobileCity unter die Kategorie Serious Game fällt, wurde ein Punktesystem entwickelt, das die jährliche Leistung in den drei Wirkungskategorien zusammenfasst. Tabelle-1 gibt einen Überblick über die Wirkungskategorien, Teilindikatoren und Bewertungsgrundsätze. Um die Akzeptanz von Maßnahmen in der Bevölkerung zu quantifizieren, wurde im Sommer 2023 eine repräsentative Umfrage in den 25 größten deutschen Städten mit 2 660 Antworten durchgeführt [7, 10]. Entlang der vier Maßnahmen Parkgebühren von 20 EUR, Bau von Radschnellwegen, Umwidmung von Straßenraum und kostenlosem ÖPNV wurden die Proband*innen gebeten, ihre Zustimmung zu diesen Maßnahmen zu bewerten. Einmal vor der hypothetischen Einführung mit wenigen Informationen und erneut nach der hypothetischen Fertigstellung. Begleitet wurde die Befragung durch Vorher-Nachher-Bilder über eine Skala von 1 (völlige Ablehnung) bis 7 (volle Zustimmung) zu bewerten. Über eine lineare Transformation wurden die monetären Nutzen der Akzeptanz so gesetzt, dass die maximale Antwortskala (1 bis 7) einem Punktebereich von -50 bis +50 entspricht. Modul Einheit Punktewertung Indikatorik Klima (ENV) t CO 2 e pro Einwohner Entwicklung entlang eines linearen Reduktionspfades bis zur Klimaneutraltät 2045 Emissionen je Fahrzeugtyp (PKW und ÖPNV) Lebensqualität (LEQ) Soziale Mehrwerte (EUR/ Einwohner) Bandbreite von Null bis zum Doppelten der sozialen Kosten 2023 mit höherer Dynamik bei großen Änderungen Mobilitätskosten, Zugänglichkeit, ÖPNV Qualität, Luftqualität, Lärm, Sicherheit und Akzeptanz Finanzen (FIN) Bilanz der jährlichen Einnahmen und Ausgaben (Mio. EUR) Bandbreite von +50 bis -10 Mio. EUR jährlich, linear Separate Budgets für PKW, Fahrrad, ÖPNV und urbane Entwicklung, nach Zuweisungen, Ausgaben und Einnahmen Tabelle 1: Output-Indikatoren in der Mobile- City Demo-Version Bild 1: Modell und Datenstruktur von MobileCity. © Fraunhofer ISI und KIT 64 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Funktionen und Maßnahmen In MobileCity schlüpfen Spielende in die Rolle eines oder einer allmächtigen Bürgermeister*in. Bei der Betrachtung der Mobilitätsstrategien bis 2050 werden bewusst aktuelle rechtliche oder organisatorische Barrieren ausgeblendet, um heute noch schwer umsetzbare Maßnahmen in der Zukunft zu ermöglichen. Maßnahmen oder Eingriffe werden durch Planungs- und Bauzeiten, Kosten, Akzeptanz und detaillierte Auswirkungen auf einzelne Stadtteile, Hypernet und andere Modellparameter beschrieben. Die aktuelle Demoversion von MobileCity enthält elf Einzelmaßnahmen, die verschiedene Interventionskategorien, Verkehrsmittel und geografische Details abdecken (Tabelle 1). Für reale Anwendungen soll diese Auswahl einen Eindruck von den Möglichkeiten von MobileCity vermitteln. Einzelne Maßnahmen werden geografisch durch entsprechende Layer im Stadtplan dargestellt (zum Beispiel: E-Ladestationen oder Parkgebühren). Weitere Layer zeigen die Reisezeiten nach Verkehrsträgern zwischen den Stadtteilen, die Bevölkerungsentwicklung und die CO 2 -Emissionen pro Kopf. Die Entwicklung des Modal Split, CO 2 -Emissionen, Lebensqualität und Finanzen können während des Spielverlaufs über detaillierte Grafiken verfolgt werden. Zum Abschluss eines 15bis 25-minütigen Spieldurchlaufs wird ein Abschlussbericht erstellt, der über verschiedene digitale Kanäle geteilt werden kann. Szenarien und Ergebnisse Mit MobileCity können sowohl die Wirkung von Maßnahmenkombinationen (nachstehend „Bündel“ genannt) als auch die Verzögerung von Maßnahmen (durch Planungs- und Bauzeiten) einfach veranschaulicht und bewertet werden. Um dies zu demonstrieren, wurde ein Referenzdurchlauf (keine Maßnahmen) angewählt sowie sechs Maßnahmenbündel über die Interventionsbereiche Bauen, Antriebe, Anreize, Preise und Regulierung für alle Verkehrsmittel definiert: 1. Referenz: Nur Maßnahmen, die im Spiel ohne Einfluss der Spielenden aktiviert werden, zum Beispiel Markteinführung von E-Autos, mäßiger Hochlauf von E-Ladestationen im Stadtgebiet und vollständige Elektrifizierung der Busse bis zum Jahr 2030. 2. E-Mobilität: Maximal 130 % jährlicher Zuwachs von E-Ladestationen im Vergleich zur Entwicklung in Norwegen, kostenloses Parken, Anreizprogramme für die Nutzung von E-Autos wie Gutscheine für Freifahrten und Living Labs. 3. Fahrradstadt: Umsetzung aller Radschnellwege, Straßenraumumgestaltung in der gesamten Stadt, der Innenstadt sowie am Stadtrand (alle Stadtteile) mit 30 % weniger PKW-Parkplätzen. 4. Parken und Geschwindigkeit: Parkgebühren von 10 EUR in der Innenstadt mit 50 % Rabatt für E-Autos, 75 % der ehemals kostenlosen Parkplätze sind gebührenpflichtig, außerdem Geschwindigkeitsbegrenzung auf 30 km/ h auf allen Straßen. 5. ÖPNV-Tarife: Monatskarte für 29 EUR mit entsprechender Ermäßigung bei Einzel- und Sonderfahrscheinen für alle Fahrgäste. 6. Klimapaket: Bündel „Fahrradstadt“, „Parken und Geschwindigkeit“ und „ÖPNV-Tarife“ kombiniert. 7. Klima-Notbremse: Bündel Fahrradstadt plus 70 % der öffentlichen Parkplätze entfernt, 20 EUR Gebühren für jeden Parkvorgang im Zentrum - für alle Parkplätze und alle Autos, 9 EUR Monatskarte für den ÖPNV; 130 % E-Ladestationen- Außer im Szenario Referenz wurden alle Maßnahmenbündel früh (2024) oder spät (2030) begonnen. Für die daraus resultierenden 13 Varianten zeigt Bild- 2 die kumulierten Siegpunkte über den Zeitraum 2023 bis 2050, untergliedert in die Kategorien Klima, Lebensqualität und Finanzen sowie den CO 2 - Ausstoß pro Kopf der Karlsruher Bevölkerung. Bereits im Referenzfall reduziert die voraussichtlich unausweichliche Marktdurchdringung von E-Autos die THG-Emissionen im Zeitraum 2023 Kategorie Mode Maßnahme Beschreibung Bauen Fahrrad Radschnellwege 6 Radschnellwege PKW E-Ladestationen Zubau nach Stadtteilen ÖPNV Straßenbahntunnel Teil der Karlsruher Kombilösung, eröffnet 2021 ÖPNV E-Busse Bis 2030 werden alle Busse auf E-Antriebe umgestellt Preisgestaltung PKW Parkgebühren 4 Varianten aus Preisen, Ausdehnung und E-PKW-Rabatten ÖPNV Tarifreform 4 Varianten mit 49 €-, 29 €- und 9 €-Ticket Regulierung PKW Geschwindigkeitsbregenzungen 3 Varianten mit/ ohne Bundesstraßen Fuß/ Radverkehr Straßenraumgestaltung Innere und äußere Bezirke nach Anteil reduzierter Parkplätze Anreize Carsharing Gutscheine Akzeptanz durch Kennenlernen PKW Urban Living Labs Akzeptanz durch Vorzeigeprojekte Tabelle 2: Maßnahmenkategorien in der aktuellen MobileCity Demo-Version. 65 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende bis 2050 um 83 % von 0,75 auf 0,13 t CO 2 pro Jahr und Kopf. Weitere Reduktionen sind über die gewählten Maßnahmenbündel lediglich durch starke Push-Maßnahmen, wie sehr hohe Parkgebühren, zu erreichen. Aber: Der Zeitpunkt ist wichtig, wie die besseren Klimabilanzwerte für früh eingeführte Bündel zeigen. Die Klimaneutralität scheitert jedoch in allen Fällen, da Maßnahmen zur Eindämmung der Stromemissionen noch fehlen. Lebensqualität und Klimabilanz gehen Hand in Hand, wenn Push- und Pull-Maßnahmen kombiniert werden. Schließlich können hohe Parkgebühren den praktisch kostenlosen Nahverkehr in der „Notbremse“ refinanzieren. Bild 3 zeigt den Modal Split nach Wegen für Binnen-, Quell- und Zielverkehr im Jahr 2050 für alle Varianten. Nach dem derzeit implementierten Modell und den Maßnahmen zeigt sich dieser auch bis 2050 als einigermaßen robust gegenüber größeren Veränderungen. Selbst die harten Maßnahmen im Rahmen der Notbremse führen nur zu einem Rückgang des PKW-Anteils von rund einem Drittel auf 32 %. Der ÖPNV wächst hier um knapp 60 % auf 29 %. Bild 2: Vergleich der 13 Varianten nach Siegpunkten und CO 2 -Ausstoß. © Fraunhofer ISI und KIT Bild 3: Vergleich der 13 Varianten nach Modal Split 2050. © Fraunhofer ISI und KIT 1190 1811 1540 1271 1208 1944 1672 1327 1295 2087 1780 2169 1889 1409 1503 1484 2377 2167 1165 1224 2260 2157 2217 2296 2642 2349 960 694 683 1254 1227 2704 2415 52 52 1290 1091 2752 2462 0,00 0,02 0,04 0,06 0,08 0,10 0,12 0,14 0 1.000 2.000 3.000 4.000 5.000 6.000 7.000 8.000 Klimaemissionen 2050 (t CO2e p.c.) Siegpunkte 2023-2050 Punkte Klima Punkte Lebensqualität Punkte Finanzen Klimaemissionen % ÖPNV % E-Pkw % V-Pkw % Carsharing % Fahrrad % zu Fuß 17,7 17,6 17,6 20,0 20,0 18,4 18,4 20,8 20,8 24,3 23,7 28,7 28,7 47,5 47,8 47,8 45,2 45,1 42,3 42,3 45,0 45,0 38,2 39,5 31,6 31,6 18,6 18,5 18,6 19,5 19,5 18,7 18,7 18,1 18,1 18,8 19,4 21,3 21,3 16,0 16,0 16,0 15,1 15,1 20,2 20,2 15,8 15,8 18,6 17,3 18,3 18,3 0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 Modal Split 2050 (% Wege) 66 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende In der aktuellen MobileCity-Version fehlen noch Maßnahmen zum Ausbau der ÖPNV-Kapazität, was die maximal mögliche Fahrgastzahl beschränkt. Radfahren und Zufußgehen steigen unter diesen Bedingungen „nur“ um 17 % auf 41 %. Schlussfolgerungen und Diskussion MobileCity ermöglicht es Nutzenden Modellierungserfahrung mit der Kombination, der Intensität und dem Timing von allgemein diskutierten Maßnahmen für die Mobilitätswende zu spielen. Es ist zu erwarten, dass die dynamischen und detaillierten Ergebnisse für die zahlreichen Teilindikatoren die Diskussionen zwischen politischen Entscheidungsträgern, Bürger*innen und Studierenden anregen werden. Die praktische Erprobung dieser potenziellen Anwendungsbereiche ist im Rahmen des Folgeprojekts CarGoNE-City in der Partizipation und Strategiebildung sowie in einem studentischen Seminar am KIT im Winter 2023/ 2024 geplant. Ermutigt durch eine Reihe von Anwenderworkshops, Fachgesprächen und Messen lässt sich ein Potenzial von MobileCity zur Anwendung in Richtung eines allgemein akzeptierten Planungsinstruments erkennen. Dessen Anwendungsbereich kann zur Vorbereitung von Klima-Mobilitätsplänen zum Beispiel im Rahmen von Workshops, für öffentliche Dialoge und für die Aus- und Weiterbildung an (Hoch-)Schulen etabliert werden. Hierfür wird der verfügbare Demonstrator sukzessive um zusätzliche Funktionen und Merkmale erweitert und auf weitere deutsche und europäische Städte übertragen. Zu den in Vorbereitung befindlichen Funktionen gehören weitere Maßnahmen beispielsweise in den Bereichen Straßenbau, ÖPNV-Kapazität, Quartiersgestaltung und Energiewende, die Erweiterung des Modells um die urbane Logistik, geteilte und automatisierte Mobilitätsdienste, sowie die Bereitstellung von Feedbackmöglichkeiten für Nutzende. Für den fachlichen Austausch, Kooperationen oder Workshops steht das Projektteam Kommunen und Fachkollegen gerne zur Verfügung. Referenzen [1] EC: A European Green Deal - Striving to be the first climate-neutral continent. https: / / commission.europa.eu/ strateg y-and-policy/ priorities-2019-2024/ european-green-deal_en [2] Bundesregierung: Bundes-Klimaschutzgesetz (KSG). BGBl. I S. 3905 (2021). [3] Sutter, D., Sieber, N., Wörner, M.; Esche, C.: Overview of Urban Mobility Climate Mitigation Strategies and Climate objectives in Urban Mobility Plans (SUMPs). Report, (2022). [4] Püschel, J., Barthelmes, L., Kagerbauer, M., Vortisch, P.: Simultaneous Modeling of Mobility Tool Ownership in Agent-Based Travel Demand Models: A Comparison of Discrete Choice and Machine Learning Models. 102nd TRB Annual Meeting, (2023). [5] TRT, M-FIVE, Fraunhofer ISI: AsTra-Model. http: / / www.astra-model.eu/ [6] Plötz, P., Wachsmuth, J., et al.: Greenhouse gas emission budgets and policies for zero-carbon road transport in Europe. ISI Working Paper Sustainability and Innovation 02 (2023). [7] Thaller, A., Posch, A. et al.: How to design policy packages for sustainable transport: Balancing disruptiveness and implementability. In: Transportation Research Part D, 91 (2021). [8] Karjalainen, L. E., Juhola, S.: Urban transportation sustainability assessments: a systematic review of literature. In: Transport Reviews 41 (5), (2021) S. 659 - 684. [9] Krauss, K., Duffner-Korbee, D. et al.: Do People Actually Want Sustainable Urban Mobility Systems? A Residents‘ Perspective on Policy Measures. Paper submitted to TRA 2024. [10] Krauss, K., Duffner-Korbee, D., Flacke, J., Doll, C.: Do People Actually Want Sustainable Urban Mobility Systems? A Residents‘ Perspective on Policy Measures, Manuskript eingereicht zur 10. Transportation Research Arena, Dublin, 2024. Dr. Claus Doll Senior Projektleiter Fraunhofer ISI Kontakt: claus.doll@isi.fraunhofer.de Dr. Susanne Bieker Senior Projektleiterin Fraunhofer ISI Kontakt: susanne.bieker@isi.fraunhofer.de Dr. Doreen Duffner-Korbee Senior Projektleiterin Fraunhofer ISI Kontakt: doreen.duffner-korbee@isi.fraunhofer.de Dr. Konstantin Krauss Projektleiter Fraunhofer ISI Kontakt: konstantin.krauss@isi.fraunhofer.de AUTOR*INNEN 67 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Die urbane Verkehrswende und Bürgerbeteiligung Ziel der Verkehrswende ist es, den Energieverbrauch im Verkehrssektor insgesamt zu senken und den verbleibenden Energiebedarf mit klimaneutraler Energie zu decken. Dies erfordert jedoch nicht nur eine Antriebswende, die durch technische Innovationen einen Austausch der Antriebssysteme von Fahrzeugen bewirkt, sondern ebenfalls eine Mobilitätswende, die das Verkehrsangebot durch eine Vernetzung verschiedener Formen des Individualverkehrs und des öffentlichen Personennahverkehrs einbezieht und damit multimodales Verkehrsverhalten erleichtert [1]. Um Mobilitätsprojekte zu qualifizieren und ihre erfolgreiche Umsetzung durch gesellschaftliche Akzeptanz zu sichern, sind partizipative Elemente Bild 1: PaEGIE-Bürger- Workshop. © Gerd Keim Bürgerbeteiligung für eine erfolgreiche Verkehrswende Bürgerbeteiligung, Befragung, Workshop, digitale Tools, Mobilitätsplanung Luisa Ritter, Jana Stahl, Hans-Joachim Linke Bürgerbeteiligung ist ein wichtiger Baustein für die Verkehrswende und die Gestaltung der städtischen Mobilität der Zukunft, da die erfolgreiche Umsetzung von Mobilitätsprojekten erst durch gesellschaftliche Akzeptanz gesichert wird. Partizipative Elemente können frühzeitig dazu beitragen, Mobilitätsprojekte zu qualifizieren und Bürger*innen die Möglichkeit geben, die Mobilitäts- und Verkehrswende mitzugestalten. 68 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende erforderlich. Im Rahmen des vom Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) geförderten Forschungsprojektes „PaEGIE - Partizipative Energietransformation: Innovative digitale Tools für die gesellschaftliche Dimension der Energiewende“ wurde in einer Kooperation der Institute für Politikwissenschaft (Prof. Dr. Michèle Knodt) und für Geodäsie (Prof. Dr.-Ing. Hans-Joachim Linke) der TU Darmstadt sowie des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung IGD (Dr. Eva Klien) ein Beteiligungskonzept entwickelt und erprobt, mit dem Ziel, über die bisher erreichten Beteiligungsstufen der Information und Konsultation hinaus die höchste Beteiligungsstufe der Mitgestaltung zu erreichen. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, wie Beteiligungsformate zum Gelingen der Verkehrswende beitragen können und greift dabei das Vorgehen und die Ergebnisse des Forschungsprojektes PaEGIE auf. Beteiligungsprozess im Projekt PaEGIE Die kommunale Mobilitätsplanung zeichnet sich durch ein komplexes Akteursspektrum aus, das im Rahmen von Planungsprozessen vielzählige Abstimmungen zwischen verschiedenen Fachdisziplinen, Verwaltung und Politik, mit Nachbarkommunen und übergeordneten Einheiten erfordert. Ebenso wichtig ist es, Interessenvertretungen, Unternehmen und Bürger*innen einzubeziehen [2]. Obwohl die rechtlichen Grundlagen für die strategische Verkehrsplanung keine Verpflichtung zur Bürgerbzw. Öffentlichkeitsbeteiligung vorsehen, bestehen aufgrund von Erfahrungen in anderen Planungsverfahren (zum Beispiel: Flächennutzungs- und Bebauungspläne, Verfahren der Städtebauförderung, integrierte Stadtentwicklungsprozesse oder Planfeststellungsverfahren nach Fachplanungsrecht) Erwartungen seitens der Bürger*innen an eine Beteiligung [3]. Dabei sind informelle Beteiligungsverfahren, die außerhalb förmlicher Strukturen stattfinden, insbesondere für frühe Konzept- und Projektphasen geeignet, um Informationen auszutauschen und kreative Ideen zu generieren [3]. Die vielfältigen Umsetzungsmöglichkeiten eines solchen Beteiligungsprozesses eröffnen große Potenziale für hohe Beteiligungsquoten und die Beteiligung breiter Kreise der Bevölkerung. Gleichzeitig sind dadurch die Planung und Durchführung informeller Beteiligung anspruchsvoller. Im Forschungsprojekt PaEGIE wurde ein Beteiligungsprozess entwickelt [4] und am Beispiel mobilitätsplanerischer Fragestellungen erprobt. Eine Zielgruppe in einem Partizipationsprozess zur Nahmobilität in einer Stadt sind beispielsweise die Bewohner*innen der Stadtquartiere. Im Rahmen des Projekts PaEGIE wurden drei Beispielquartiere in der Stadt Darmstadt untersucht: Mollerstadt, Lincolnsiedlung und Heimstättensiedlung. Für die drei Quartiere wurde zunächst eine Bestandsaufnahme auf Basis von statistischen Datenreports, veröffentlichten Rahmenplänen, Verkehrsstudien, Quartiers- und Mobilitätskonzepten sowie Geodaten (unter anderem ÖPNV-, Fahrrad- und Carsharing- Angeboten aus dem „Stadtatlas Darmstadt“ sowie dem Liegenschaftskataster) durchgeführt, um die vorhandenen Mobilitätsangebote und -konzepte umfassend zu beschreiben. Die erhobenen Daten wurden durch Ortsbegehungen in allen Quartieren ergänzt. Die Erfassung und Kenntnis der örtlichen Bestandssituation bildet eine wichtige Grundlage, um Quartiersbewohner*innen im Partizipationsprozess zu begegnen. Um ergänzend zur objektiven Bestandsaufnahme einen Eindruck von den subjektiven Wahrnehmungen und Einstellungen der Quartiersbewohner*innen zum Thema Mobilität zu erhalten, bietet sich die Durchführung einer Umfrage an. Hierfür wurde im Rahmen von PaEGIE eine Stichprobe zufällig ausgewählter Bewohner*innen der drei Quartiere im Juni (Mollerstadt, Heimstättensiedlung) und September (Lincolnsiedlung) 2021 zu ihrem Mobilitätsverhalten, ihrer Einstellung zu bisherigen Mobilitätskonzepten und ihren Vorstellungen über zukünftige Mobilität befragt. Dabei wurden auch soziodemographische Merkmale erhoben. Die Befragung erfolgte über Bild 2: Partizipations- Tool am Multitouch-Tisch. © Gerd Keim 69 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende einen Online-Fragebogen, auf den die postalisch angeschriebenen Befragten über einen QR-Code zugreifen konnten. Einzelne Teilnehmer*innen wirkten telefonisch bei der Befragung mit. Ein interaktiver Austausch mit Bürger*innen eines Stadtquartiers kann durch die Durchführung von Quartiersworkshops angestoßen werden. Für die zweckmäßige Durchführung eines solchen sind eine klare Formulierung und Kommunikation der Ziele des Workshops, ein thematischer Input zur Sicherstellung eines grundlegenden Wissensstands aller Beteiligten und möglicherweise Utensilien und Tools zur Unterstützung der angestrebten Diskussion erforderlich. Im Projekt PaEGIE wurde als Partizipations-Tool eine digitale 3D-Visualisierung der Stadt Darmstadt in einer Web-Anwendung realisiert, in welcher Nutzende beispielsweise Objekte platzieren oder Routen nachvollziehen sowie vorhandene Vorschläge kommentieren und evaluieren können. Auf diese Weise können aktuelle und neue Planungsideen visualisiert, getestet und diskutiert werden. Bei der Entwicklung der Mobilitätsszenarien wurden aufbauend auf den Befragungsergebnissen für die Bürger*innen relevante Themen berücksichtigt. Die ersten Workshops fanden im Mai 2022 in Form von drei separaten Präsenzveranstaltungen statt, bei denen digitale und analoge Methoden direkt miteinander verglichen wurden. Im November 2022 folgte ein zweiter, digitaler, Workshop-Termin für alle Quartiere gemeinsam, den die Teilnehmenden am eigenen PC wahrnehmen konnten. In den Workshops wurde das entwickelte Partizipations- Tool genutzt, um eine Analyse des individuellen Mobilitätsverhaltens zu ermöglichen. Durch die Eingabe einer Route wurden dem Nutzenden die ermittelten CO 2 -Emissionen, der Zeitbedarf, die Kosten sowie weitere relevante Parameter angezeigt und direkt mit allen hinterlegten Verkehrsmitteln verglichen. Zudem wurde die (hypothetische) Planung von Mobilitätsinfrastrukturen, zum Beispiel Ladestationen oder Sharing-Angeboten, im Partizipations-Tool getestet. Die Workshops wurden durch eine Prozessevaluation begleitet. Die Teilnehmenden machten vor, während und nach den Workshops bei On-thespot Befragungen mit, zudem fand eine Beobachtung der Workshops von außen statt. Um zu evaluieren, inwiefern das entwickelte Partizipations-Tool in zukünftige (Mobilitäts-) Planungsprozesse eingebunden werden kann, wurden Interviews mit Experten aus der Mobilitäts- und Stadtplanung durchgeführt. Aus diesen, sowie aus den Erkenntnissen der vorherigen Projektphasen wurde ein „Leitfaden zur Integration des Partizipations-Tools in informelle und formelle Planungsprozesse“ entwickelt. Aufbauend auf den Erkenntnissen aus den verschiedenen Projektphasen sowie den Ergebnissen einer umfassenden Literaturrecherche wurde eine „Fachliche Handreichung zur kommunalen Mobilitätsplanung mit dem Ziel der Energiewende“ entwickelt, die interessierten Bürger*innen vorhandene Mobilitätsformen vorstellt, deren Vor- und Nachteile diskutiert sowie den Weg zu einer erfolgreichen Mobilitätswende skizziert. Projektergebnisse hinsichtlich Partizipation Im Rahmen der Befragung wurden die Teilnehmenden unter anderem zu ihren Einstellungen zur Energie- und Mobilitätswende befragt. Auf einer Likert- Skala mit den Angaben „stimme gar nicht zu“ (1) bis „stimme voll und ganz zu“ (7) bewerten die Teilnehmenden die Notwendigkeit der Mobilitätswende für den Klimaschutz eher hoch (M = 4.7, SD = 1.7) und befürworten im Allgemeinen die Mobilitätswende (M = 4.5, SD = 1.8). Vergleichsweise geringer ist die Zustimmung zur Bereitschaft, für die Mobilitätswende Veränderungen in Kauf zu nehmen (M = 4, SD = 1.6). Die Teilnehmenden schätzen ihr Wissen über nachhaltige Mobilitätskonzepte eher niedriger (M = 3.4, SD = 1.6), was aufzeigt, dass hier noch Aufklärungsbedarf besteht. Die Umfrage-Teilnehmenden gaben mit großer Mehrheit an, dass sie die Beteiligung von Bürger*innen bei der Gestaltung der Mobilitätswende für wichtig erachten (22 % eher wichtig, 27 % wichtig, 34 % sehr wichtig). Mit den derzeitigen Mitsprache-Möglichkeiten sind zwar 37 % weder zufrieden noch unzufrieden, jedoch 45 % eher unzufrieden bis gar nicht zufrieden. Ebenso zeigt sich, dass die Möglichkeiten der Bürger*innen zur Einflussnahme auf die Gestaltung der Mobilitätswende von 59 % der Befragten als eher niedrig bis sehr niedrig eingeschätzt werden. In Darmstadt bestehende Beteiligungsformate wie Bürgerforen, Bürgerinformations-Veranstaltun- Bild 3: Umfrageergebnisse zu den Einstellungen zur Mobilitätswende. © Ritter, Stahl (stimme voll und ganz zu) 7 6 5 4 3 2 1 (stimme gar nicht zu) 0 Notwendigkeit der Mobilitätswende für den Klimaschutz Befürwortung der Mobilitätswende im Allgemeinen Bereitschaft, für die Mobilitätswende Veränderungen in Kauf zu nehmen Wissen über nachhaltige Mobilitätskonzepte 70 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende gen bzw. -versammlungen, Bürgerbegehren, Bürgerhaushalt und Bürgeranfragen sind zwar je nach Format 40 % bis 70 % der Befragten mindestens bekannt, jedoch haben vergleichsweise wenige bereits an solchen Veranstaltungen teilgenommen. Von denjenigen, die in der Vergangenheit eine dieser Beteiligungsmöglichkeiten wahrgenommen haben, bewerten 44 % ihre Erfahrungen neutral, 20 % eher negativ und 7 % sehr negativ, 28 % eher positiv und 2 % sehr positiv. Auf die Frage, was die Umfrage-Teilnehmenden motivieren würde, sich eher oder mehr zu beteiligen, wurden die drei folgenden Antwortmöglichkeiten am häufigsten genannt: Leichterer Zugang durch digitale Beteiligungsformate (65 %), bessere Visualisierung von Planungsvorhaben (58 %) sowie mehr Informationen zu Teilnahmemöglichkeiten (58 %). Diese Ergebnisse bilden die Grundlage für die Ausgestaltung des Partizipations-Tools im Rahmen des Projektes. Bei den Bürgerworkshops, die im Rahmen des Projektes durchgeführt wurden, war insgesamt eine geringe Beteiligung zu verzeichnen. Während bei den Präsenzworkshops im Mai 2022 in der Lincolnsiedlung fünf, in der Mollerstadt acht und in der Heimstättensiedlung sieben Bürger*innen teilnahmen, beteiligten sich am zweiten Online- Bürgerworkshop im November 2022 insgesamt acht Bürger*innen. Es konnte festgestellt werden, dass die Workshop-Teilnehmenden eher positiv gegenüber der Mobilitätswende eingestellt und unabhängig von Alter und Geschlecht sehr interessiert und sehr aktiv waren. Im Durchschnitt waren die Teilnehmenden eher jung, männlich, akademisch gebildet, eher einkommensstark und politisch eher links eingestellt. Der offene und interaktive Beteiligungsprozess wurde durchweg positiv bewertet. Das digitale Beteiligungstool hat sich als Beteiligungsinstrument bewährt. Es ist davon auszugehen, dass durch praxisrelevante Beteiligungsanlässe und einen klar definierten Umgang mit den Ergebnissen der Beteiligung das Potenzial des Partizipations-Tools erhöht und besser ausgeschöpft werden kann. Beteiligung und ihr Beitrag zur Mobilitätswende Die Einbeziehung der Bürger*innen in Planungs- und Entscheidungsprozesse ist ein fördernder Aspekt von Mobilitätsprojekten. Indem sie über umfassendes lokales Wissen verfügen, können Bürger*innen Planungen aktiv unterstützen und voranbringen, was zu neuen Ideen und Perspektiven führen kann. Die Möglichkeit, in Partizipationsprozessen Einblick in städtische Entwürfe zu erhalten, informiert die Bürger*innen umfassend, fördert Transparenz und trägt zur Wahrnehmung von Problemen bei. Entscheidungen, an denen Bürger*innen aktiv beteiligt waren, können zu einem erhöhten Verständnis und Einvernehmen beitragen, was wiederum die Legitimität kommunaler Projekte fördert. Die Ziele der Beteiligung können jedoch nur erreicht werden, wenn die Teilnehmenden eine repräsentative Stichprobe der Gesellschaft darstellen. Hierzu müssen Bürger*innen unabhängig von Geschlecht, Alter, Einkommen und anderen soziodemographischen Eigenschaften dazu motiviert werden, sich in den Partizipationsprozess einzubringen. Die Projektergebnisse zeigen, dass insbesondere die Information zu Teilnahmemöglichkeiten sowie ein leichterer Zugang zur Beteiligung ausschlaggebende Kriterien sind. Wichtig ist zudem die verständliche Darstellung der Planungsvorhaben, zum Beispiel durch eine digitale Visualisierung. Eine hohe Qualität von Beteiligungsprozessen kann dazu führen, dass Bürger*innen diese als positiv bewerten und zukünftig offen für weitere Beteiligungen sind. Die durch das Forschungsprojekt gewonnenen Erkenntnisse bereiten eine zukünftige Einbindung des Partizipations-Tools in Planungsprozesse vor. Mit einem „Leitfaden zur Integration des Partizipations-Tools in informelle und formelle Planungsprozesse“ sollen Kommunen und Planer*innen dabei unterstützt werden. Die Inhalte sollen zudem dazu beitragen, das Wissen über einen gelungenen Partizipationsprozess und potenzielle Einsatzmöglichkeiten zu erweitern und somit einen Anstoß geben, höhere Beteiligungsstufen in der Planung anzustreben. Mithilfe frühzeitiger Beteiligungen in Planungsprozessen können in einem frühen Stadium die Kenntnisse und Ideen von Bürger*innen miteinbezogen, Probleme identifiziert sowie die Transparenz zukünftiger Projekte gesteigert werden. In den angestrebten Beteiligungen kann, zum Beispiel im Kontext der Mobilitätsplanung und der anvisierten Mobilitätswende, mit den vermittelten Inhalten eine erhöhte Bewusstseinsbildung erzielt werden, durch die auch eine gewisse Verhaltensänderung ermöglicht werden kann. Um dies zu unterstützen, wurde im Rahmen des Projektes eine „Fachliche Handreichung zur kommunalen Mobilitätsplanung mit dem Ziel der Mobilitätswende“ erstellt. Sie soll Wissenslücken schließen und die Lesenden dazu motivieren, sich intensiver mit der Thematik auseinanderzusetzen. Die Erfahrungen aus dem im Projekt PaEGIE erprobten Beteiligungsprozess zeigen, dass unter den teilnehmenden Bürger*innen eine grundsätzliche Bereitschaft besteht, die Mobilitätswende zu unter- 71 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende stützen und engagiert an ihrer Gestaltung mitzuwirken, wenn ihnen dazu Gelegenheit geboten wird. Die erfolgreiche Umsetzung der Mobilitätswende erfordert die Akzeptanz und eine aktive Verhaltensänderung der Bevölkerung, wozu partizipative Elemente unterstützend beitragen können. Beteiligungsprozesse können als gelebte Demokratie verstanden werden und Bürger*innen die Möglichkeit geben, aktiv an der Gestaltung der Zukunft ihrer Kommune beteiligt zu sein. Mitgestaltung im Sinne der Partizipation ist daher ein wichtiger Baustein der Mobilitäts- und somit auch der Verkehrswende. LITERATUR [1] Agora Verkehrswende: Mit der Verkehrswende die Mobilität von morgen sichern: 12 Thesen zur Verkehrswende. Berlin, (2017). [2] Gertz C.: Planungsgrundlagen. In: Vallée, D., Engel, B., Vogt, W. (Hrsg.): Stadtverkehrsplanung Band 1. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg, (2021) S. 1 - 45. [3] Beckmann K. J.: Partizipative Methoden in der (Stadt-) Verkehrsplanung. In: Vallée, D., Engel, B., Vogt, W. (Hrsg.): Stadtverkehrsplanung Band 2. Berlin, Heidelberg: Springer Berlin Heidelberg, (2021) S. 449 - 471. [4] Knodt, M., Petersen, S., Kluge, M.: Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene: Ein Leitfaden für Städte und Kommunen zur Umsetzung von digital unterstützten Partizipationsprozessen. Darmstadt, (2023). Luisa Ritter Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachgebiet Landmanagement Technische Universität Darmstadt Kontakt: luisa.ritter@tu-darmstadt.de Jana Stahl Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachgebiet Landmanagement Technische Universität Darmstadt Kontakt: jana.stahl@tu-darmstadt.de Prof. Dr.-Ing. Hans-Joachim Linke Professor Fachgebiet Landmanagement Technische Universität Darmstadt Kontakt: hans-joachim.linke@tu-darmstadt.de AUTOR*INNEN Transport und Mobilität im Wandel: Das neue Unterwegs. Lesen Sie in der aktuellen Ausgabe 4|2023 von Internationales Verkehrswesen:  Deutschlandticket und so weiter: Erkenntnisse für einen besseren ÖPNV  Infrastruktur nachhaltig planen, erstellen und erhalten  Die Bauherrschaft bei Maßnahmen zu nachhaltiger Mobilität unterstützen  Klimawandel: Herausforderung und Chance zugleich?  Die Verkehrswende und das Mobilitätsverhalten der Menschen  Anforderungen an Pendelmobilität heute und in der Zukunft  Kommunikation, Konnektivität und Services  und vieles mehr … Erscheinungsdatum 16. November 2022 Jetzt kaufen und lesen: www.internationales-verkehrswesen.de/ einzelheft-bestellen 72 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Siedlungsentwicklung und nachhaltige Mobilität Die Notwendigkeiten nachhaltiger Entwicklung im Allgemeinen und des Klimaschutzes im Besonderen bringen das Erfordernis mit sich, alle verfügbaren Hebel für eine nachhaltigere Mobilität in Bewegung zu setzen. Eine besondere Bedeutung kommt dabei der Siedlungsentwicklung und hier vor allem dem Wohnungsneubau zu: Rund 80 % aller Wege beginnen oder enden an der eigenen Wohnung. Das dort vorzufindende Mobilitätsangebot bestimmt maßgebend das individuelle Mobilitätsverhalten. Steht beispielsweise ausreichender, wohnungsnaher und günstiger Parkraum zur Verfügung, so erleichtert und fördert dies die Nutzung des PKW. Ein qualitativ hochwertiges Angebot an alternativen Verkehrsmitteln begünstigt dagegen nachhaltigere Mobilitätsweisen. Infolge des angespannten Wohnungsmarktes und der - trotz aktueller Einbrüche - umfassenden Siedlungstätigkeit erlangt die Frage der Implementierung von Mobilitätswende- Maßnahmen bereits beim Bau von Gebäuden und Quartieren vor allem in Ballungsräumen zusätzliche Bedeutung. Gleich drei Faktoren sprechen dafür, ein Augenmerk auf die Verankerung nachhaltiger Mobilität im Wohnungsneubau zu legen: Zum ersten bestehen hier die größten baulich-räumlichen Gestaltungsspielräume, zum zweiten werden beim Neubau die Verkehrsinfrastrukturen auf Jahrzehnte hin festgelegt und können - wie Tiefgaragen - kaum mehr geändert oder umgenutzt werden und zum dritten geht der Neubezug von Wohnungen meist mit biographischen Umbruchsituationen einher, die Ankerpunkte für die Entwicklung veränderter Mobilitätsroutinen bilden. In den zurückliegenden Jahren hat sich bereits eine Reihe von Studien und Empfehlungspapieren mit Maßnahmen zu nachhaltiger Mobilität in Wohnquartieren beschäftigt [1, 2, 3]. Auch wurden einige Modellquartiere entwickelt, die in der verkehrsplanerischen Fachwelt bundesweit Aufmerksam- Bauherrschaften für die Verkehrswende gewinnen Oberursel motiviert zu Mobilitätskonzepten bei Neubauten Nachhaltige Mobilität, Stadtplanung, Stellplatzsatzung, Mobilitätskonzepte, Nudging Uli Molter, Volker Blees, Markus Vedder Nachhaltige Mobilität beginnt an der Haustür: Damit Personen klimafreundliche, effiziente und sozialverträgliche Verkehrsmittel nutzen können, muss es bereits an und in den Gebäuden als Start- und Zielpunkte ihrer Wege entsprechende Angebote geben. Dafür stehen auch die Bauherrschaften bei Neubauten in der Verantwortung. Die Stadt Oberursel informiert und berät Bauherrschaften und Bestandshalter nun mit einem neuen, anschaulichen Online-Tool über Vorteile eigener Mobilitätskonzepte und über das Repertoire der Handlungsoptionen. 73 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende keit erregt haben, wie etwa die Lincoln-Siedlung in Darmstadt. Als typische Handlungsansätze finden sich in Theorie und Praxis unter anderem hochwertige Fahrradabstellanlagen, Angebote für Car-, Bike- und Lastenradsharing, ein engmaschiges und attraktives Fuß- und Radwegenetz, kurze Wege zu Haltestellen eines hochwertigen ÖPNV im Verbund mit Mietertickets und nicht zuletzt die Konzentration des KFZ-Parkens in Quartiersgaragen. Auch die Bedeutung nahräumlicher Nutzungsmischung („15-Minuten-Stadt“) wird betont. Rolle und Verantwortung für die Planung und Umsetzung neuer Ansätze nachhaltiger Mobilität in der Siedlungsentwicklung verteilen sich in der Praxis auf Kommunen und Bauherrschaften. Die Kommunen setzen mit Bebauungsplänen und in Stellplatzsatzungen den Rahmen der Entwicklung, wobei sie ihrerseits durch unzureichende bzw. in ihrer Ausrichtung überkommene Regelungen im Baugesetzbuch und in den Landesbauordnungen limitiert sind. Ferner tragen sie die Verantwortung für das kommunale Wegenetz und für die ÖPNV- Versorgung. Aufgabe der Bauherrschaften ist es, in diesem Rahmen die konkreten Angebote auf dem Grundstück bzw. im Quartier auszugestalten. Die Möglichkeiten und Chancen, die Mobilität in Wohnquartieren nachhaltig zu gestalten, hängen mithin nicht allein von den bauplanungs- und bauordnungs-rechtlichen Rahmenbedingungen und deren Umsetzung in den Kommunen ab, sondern wesentlich auch von Motivation und Willen der Bauherrschaften. Neben rein ökonomischen Erwägungen spielen Nachhaltigkeitsaspekte zunehmend in der Vermarktung von Objekten eine Rolle, aber auch die ESG-Richtlinie (ESG = Environmental, Social und Governance) erweist sich als Treiber, dass sich vor allem Projektentwicklerinnen und -entwickler sowie Investorinnen und Investoren vermehrt dem Thema nachhaltiger standortbezogener Mobilitätskonzepte widmen. Zugleich bestehen hier aber auch noch umfassende Marketing-und Informationsbedarfe, um Bauherrschaften zu neuen Ansätzen zu motivieren. Ausgangssituation und Kontext in Oberursel (Taunus) pimoo - die Plattform für Integrierte Mobilität Oberursel ist die Basis für eine nachhaltige verkehrliche Entwicklung, sie baut auf vorhandenen städtischen Fachkonzepten auf und verdeutlicht, dass es keinen weitgehend unflexiblen (Verkehr s ent wick lung s -) Plan gibt. Vielmehr sollen alle relevanten Stakeholder und Akteure in die Lage versetzt werden, gemeinsam, gut informiert auf die vereinbarten verkehrlichen Ziele hinzuarbeiten. Es soll die Sachlichkeit gefördert, Hintergründe erläutert und informiert werden. Emotionen, die oft zu fachlich weniger guten Ergebnissen führen, sollen nach Möglichkeit fundierte Sachverhalte gegenübergestellt werden. Das Projekt pimoo wird von 2021 bis 2024 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Förderlinie „MobilitätsWerkStadt 2025“ gefördert. 1 Verkehrliches Leitbild als Rahmen Basis der gemeinsamen Arbeit ist das verkehrliche Leitbild der Stadt Oberursel (Taunus) (Bild 1). In einem umfassenden Beteiligungsprozess wurden insbesondere die Gruppen beteiligt, die sonst nur wenig oder gar nicht gehört werden. Dazu gehören vor allem Kinder, Jugendliche, junge Familien, Neubürgerinnen und -bürger sowie teilweise Seniorinnen und Senioren. 1 www.oberursel.de/ pimoo Unser verkehrliches Leitbild Leitziele Prozess Instrumente Februar 2023 Bild 1: Die sieben Leitziele im Leitbild der Stadt Oberursel. © pimoo © Molter et al. 74 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende x Das Leitbild wurde am 15. Juli 2021 durch die Stadtverordnetenversammlung beschlossen. Damit liegt der Stadtgesellschaft mit allen ihren Akteuren ein Zielrahmen vor. Um die Betroffenen nun in ihrer Arbeit spezifisch zu unterstützen und die oben genannten Ziele zur Sachlichkeit zu erreichen, wurden im Projekt mehrere Produkte bzw. Instrumente erarbeitet. Sie alle sind niedrigschwellig nutzbar. Im Wissensspeicher werden grundlegende Daten, Fakten und Informationen zum Verkehr in Oberursel jeder interessierten Person zur Verfügung gestellt. Der Mobilitätscheck für Magistratsvorlagen informiert Stadtverordnete, wie gut zu beschließende Maßnahmen helfen, die Ziele aus dem Leitbild zu erreichen. Zielerreichung und Zielkonflikte werden klar erkennbar. So können die Stadtverordneten gut informiert und referenziert auf das selbst beschlossene Leitbild diskutieren, abwägen und entscheiden. Die Mobilitätsapp für Bürgerinnen und Bürger gibt Interessierten eine Hilfestellung, ihr persönliches Mobilitätsverhalten analysieren zu lassen und selber zu reflektieren. Die App zeichnet Route und Verkehrsmittel der Nutzenden auf. Erkennt die App PKW-Fahrten in Oberursel, die kürzer als 3 km sind, prüft der Algorithmus Alternativen wie Fußwege, Fahrrad oder ÖPNV. Sofern es Alternativen gibt, werden entsprechende Tipps ausgegeben. Die App befindet sich noch in der Entwicklung und soll zum Jahreswechsel 2023/ 2024 veröffentlicht werden. Mobilitätsberatung zu Gebäuden Ein zentraler Baustein von pimoo ist das interaktive Tool „Mobilitätsberatung zu Gebäuden“. Hintergrund ist das kontinuierliche Wachstum der Stadt und die damit einhergehende Bautätigkeit. Bereits 2019 wurde in Oberursel die Stellplatzsatzung, welche auf Ebene des Bauordnungsrechts die Mobilitätsausstattung von baulichen Anlagen maßgeblich mitbestimmt, novelliert [4]. Neben einer bedarfsgerechten Anpassung der Richtwerte für KFZ- und Fahrradstellplätze sowie der Formulierung zeitgemäßer Qualitätsstandards für Fahrradabstell anlagen eröffnet die neue Satzung Bauherrschaften die Möglichkeit, objektspezifische Mobilitätskonzepte zu entwickeln und umzusetzen und dabei auch den kostenintensiven Bau von KFZ-Stellplätzen zu verringern. Fahrrad Das Fahrrad ist bei Entfernungen bis 5 km ein ideales Verkehrsmittel für die Stadt und kann helfen, einzelne PKW-Fahrten zu vermeiden. Attraktive Fahrradabstellanlagen tragen zur Förderung der Radverkehrsnutzung bei. Deshalb sind qualitativ hochwertige und gut zugängliche Fahrradabstellanlagen essentiell und nach Stellplatzsatzung der Stadt auch gefordert. Die Arbeitsgemeinschaft Nahmobilitat Hessen hat einen Leitfaden herausgebracht. Dieser gibt sowohl hilfreiche Hinweise, als auch eine Übersicht über mögliche, von der Stadt anerkannte Modelle von Fahrradabstellanlagen. Tipps und Hinweise rund um das Radfahren in und um Oberursel finden Sie im Radroutenplaner Hessen, dem Radverkehrskonzept der Stadt und auf der Website des ADFC. Zum Thema „Schulradler“ können Sie sich auf der Website der Stadt Informieren. Stellplatzsatzung der Stadt Oberursel (Taunus) Leitfaden zur Stellplatzsatzung der Stadt Oberursel (Taunus) Leitfaden der AGNH Radverkehrskonzept der Stadt Oberursel (Taunus) Radroutenplaner Hessen. Fahrrad auf der Hornepage der Stadt Schulradler Fahrradabstellplatzverordnung Bild 2: Mobilitätsberatung zu Gebäuden. © pimoo Bild 3: Slider zum Radverkehr mit Infotext und Verweisen. © Molter et al. 75 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Erwartungsgemäß erreichen die nüchternen Inhalte eines neuen Satzungstextes die Zielgruppe der Bauherrschaften nur eingeschränkt. Ziel der Mobilitätsberatung zu Gebäuden ist es vor diesem Hintergrund, Immobilienbesitzerinnen und -besitzer, Investorinnen und Investoren sowie Bauherrenschaften zu animieren, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Das Tool erklärt verkehrliche Zusammenhänge, zeigt Möglichkeiten zur Förderung der Nahmobilität und des Umweltverbundes spielerisch auf und ermuntert zum Klicken und Herumspielen. Aufbau Grundlage des Onlinetools ist ein Straßenzug, in dem sich bekannte Bauwerke und lokaltypische Elemente der Stadt Oberursel - bis hin zu Eintracht Frankfurt-Graffitis - wiedererkennen lassen. Während Nutzende die Straße virtuell entlang laufen, können sie dort verschiedene Themenanker entdecken. Hinter diesen sind die jeweiligen Inhalte zu den Themen zu finden. An typischen Orten werden Informationen zu den folgenden Themen bereitgestellt: ÖPNV, MIV, Fahrrad, Elektromobilität, verkehrliche Strategie Oberursels, Fußverkehr, Barrierefreiheit, Mobilitätskonzepte, Digitalisierung und Klima. Ergänzend stehen Kontaktinformationen und ein Glossar zur Verfügung. Jedes Thema wird mit drei Bausteinen behandelt: Ein erläuternder Text zeigt kurz und prägnant die Zusammenhänge und Handlungsmöglichkeiten im Bereich von Gebäuden auf. Es wurde Wert darauf gelegt, keine langen ausdifferenzierten Texte zu formulieren, da diese eher vom Lesen abhalten. Vielmehr reicht ein kurzes Überfliegen, um die wichtigen Stichworte zu erfassen. Eine kurze Videosequenz oder ein Vorher-Nachher-Bild mit einem Slider skizzieren einen positiven Aspekt aus dem jeweiligen Themenspektrum. So fährt in der Videosequenz zum ÖPNV ein Stadtbus am Bahnhof vor und Fahrgäste steigen aus. Anschließend sieht man sie in der S-Bahn weiterfahren. Die Vorzüge des intermodalen Verkehrs werden erlebbar. Im Vorher-Nachher-Bild zum Radverkehr werden durch den Schieberegler entweder zwei PKW-Stellplätze oder rund zehn Fahrradabstellplätze sichtbar (Bild 3). Letztlich gibt es zu jedem Thema eine Zusammenstellung mit Verweisen oder Links auf geeignete weiterführende Fachinformationen, Verordnungen, Leitfäden oder kurze Fachartikel. Was kann man entdecken? Unter dem Thema ÖPNV sind Informationen zu Mietertickets, dem Stadtbus, der Fahrplanauskunft und der Stellplatzsatzung mit dem entsprechenden Leitfaden zu finden. Der Schwerpunkt beim MIV liegt auf der Hessischen Garagenverordnung und der Stellplatzsatzung. Es wird verdeutlicht, dass PKW, die nicht im öffentlichen Straßenraum stehen Platz für andere Nutzungen machen. Der Themenanker des Fahrrades enthält den Leitfaden zu Fahrradabstellanlagen der Hessischen Arbeitsgemeinschaft Nahmobilität AGNH, dem städtischen Radverkehrskonzept, der Möglichkeit zur Reduktion von PKW- Stellplätzen durch mehr Fahrradabstellplätze und der Qualität von Fahrradabstellplätzen. Die Elektromobilität beleuchtet gesetzliche Grundlagen sowie die Möglichkeiten zur Förderung der Elektromobilität. Die Strategie verlinkt zum Wissensspeicher, der im Rahmen des pimoo Projektes erarbeitet wurde und in dem Pläne und Konzepte der Stadt (Radverkehrskonzept, Fußverkehrskonzept, verkehrliches Leitbild etc.) aufgeführt sind. Der Fußverkehr verweist auf das Fußverkehrskonzept und einen Leitfaden zum barrierefreien Bauen. Auch unter Barrierefreiheit wird auf diesen Leitfaden sowie auf die Hessische Bauordnung und Fachberatungsstellen wie den Blinden- und Sehbehindertenbund und die städtische Behindertenbeauftragte hingewiesen. Im Themenfeld wohnortbezogener Mobilitätskonzepte werden diese zunächst erläutert und die Vorteile des Anbietens eines Mobilitätskonzeptes dargelegt. Das Tool zeigt an dieser Stelle die Möglichkeit zur Stellplatzreduktion durch ein Mobilitätskonzept nach Stellplatzsatzung auf und verweist auf Leitfäden, die bei der Planung unterstützen sollen. Neben den Möglichkeiten zur Förderung stehen auch die „Hardfacts“ wie die Garagenverordnung und die Stellplatzsatzung mit dazugehörigem Leitfaden über das Onlinetool zur Verfügung. Weitergehend sind dann Hinweise und Verlinkungen zur Stellplatzsatzung, dem Leitfaden und ergäzender Informationsquellen zum Thema aufgezeigt. Unter dem Themenanker der Digitalisierung werden die Vernetzung von Verkehrsmitteln und multimodale Ansätze anschaulich gemacht. Das zentrale Thema Klimaschutz, wird auch mit Hinweisen zur Stellplatzsatzung, dem städtischen Klimaschutzkonzept (mit Maßnahmen im Bereich Mobilität) und weiteren Beratungsmöglichkeiten aufgeführt. Kurz und informativ Es wird sowohl auf verbindliche Regelungen (wie die Stellplatzsatzung) verwiesen, als auch auf die „weichen“ Maßnahmen zur Förderung einer 76 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende umweltverträglichen Mobilität. Die beschreibenden Texte sind kurzgehalten und dienen als Orientierung, da die meisten Informationen bereits bei anderen Quellen zu finden sind. Auf diese verweist die Sammlung weiterführender Links in dem jeweiligen Themenanker. Die Mobilitätsberatung bietet einen einfachen Einstieg in die vielfältigen Möglichkeiten. Für erfahrene Personen stehen unter dem Stichpunkt „Glossar“ die wichtigsten Links direkt zum Abruf bereit. 2 Erfahrungen und Ausblick Der Ansatz, zielgruppengerecht und manchmal mit einem Augenzwinkern Aufmerksamkeit auf niedrigschwellige Maßnahmen zur Verkehrswende zu lenken, scheint erfolgreich zu sein. Verschiedene Akteure werden aktiviert und ermuntert, sich mit dem Thema zu befassen. Dadurch wird eine Multiplikatorenwirkung erzielt, die in der Breite eine umfassendere Wirkung bringt. Die sehr schlanke Broschüre zum Verkehrlichen Leitbild ist auch nach zwei Jahren sehr gefragt und wird zunehmend auch in der politischen Arbeit von Stadtverordneten oder Bürgerinnen und Bürgern in ihren Diskussionen eingesetzt. Der spielerische Ansatz der Mobilitätsberatung zu Gebäuden verleitet auch nicht direkt angesprochene Menschen, sich damit zu beschäftigen. So werden die dort vorgestellten Themen in verschiedene Bevölkerungsgruppen getragen. Der Bezug zum lokalen Fußballverein wirkt hier identitätsstiftend. In Kombination mit der Oberurseler Stellplatzsatzung kann mittlerweile ein guter Standard zur Förderung nachhaltiger Mobilität erreicht werden. Bauherrschaften beginnen mitunter freiwillig, Maßnahmen wie ein Mieterticket oder sichere Fußwege im Umfeld ihres Objektes anzubieten. Ein wichtiger Arbeitsschritt war die Einbeziehung der potenziellen Zielgruppe im Bereich Immobilien in die Erarbeitung. Sowohl Aufmachung, Inhalte als auch die Darstellung wurden vorher in Workshops mit der „Säule Immobilien“ der lokalen Interessensvertretung der Selbständigen (fokus O) diskutiert. Das Projekt mit seinen Bausteinen wurde inzwischen bei verschiedensten Gelegenheiten vorgestellt und präsentiert. Einem breiten Fachpublikum konnte der Oberurseler Ansatz auf dem Hessischen Mobilitätskongress 2023 in Marburg vorgestellt und so ein weiterer Beitrag zum Transfer geleistet werden. Gerade zur Stellplatzsatzung, zur Mobilitätsberatung oder zum Verkehrlichen Leitbild erreichen die Stadt Oberursel viele Anfragen aus anderen Kommunen. 2 Das Angebot ist öffentlich unter https: / / www.oberursel.de/ mobilitaetsberatung abrufbar. Der Projektschwerpunkt in pimoo liegt zukünftig auf der Verstetigung der Produkte in Oberursel sowie dem Transfer in andere Kommunen. Sie werden in das Verwaltungshandeln der Kommune integriert. Mit den gesammelten Erfahrungen können einzelne Produkte wie die Mobilitätsberatung anderen Kommunen zur Verfügung gestellt werden. Durch den Übertragungsprozess und die andernorts gesammelten Erfahrungen können wiederum neue Aspekte in den Prozess in Oberursel einfließen. LITERATUR [1] Verkehrsclub Deutschland e. V. (Hrsg.): Intelligent mobil im Wohnquartier - Handlungsempfehlungen für die Wohnungswirtschaft und kommunale Verwaltungen, (2023). Online: https: / / www.vcd.org/ fileadmin/ user_upload/ Redaktion/ Themen/ Wohnen_und_Mobilitaet/ pdf/ BuWomo_HLF_2022_Web. pdf (Aufruf 16.10.2023). [2] Bayerisches Staatsministerium für Wohnen, Bau und Verkehr (Hrsg.): Mobilitätskonzepte in neuen Wohnquartieren. Mobilität sichern, Flächen und Emissionen sparen, Wohnqualität schaffen. Broschüre, (2022). Unter Mitarbeit von Ute Bauer, Jürgen Gies, Stefan Schneider, Anton Bunzel und Jan Walter. [3] EnergieSchweiz für Gemeinden (Hrsg.): Einbettung des Mobilitätsmanagements. Handbuch MIPA - Mobilitätsmanagement in Planungsprozessen von neuen Arealen. Unter Mitarbeit von Arbeitsgemeinschaft synergo und Planungsbüro Jud, (2014). [4] Blees, V., Molter, U., Steinhauer, I.: Modifizierung der Stellplatzsatzung als Beitrag zu nachhaltigerem Verkehr. In: Internationales Verkehrswesen 3 (2019), S. 27 - 30. Dr. Uli Molter Abteilungsleiter Nachhaltigkeit-Mobilität Stadt Oberursel (Taunus) Kontakt: uli.molter@oberursel.de Prof. Volker Blees Professor für Verkehrswesen Hochschule RheinMain Kontakt: volker.blees@hs-rm.de Markus Vedder Abteilung Nachhaltigkeit-Mobilität Stadt Oberursel (Taunus) Kontakt: markus.vedder@oberursel.de AUTOREN 77 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Innovative Mobilitätskonzepte sind integrale Bestandteile nachhaltiger Planung. Die Möglichkeit, das eigene Auto zu nutzen, soll beim Bau von Wohnquartieren erhalten bleiben. Aber es soll auch anders gehen. In diesem Sinne wurde das Mobilitätskonzept des Schaffer-Quartiers in Pfarrkirchen als Best-Practice ausgezeichnet. In der bayerischen Kreisstadt mit knapp 14 000 Einwohnern wurde in Modulbauweise innerhalb von einem Jahr eine Wohnanlage mit knapp 110 hochmodernen Apartments geschaffen. Die Wohnanlage ist seit Dezember 2021 fertiggestellt und wurde im März 2022 bezogen. Das Bauvorhaben im ländlichen Raum steht auch exemplarisch dafür, wie ein Mobilitätsangebot den Bau von Stellplätzen in einem Bauvorhaben kompensieren kann. Aufgrund der Tatsache, dass der Planungsstand vor Bau Flächen erforderte, die mit der kommunalen Stellplatzsatzung im Konflikt standen, mussten Bauherr und Kommune eine Lösung finden, um die Verkehrsinfrastrukturplanung anzupassen. Die Schaffung eines Stellplatzes für jede Wohnungseinheit hätte eine Tiefgarage erfordert, welche die Baukosten immens in die Höhe getrieben hätte. Mit einem standortspezifischen Mobilitätskonzept und einem konkreten Betriebskonzept zur Absicherung der Maßnahmen, konnte der Projektentwickler die Kommune überzeugen, dass etwa 25 % der geforderten Stellplätze durch zwei Mobilitätshubs mit elektrischen Sharing-Fahrzeugen kompensiert werden. Ländlich wohnen und mobil sein ohne Auto Elektromobilität, Mobilitätskonzepte, Carsharing, Stellplatzsatzung, Verkehrsinfrastruktur Richard Kemmerzehl Sharing mit E-Fahrzeugen funktioniert nur in den Ballungszentren? Pfarrkirchen tritt den Gegenbeweis an. Das Schaffer-Quartier steht exemplarisch dafür, wie ein elektrisches Sharingangebot erfolgreich in eine Quartiersentwicklung integriert wird. Seit März 2021 stehen den Bewohner*innen dort Carsharing, E-Bikesharing und Lastenfahrräder zur Verfügung. Das Mobilitätsangebot ist in einem Betriebskonzept für die nächsten zehn Jahre verankert und wird vom Bauherrn, von Stadt und Mobilitätsdienstleister evaluiert und - wenn nötig - angepasst. Bild 1: Ladestation für E-Bikes und Lastenräder. © NX TBAU GmbH 78 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Die Wohnungswirtschaft beabsichtigt zunehmend bei Bauvorhaben und in Beständen eine zukunftsorientierte Mobilitätsversorgung zu schaffen. Auch Kommunen erkennen, dass die geltenden Stellplatzsatzungen meist die eigenen klima- und verkehrspolitischen Ziele untergraben und vielerorts nicht zu dem allseits geforderten günstigen Wohnraum führen. Gleichwohl gibt es nur wenige Praxisbeispiele, in denen ein Mobilitätskonzept tatsächlich den Weg in den operativen Betrieb gefunden hat. Häufig scheitern Mobilitätskonzepte bei Fragen der konkreten Umsetzung: Wer betreibt das Angebot dauerhaft? Welche Kosten entstehen im späteren Betrieb? Wer trägt diese? Und wie wird überprüft, ob das Mobilitätskonzept funktioniert? In Pfarrkirchen wurden auf diese Fragen schlüssige Lösungen gefunden. Seit dem Erstbezug des Schaffer-Quartiers stehen den Bewohner*innen ein elektrisches Carsharing-Fahrzeug, 16 E-Bikes sowie vier E-Lastenfahrräder zur Verfügung. Über eine Mobilitätsplattform können die Bewohner*innen die Fahrzeuge per App anmieten. Sie haben außerdem einen Promotionscode erhalten, mit dem sie die (Lasten)räder zwei Stunden lang kostenfrei nutzen können. Die Nutzungszahlen und die Rückmeldungen seit Betriebsstart zeigen, dass das Angebot bei den Bewohner*innen viel Resonanz erfährt. Auch die Tatsache, dass es trotz Stellplatzreduktion weiterhin unvermietete Stellplätze gibt, zeigt, dass das Mobilitätskonzept funktioniert. Die Planung und Realisierung von Mobilitätskonzepten im ländlichen Raum ist mit spezifischen Herausforderungen verbunden. Die größte Herausforderung ist, dass es dort keine Sharing-Anbieter gibt, da die Voraussetzungen für einen eigenwirtschaftlichen Betrieb nicht ohne Weiteres gegeben sind. Daher ist der wichtigste Schlüssel zum Erfolg, dass das Mobilitätskonzept die Interessen und Verhaltensweisen aller Beteiligten (Bauherr, Kommune, Mobilitätsdienstleister) berücksichtigt. Das Mobilitätskonzept geht daher nicht nur über die Auflistung möglicher Maßnahmen hinaus, sondern hinterlegt konkret, wie und durch wen diese durchgeführt und dauerhaft betrieben werden. Erfolgsfaktor 1: Das Mobilitätskonzept mündet in einem Mobilitätsvertrag Der Bauherr hat ein fundiertes Mobilitätskonzept für das Vorhabensgrundstück eingereicht, um die vorgegebene KFZ-Stellplatzanzahl reduzieren zu können. Als Kompensation und Absicherung für die nicht gebauten Stellplätze wurde dieses Mobilitätskonzept in eine Verpflichtungserklärung zwischen Kommune und Bauherr überführt. Diese besagt, dass der Bauherr alternative Mobilitätsangebote im Projekt integriert und diese selbst oder durch die Eigentümergemeinschaft dauerhaft (mindestens zehn Jahre) unterhält. Erfolgsfaktor 2: Das Mobilitätskonzept wird durch einen externen und auf Bauvorhaben spezialisierten Mobilitätsanbieter betrieben. Im Auftrag der Bauherrn wurde im Schaffer-Quartier in Pfarrkirchen ein nachhaltiges Mobilitätsangebot mit entsprechenden Lademöglichkeiten geschaffen. Hierfür wurde der auf Bauvorhaben spezialisierte Mobilitätsdienstleister evhcle beauftragt, um die Fahrzeuge zu beschaffen und das Angebot gemäß der Vorgaben der Stadt zu konfigurieren. Hierbei galt es beispielsweise, die Auflage der Stadt zu berücksichtigen, so dass allen Bewohner*innen die Fahrräder für den Zeitraum von zwei Stunden kostenfrei zur Verfügung gestellt werden. Für die Bereitstellung der Fahrzeuge und aller Services, um diese per App vermieten zu können, entrichtet der Bauherr als Besteller (später die WEG) eine monatliche Gebühr. Der Mobilitätsbetreiber (evhcle) trägt sämtliche Kosten, die im Zusammenhang mit der Anschaffung, Instandhaltung, Wartung und dem Betrieb der Fahrzeuge anfallen. Zwischen Bauherr und Mobilitätsbetreiber wurde eine Vereinbarung geschlossen, um die Nutzererlöse mit der Bereitstellungsgebühr zu verrechnen. Die im Mobilitätskonzept vertraglich geregelte Kooperation zwischen Mobilitätsdienstleister und Besteller ist wegweisend für den erfolgreichen Betrieb:  Der Mobilitätsdienstleister platziert im Mobilitätskonzept infrastrukturelle und ökonomische Notwendigkeiten, um dauerhaft ein Angebot betreiben zu können.  Der Bauherr kann kalkulieren, ob die langfristige Absicherung der Stellplatzreduktionsmaßnahmen die eingesparten Baukosten aufwiegt. Bild 2: Alle Bewohner- *innen bekommen die Fahrräder für zwei Stunden kostenfrei zur Verfügung gestellt. © eVehicle for You GmbH 79 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende  Der Bauherr kann sich auf das Kerngeschäft konzentrieren, da der Mobilitätsanbieter sich vollumfänglich um Aufbau und Betrieb des Angebots kümmert.  Der Mobilitätsdienstleister gewährleistet einen professionellen Betrieb mit regelmäßgen Serviceintervallen  Der Mobilitätsvertrag schafft Planbarkeit, ermöglicht dauerhafte Kooperationen vor Ort (zum Beispiel mit örtlichen Radhändlern) und ermöglicht ein transparentes Rückverrechnungs-Modell  Die Kommune, der Besteller und die Bewohner*innen haben einen Ansprechpartner für ein multimodales Sharing-Angebot ( E-Bikes, E-Lastenfahrräder und E-Carsharing), das über eine App gebucht wird. Erfolgsfaktor 3: Nachweispflicht des Bauherrn durch proaktives Reporting an die Stadt. Als Nachweis der Realisierung und des Betriebs erstellt evhcle als Mobilitätsbetreiber ein vierteljährliches Reporting. Dieses Reporting dient sowohl dem Bauherrn als auch der Stadt, um die Wirksamkeit der Mobilitätsmaßnahmen zu prüfen. Teil dieses Reportings ist ein Dashboard, auf welchem anonymisierte Nutzungsstatistiken (Anzahl Fahrten, Anzahl Nutzer, Anzahl gefahrene Kilometer, eingespartes CO 2 , ...) ersichtlich sind. Damit wird das Argument vieler Kommunen, dass die Überprüfung von Mobilitätskonzepten eigene Ressourcen bindet, entkräftet. Erfolgsfaktor 4: Flexibilität des Fahrzeugmix Ergeben sich wesentliche Änderungen im Rahmen des Mobilitätkonzepts, kann es flexibel angepasst werden. Grundlage hierfür sind die Nutzungsdaten. Zeigt sich beispielsweise, dass es eine Überversorgung mit E-Bikes gibt, aber das Carsharingangebot besser als erwartet genutzt wird, so besteht die Möglichkeit, den Fahrzeugmix anzupassen. Hierzu müssen die räumlichen Gegebenheiten vorhanden und die Änderung von der Kommune genehmigt sein. Kleine Änderungen, beispielsweise einen Kleinwagen durch einen größeren Kombi zu ersetzen oder ein neues Fahrradmodell zu erproben, bedarf keiner Abstimmung mit der Stadt. Nach knapp zwei Jahren Betrieb wird derzeit überlegt, ob man das Carsharingangebot um ein weiteres E-Auto erweitert. Ausblick Es gibt mittlerweile kein mittleres oder großes Bauvorhaben mehr, dass in der Planungsphase nicht das Thema zukunftsfähige Mobilitätsversorgung streift. Mobilitätskonzepte werden Bestandteil der Baurechtsschaffung oder des B-Plan-Verfahrens. Doch häufig bleiben Mobilitätskonzepte auf Papier. Verkehrsplaner sind bezüglich Betriebsnotwendigkeiten wenig bewandert; Mobilitätsanbieter - so fern vorhanden - sind in frühen Planungsphasen meist unverbindlich. Daher empfiehlt es sich, Mobilitätskonzepte mit einem Mobility-as-a-Service-Ansatz zu verbinden, das heißt, bereits in der Konzepterstellung die Zusammenarbeit mit späteren Betreibern zu suchen, um zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme der Immobilie ein haustürnahes Mobilitätsangebot in Betrieb zu wissen. Das Beispiel aus Pfarrkirchen zeigt, wie Kommunen, Bauherr und Mobilitätsdienstleister zusammenarbeiten können, um statt überflüssiger Stellplätze nachhaltig E-Mobiliy Hubs mit gesharten und elektrischen Fahrzeugen in Wohnquartieren zu verankern. Häufig zeigen sich Schwierigkeiten oder Verzögerungen, wenn mehrere Stakeholder beteiligt sind. Gleichwohl waren in diesem Projekt nicht viele Abstimmungen notwendig, da die Interessen der Beteiligten von Anfang an klar waren. Das überzeugende Mobilitäts- und Betriebskonzept für Sharing-Angebote auch in Wohnquartieren im ländlichen Raum schuf klare Verantwortlichkeiten. Im Ergebnis hat das Mobilitätskonzept im Schaffer-Quartier zu 3 500 Fahrten mit CO 2 -freien Fahrzeugen geführt. Insgesamt wurden knapp 23.000 km zurückgelegt. Dies bedeutet eine Einsparung von 3,8 t CO 2 in der Verkehrsbilanz des Schaffer-Quartiers sowie in der Stadt Pfarrkirchen. Ein wichtiges Ziel besteht in der Übertragung solcher erfolgreicher Mobilitätskonzepte. Kommunen sollten sich ihrer Gestaltungshoheit beim kommunalen Klimaschutz bewusst sein. Plattformen wie beispielsweise GovShare unterstützen Kommunen dabei, bewährte Projekte und Klimaschutzlösungen zu finden. Miteinander und voneinander lernen heißt die Devise, um auch andernorts nachhaltige Mobilitätsformen anzustoßen. Das Schaffer-Quartier ist dabei ein bemerkenswertes Referenzprojekt, wo in einer Win-Win-Situation ein Wohnquartier mit einem zukunftsweisenden Mobilitätshub geschaffen wurde. AUTOR Richard Kemmerzehl Gründer und Geschäftsführer eVehicle for You GmbH Kontakt: richard.kemmerzehl@evhcle.com 80 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Infrastruktur- Management für Ladelösungen Anwendungsbezogene Praxislösungen für E-Autos als Baustein der urbanen Verkehrswende Ladeinfrastruktur, Ladelösungen, Verkehrswende, E-Mobilität Philipp Riegebauer Wie schnell sich E-Mobilität durchsetzen wird, hängt von vielen Faktoren ab. In diesem Artikel werden Ladelösungen für E-Autos beleuchtet, welche spezifische Vorteile in der Praxis bieten. Es wird der Ansatz vorgestellt, nicht nur schnell, sondern bedarfsgerecht zu laden. Ausschreibungsprozesse sollten hierfür anwendungsorientiert und technologieoffen sein. Ziel ist die Förderung einer nachhaltigen urbanen Verkehrswende durch intelligente Ladeinfrastruktur. Einerseits nehmen die Herausforderungen in Städten zu, um großflächig und in großer Dichte Ladepunkte im städtischen Raum anbieten zu können. Es sind zunehmend Netzrestriktionen zu beachten. Andererseits zeigen Studien, dass das Laden von E-Autos zu drei Vierteln zuhause oder beim Arbeitgeber erfolgt. Einer Umfrage des Fraunhofer Institutes nach erfolgen rund 59 % aller Ladevorgänge zu Hause, 14 % der Ladevorgänge am Arbeitsplatz sowie 14 % an öffentlichen Normalladepunkten. Damit werden nur 12 % der Ladevorgänge an öffentlichen Schnellladepunkten durchgeführt. [1] Es wird ersichtlich, dass es ein großes Potenzial an anwendungsbezogen Ladelösungen gibt, welche die unterschiedlichen Anwendungsbereiche und die typischen Ladenszenarien im privaten und öffentlichen Sektor berücksichtigen. Lenken wir nun unseren Blick auf die entscheidenden Faktoren, die diese Infrastruktur zu einem Schlüsselbaustein für die urbane Energiewende machen. Kernfaktoren für eine Ladeinfrastruktur als Baustein der urbanen Energiewende Lenken wir nun unseren Blick auf die entscheidenden Faktoren, die diese Infrastruktur zu einem Schlüsselbaustein für die urbane Energiewende machen. Bei entsprechender Berücksichtigung sind diese wesentliche Erfolgsfaktoren damit sich die E-Mobilität als wichtiger Baustein der urbanen Verkehrswende zementiert. Für den typischen Pendler ist Schnellladung nicht nötig. Ein mehrstündiges Laden mit geringer Leistung reicht für das Nachladen der täglichen Pendlerstrecke von durchschnittlich 50 km aus, da Fahrzeuge in der Regel 23 Stunden am Tag stehen. E-Fahrzeuge sollten damit vorzugsweise während des Parkens geladen werden - beim Arbeitgeber, am Park-and-Ride-Parkplatz, am Flughafen oder im Logistikhub. Das bedeutet, Ladepunkte müssen an den Orten anwendungsbezogen und sinnvoll geschaffen werden, wo Fahrzeuge oft und lange stehen. Basierend auf den unterschiedlichen Anwendungsbereichen und den typischen Ladenszenarien im privaten und öffentlichen Sektor lassen sich die notwendige Ladeleistung je Anwendung bzw. je Ladeszenario ableiten. Gerade bei langen Standzeiten von Fahrzeugen und an Orten, an denen viele Bild 1: Integration PV- Anlagen. © MAHLE chargeBIG 81 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Fahrzeuge gleichzeitig geladen werden, reichen in der Regel geringe und intelligent gesteuerte Ladeleistungen aus. Hohe Ladeleistungen würde die Kosten in eine Netzanschlusserweiterung, die Stromkosten für Spitzenleistung und Netzentgelte sowie die Langlebigkeit der Fahrzeugbatterie negativ beeinflussen. Nachdem wir die grundlegenden Prinzipien einer effektiven Ladeinfrastruktur als Teil der urbanen Energiewende behandelt haben, richten wir nun unser Augenmerk auf eine innovative Lösung zur Minimierung von Treibhausgasemissionen. Bei vielen Unternehmen gibt es Platz für E-Autos und Ladeinfrastruktur. Laden an Orten, an denen Fahrzeuge lange stehen, ist daher eine sinnvolle und notwendige Ergänzung zu Schnellladepunkten und zu Ladepunkten im Eigenheim. Das folgende Kapitel zeigt auf, wie durch intelligentes Laden am Arbeitsplatz eine nachhaltige Reduzierung der CO 2 -Emissionen ermöglicht werden kann. Charge@Work zur Minimierung von Treibhausgasemissionen Der Verkehrssektor ist für mehr als 20 % der Emissionen in Deutschland verantwortlich, mit steigender Tendenz, obwohl die Klimaschutzziele der Bundesregierung einen erheblichen Rückgang erfordern. Es gilt die Emissionen des Straßenverkehrs über unterschiedliche Möglichkeiten zu reduzieren. Obwohl die E-Mobilität bereits die effizienteste und damit klimafreundlichste Antriebsart darstellt, gibt es in diesem Hinblick auch weitertes Optimierungspotenzial, um diesen Individualverkehr weiter ressourcenschonend zu elektrifizieren. Eine Studie des Fraunhofer-Instituts [2] zeigt, dass mit intelligentem Laden von E-Autos die CO 2 -Emissionen reduziert werden können und dies vorteilhaft für einen schonenden Netzausbau ist. Der momentane Strommix ist eine wesentliche Einflussgröße, wie viel CO 2 sich beim Laden des E-Autos einsparen lässt, da schwankende Anteile von erneuerbaren Energien im Stromnetz vorkommen. Anwendungsbezogen bedeutet dies, dass das Laden um die Mittagszeit CO 2 -Einsparungen begünstigt, da der Anteil aus erneuerbaren Energien wie Wind und Sonne um diese Tageszeit im Stromnetz am größten ist. Die Studie zeigt auf, dass sich Emissionen beim Laden über die Mittagszeit an Tagen mit viel erneuerbarer Sonnen- und Windenergie um fast die Hälfte gegenüber dem Laden am Abend zuhause reduzieren lassen. Idealerweise befindet sich die Photovoltaik- Anlage auf dem Dach des Unternehmens, der Strom kann direkt abgenommen werden. Somit wirkt sich das Laden des E-Autos - beispielsweise am Arbeitsplatz, an Bahnhöfen oder Park-and-Ride-Parkplätzen - positiv auf die Treibhausgasemissionen aus. Eine Photovoltaik-Anlage ist vorteilhaft für Ressourceneinsatz und -nutzen. Beim Laden am Arbeitsplatz in Verbindung mit einer Photovoltaik- Anlage ist die Ladezeit kompatibel mit dem besten Zeitpunkt zur direkten Stromerzeugung über die Photovoltaikanlage. Es werden somit weniger energie- und ressourcenintensive elektrische Speicher benötigt. Eine direkte, zentrale Nutzung des erneuerbaren Stroms, beispielsweise am Arbeitsplatz, hat weitere Vorteile im Hinblick auf den schonenden Umgang mit Ressourcen. Dies ist deshalb vorteilhaft, da vermieden wird, dass alle Besitzer*innen von E-Autos eine eigene Photovoltaik-Anlage und einen Speicher nur zu Ladezwecken in ihren Wohnhäusern installieren. Die Netzbelastung durch das gleichzeitige Einspeisen von Strom aus Photovoltaikanlagen zur Mittagzeit wird durch die direkte Nutzung vor Ort abgefedert. Des Weiteren können E-Autos durch bidirektionales Laden - also die Fähigkeit, Strom auch wieder ins Netz einzuspeisen - selbst zu Energiespeichern werden und damit aktiv zur Netzstabilität beitragen. Nachfolgend werfen wir einen Blick auf ein konkretes Anwendungsbeispiel das verdeutlicht, wie anwendungsbezogene Lösungen in der Praxis umgesetzt werden können. Anwendungsbeispiel bei einem Park-and-ride- Parkplatz Es gibt einige Praxisbeispiele auf www.bable-smartcities.eu für eine anwendungsbezogene und kosteneffiziente Ladeinfrastruktur zu entdecken. Eine Blaupause für viele Bahnhöfe ist die Schaffung einer netzfreundlichen Ladeinfrastruktur für Pendler und die Verknüpfung mit dem öffentlichen Transport. Bild 2: AC-Ladesystem mit zentraler Steuerungseinheit. © MAHLE chargeBIG 82 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Das Anwendungsbeispiel behandelt die Schaffung einer nun diskutierten effizienten Ladeinfrastruktur auf einem Park-and-Ride-Parkplatz und zeigt, wie diese Lösung realweltliche Bedürfnisse erfüllt. Die Stadtverwaltung in Lorch (Baden-Württemberg) hatte erkannt, dass die Erhöhung der Anzahl der Lademöglichkeiten im Stadtgebiet auf den Parkplätzen am Bahnhof Lorch einen sinnvollen Anwendungsfall darstellt und Nachfrage besteht. Im Jahr 2023 wurden deshalb Ladestationen mit der Zielsetzung am Bahnhof installiert, das elektrische Laden für Pendler zu ermöglichen. [3] Die Herausforderung bestand in der erforderlichen Installation einer netzfreundlichen und bezahlbaren Ladeinfrastruktur für die öffentliche Nutzung. Dafür wurden 28 Ladepunkte für Elektrofahrzeuge am Bahnhof Lorch auf dem Park-and- Ride-Parkplatz vom Anbieter Mahle chargeBIG installiert. Es wurden 26 einphasige Ladepunkte mit einer Ladeleistung von maximal 7 kW und zwei dreiphasige Schnellladepunkte mit einer Ladeleistung von maximal 22 kW errichtet. Eine zentrale Steuereinheit verteilt die verfügbare Ladeleistung durch dynamisches und phasenindividuelles Lastmanagement auf die geparkten Fahrzeuge. Damit konnte eine anwendungsbezogene Lösung für die höheren Standzeiten der Autos realisiert werden und dies kostenoptimal umgesetzt werden. Eine Ladelösung mit mehreren Ladeanschlüssen kann realisiert werden, indem viele Wallboxen und Ladestationen in Reihe geschaltet werden. Dies erfolgt in der Regel durch sogenannte Master-Slave-Systeme. Eine dieser in Reihe geschalteten Wallboxen, eine der Ladestationen oder eine vorgeschaltete Management-Einheit übernimmt dann die Steuerung und die Kommunikation mit dem Netzanschluss. Um alle Wallboxen in Reihe zu schalten, werden entweder Stromschienen genutzt oder Unterverteiler aufgebaut, die die Kupferkabel zwischen Wallbox oder Ladestation mit dem Netzübergabepunkt verbinden. In zentralisierten Ladeinfrastruktursystemen, in denen die Elektronik in einem Schaltschrank zusammengefasst wird, kann auf eine standortindividuelle Unterverteilung verzichtet werden. Der Schaltschrank selbst stellt dann die Steuer- und Kommunikationseinheit zum Netzübergabepunkt dar. In einem solchen System sind am Stellplatz nur Ladestecker oder Dosen vorgesehen, aber keine Ladeelektronik. Damit ergeben sich auch Wartungsvorteile in Bezug auf Kosten und Zeitaufwand. Das beschriebene Praxisbeispiel ist auch eine Lösung für weitere Parkflächen, auf denen viele Elektrofahrzeuge über längere Zeiträume abgestellt werden, wie zum Beispiel auf Flughäfen oder Messegeländen, auf Firmenparkplätzen, auf dem Gelände von Flottenbetreibern, in städtischen Logistikzentren, in der Wohnungswirtschaft oder auf großen öffentlichen Parkplätzen. Anwendungsbezogene Anpassungen bei Beschaffungen im Ausschreibungsprozess für Städte und Kommunen In einer Zeit, in der Elektromobilität einen immer größeren Stellenwert im urbanen Verkehr einnimmt, wird die Gestaltung von Ladeinfrastruktur damit zu einem Schlüsselthema für Städte und Gemeinden. Die Qualität und Effizienz dieser Infrastruktur hängt nicht nur von technologischem Fortschritt ab, sondern auch von der klugen und anwendungsbezogenen Planung bei der Beschaffung. Nachfolgend wird die Bedeutung von anwendungsbezogenen Anpassungen im Ausschreibungsprozess für Ladeinfrastruktur im öffentlichen Sektor erörtern. Essentielle Bereiche bei der Ausschreibungsoptimierung konzentrieren sich auf die Aspekte Ladeleistung, Zentralisierung, Bezahloptionen und Gesamtkosten und zeigen, wie diese Anpassungen die Elektromobilität kostenoptimal voranbringen können.  Ladeleistung: Gerade langsam ladende Ladeinfrastrukturkonzepte werden im aktuellen Design bei Ausschreibungen oftmals ausgeschlossen. Deshalb sollte die Ladeleistung immer anwendungsfallbezogen ausgeschrieben werden. Dies bedeutet, dass sich die anzubietende Ladeleistung konsequent an dem geplanten Einsatzzweck orientieren muss. Es ist zu berücksichtigen, dass nicht an jedem Parkplatz ein Ladepunkt mit einer verfügbaren Leistung von genau 11 kW oder 22 kW verfügbar sein muss. Beim privaten Laden, mit langen Standzeiten, sind geringe Ladeleistungen mit weniger als 11 kW meist ausreichend. Bild 3: Zentrale Steuereinheit. © MAHLE chargeBIG 83 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Hohe Ladeleistungen haben für bestimmte Anwendungsbereiche ebenfalls ihre Berechtigung. Wie bereits erwähnt, ist dies aber in rund drei Vierteln der Fälle nicht notwendig. Die Ladepunkte, beispielsweise beim Arbeitgeber, werden in der Regel in die vorhandene Energiestruktur integriert. Insbesondere das Lastmanagement legt dynamisch steuerbare Ladeleistungen zugrunde, die eine Ausschreibung berücksichtigen sollte.  Zentralisierung: In zentralisierten Ladeinfrastruktursystemen, bei denen die elektronischen Komponenten in einem einzigen Gehäuse untergebracht sind, ist keine individuelle Unterverteilung am jeweiligen Standort erforderlich. Das Gehäuse selbst fungiert als zentrale Steuer- und Kommunikationseinheit am Netzanschlusspunkt. Damit kann eine zentrale Unterverteilung bei konsequentem Aufbau und Konzept eine Vielzahl von ein- oder dreiphasigen Ladepunkten steuern. In einem solchen System sind an den Parkplätzen lediglich Ladeanschlüsse oder -buchsen vorhanden, jedoch keine Ladeelektronik. Neben Kostenvorteilen in der Produktion bestehen auch Wartungsvorteile hinsichtlich Kosteneffizienz, Zeitaufwand und IT-Sicherheit. Es sollte berücksichtigt werden, dass ein Ladepunkt nur dann mit Strom versorgt wird, wenn ein Fahrzeug angeschlossen ist, so dass bei Vandalismus oder Unfällen keine Gefahr besteht, da die Ladesäule ohne Strom ist.  Einheitliche Bezahloptionen: Wichtig ist sicherzustellen, dass die gewählte Ladeinfrastruktur den aktuellen Sicherheitsstandards entspricht und den Bedürfnissen der Benutzer gerecht wird. Bezahlsysteme sollten sich an den Richtlinien von Förderprogrammen oder an öffentlichen Regularien orientieren. Die Bezahlung per RFID- Karte wird häufig ausgeschrieben. Allerdings sind einige der RFID-Systeme anfällig für Sicherheitsprobleme, da sie nicht ausreichend verschlüsselt sind. Dies hat Bedenken hinsichtlich der Datensicherheit aufgeworfen. Die Verwendung von Smartphone-Apps für die Freischaltung und Bezahlung von Ladevorgängen gewinnt an Beliebtheit. Diese Lösungen bieten oft mehr Komfort und Flexibilität für die Benutzer. Außerdem sind sie oft kostengünstiger in der Anschaffung, da keine physische RFID-Karte benötigt wird.  Gesamtkosten: Die Ausschreibung sollte immer die Gesamtkosten betrachten. Ladeinfrastruktur bezieht sich nicht nur auf die Hardware und die Installation, sondern auch auf begleitende Dienstleistungen wie die Wartung, Abrechnung, den Service und Support. Fazit Abschließend lässt sich festhalten, dass die einsatzbezogene Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge in städtischen Gebieten von entscheidender Bedeutung ist. Dabei sollten anwendungsbezogene Lösungen und die Berücksichtigung der realen Bedürfnisse der Nutzer im Mittelpunkt stehen. Der Artikel betont die Dringlichkeit, nicht nur so schnell wie möglich zu laden, sondern so schnell wie nötig. Dies gilt insbesondere im privaten Bereich zuhause und beim Arbeitgeber. Eine übermäßige Betonung hoher Ladeleistungen ohne entsprechende Anwendungsbezogenheit kann zu Herausforderungen im Lastmanagement führen, die sich negativ auf Gesamtkosten, Stromkostenoptimierung und Treibhausgasemissionen auswirken. In Ausschreibungsprozessen für Ladeinfrastruktur sollten Technologieoffenheit und eine anwendungsbezogene Herangehensweise Priorität haben. Dies gilt sowohl im privaten als auch im beruflichen Umfeld. Letztendlich kann eine sorgfältige Planung und Implementierung der Ladeinfrastruktur konsequent nach dem Nutzungsfall beitragen, die Elektromobilität als wichtigen Baustein für eine nachhaltige urbane Verkehrswende zu etablieren. LITERATUR: [1] Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI): Laden von Elektrofahrzeugen in Deutschland mit Ökostromverträgen. Working Paper Sustainability and Innovation, 02 (2022). [2] Fraunhofer-Institut für Angewandte Informationstechnik (FIT): Elektromobilität im ländlichen Raum - Handlungsempfehlungen für die Gestaltung der Mobilität von Morgen. Auftrag des Naturschutzbundes Deutschland e. V. (NABU). [3] BABLE Smartcities, Gemeinde Lorch, Mahle chargeBIG: Aufladen von Elektrofahrzeugen an einem Park-and-Ride-Platz, Use Case, (2023). https: / / www. bable-smartcities.eu/ de/ entdecken/ anwendungsfaelle/ use-case/ electric-vehicle-charging-at-a-parkand-ride-location.html AUTOR Prof. Dr. Philipp Riegebauer Chief Project Officer BABLE Smart Cities Kontakt: philipp@bable-smartcities.eu 84 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Manuelle Verkehrszählung muss in einer Zeit, in der fast jeder ein Mobilfunktelefon mit sich führt, nicht mehr sein. Mobilfunkdaten können gezielte Informationen über das Mobilitäts- und Verkehrsverhalten der Menschen liefern. Durch die sehr feine zeitliche und räumliche Auflösung der Daten können vergleichsweise kleine Verkehrszellen mit einem sehr hohen Detaillierungsgrad verkehrlich untersucht und beschrieben werden. Gegenüber klassischen Zählungen und Befragungen eröffnen sich ganz neue Chancen, die Wege der Menschen zu erfassen und zu untersuchen. Im Vergleich mit herkömmlichen Erhebungsmethoden ist zudem die Abbildung von Zeitreihen viel besser möglich und Entwicklungen über längere Zeiträume können mit deutlich weniger Aufwand abgebildet werden. In mehreren Abschlussarbeiten und studentischen Projekten an der Hochschule für Technik in Der Beitrag von Mobiltelefonen und intelligenten Arbeitszeitmodellen für die Verkehrswende Verkehrsplanung, Mobilfunkdaten, intelligente Arbeitszeitmodelle, Verkehrswende Michael Heller, Dennis Dreher, Lutz Gaspers Jeder hat sie schon gesehen: überwiegend junge Menschen auf Stühlen, an Kreuzungen oder Brücken mit Blöcken und Stiften in der Hand. Manuelle Verkehrszählung im wahren Sinne des Wortes. Auch wenn dieses Bild zunehmend der Vergangenheit angehört, müssen auch heute Daten zum Verkehrsaufkommen oftmals sehr aufwendig aus verschiedenen Systemen erfasst und mühsam zusammengeführt werden. Bild 1: Fast jeder hat sein Mobiltelefon immer bei sich - in der Verkehrsplanung ermöglicht dies ganz neue Möglichkeiten zur Gewinnung von Verkehrsdaten. © HFT Stuttgart. 85 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Stuttgart wurden sich die Möglichkeiten der Verkehrsdatenerfassung mit Mobilfunk zu Nutze gemacht. Dabei wurde beispielhaft das Gewerbegebiet Synergiepark in Stuttgart untersucht. Es ist das größte Gewerbegebiet der Landeshauptstadt und wird mit künftig 40 000 Arbeitsplätzen noch weiter wachsen. Dementsprechend groß sind die verkehrliche Bedeutung sowie die implizierten Verkehrsbeziehungen des Untersuchungsgebiets. Mit Blick auf die Zukunft müssen Möglichkeiten geschaffen werden, die Wege mit nachhaltigen Verkehrsmitteln abbilden zu können bzw. die Zahl der zurückgelegten Wege grundsätzlich zu reduzieren. Untersuchung der Pendlerströme Für einen Untersuchungszeitraum von drei Jahren (2019 bis 2021) wurden die Pendlerströme in das Gebiet untersucht, verglichen und abgebildet. Für die Pendleruntersuchung wurde ein Vorgehen aus verschiedenen Arbeitsschritten entwickelt und diese auf das Gewerbegebiet Synergiepark und die erfassten Mobilfunkdaten angewendet. Ein Fokus wurde hierbei auch auf die Veränderungen infolge der COVID-19-Pandemie gelegt, die letztlich die Verbreitung von mobilem Arbeiten und Home-Office beschleunigt hat. Es wurden die Jahre 2020 und 2021 mit dem von der Pandemie unbeeinflussten Jahr 2019 verglichen. Die Ergebnisse zeigen auf, wie sich Tages- und Wochenganglinien, die absoluten und relativen Zahlen der Einpendler sowie die Quellbeziehungen, verändert haben. Die Auswertungen der Mobilfunkdaten zeigen, dass die Pendlerzahlen in den Synergiepark in den Monaten mit hohen COVID-19-Fallzahlen im Schnitt um bis zu 60 % zurückgegangen sind. Bei den Menschen, die eine weite Distanz beim Pendeln zurücklegen, gingen die Zahlen um bis zu 80 % zurück. Es lässt sich ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Pendeldistanz und dem Fernbleiben aus dem untersuchten Gebiets erkennen. Darüber hinaus wurde ein Augenmerk auf die zehn Quellbeziehungen mit den meisten Einpendlern in das Gebiet gelegt. Mit mehr als der Hälfte aller Einpendler kommen aus diesen zehn Gemeinden und Bezirken täglich besonders viele Menschen in das Gebiet. Durch die Nähe dieser Gemeinden und Bezirke zum Synergiepark ist Potenzial für den Rad- und Fußverkehr erkennbar. Im Rahmen der Untersuchung wurden die Mobilfunkdaten mit anderen Datenquellen aus dem öffentlichen Verkehr und dem Individualverkehr verglichen und dadurch plausibilisiert. Grundsätzlich kann diese Identifizierung stark belasteter Quell-Ziel-Beziehungen zur Optimierung des Verkehrsangebots herangezogen werden. Künftiger Forschungsbedarf kann darin bestehen, weitere kleinräumige Gebiete auf das Pendlerverhalten zu untersuchen, um so Aufschluss über die Anziehungskraft und die Größe der Einzugsgebiete zu erhalten. Ferner kann ein Fokus auf die Reisezeit gelegt werden, um diese zu verkürzen und zu optimieren bzw. das Verkehrsangebot der öffentlichen Verkehrsmittel zu verbessern. Des Weiteren kann untersucht werden, wie sich Ereignisse, wie beispielsweise das 49€-Ticket, auf Mobilität und Pendelverhalten auswirken. Starke Auswirkungen durch Regulation Die Analyse der Verkehrsdaten ergab, dass insbesondere die regulativen Eingriffe während der Pandemie die stärksten Auswirkungen auf das Verkehrsaufkommen hatten. Vielerorts wurde die eingeführte Homeoffice-Pflicht zum Anlass genommen, mobiles Arbeiten aus verschiedensten Gründen auch nach Ende der gesetzlichen Vorgaben im Unternehmen zu verankern. Es galt daher zu untersuchen, ob intelligente Arbeitszeitmodelle langfristig einen Beitrag zur Reduktion des Verkehrsaufkommens bzw. dessen flexible Steuerung ermöglichen. Dies erforderte zunächst Kenntnis über die Regelungen, die in den Unternehmen im Synergiepark Anwendung finden. Durch die Auswertung der Betriebsvereinbarungen ausgewählter Unternehmen konnte ermittelt werden, dass fast alle Betriebe betriebliche Regelungen zur Telearbeitszeit / Homeoffice besitzen, diese jedoch sehr unterschiedlich im Hinblick auf Umfang, Geltungsbereich, Beschäftigtengruppe und weiteren Kriterien sind. Ergänzt wurden diese Resultate durch eine Umfrage in den ausgewählten Unternehmen. Die Akzeptanzrate für Homeoffice bei den Beschäftigten der befragten Unternehmen lag zwischen 75 und 98 %. Interessanterweise gibt es in keiner Vereinbarung eine Pflicht zum Homeoffice. Alle vorliegenden Vereinbarungen regeln einen maximalen Umfang - häufig um die 50 % - aber immer auf freiwilliger Basis. Das macht eine Prognose äußerst schwierig. Um eine verlässliche Prognostizierung auf das Verkehrsaufkommen an einzelnen Wochentage zu bekommen, bräuchte es eine taggenaue Steuerung des einzelnen Mitarbeiters, für eine wochenbasierte Auswertung eine feste Anzahl von Wochentagen. Positiv im Sinne der Prognose: Je starrer die Regelung ist, umso besser auch die Prognostizierbarkeit. In der Realität findet sich allerdings genau das Gegenteil. Die am schlechtesten prognostizierbaren Regelungen sind die am häufigsten verbreiteten - 86 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende aus Sicht der Mitarbeitenden aber auch die erstrebenswertesten - Lösungen. Umso wichtiger ist es zu erforschen, welche Entscheidungskriterien bei einem freiwilligen Modell Mitarbeiter motivieren Homeoffice zu nutzen bzw. welche Kriterien hierbei eine Rolle spielen und in wieweit diese durch ein nutzerorientiertes Medium positiv dazu beitragen Verkehre zu minimieren bzw. zu optimieren. Die Kriteriengruppen umfassen dabei bauliche, betriebliche, komfortbezogene, ökologische, räumliche, rechtliche, soziale, verkehrliche und wirtschaftliche Kriterien. Da eine exakte Zuordnung eines Kriteriums zu einer einzelnen Kriteriengruppe nicht immer möglich ist, können einzelne Kriterien auch verschiedenen Kriteriengruppen zugeordnet sein. Hierbei gibt es Wirkungszusammenhänge und damit auch zusätzliche Verbesserungspotenziale. Das grundlegende Ziel der intelligenten Steuerung solcher Arbeitszeitmodelle ist hier stets eine möglichst hohe Reduzierung der Verkehre, bzw. wo nicht anders möglich, eine Verlagerung auf umweltfreundliche Verkehrsmittel und Verkehrsarten. Da hier der Zusammenhang zur Steuerung der Arbeitszeitmodelle besteht, ist überwiegend eine Betrachtung der beruflichen Mobilität erforderlich. Zunächst gilt es hier die Anforderungen und Bedingungen, welche an eine intelligente Steuerung der Arbeitszeitmodelle gestellt werden, zu verdeutlichen. Aufgrund der vielfältigen Möglichkeiten der fortschreitenden Digitalisierung sollte hier insbesondere eine Steuerung der Arbeitszeitmodelle über eine Smartphone-App oder ähnlicher Anwendungen in Betracht gezogen werden. Ein grundlegendes Merkmal einer solchen intelligenten Steuerung ist es, den benutzenden Personen Vorschläge bezüglich der Arbeitszeiten und des individuellen Verkehrsverhaltens zu machen, um eine größtmögliche Verkehrsreduzierung zu erreichen. Dazu sollte die intelligente Steuerung Vorschläge zu verschiedenen Aspekten geben können, welche das Mobilitätsverhalten im Bereich der beruflichen Mobilität betreffen. Diese Vorschläge sollten beispielsweise tägliches Verkehrsaufkommen, Routenvorschläge, ÖPNV-Verbindungen aber auch weitere Kriterien wie Witterung, Parkplatzmöglichkeiten oder Abwesenheiten von Kollegen betreffen. Im Idealfall sollte proaktiv ein entsprechender Vorschlag von Seiten des Systems vorgeschlagen werden, der die jeweiligen beruflichen wie auch persönlichen Präferenzen und Rahmenbedingungen bestmöglich unter der Prämisse einer möglichen Verkehrsreduzierung berücksichtigt. Vor allem bei einer bisher präferierten Nutzung des MIV ist zu hinterfragen, ob alternative Mobilitätslösungen ebenso die individuellen Mobilitätsbedürfnisse lösen könnten. Damit eine intelligente Steuerung hier individuell angepasste und zielführende Empfehlungen geben kann, ist eine ausreichende Kenntnis über die Bedingungen und Kriterien der einzelnen Arbeitnehmenden notwendig. Hierfür ist die Bereitstellung der oben benannten Daten sicherzustellen bzw. durch geeignete Erfassungsmethoden zu implizieren. Dies kann zum Teil durch eine manuelle Datenversorgung seitens der Nutzenden der App geschehen. Diese ist jedoch in hohem Grad abhängig von der Bereitschaft zur Nutzung der App und der hiermit verbundenen Datenpflege. Insbesondere Mobilfunkdaten schaffen darüber hinaus neue Möglichkeiten, die Datenbasis zu erweitern und ohne manuellen Eingriff aktuell zu halten. Akzeptanz in Stufen erreichen Die Akzeptanz ist somit ein weiterer elementarer Baustein einer solchen intelligenten Steuerung. Hierbei darf nicht nur die Akzeptanz der Nutzenden betrachtet werden, sondern auch die Akzeptanz seitens der Arbeitgebenden. Eine mögliche Umsetzung im Rahmen einer App könnte dabei mehrere Entwicklungsstufen umfassen. Eine erste Stufe wäre eine Basisversion mit den grundlegenden Anforderungen, welche an solch eine intelligente Steuerung EMO4iCity ist ein Forschungsprojekt an der Hochschule für Technik Stuttgart. Es ist eingebettet in das Projekt iCity: Intelligente Stadt und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Die Forschungsfrage „Wie können aktuell und zukünftig verfügbare Optionen zur Ermöglichung emissionsarmer Mobilität nutzerzentriert umgesetzt werden? “ wird in einem gemeinsamen Konsortium aus Verkehrsplanern und Wirtschaftspsychologen untersucht. EMO4iCity Bild 2: Home-Office und mobiles Arbeiten sind mittlerweile weit verbreitet. Welches Potenzial bietet die intelligente Steuerung durch diese Arbeitszeitmodelle auf dem Weg zur Verkehrswende? © HFT Stuttgart, iCity. 87 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende gestellt werden. Hierbei erfolgt die Gewinnung und Pflege der Daten zunächst lediglich über die Nutzenden der App. So sind Arbeitszeiten sowie die Anwesenheitstage durch die Nutzenden in der App zu hinterlegen. Aus diesen Daten soll dann ersichtlich werden, welche Uhrzeiten bzw. Arbeitstage ein geringeres Verkehrsaufkommen aufweisen und den Arbeitnehmenden so zu empfehlen welche Zeiten und Tage präferiert zu berücksichtigen sind. Insbesondere Arbeitnehmende, die phasenweise im Home-Office arbeiten, können die Anwesenheitstage in der Betriebsstätte so wählen, dass über alle Firmen und Abteilungen hinweg ein möglichst ausgeglichenes Verkehrsaufkommen erreicht werden kann. Gleichzeitig ermöglicht dies ein Entzerren der vormittäglichen und nachmittäglichen Spitzenstunde, was zu einer Entlastung der Infrastruktur führt. In einer weiteren Entwicklungsstufe wird die Funktionsweise der intelligenten Steuerung so erweitert, dass eine Verknüpfung mit weiteren Verkehrsmitteln, hier allen voran jenen des Umweltverbunds, geschaffen wird. So können beispielsweise Informationen zu Auslastung und Störungen von den Verkehrsmitteln des ÖPNV entsprechend berücksichtigt werden, um den Nutzenden aktuelle Empfehlungen zu geben. Auch eine Verknüpfung mit Carsharing-Angeboten oder Leihrädern sollte hier geschaffen werden, um intermodale und multimodale Verkehr zu integrieren und zu fördern. In diesem Schritt ist nicht zuletzt auch die betriebliche Förderung von höherer Bedeutung, damit zusammen mit der intelligenten Steuerung ein passendes Gesamtpaket zur Nutzung der Verkehrsmittel erreicht werden kann. Eine dritte Entwicklungsstufe stellt eine umfassende Integration verschiedenster Datenquellen dar und ist somit auch bezüglich der Umsetzung der aufwändigste Umsetzungsschritt. Hierbei sollen alle relevanten Kriterien, neben jenen in den vorherigen Stufen bereits berücksichtigten, integriert werden. So sollten Informationen zum aktuellen und prognostizierten Verkehrsaufkommen im Bereich des MIV ebenso Berücksichtigung finden, wie beispielsweise auch die Integration von Wetterdaten, um eine witterungsabhängige Verkehrsmittelwahl empfehlen zu können. Größtmögliche Reduzierung des Verkehrs Aufgrund des nochmals größeren Datenumfang ist hier mit exakteren Empfehlungen zu rechnen, gleichzeitig ist die Umsetzung deutlich komplizierter. Somit kann nicht nur empfohlen werden, welcher Arbeitstag bevorzugt im Home-Office stattfinden sollte, sondern auch die Wahl des jeweils passenden Verkehrsmittels wird ermöglicht. Im Bereich des Fuß-, Rad- und Autoverkehrs ist in diesem Umsetzungsschritt auch die Empfehlung zur jeweils passendsten Route möglich. Hiermit können beispielsweise im Bereich des MIV Strecken mit einem hohen Verkehrsaufkommen vermieden werden und im Bereich des Radverkehrs kann die empfohlene Strecke an das Vorhandensein von Pedelecs oder E-Bikes geknüpft werden in Abhängigkeit der jeweiligen Topografie. Damit soll in Abhängigkeit aller für die Verkehrsreduzierung relevanter Kriterien eine passende Empfehlung gegeben werden können, welche möglichst alle Verkehrsmittel einschließt und eine größtmögliche Reduzierung des Verkehrs herbeiführt. Das Potenzial für eine Reduzierung bzw. intelligente Steuerung des Pendleraufkommens ist, wie die Analysen während der Pandemie zeigen, enorm. Der Anspruch - gerade auch von jüngeren Arbeitnehmenden - hinsichtlich höherer Flexibilität ihrer beruflichen Tätigkeiten ist ein weiteres gewichtiges Argument, um an diesem Thema weiter zu forschen und vor allem noch weitere Erkenntnisse zur Akzeptanz einer systemischen Lösung zu erhalten. So können letztlich intelligente Modelle zur Steuerung der Arbeitszeit einen großen Beitrag zur Verkehrswende leisten. Dipl.-Betr. (FH) Michael Heller Akademischer Mitarbeiter Hochschule für Technik Stuttgart Hf T Kontakt: michael.heller@hft-stuttgart.de Dennis Dreher, M. Eng. Akademischer Mitarbeiter und Teamleitung MoVe Hochschule für Technik Stuttgart Hf T Kontakt: dennis.dreher@hft-stuttgart.de Prof. Dr.-Ing. Lutz Gaspers Prorektor Studium und Lehre Leiter MoVe Hochschule für Technik Stuttgart Hf T Kontakt: lutz.gaspers@hft-stuttgart.de AUTOREN 88 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Seit dem Jahr 2005 hat das Thema der Luftreinhaltung bezüglich des Straßenverkehrs in der EU und in Deutschland zunehmend an Bedeutung gewonnen. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Anforderungen für die Grenzwerte von Schwefeldioxiden (SO 2 ), Stickstoffdioxiden (NO x ), Feinstaub (PM 10 ) und Blei (Pb) in der Luft mit der Richtlinie 1999/ 30/ EG erstmals in innerstaatliches Recht übernommen. Schnell zeichnete sich ab, dass die Grenzwerte in den deutschen Großstädten und Ballungsgebieten mehr als 35 mal überschritten werden. Laut Angaben der europäischen Kommission kommen jährlich schätzungsweise 350 000 Menschen aufgrund der Folgen der schwerwiegenden Feinstaubbelastung in der Luft Maßnahmensensitives Verkehrs- und Klimamonitoring (GoGreen) Luftreinhaltung, Emissionsminderung, Verkehrsmanagement, Mobilitätsdaten, Informationssysteme Jasmin Rychlik, Jan Kätker, Tom Schilling, Christian Seidel Im Verkehrssektor sind deutliche Emissionsminderungen notwendig, um die Klimaschutzziele der EU zu erreichen. Eine Lösung dafür ist das umweltorientierte Verkehrsmanagement (UVM) der VMZ, das sich derzeit in Würzburg im Betrieb befindet. Das umfassende System reicht von der umweltsensitiven Steuerung des Straßenverkehrs in der Innenstadt über koordinierte Informationsdienste mit dynamischen Anzeigetafeln an den Hauptzufahrtsstraßen zur Innenstadt bis hin zu Mobilitätsdiensten wie Apps und Web-Anwendungen für die Region. Bild 1: Multimodaler Mobilitätsmonitor (MoMo) kombiniert verschiedene Kartenkomponenten mit dynamischen Mobilitätsinformationen. © Rychlik et al. 89 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende ums Leben, in Deutschland etwa 70 000. Daraufhin wurde eine Debatte über die Einhaltung der Grenzwerte in Gang gesetzt, die bis heute andauert. Vor dem Hintergrund, die Gesundheitsgefahr zu reduzieren, wurden verschiedene Ansätze diskutiert, um die Luftschadstoffgrenzwerte einzuhalten. Auf kommunaler Ebene steht die Einhaltung der geltenden Luftqualitätsgrenzwerte vor einer doppelten Herausforderung: Einerseits dürfen die Jahresmittelwerte und die Grenzwerte für die Kurzzeitbelastung nicht überschritten werden. Auf der anderen Seite steht jedoch nur eine begrenzte Palette an wirksamen Maßnahmen zur Verfügung. Das führt, auch vor dem Hintergrund der derzeit diskutierten weiteren Grenzwertverschärfung im Zielhorizont 2030, zu der zentralen Fragestellung, wie eine umweltgerechtere Gestaltung des Verkehrs vorangetrieben werden kann. Umweltorientiertes Verkehrsmanagement Ein umweltorientiertes Verkehrsmanagement (UVM), bestehend aus temporären Verkehrssteuerungsmaßnahmen sowie intermodalen Informations- und Mobilitätsdiensten, kann einen wichtigen Beitrag zur Reduzierung von Luftschadstoffen in hochbelasteten Bereichen betroffener Städte leisten. Das Ziel besteht darin, die Belastung des motorisierten Individualverkerkehrs (MIV) in diesen Hotspots temporär restriktiv zu beeinflussen. Im Fall einer drohenden Überschreitung der Grenzwerte werden Verkehrsteilnehmer mithilfe von Mobilitätsdiensten über Alternativen des Umweltverbunds informiert und auf Sharing-Angebote hingewiesen, mit denen die gewünschten Mobilitätsbedürfnisse zeit- und umweltgerecht erreicht werden können. In dicht besiedelten Innenstädten mit hohen Schadstoffbelastungen kann eine intelligente Verkehrssteuerung dazu beitragen, den Verkehrsfluss zu verbessern und die Luftschadstoffbelastung zu verringern. Wesentliche Voraussetzungen für ein umweltorientiertes Verkehrsmanagement sind die Datenerfassung in Echtzeit, die Vernetzung und die Online-Analyse einer Vielzahl unterschiedlicher Datenquellen, wie zum Beispiel das Verkehrsaufkommen, lokale Wetterinformationen und aktuelle Schadstoffmesswerte an lokalen Messstationen. Im Ergebnis wird eine Drosselung der Verkehrsmenge und eine Stabilisierung des Verkehrsflusses erzielt, sodass die verkehrsbedingten Immissionen, insbesondere an Hotspots, reduziert werden können. Die Maßnahmen tragen dazu bei, 1.) die abschnitts- und richtungsbezogene Verkehrsqualität in den kritischen Bereichen durch eine Optimierung der Signalzeitpläne zu verbessern, 2.) den motorisierten Individualverkehr temporär zu reduzieren und 3.) den durch eine Zuflusssteuerung und die modale Verlagerung der Verkehrsnachfrage durch ein umfassendes Informations- und Mobilitätsmanagement zu unterstützen. Umweltorientierte und netzadaptive Steuerung des Straßenverkehrs Bei der Umsetzung des umweltorientierten Verkehrsmanagements werden die prognostizierte Verkehrssituation und die Schadstoffbelastung zunächst auf Basis der aktuell lokal detektierten Daten anhand von Modellberechnungen für das gesamte Netz ermittelt und online an ein zentrales System übertragen. Infolge einer darauf aufbauenden umweltorientierten und netzadaptiven Steuerung des Straßenverkehrs kann die PM 10 - und NO 2 -Belastung an den Straßenabschnitten mit Grenzwertüberschreitungen nachhaltig reduziert werden. Wenn die stündliche NO 2 -Konzentration in den betroffenen Straßenabschnitten über einen festgelegten Schwellenwert ansteigt, wird durch die netzadaptive Steuerung eine Drosselung des Verkehrsaufkommens an den sogenannten Dosierungs-Lichtsignalanlagen zur Reduzierung der Luftschadstoffbelastung eingeleitet, eingeleitet, um die Luftschadstoffbelastung zu reduzieren und damit den Jahresmittelgrenzwert für NO 2 von derzeit 40 μg/ m 3 dauerhaft einzuhalten. Der Schwellenwert wird auf der Grundlage umfangreicher Modellrechnungen sachgerecht ermittelt. Das bedeutet, dass Maßnahmen der Verkehrssteuerung nur dann aktiviert werden, wenn eine Überschreitung des festgelegten Schwellenwertes droht. Über verschiedene Informationsmedien und Mobilitätsdienste werden die Verkehrsteilnehmer rechtzeitig über die eingeleiteten Maßnahmen informiert. Eine entsprechende Vorankündigung erfolgt auf Basis intelligenter Prognosen - in der Regel für den Folgetag. Darüber hinaus werden in weiteren Arbeitsschritten Straßenabschnitte im Stadtgebiet mit derzeit schlechter Verkehrsqualität (Stau, Stop-and-go) und den damit verbundenen hohen NO 2 -Emissionen zu Regelzonen zusammengefasst und mit einer modernen netzadaptiven LSA-Steuerung ausgestattet. Auf diese Weise wird die Verkehrsqualität insbesondere in den Spitzenstunden (LOS - flüssig) deutlich verbessert. Infolgedessen werden die damit einhergehenden NO 2 -Emissionen des Straßenverkehrs im gesamten Stadtgebiet nachhaltig reduziert. Informations- und Mobilitätsdienste Die fachlich konzipierten und temporär umgesetzten Verkehrssteuerungsmaßnahmen werden mit Informations- und Mobilitätsdienstleistungen für 90 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende die Bürgerinnen und Bürger verknüpft. Die übergeordnete Zielsetzung besteht nicht nur darin, das Verkehrsverhalten hinsichtlich einer räumlichen Verlagerung durch eine andere Routenwahl im Straßennetz zu beeinflussen, sondern zielt auch darauf ab, die Attraktivität alternativer Verkehrsmittel zu erhöhen, wie zum Beispiel das Fahrrad bzw. der ÖPNV sowie Möglichkeiten des Car- und Bikesharings. Informationen zu den verfügbaren Alternativen werden über die Mobilitätsdienste verkehrsmittelübergreifend bereitgestellt. Zentral wird dazu eine städtische Mobilitätsplattform errichtet, die alle verfügbaren Daten zu städtischen Mobilitätsangeboten bündelt. Dazu gehören Daten zur aktuellen Straßenverkehrssituation, zu möglichen Verkehrsstörungen, zum öffentlichen Nahverkehr, zu zahlreichen Sharing-Angeboten und Daten zu Ladestationen für Elektrofahrzeuge, Parkdaten, Mitfahrangeboten, etc. Diese zentrale Bündelung erlaubt eine anbieterneutrale Informationsbereitstellung für die Bürgerinnen und Bürger. Als Ausspielungskanäle lassen sich die Daten nun in Apps oder Websites integrieren und mit intermodalen Routenempfehlungen kombinieren. Der Routenplaner berücksichtigt dabei statische städtische Strategien und die dynamischen UVM-Maßnahmen. So werden konsistent zur aktuellen Steuerung und im Sinne der Städte Routenempfehlungen generiert. Die Mobilitätsdaten lassen sich zusätzlich auf Multimodalen Mobilitätsmonitoren (MoMo) anzeigen, die zum Beispiel an Bahnhöfen (Bild 1) installiert werden können. Der MoMo informiert Gäste, Besucher und Reisende über alle verfügbaren Verkehrs- und Mobilitätsangebote in der Umgebung des Standortes und stellt den Nutzern mehr Auswahlmöglichkeiten zur Verfügung, um sie bei der Verkehrsmittelwahl zu unterstützen. Dynamische Informationstafeln an den Hauptzufahrtsstraßen versorgen die Verkehrsteilnehmer mit aktuellen Verkehrsinformationen. Im Rahmen des Informations- und Mobilitätsmanagementsystems werden die Bürgerinnen und Bürger über die am Vortag eingeleiteten Maßnahmen für den motorisierten Individualverkehr (MIV) informiert. Durch verschiedene Mobilitätsdienste werden ihnen umweltverträgliche Alternativen zum MIV, wie beispielsweise die ÖPNV-Nutzung, vorgeschlagen. Als Best-Practice-Beispiel dient das Projekt des umweltorientierten Verkehrs- und Informationsmanagements in Würzburg „SauberMobil“, das sich seit dem 26. April 2021 im Produktivbetrieb befindet. Die praktische Umsetzung am Best-Practice Beispiel Würzburg Mit dem „Green-City-Plan Würzburg“ hat die Stadt Würzburg einen Masterplan für die Gestaltung einer nachhaltigen und emissionsfreien Mobilität in der Region Würzburg entwickelt. Im Rahmen dieses Masterplans wurde das Teilkonzept „Umweltorientiertes Verkehrsmanagement“ umgesetzt. Mit dem Teilkonzept wurden im Jahr 2018 zunächst die Grundlagen für den Aufbau eines umweltorientierten und netzadaptiven Verkehrs- und Mobilitätsmanagements in Würzburg erarbeitet. Das Konzept reicht von der umweltsensitiven Steuerung des Straßenverkehrs in der Innenstadt über koordinierte Informationsdienste mit dynamischen Anzeigetafeln an den Hauptzufahrtsstraßen zur Innenstadt bis hin zu Mobilitätsdiensten für die Region. Ziel war es zu zeigen, wie durch verkehrslenkende Maßnahmen und ein umfassendes Informations- und Mobilitätsmanagement ein wesentlicher Beitrag zur Reduzierung der verkehrsbedingten Luftschadstoffbelastung in den kritischen Bereichen der Stadt Würzburg geleistet werden kann. Zu diesem Zweck wurde ein umweltorientiertes Verkehrs- und Mobilitätsmanagementsystem zunächst im Bereich der Würzburger Innenstadt implementiert. Hier wurden die Jahresmittelgrenzwerte für NO 2 in 2019 an elf Straßenabschnitten überschritten. Von diesen Grenzwertüberschreitungen sind rund 2 000 Anwohner betroffen. Die Erarbeitung des Teilkonzepts erfolgte in einem mehrstufigen Prozess. In einem ersten Schritt wurden in Abstimmung mit den zuständigen Verwaltungen der Stadt Würzburg die zu betrachtenden kritischen Bereiche (Hotspots) definiert. Grundlage hierfür waren die bereits vorliegenden Untersuchungen, insbesondere im Rahmen des aktuellen Luftreinhalteplans. In einem zweiten Arbeitsschritt erfolgte auf Basis dieser Grundlagen die schrittwei- Ziel: Reduktion Luftschadstoff-Immissionen Meteorologie, Hintergrundbelastung, ... Verkehrsinformation Informationstafeln Applikationen Verkehrssteuerung LSA-Steuerung Verkehrsmessung - Verkehrsstärke - Geschwindigkeit - Verkehrsqualität (Stauanteile) Immissionsmodellierung - NO 2 , PM10 Hotspot Schildersteuerung LSA Drosselung der Verkehrsmenge Stabilisierung des Verkehrsflusses KFZ-Verkehr Bild 2: Komponenten des umweltorientierten Verkehrsmanagements. © Rychlik et al. 91 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende se Entwicklung von Maßnahmen zur Reduzierung der Luftbelastung in den kritischen Bereichen der Würzburger Innenstadt im Rahmen eines umweltorientierten Verkehrsmanagements. (Bild 2) Für die Stadt Würzburg ist im Bereich des Hauptbahnhofes ein multimodaler Mobilitätsmonitor realisiert worden. Der MoMo wertet den Standort am Hauptbahnhof auf und unterstreicht seine Qualitäten als Verkehrsknotenpunkt. Der MoMo besteht aus zwei Anzeigen, die verschiedene Kartenkomponenten mit dynamischen Mobilitätsinformationen kombiniert. Die Lösung bietet im Detail spezifische Echtzeit-Informationen zum öffentlichen Nahverkehr (Bild 1), zur Verkehrslage im Straßenverkehr, zu den Verfügbarkeiten flexibler Mobilitätsangebote des Car- und Bikesharings sowie Wetter und Uhrzeit. Darüber hinaus sind statische Informationen zu Fernbussen, Taxen, Parkplätzen und Autoverleih-Stationen integriert. Alle Informationen werden über eine freistehende Doppel-Stele mit zwei 65-Zoll-Monitoren ausgegeben. Maßgeschneidert auf die Mobilitätsthemen in Würzburg wurde unterstützend die Sauber-Mobil App entwickelt, die sich durch eine intuitiv bedienbare Karte auszeichnet. Der Nutzer erhält umfangreiche Informationen zu ÖPNV-Haltestellen mit aktuellen Fahrplänen und Abfahrtszeiten, aktueller Verkehrslage, Baustellen, Parkplätzen mit Belegung sowie Bike- und Carsharing-Stationen mit aktuellen Verfügbarkeiten. Darüber hinaus bietet die App einen verkehrsmittelübergreifenden Routenplaner, der kombinierte Reisen für PKW, ÖPNV, Rad, P+R, B+R, Bike- und Carsharing berechnet. Je nach Wunsch kann die schnellste, kostengünstigste oder umweltfreundlichste Route ausgewählt werden. Ausblick Im Verkehrssektor ist eine deutliche Emissionsminderung notwendig, um die von der EU geplante Verschärfung der Luftschadstoff-Grenzwerte zu erreichen. Eine Lösung dafür ist eine umweltgerechtere Gestaltung des Straßenverkehrs, die unter anderem durch eine restriktive Einflussnahme und den Einsatz intelligenter Steuerungssysteme auf der kommunalen Ebene umgesetzt werden kann. Die Evaluation von Maßnahmen des UVM anhand des Best-Practice-Beispiels Würzburg hat gezeigt, dass umweltorientiertes Verkehrsmanagement nicht nur zur Emissionsreduzierung in Hotspots beiträgt, sondern auch das Potenzial besitzt, die Attraktivität des Umweltverbundes zu steigern. Dies wird durch die Bereitstellung begleitender Informations- und Mobilitätsdienstleistungen für die Bürgerinnen und Bürger erreicht. Der nächste Schritt hin zur umwelt- und klimagerechten Abwicklung des Verkehrs ist die Ausweitung der Ansätze des netzweiten umweltorientierten Verkehrs- und Mobilitätsmanagements über einzelne Luftschadstoffe hinaus auch auf Klimagase und die Ausdehnung der Einflussbereiche des UVM auch auf einen regionalen Kontext. Die Verkehrs- und Umweltdaten, die in den Verkehrssteuerungsrechnern der Kommunen netzweit aktuell vorliegen, können für verschiedene Zwecke verwendet werden. Sie können für die Evaluierung, die Planung und das kontinuierliche Monitoring von dem Verkehr, der Luftschadstoffe und den klimatischen Bedingungen genutzt werden. Daher trägt die Auswertung dieser Daten auch zur erfolgreichen Umsetzung der Sustainable-Urban-Mobility-Pläne (SUMPs) bei. Mit dem Ansatz „GoGreen“ begleitet die VMZ in enger Kooperation, unter anderem mit der Yunex Traffic, Kommunen und Regionen von der Planung klimagerechter Mobilität, über die Umsetzung von Maßnahmen und kontinuierlichen Kontrollinstrumenten bis hin zur Evaluation. Dabei werden sämtliche verfügbare Daten berücksichtigt, um umfassende Evaluierungen durchzuführen und nachzuweisen, dass der Ansatz die ex ante Ziele erreicht. Dr. Jasmin Rychlik Projektleiterin Mobilitätsdienste VMZ Berlin Betreibergesellschaft mbH, Kontakt: jasmin.rychlik@vmzberlin.com Dr. Jan Kätker Geschäftsführung VMZ Berlin Betreibergesellschaft mbH Kontakt: jan.kaetker@vmzberlin.com Tom Schilling, M. Sc. Bereichsleiter Mobilitätsdienste VMZ Berlin Betreibergesellschaft mbH Kontakt: tom.schilling@vmzberlin.com Christian Seidel, M. Sc. Bereichsleiter Planung und Beratung VMZ Berlin Betreibergesellschaft mbH Kontakt: christian.seidel@vmzberlin.com AUTOR*INNEN 92 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Neulich beschrieb ich einer Bekannten, die als Besucherin das Stadtquartier erkunden wollte, den Weg. Sie solle auf der linken Straßenseite bleiben, gegenüber dem türkischen Imbiss links in einen schmalen Gehweg abbiegen, später durch einen kleinen Torbogen einen Platz erreichen; von dort gehe eine Feinmobilität statt neuer Stadtmauern Hohe Autos versperren Straßenraum, blockieren Sichtbeziehungen, verhindern Orientierung Feinmobilität, Fahrzeughöhe, Raumnahme, Straßenraum, Verkehrssicherheit, G-Klassifikation Konrad Otto-Zimmermann Hohe Fahrzeuge versperren Sichtbeziehungen im Straßenraum. Dies bringt Einbußen an Lebensqualität, erhöhte verkehrliche Gefährdung, verminderte Orientierung und subjektives Unsicherheitsempfinden. Ein Problembewusstsein bei Stadtpolitik, Stadtplanung und Ordnungsbehörden tut not. Eine Trendumkehr von der Gigantomanie bei der Fahrzeugwahl hin zu feinerer Mobilität kann durch Anreize und Restriktionen bewirkt werden - Leitbild „Feinmobilität“. Die neue Einstufung von Fahrzeugen nach Größe (G-Klassifikation) dient als Handwerkszeug zur Bevorzugung kleiner, niedriger, wendiger Fahrzeuge. Bild 1: Wo die Sicht auf gegenüberliegende Fassaden, Vorgärten, Bäume, Grünflächen, Straßenlaternen blockiert ist, wird die Wahrnehmung des Stadtbildes gestört. © The Urban Idea 93 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Wohnstraße ab, an der eine beliebte Bäckerei liege, für den Fall, dass sie sich hungrig gelaufen habe. Eine Stunde später rief sie mich frustriert an. Sie habe sich offenbar verlaufen. Den türkischen Imbiss habe sie nicht gefunden, den Torbogen nicht gesehen, den Platz erreicht und die Wohnstraße entlang geschaut, aber keine Bäckerei gesehen. Hatte ich den Weg falsch erklärt? Am nächsten Tag sind wir die Strecke noch einmal abgelaufen und in der Tat, sie konnte die Wegmarken nicht erkennen. Die Sicht war jeweils verstellt durch Mauern hoher Fahrzeuge. Neue Stadtmauern Dieses Erlebnis hat noch einmal verdeutlicht: Wir haben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten neue Stadtmauern aus Fahrzeugen - oder besser Stehzeugen - geschaffen. Im Wortsinne unübersehbare Wände, die die Straßenräume stückeln, Sichtbeziehungen blockieren und den Überblick behindern. Mit Worten kann diese urbane Realität nicht eindrücklicher beschrieben werden als durch Bilder. Die Bilder 1 bis 3 zeigen, wie das Autowachstum unsere Sicht begrenzt und unser Stadterlebnis einengt. Wir haben es mit einem dreifachen Autowachstum zu tun. Zum einen werden die Fahrzeuge eines Modells von Generation zu Generation größer gebaut. Zum anderen steigen Fahrzeugnutzer bei der Wahl des Nachfolgefahrzeugs vielfach auf größere Modelle um, entscheiden sich für ein SUV, einen Kleinbus oder legen sich ein Wohnmobil zu. Zum dritten wächst die Zahl der zugelassenen PKW weiter an. Die Fahrzeughöhen stellen ein gravierendes Problem dar, werden aber weder in der Fachwelt noch in der Verkehrspolitik diskutiert. Die kompakten Karosserieformen mit niedrigeren, flachen Dächern, niedrigen Motorhauben und niedrigen Hecks der früheren Stufenheck-Limousinen sind passé. Heutige PKW sind mit wenigen Ausnahmen zwar nicht extrem lang, aber recht breit und hoch. Nicht wenige sehen aus wie rollende Eier. Die Fahrzeughöhen überschreiten zunehmend die Augenhöhe erwachsener Menschen und die Front- und Heckpartien die Augenhöhe von Kindern. Da hilft auch kein Elektroantrieb. Stadtraum - Straßenräume In einer Stadt befinden wir Menschen uns in einem gegliederten Raum. Je nach Stadtstruktur kann er monoton oder vielfältig gestaltet sein. Es gibt Straßenräume und Plätze. Wenn wir aus einer Haustür treten, zu Fuß gehen oder auf einer Bank sitzen, Fahrrad fahren oder durch eine Windschutzscheibe blicken, befinden wir uns in einem dreidimensionalen Raum. Wir nehmen unsere Umwelt mit unseren Sinnen wahr: Wir hören vielfältige Geräusche, riechen allerlei Gerüche, fühlen Lufttemperatur und -feuchte, vor allem aber sehen wir Räume und ihre Begrenzungen (Hauswände, Mauern, Hecken, Werbetafeln…) sowie Elemente in diesen Räumen (Bäume, Zäune, Bänke, Kiosks). Wir sehen Menschen bummeln, eilen, einkaufen gehen, ihren Hund ausführen, Gepäck tragen, andere treffen und plaudern. In verkehrsarmen Straßen sehen wir Kinder Ball spielen, mit ihren Fahrzeugen herumfahren, Kreidebilder zeichnen. Wir nehmen Straßenräume als Aufenthalts-, Bewegungs- und Kommunikationsräume wahr. Aber trifft dies überhaupt noch zu? Sind die Straßen nicht vorwiegend Kanäle, in denen Kraftverkehr fließt? Ist die verbindende Funktion von Straßenräumen nicht längst einer trennenden Wirkung gewichen? Vor allem: stehen die Straßen nicht voller Kraftfahrzeuge? Werden Straßenräume nicht längst zum Lagern von Stehzeugen missbraucht? Verschluchtung Dieser Beitrag soll die Aufmerksamkeit auf den heutigen Bestand an hohen Fahrzeugen lenken, und zwar besonders wenn sie als Stehzeuge fungieren - und das ist im Durchschnitt zu 95 % der Zeit der Fall. Parkende Fahrzeuge blockieren zunehmend die Sichtbeziehungen im Straßenraum.  Wo die Sicht auf gegenüberliegende Fassaden, Vorgärten, Bäume, Grünflächen, Straßenlaternen blockiert ist, wird die Wahrnehmung des Stadtbildes und all dessen, was von Architekten, Landschaftsgärtnern und Designern zum Genuss für Bewohner und Besucher gestaltet worden ist, gestört. Bild 2: Die Fahrzeughöhen stellen ein gravierendes Problem dar, werden aber weder in der Fachwelt noch in der Verkehrspolitik diskutiert. © The Urban Idea 94 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende  Wo Blicke auf den gegenüberliegenden Gehweg versperrt sind, können wir nicht mehr sehen, wer da läuft und was dort geschieht, nicht mehr andere Anwohner sehen, sie grüßen oder zu einem Schwatz treffen; die soziale Funktion des Straßenraums ist verloren.  Wo die Sicht auf Hauseingänge und Hausnummern, Laden- und Büroeingänge, Schaufenster, Beschriftungen, ja auf gegenüberliegende Einmündungen von Wegen und Straßen sowie auf Straßennamenschilder blockiert ist, geht Orientierung verloren.  Wo für Zufußgehende die Sicht auf die Straße und den Straßenverkehr und umgekehrt für Autofahrende die Sicht auf Gehwege verstellt ist, weicht Sicherheit einem erhöhten objektiven Gefahrenpotenzial.  Bewohnern von Erdgeschoßwohnungen wird der Ausblick auf den Straßenraum versperrt. In den Straßen gelagerte Autos, vor allem wenn sie beim sogenannten Längsparken wie verkettet da stehen, bilden neue Stadtmauern - aber keine, die die Stadt nach außen absichern, sondern solche, die die Stadträume zerstückeln. Diese Automauern trennen vom Straßenraum beiderseits Schluchten ab: Schluchten zwischen Haus- und Autowänden, in denen Menschen wie Asseln in einer Spalte entlanglaufen und des visuellen Genusses, der sozialen Kommunikation, der Orientierung, der Sicherheit und damit ihrer Würde beraubt sind. Nieder mit den Autos! Wie können Stadtbewohner und -besucher die Lebensqualität in den Straßenräumen und auf den Plätzen wieder zurück erlangen? Die Fahrzeuge im öffentlichen Raum müssen niedriger werden! Der Trend zu immer höheren Fahrzeugen, die Gigantomanie der Autonutzer muss gebrochen werden durch Hinwendung zu feinerer Mobilität. Aber selbst wenn ab heute nur noch feinere Autos gekauft würden, werden die frisch zugelassenen Blähmobile noch zehn, zwanzig Jahre in unseren Straßen herumstehen, und das sind nicht wenige: im ersten Halbjahr 2023 machten SUV und Geländewagen 41 % der PKW-Neuzulassungen in Deutschland aus. Deshalb muss ein Befreiungsschlag die blechernen Stadtmauern durch örtliche Regelungen aus den Stadträumen niederlegen. Wir brauchen die Möglichkeit straßenbezogener und auch flächenhafter Höhenbeschränkungen für Fahrzeuge, so wie nach Straßenverkehrsordnung auch verkehrsberuhigte Bereiche oder Tempo-30-Zonen angeordnet werden können. Für sensible Stadtbereiche sollte es die Möglichkeit geben, die Einfahrt nur Feinmobilen 1 vorzubehalten. Solche sensiblen Bereiche können historische Altstädte, Wohngebiete mit geschlossener Blockrandbebauung, Klinik- und Kurzonen und ähnliche sein. Nur so kann die Freiheit der Menschen wiedergewonnen werden, den Stadtraum unbehindert wahrzunehmen, sich im Straßenraum sicher zu bewegen, sich im Straßenraum angenehm aufzuhalten und Orientierung zu finden. Kritische Größen Was sind sozialverträgliche Fahrzeughöhen? Denken wir an Erwachsene, so erscheint es als vernünftig, die Augenhöhe des 5 %-Perzentils weiblicher deutscher Erwachsener 2 , also 146 cm, als Maßstab zu nehmen, denn um das weibliche Geschlecht nicht strukturell zu benachteiligen, sollten auch Frauen mehrheitlich über Fahrzeuge hinweg blicken können. Geradezu radikal mag es erscheinen, die Perspektive von Kindern anzusprechen. Wo sie früher noch über Kühlerhauben hinwegsehen konnten, begegnen ihnen heute nur noch Autoräder. Was soll unbehindert gesehen werden können? Das Kleinkind auf dem gegenüberliegenden Gehweg? Der Hund? Die Erwachsene? Die Bordsteinkante? Hier ist definitorische Klarstellung angesagt, für die sich die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen Verdienste erwerben könnte. Welche Teile eines Fahrzeugs blockieren den Blick, zum Beispiel für Menschen auf Gehwegen? 1 Zur Definition und zu den fachlichen Grundlagen der Feinmobilität: www.feinmobilitaet.de 2 https: / / iba.online/ knowledge/ raeume-planen/ flachenplanung/ koerpermasse/ , abgerufen am 23.09.2023. Die Augenhöhe des 5 %-Perzentils in Deutschland lebender Erwachsener zwischen 18 und 65 Jahren gemäß DIN 33402-2 beträgt bei Frauen 143 cm. Für die Absatzhöhe werden nach DIN EN ISO 14738 weitere 3 cm hinzugerechnet. Bild 3: Hohe Fahrzeuge versperren Sichtbeziehungen im Straßenraum. © The Urban Idea 95 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES THEMA Die urbane Verkehrswende Kann man vom Höhenmaß der technischen Beschreibung ausgehen, wo doch Front und Heck in der Regel niedriger sind? Muss nicht das spezifische Seitenprofil mit berücksichtigt werden, denn jeder Abschnitt eines Fahrzeugs hat ja eine andere Höhe? Wenn man jedoch das Sichtfeld einer zu Fuß gehenden, schräg vorausblickenden Person in Bezug auf eine Reihe abgestellter Fahrzeuge betrachtet, dann kann von einer nahezu lückenlosen Sichtblockierung ausgegangen werden, was auch die Bilder belegen. Deshalb kann man vereinfachend sagen, dass die Fahrzeughöhe die Sichtblockierung bedingt und das Seitenprofil vernachlässigt werden kann. „Höhe“ handhabbar gemacht Der Faktor „Höhe“ muss zum Thema gemacht werden! Eine radikale Option wäre es, das Parken vor städtebaulich wertvollen Ensembles, gestalteten Grünanlagen oder Ladenzeilen generell auszuschließen, solange hohe Fahrzeuge einen beträchtlichen Anteil im bestehenden Fahrzeugmix darstellen. Eine situationsspezifische Möglichkeit ist die Anordnung einer Höhenbegrenzung beispielsweise auf 1,5 m per Verkehrszeichen 265 der Straßenverkehrsordnung: „Verbot für Fahrzeuge über 1,5 m“. Von Höhenbeschränkungen werden ja bisweilen bei öffentlichen Parkplätzen Gebrauch gemacht, um Wohnmobile auszuschließen. Einfacher wäre es, Fahrzeuge nach bestimmten Höhen-Kategorien vom Parken oder von einer Durchfahrt ausschließen zu können, doch eine reine Höhen-Klassifikation gibt es nicht. Die Initiative Feinmobilität 3 hat es unternommen, hundert Referenzfahrzeuge nach Höhe zu reihen und zu untersuchen, ob und welche Schwellenwerte für eine Einstufung nach mehr oder weniger verträglichen Höhen sich definieren lassen. Da es den mitwirkenden Institutionen und Experten letztlich auf die Klassifikation von Fahrzeugen nach Größe als gesamtheitlichem, stadträumlich relevantem Merk- 3 https: / / www.feinmobilitaet.de/ partner-der-feinmobilitätsinitiative mal ankam, verständigten sie sich darauf, Größe als „Raumnahme“ zu definieren, in deren Berechnung außer der Höhe auch die Länge und Breite eines Fahrzeugs einfließen. Mit dem Fachlichen Standard G-Klassifikation 4 (Bild 4) gibt es nun eine Methode, um Fahrzeuge nach objektiven Kriterien in sieben Größenklassen einzuteilen: XXS, XS, S, M, L, XL und XXL. Damit bietet sich Kommunen und Straßenverkehrsbehörden ein Handwerkszeug, um größendifferenzierte Infrastrukturbemessungen vorzunehmen und verkehrsrechtliche Regelungen zu treffen. Eine mögliche Anwendung sind nach G-Klassen gestaffelte Parkgebühren, eine andere sind Zufahrtsbeschränkungen für Fahrzeuge ab einer bestimmten Größenklasse. Fazit Heutige Fahrzeughöhen beeinträchtigen Lebensqualität und Sicherheit im Straßenraum. Der Faktor „Fahrzeughöhen“ muss in die politische Diskussion gebracht werden. Die durch hohe Fahrzeuge gebildeten neuen Stadtmauern können und sollten geschleift werden. Da die Gigantomanie bei der Fahrzeugwahl anhält und politisch protegiert wird, können Kommunen bereits handeln und Fahrzeuggrößen als Maßstab bei ihren Infrastrukturplanungen und Verkehrsregelungen heranziehen. 4 Fachlicher Standard zur Klassifikation von Bewegungsmitteln nach Größe (G-Klassen), Erste Ausgabe, 28. Juli 2023, hrsg. von der Universität Kassel, Fachgebiet Verkehrsplanung und Verkehrssysteme, Kassel 2023 Bild 4: Fachlicher Standard G-Klassifikation © Initiative Feinmobilität, Inmotion, Bergamont, Stellantis (Opel/ Fiat), Volkswagen, Renault, Ford Dipl.-Ing., Mag. rer. publ. Konrad Otto-Zimmermann The Urban Idea GmbH Kontakt: info@theurbanidea.com AUTOR 96 4 · 2023 TR ANSFORMING CITIES PRODUKTE + LÖSUNGEN Mobilität IMPRESSUM Transforming Cities erscheint im 8. Jahrgang Herausgeber Eberhard Buhl, M.A. Verlag Trialog Publishers Verlagsgesellschaft Eberhard Buhl | Christine Ziegler Schliffkopfstr. 22, D-72270 Baiersbronn-Buhlbach Tel. +49 7449 91386.36 · Fax +49 7449 91386.37 office@trialog.de · www.trialog.de Redaktionsleitung Dipl.-Ing. arch. Christine Ziegler VDI (verantwortlich) Tel: +49 7449 91386.43 Fax: +49 7449 91386.37 christine.ziegler@transforming-cities.de Anzeigen Tel. +49 7449 91386.46 Fax +49 7449 91386.37 anzeigen@trialog.de Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 8 vom 01.01.2023 Vertrieb und Abonnentenservice Tel. +49 7449 91386.39 Fax +49 7449 91386.37 vertrieb@trialog.de Erscheinungsweise Viermal im Jahr Bezugsbedingungen Die Bestellung des Abonnements gilt zunächst für die Dauer des vereinbarten Zeitraumes (Vertragsdauer). Eine Kündigung des Abonnementvertrages ist zum Ende des Berechnungszeitraumes schriftlich möglich. Erfolgt die Kündigung nicht rechtzeitig, verlängert sich der Vertrag und kann dann zum Ende des neuen Berechnungszeitraumes schriftlich gekündigt werden. Bei Nichtlieferung ohne Verschulden des Verlages, bei Arbeitskampf oder in Fällen höherer Gewalt besteht kein Entschädigungsanspruch. Zustellmängel sind dem Verlag unverzüglich zu melden. Es ist untersagt, die Inhalte digital zu vervielfältigen oder an Dritte weiterzugeben, sofern nicht ausdrücklich vereinbart. Bezugsgebühren JahresAbo Plus - Inland (Print+ePaper+Archiv): 4 x gedruckte Ausgabe + elektronische Web-Ausgabe + Zugang zu allen bisher erschienenen Ausgaben im elektronischen Archiv zum Jahresbezugspreis von EUR 172,- (inkl. MwSt., zzgl. 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Eine Publikation der Trialog Publishers Verlagsgesellschaft, Baiersbronn-Buhlbach ISSN 2366-7281 (print) www.trialog.de/ agb Die ikonische Skyline von Lower Manhattan und die Brooklyn Bridge im Hintergrund, absolvierte das elektrische Flugtaxi Volocopter 2X bemannt, stabil, leise und reibungslos seinen Testflug am East River. Das Multikopter-Design von Volocopter eignet sich besonders für Flüge in Städten, erzeugt keine Emissionen im Flug und nur eine sehr geringe Lärmbelästigung, die in einer turbulenten Metropole wie NYC kaum zu hören ist. Im Rahmen der Veranstaltung hat die Stadt New York ihre Vision für die Zukunft des Hubschrauberlandeplatzes in Downtown Manhattan vorgestellt, die darauf abzielt, Emissionen und Lärmbelästigung zu reduzieren und die Lebensqualität der Anwohner zu verbessern. Auf Hubschrauberlandeplätzen wie dem DMH sollen künftig auch eVTOL-Fluggeräte starten können. Auch New York plant, durch zusätzliche Mobilitätsangebote die Verkehrsüberlastung zu verringern und gleichzeitig den Transportanforderungen einer der verkehrsreichsten Städte der Welt gerecht zu werden. DMH ist ein bekannter Verkehrsknotenpunkt für Reisende, die einen Flug zu den benachbarten Flughäfen benötigen, oder für touristische Flüge über die Skyline von New York. „Die Adams-Administration nimmt eine Führungsrolle bei der Förderung technologischer Innovation und wirtschaftlichen Wachstums bei gleichzeitiger Verbesserung der Lebensqualität ein“, sagte Andrew Kimball, Präsident und CEO der New York City Economic Development Corporation (NYCEDC). „Die neue Strategie der EDC für den Downtown Manhattan Heliport spiegelt diese Prioritäten wider. Es macht das Board gleichzeitig zu einem Branchenführer bei der Einführung von eVTOLs - einer leiseren und umweltfreundlicheren Hubschrauberalternative - und erleichtert die Seefracht auf der lezten Meile durch E-Bike-Lieferungen, die Lastwagen von den Straßen nehmen.“ „Volocopter hat bei der Entwicklung eines elektrischen Flugtaxis, das sicher und leise genug ist, um in der Stadt zu fliegen, immer an einen Flug in New York City gedacht“, sagt Christian Bauer, Geschäftsführer von Volocopter. „Unser Flug in NYC beweist, dass wir alles haben, was nötig ist, um diese Technologie in dieser Stadt umzusetzen. Die heutige Veranstaltung war eine großartige Gelegenheit zu zeigen, wie elektrische Flugtaxis die Lebensqualität in der Stadt, die niemals schläft, verbessern können. Wir sind zuversichtlich, dass dies die Türen für den kommerziellen Betrieb von Flugtaxis in weiteren US-Städten öffnen wird, und wir freuen uns darauf, bald wieder im Big Apple zu fliegen.“ Testflug: Volocopter fliegt über New York City Auf Einladung des Bürgermeisters von New York City, Eric Adams, und der New York City Economic Development Corporation (NYCEDC) nahm der Volocopter 2X an der weltweit größten und ersten öffentlichen Veranstaltung teil, bei der mehrere elektrische Senkrechtstarter (eVTOL) in einer Innenstadt präsentiert wurden. Volocopter hat damit erfolgreich und sicher Flüge im Herzen von zwei der hektischsten Metropolen der Welt, NYC und Singapur, durchgeführt. Der erfolgreiche Testflug ist ein weiterer Beleg für das 2024 geplante Unternehmensziel sicheres leise und nachhaltige Urban Air Mobility (UAM) in Megastädte weltweit zu bringen. Volocopter 2X auf dem Downtown Manhattan Heliport in New York City. © Volocopter GmbH Volocopter GmbH Zeiloch 20 76646 Bruchsal E-Mail: info@volocopter.com KONTAKT Kommunale Wärmewende Am 4. März 2024 erscheint die nächste Ausgabe von Transforming Cities mit dem Themenschwerpunkt  Energie sparen  Erneuerbare Energien  Effiziente Energiesysteme  Nah- und Fernwärme  Abwärmenutzung  Wärmemanagement im Quartier  Geothermie  Solarthermie auf Mehrfamilienhäusern  Großwärmepumpen  Speichertechnik  Messen · Steuern · Regeln