eJournals Tribologie und Schmierungstechnik 65/5

Tribologie und Schmierungstechnik
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0724-3472
2941-0908
expert verlag Tübingen
1001
2018
655 Jungk

Die Rolle von Analogien und Exaptation in der Wissenschaftsgeschichte: Coulomb – Hertz – Griffiths – JKR

1001
2018
Elena Popova
Valentin Popov
Große Entdeckungen werden von nachfolgenden Generationen oft als unerwartete Einsichten brillanter Wissenschaftler wahrgenommen. Historische Untersuchungen zeigen jedoch, dass der eigentliche Mechanismus zur Schaffung neuer Theorien und Paradigmen häufig der Transfer von Wissen aus einem Forschungsbereich in einen anderen ist. Solche Übertragungsakte machten den Militäringenieur Coulomb zum Begründer der Theorie der elektrischen Wechselwirkung, den Professor der Himmelsmechanik Poisson zum Begründer der Elektrostatik, und den Entdecker der elektromagnetischen Wellen Hertz zum Begründer der Kontaktmechanik. In diesem Artikel verfolgen wir einen solchen Wissenstransfer in der Geschichte der Elastizitätstheorie und der Kontaktmechanik einerseits und der Elektrostatik andererseits. Teilnehmer an diesem historischen Prozess sind Coulomb, Poisson, Hertz, Inglis, Griffiths und schließlich Johnson, Kendall und Roberts
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ne ersichtliche bisherige Entwicklung führt. Er illustriert diesen Mechanismus mit vielen historischen Beispielen. Eines der berühmtesten Beispiele ist Charles Augustin de Coulomb. Coulomb war ein erfolgreicher Militäringenieur. Seine erste wissenschaftliche Arbeit war ein Memoir von 1773 [3] (englische Übersetzung, siehe [4]). Diese Arbeit widmet sich den beiden Hauptbereichen seiner Forschung: der Reibung und der Festigkeit von Materialien. Seine nachfolgenden Arbeiten bis 1785 waren der Entwicklung dieser beiden Bereiche gewidmet. 1784 veröffentlichte Coulomb eine Abhandlung zum Thema „Theoretische und experimentelle Studie über Torsion und Elastizität von Metalldrähten“ [6], doch im folgenden Jahr, 1985, widmete er sich „plötzlich“ der Erforschung von Elektrostatik, Magnetismus und viskosen Kräften in Flüssigkeiten [7]. Es ist bekannt, dass Coulomb für diese Studien seine berühmte Torsionswaage verwendet hat, die in allen Physikbüchern in Verbindung mit dem von ihm entdeckten Gesetz der Wechselwirkung von Punktladungen beschrie- Aus Wissenschaft und Forschung 38 Tribologie + Schmierungstechnik · 65. Jahrgang · 5/ 2018 1 Einführung Veröffentlichte wissenschaftliche Arbeiten oder Beschreibungen wissenschaftlicher Forschung geben selten den tatsächlichen Denkverlauf und die wahre Abfolge von Entdeckungen wieder. Gerald Holton bemerkt: „Viele dieser Publikationen sind Rekonstruktionen, die eine allmähliche Entwicklung mit Hilfe einfacher Beziehungen zwischen Experiment, Theorie und traditionellen Konzepten simulieren“ ([1], S. 2). Es ist interessant zu verfolgen, was historische Studien über den wahren Mechanismus der Entdeckung aufzeigen. Rozov stellt fest, [2], dass der Transfer von Wissen aus einem Forschungsbereich zu einem anderen oft zu einem „plötzlichem“ Durchbruch in diesem Bereich oh- Die Rolle von Analogien und Exaptation in der Wissenschaftsgeschichte: Coulomb - Hertz - Griffiths - JKR E. Popova, V. L. Popov* Große Entdeckungen werden von nachfolgenden Generationen oft als unerwartete Einsichten brillanter Wissenschaftler wahrgenommen. Historische Untersuchungen zeigen jedoch, dass der eigentliche Mechanismus zur Schaffung neuer Theorien und Paradigmen häufig der Transfer von Wissen aus einem Forschungsbereich in einen anderen ist. Solche Übertragungsakte machten den Militäringenieur Coulomb zum Begründer der Theorie der elektrischen Wechselwirkung, den Professor der Himmelsmechanik Poisson zum Begründer der Elektrostatik, und den Entdecker der elektromagnetischen Wellen Hertz zum Begründer der Kontaktmechanik. In diesem Artikel verfolgen wir einen solchen Wissenstransfer in der Geschichte der Elastizitätstheorie und der Kontaktmechanik einerseits und der Elektrostatik andererseits. Teilnehmer an diesem historischen Prozess sind Coulomb, Poisson, Hertz, Inglis, Griffiths und schließlich Johnson, Kendall und Roberts. Schlüsselwörter Kontakt, Elektrostatik, Gravitation, Potentialtheorie, Elastizität, Riss, Adhäsion, Randelemente-Methode Great discoveries are often perceived by future generations as unexpected insights from brilliant scientists. However, historical research shows that the real mechanism for creating new theories and paradigms is often the transfer of knowledge from one field of research to another. Such acts of transfer made the military engineer Coulomb to the founder of the theory of electrical interaction, the professor of celestial mechanics Poisson to the founder of electrostatics, and the discoverer of electromagnetic waves, Hertz, to the founder of contact mechanics. In this article, we illustrate such a transfer of knowledge in the history of the theory of elasticity and the mechanics of contact interactions on the one hand and electrostatics on the other. Participants in this historical process are Coulomb, Poisson, Hertz, Inglis, Griffiths, and eventually Johnson, Kendall, and Roberts. Keywords Contact, Electrostatics, Gravitation, Potential Theory, Elasticity, Crack, Adhesion, Boundary Element Method Kurzfassung Abstract * Elena Popova, Prof. Dr. Valentin L. Popov Technische Universität Berlin, 10623 Berlin T+S_5_18.qxp_T+S_2018 28.08.18 13: 50 Seite 38 ben wird. Rozov erklärt diesen Wandel des Forschungsinteresses durch die Tatsache, dass Coulomb durch die Untersuchung der Torsionsgesetze von Drähten ein einzigartiges Gerät zur Messung von Kräften geschaffen hat. Später hat er sein Gerät nicht nur als Mittel zur Untersuchung der elastischen Eigenschaften von Drähten, sondern auch als ein Gerät zur Messung von Kräften (einschließlich elektrischer Kräften) „uminterpretiert“. Eines der berühmtesten Porträts von Coulomb, reproduziert in Bild 1, zeigt Coulomb zusammen mit seiner Torsionswaage. Dieses Porträt kann als Symbol seiner Tätigkeit angesehen werden, da es ein Objekt darstellt, das beide Gebiete seiner wissenschaftlichen Forschung vereint: die Mechanik der Materialien und die Theorie der Elektrizität. Diese beiden Linien seiner wissenschaftlichen Interessen blieben auch nach dem Tod Coulombs im ständigen Zusammenspiel und befruchteten sich gegenseitig. Dieser Artikel widmet sich einer kurzen historischen Übersicht dieses Zusammenspiels. Wir verfolgen den Transfer von Wissen und Methoden, die in der Theorie der statischen Elektrizität gewonnen wurden, auf die Theorie der Elastizität und Kontaktmechanik und zurück. 2 Die physikalische Grundlage der Analogie zwischen Gravitation, Elektrizität und Elastizität Die physikalische Voraussetzung für die wechselseitige Übertragung von Entdeckungen auf dem Gebiet der Elastizitätstheorie und Elektrostatik, die zwei Jahrhunderte dauerte, ist die Gemeinsamkeit grundlegender Lösungen in der Theorie der Elastizität und in der Theorie der Elektrostatik (oder auch in der Gravitationstheorie). Die konzentrierte Normalkraft F N , die am Koordinatenursprung auf einen elastischen Halbraum einwirkt, bewirkt eine normale Verschiebung [8] (1) wobei E * = E / (1-v 2 ), E ist das Elastizitätsmodul, v die Querkontraktionszahl, und r der Abstand zu dem Wirkungspunkt. Das elektrische Potential, das durch eine Punktladung Q im Abstand r erzeugt wird, ist gegeben durch [9] (2) wobei ε 0 die Vakuumpermittivität ist. Das Gravitationspotential einer Punktmasse ist gegeben durch (3) Die offensichtliche Ähnlichkeit der Gleichungen (1), (2) und (3) ist die physikalische Grundlage für die Gemeinsamkeit vieler Probleme in der Elektrostatik, der Gravitation und der Elastizitätstheorie (und der Kontaktmechanik). 3 Wie das von Coulomb entdeckte Gesetz zum „Gesetz von Coulomb“ wurde. Coulomb führte seine Forschungen auf dem Gebiet der Elektrostatik und des Magnetismus in den Jahren 1785- 1789 durch und veröffentlichte sie auch in dieser Zeit. Diese Arbeiten hatten keinen merklichen Einfluss auf die Entwicklung der Theorie der Elektrostatik, bis Poisson das Coulombsche Gesetz benutzte, um das Problem der Ladungsverteilung in einem System von elektrischen Leitern zu lösen. Poisson war ein Schüler von Laplace und Lagrange. Er absolvierte die Polytechnische Hochschule in Paris, erhielt also, wie Coulomb, eine Ingenieurausbildung. 1802 wurde er Professor an der Polytechnischen Hochschule. Seit 1808 arbeitete er als Astronom im Bureau des Longitudes. 1809 wurde er Professor für rationale Mechanik an der neu gegründeten Naturwissenschaftlichen Fakultät in Paris (Faculté des Sciences). Zu dieser Zeit beschäftigte er sich mit den Problemen der Himmelsmechanik. 1808 und 1809 überreichte er der Akademie der Wissenschaften drei wichtige „Memoirs“ über die Unregelmäßigkeit der Planetenbewegung. Er entwickelte die Potentialtheorie (die hauptsächlich von Laplace geprägt wurde) weiter und zeigte, dass die Laplace-Gleichung für das Gravitationsfeld nur in einem massenfreien Raum gültig ist. Er verallgemeinert die Laplace-Gleichung auf den allgemeinen Fall einer beliebigen Massenverteilung und formulierte so die Gleichung, die in der heutigen Zeit jeder Student als Poisson-Gleichung kennt. 1811 veröffentlichte Poisson mehrere Bücher über Mechanik [11], [12], aber im selben Jahr stellte er den ersten Teil seiner „Memoire“ mit dem Titel „Über die Verteilung von Elektrizität auf den Oberflächen von leitenden Körpern“ vor. In den folgenden Jahren arbeitete er parallel an den Problemen des Potentials von verteilten Massen und Ladungen. Der Grund für eine solche „Veränderung des Forschungsgebiets“ liegt auf der Hand: Die mathematische Äquivalenz von elektrischen und Gravitationskräften ermöglichte die Übertragung der seit Newton in der Gra- Aus Wissenschaft und Forschung 39 Tribologie + Schmierungstechnik · 65. Jahrgang · 5/ 2018 Bild 1: Porträt von Charles Augustin de Coulomb mit Torsionswaage (von Ippolit Lecomte) ! * 1 N z F u E r π = , ! ! ! ! ! ! 0 ! ! ! ! 0 0 0 0 0 ! ! ! ! 0 ! ! ! ! ! ! ! ! 0 1 4 Qr ϕ πε = − , ! ! ! ! ! ! 0 ! ! ! ! ! 0 0 0 0 0 ! ! ! ! ! 0 ! ! ! ! ! ! ! ! ! ( ) M r G r Φ = − . ! ! ! ! ! ! 0 ! ! ! ! 0 0 0 0 0 ! ! ! ! 0 ! ! ! ! ! ! ! T+S_5_18.qxp_T+S_2018 28.08.18 13: 50 Seite 39 5 Elektrostatik und Bruchtheorie: Inglis und Griffiths Hertz verwendete eine Lösung für das Potential eines geladenen Ellipsoids, um das Kontaktproblem zu lösen. Diese Lösung steht in engem Zusammenhang mit dem Problem der Spannungsverteilung in einem Medium mit einer elliptischen Kavität. Im Gegensatz zum Fall des Hertz-Kontaktproblems ist die Analogie in diesem Fall unvollständig, aber die zur Lösung des elektrostatischen Problems verwendete Methode kann leicht transformiert werden, um das entsprechende Problem der Elastizitätstheorie zu lösen. Das Problem der Spannungsverteilung in einem belasteten Medium mit elliptischer Kavität wurde 1913 von Inglis gelöst [16]. Obwohl Inglis die Lösungen aus dem Bereich der Elektrostatik nicht erwähnt, ähneln sein Ansatz und seine Notation in einzigartiger Weise der Lösung von Problemen aus dem Bereich der Elektrostatik. Insbesondere verwendet Inglis elliptische Koordinaten, die im Zusammenhang mit der Lösung des Problems eines geladenen Ellipsoids entwickelt wurden. Im Fall eines abgeplatteten Ellipsoids mit einer sehr kleinen Halbachse in der normalen Richtung zu den anderen beiden beschreibt diese Lösung einen elliptischen „Riss“ im elastischen Kontinuum. In der berühmten Arbeit über die Theorie der Risse aus dem Jahre 1921 griff Griffiths die Lösung von Inglis an und ergänzte sie mit der Idee einer Bilanz aus elastischer Energie, die in einem unter Spannung stehende elastischen Kontinuum gespeichert wird, und der Trennungsarbeit [17]. Nach Griffiths befindet sich die Spitze des Risses dann im Gleichgewicht, wenn die elastische Energie, die frei wird wenn sich der Riss über eine kurze Strecke ausbreitet, gleich der Arbeit ist, die nötig ist, um die Oberflächen zu trennen. Diese Idee war der Hauptbeitrag von Griffiths. Die mathematische Grundlage, die für die Realisierung dieser Idee notwendig ist, wurde bereits von Inglis geschaffen. 6 Adhäsiver Kontakt und Riss: von Griffiths zu Johnson, Kendall und Roberts 1971, fast ein Jahrhundert nach der Hertzschen Lösung des Kontaktproblems ohne Adhäsion, veröffentlichten Johnson, Kendall und Roberts (JKR) ihren berühmten Artikel über die Adhäsion von elastischen Körpern parabolischer Form [18]. In diesem Papier stellen Johnson, Kendall und Roberts fest, dass ihr Ansatz dem Ansatz von Griffith ähnelt. Sie schreiben: „...the approach followed in this analysis, is similar to that used by Griffith in his criterion for the propagation of a brittle crack.“ Es ist interessant, dass Johnson, Kendall und Roberts es nicht für notwendig hielten, den Artikel von Griffts zu zitieren, sondern erwähnen nur seinen Namen im Text. Die zentrale Idee des JKR-Artikels besteht darin, dass Aus Wissenschaft und Forschung 40 Tribologie + Schmierungstechnik · 65. Jahrgang · 5/ 2018 vitationstheorie entwickelten Methoden der Potentialtheorie auf das elektrostatische Feld. Man könnte sagen, dass Poisson in der Theorie der Elektrostatik nichts Neues gemacht hat: Er hat lediglich die in der Gravitationstheorie bereits existierenden Methoden auf ähnliche Probleme in der Elektrostatik angewendet. Diese „Kleinigkeit“ wurde jedoch die Geburtsstunde der modernen Elektrostatik. Es war die von Poissons bemerkte Analogie zwischen dem umgekehrten Quadratgesetz für Gravitations- und elektrische Kräfte, welche dazu führte, dass Coulombs Entdeckung zu einem „Coulomb-Gesetz“ wurde und die Grundlage für die nachfolgende Entwicklung der gesamten Elektrodynamik bildete. Man beachte, dass Poisson 1811-1815 auch an den Problemen der Elastizität der Membranen arbeitete. Dieses Problem ist auch mathematisch äquivalent zu den entsprechenden Problemen in der Gravitation und Elektrostatik. 4 Heinrich Hertz - Gründer der Kontaktmechanik Anscheinend hatte Poisson keine analytische Lösung für das Problem des Potentials der Oberfläche eines geladenen Ellipsoids. Nach unserer Kenntnis wurde dieses Problem erstmals 1840 von Prana [13] gelöst. Das Ergebnis von Prana wurde später von Hertz für seine berühmte Lösung des Problems des Kontakts zweier elastischer Körper mit gekrümmten Oberflächen verwendet [14]. Moderne Formulierungen der Kontaktmechanik beruhen auf der Lösung von Boussinesq, der als erster das Problem über die Einwirkung einer Punktkraft auf die Oberfläche eines elastischen Halbraums vollständig gelöst hat [15]. Diese Lösung wurde jedoch erst drei Jahre nach der Arbeit von Hertz veröffentlicht. In seiner berühmten Arbeit [14] geht Hertz von der Analogie des Kontaktproblems eines ellipsoiden Indenters und dem Problem des Potentials eines geladenen Ellipsoids aus, das direkt aus den Gleichungen der Elastizitätstheorie hervorgeht. Unter Berücksichtigung der gefundenen Analogie verwendet Hertz eine ihm als Fachmann in der Elektrizitätstheorie wohlbekannte Lösung des Problems des Potentials eines geladenen Ellipsoids und erhält dadurch eine Lösung des Kontaktproblems. Die Lösung des Kontaktproblems im Lehrbuch von Landau und Lifshitz [8] folgt genau der Logik von Hertz Originalwerk mit einem einzigen Unterschied: Die Analogie zum elektrostatischen Problem wird durch die Boussinesq- Lösung (1) gerechtfertigt. Wir sehen, dass der Hauptverdienst von Hertz darin bestand, dass er die Ähnlichkeit zwischen elastischen und elektrostatischen Problemen feststellte und die bekannte Lösung von der Theorie des elektrostatischen Potentials auf die elastische Region übertrug. Durch diese Analogie wurde Hertz, der vor allem für seine grundlegenden Arbeiten auf dem Gebiet der Elektrodynamik bekannt ist, „unerwartet“ zum Gründer der Kontaktmechanik. T+S_5_18.qxp_T+S_2018 28.08.18 13: 50 Seite 40 der adhäsive Kontakt äquivalent zum Griffith-Riss ist (mit dem einzigen Unterschied, dass der Riss normalerweise innerhalb und im „adhäsiven Kontakt“ außerhalb des „Kontaktgebietes“ ist). Johnson, Kendall und Roberts wandten dann das Prinzip der Energiebilanz in genau der gleichen Weise, wie dies Griffiths im Fall eines Risses getan hat, an. Der einzige Unterschied besteht in den Ausdrücken für die elastische Energie: Griffiths verwendete die von Inglis erhaltene Energie für einen „internen Crack“, und JRK die von Hertz und Boussinesque gefundenen Lösungen. Das Erkennen der Äquivalenz des Adhäsionskontaktproblems mit dem Problem des Griffith-Risses war der eigentliche wichtige Beitrag von JKR. Diese Idee führte zu einem schnellen Transfer der Methoden und Lösungen, die auf dem Gebiet der Bruchmechanik von Griffiths entwickelt wurden zur Theorie der Adhäsionskontakte (sowohl vom JKR als auch von anderen Forschern) [19]. Eigentlich hatte bereits Griffiths alle Bausteine, um das Problem des adhäsiven Kontakts zu lösen. Hätte es 1921 Bedarf an der Lösung dieses Problems gegeben, so hätte es wahrscheinlich bereits 1921 die „JKR-Lösung“ gegeben. Manchmal dauert es überraschend lange, die Äquivalenz von Problemen zu verstehen. Nicht ohne Grund sagte Goethe: „Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünket: Mit den Augen zu sehn, was vor den Augen dir lieget.“ Xenien aus dem Nachlaß [20] 7 Randelementemethode Die Hauptbemühungen der Mathematiker des 18. und 19. Jahrhunderts waren auf die Suche nach analytischen Methoden zur Lösung partieller Differentialgleichungen gerichtet, durch die viele physikalische Prozesse beschreiben werden. Die Situation änderte sich in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit der Entwicklung von Computern. Viele Methoden der numerischen Berechnung basieren auf der Diskretisierung der Differentialgleichungen. Diese Kategorie schließt auch die weit verbreitete Finite-Elemente-Methode (FEM) ein. In der FEM muss das gesamte Volumen des Systems diskretisiert werden, wobei die Generierung des diskreten Netzes zu den aufwendigsten Teilen der Methode gehört. Eine andere Art numerischer Methoden verwendet die fundamentale Lösung (1) (und ähnliche Lösungen für ein konkretes System) und vermeiden somit die Diskretisierung des Volumens. Nur die Grenze des zu modellierenden Volumens wird diskretisiert - daher der Name: Randelementemethode (boundary element method - BEM). Diese letzte Art von numerischen Methoden steht in direktem Zusammenhang mit dem Thema dieses Artikels. Die Randelementemethode kann aus mathematischer Sicht als direkte Erweiterung der Kontaktmechanik und Bruchmechanik auf das Gebiet der numerischen Methoden betrachtet werden. Es ist schwierig, den Geburtszeitpunkt der BEM genau zu nennen. Aber es ist zumindest möglich festzustellen, wann diese Bezeichnung eingeführt wurde. Nach [21] wurde der Begriff BEM in den frühen 1970er Jahren von Cruz, Rizzo und Brebbia in Umlauf gebracht, fast zeitgleich mit der Publikation der JKR-Theorie. Tatsächlich existierten bereits 1971 alle Teile der BEM-Formulierung für die adhäsiven Kontakte und sie wurden auch veröffentlicht. Es dauerte aber weitere 44 Jahre, bis die Ideen, die den Ideen von Griffiths-JKR in direkter Weise ähneln, auf adhäsive Kontakte angewandt wurden. Die erste Formulierung der „adhäsiven BEM“ wurde 2015 von Port und Popov [22] publiziert (sowie in der Folgearbeit von 2016 [23]) . Die auf der Energiebilanz basierende Formulierung wurde von den Autoren [24] im Jahr 2017 ausführlich getestet und experimentell verifiziert. Die weitere Entwicklung erfolgte sehr schnell (siehe z. B. [25]). Die Methode ist zur Zeit eine anerkannte Methode zur numerischen Simulation von adhäsiven Kontakten komplexer Form [26], [27]. 8 Sind Kelvin und Maxwell die Gründer der Analogie-Methode in der Wissenschaft? Es scheint, dass der Wissenstransfer von einem Wissensgebiet zu einem anderen auf dem Mechanismus der physikalischen Analogie basiert, der Fähigkeit, verschiedene Naturphänomene unter dem gleichen Blickwinkel zu sehen [28]. Historiker der Wissenschaft bezeichnen das 19. Jahrhundert als ein Jahrhundert von Verallgemeinerungen in der Geschichte der Entwicklung der Physik. Zum Beispiel schreibt Robert Purrington in dem Aufsatz „Physik im 19. Jahrhundert“, dass „die Verallgemeinerung aus dem Verständnis heraus entstanden ist, dass viele fundamentale Probleme der Physik (...) in einfachen mathematischen Begriffen formuliert werden können“. Diese Entdeckung gab Wissenschaftlern wie William Thomson und James Clark Maxwell ein mächtiges Werkzeug, das es ihnen (und anderen) ermöglichte, die Ergebnisse der Theorie von Wärme und Gasen auf den Elektromagnetismus anzuwenden ([29], S. 5). Ein markantes Beispiel für die bewusste Suche und Anwendung der Methode von physikalischen Analogien sind die Arbeiten von Thomson und Maxwell auf dem Gebiet des Elektromagnetismus und der Feldtheorie. Als Student veröffentlichte Thomson eine Reihe von Arbeiten über die Anwendung der Fourier-Methode auf Probleme der Wärmeausbreitung in Medien, wobei insbe- Aus Wissenschaft und Forschung 41 Tribologie + Schmierungstechnik · 65. Jahrgang · 5/ 2018 T+S_5_18.qxp_T+S_2018 28.08.18 13: 50 Seite 41 sik, die mit Beispielen aus der Elektrizität und den Magnetismus illustriert werden können, und noch wichtiger: eine unvollständige Analogie. Der Versuch, eine unvollständige Analogie zu nutzen, impliziert die Suche nach neuen Wegen der Forschung, und ist nach Maxwell das bildende Prinzip der Wissenschaft. Herausragende Beispiele für die zweite Art von physikalischer Analogie sind die mathematische Feldtheorie und Maxwells Elektromagnetismus-Theorie des Lichts. 9 Schlussfolgerung In diesem Artikel haben wir die Geschichte der parallelen Entwicklung der Theorie der Elastizität, Kontaktmechanik und Elektrostatik / Gravitation vorgestellt. Wir haben gezeigt, dass die physikalische Ähnlichkeit des Potentials im Fall von Gravitation und elektrischer Wechselwirkung mit der fundamentalen Lösung in der Theorie der Elastizität zur Übertragung von Methoden und Lösungen von der Gravitationstheorie zur Elektrostatik (Poisson) führte. Dies führte zur Entwicklung von Lösungen in der Elektrostatik, die anschließend in der Kontaktmechanik und der Elastizitätstheorie (Hertz, Inglis) eingesetzt wurden. Diese Lösungen wurden wiederum von Griffiths verwendet, um das Problem der Rissausbreitung zu lösen. Die Ideen von Griffiths wurden schließlich von Johnson, Kendall und Roberts nur leicht umformuliert und in der Theorie des adhäsiven Kontaktes angewendet. Ein solcher Transfer kann durch die gesamte Wissenschaftsgeschichte zurückverfolgt werden und zeigt, dass der Wissenstransfer in vielen Fällen eine der effektivsten Methoden ist, um neues Wissen und sogar neue Wissenschaftsbereiche zu schaffen. Es ist bemerkenswert, dass „Exaptation“ (d.h. die Verwendung einer Eigenschaft für eine Funktion, für die sie ursprünglich nicht geschaffen wurde) auch als Mechanismus für die Entstehung großer Innovationen in der Evolution anerkannt wird [31], [32]. Ein anderes Beispiel für den Wissenstransfer lässt sich am Beispiel von Coulomb nachvollziehen. Coulomb ist durch zwei „Coulombsche Gesetze“ bekannt - das Gesetz der trockenen Reibung und das Gesetz der Wechselwirkung elektrischer Ladungen. Wie wir in dieser Arbeit gezeigt haben, hat Coulomb nicht nur einen entscheidenden Beitrag zur Elektrizitätslehre geleistet, sondern auch (ohne dies zu wissen oder vorausschauen zu können) zu der Theorie der Elastizität und Kontaktmechanik der nächsten zwei Jahrhunderte. Aber auch Coulombs Arbeit über Reibung [33] und die nachfolgende Entwicklung seiner Ideen ist ein faszinierendes Beispiel für den Transfer von Ideen und Methoden: So ist Coulombs Darstellung der physikalischen Natur der Reibung, die später in das Prandl-Tomlinson-Modell und ähnliche Modelle [34] umgesetzt wurde, jetzt eines der am häufigsten verwendeten Konzepte in der Theorie der Plastizität und Nanotribologie. Aus Wissenschaft und Forschung 42 Tribologie + Schmierungstechnik · 65. Jahrgang · 5/ 2018 sondere auf die Analogie zwischen den Gesetzen der Wärme- und Stromausbreitung Bezug genommen wurde. Bei der Lektüre von Faradays Arbeiten wies er auch darauf hin, dass Faradays Ergebnisse zur elektrostatischen Induktion in der Theorie der elastischen Körper verwendet werden können ([29], S. 59). Die Titel seiner Arbeiten der vierziger Jahre sprechen für sich, zum Beispiel „Über die mechanische Darstellung elektrischer, magnetischer und galvanischer Kräfte“ (1847), Hinweise zur Hydrodynamik (1848), Hinweise zur Integration des Gleichgewichtsgleichgewichts eines elastischen Festkörpers (1848), „Zur Theorie der elektromagnetischen Induktion“ (1848), „Hinweise zur Hydrodynamik: Zur Viskosität von Flüssigkeiten in Bewegung“ (1849). Zu dieser Zeit arbeitete Thomson aktiv mit Stokes zusammen, der sich hauptsächlich mit Problemen der Hydrodynamik und Elastizität befasste. Thomson verwendete die mathematischen Ergebnisse von Stokes in Studien zur Theorie von Wärme und Elektromagnetismus. „Sein Ziel“, schreibt Purrington, „war die Schaffung einer komplexen verallgemeinernden dynamischen Theorie, und der Weg zu dieser Theorie lag in der scheinbaren Ähnlichkeit der mathematischen Strukturen der Theorien von Wärme, Elektrizität, Magnetismus, Licht und elastischen Eigenschaften von Festkörpern“ ([29], S. 61). Mit der Analogie-Methode kam Thomson zu dem Schluss, dass die Ausbreitung elektrischer, magnetischer Kräfte und Wellen in elastischen Festkörpern einheitlich ist. Maxwell, der unter dem großen Einfluss von Thomson stand, nannte diese Methode des Denkens in Analogie „Methode der physikalischen Analogie“ ([29], S. 61). Maxwell war nicht nur ein bemerkenswerter Wissenschaftler, sondern auch ein ebenso bemerkenswerter Wissenschaftstheoretiker. Nach der Bemerkung von Joseph Turner, der 1955 den Artikel „Maxwell über die Methode der physikalischen Analogie“ veröffentlichte, war Maxwell sowohl an allgemeinen philosophischen Problemen interessiert als auch an speziellen Problemen seines eigenen Beitrags zur Physik, einschließlich der Methode physikalischer Analogien ([30], Seite 226). Maxwell hat keine besondere Arbeit zur Philosophie der Wissenschaft geschrieben, aber seine Ideen über die Mechanismen der wissenschaftlichen Erkenntnis durchdringen seine wissenschaftlichen und biographischen Schriften und Briefe. So spricht Maxwell in dem „Appell an die mathematische und physikalische Abteilung der britischen Wissenschaftsgemeinschaft am 15. September 1870“ nicht nur über die Natur der physikalischen Analogie, sondern macht auch Kommentare über die Verwendung dieser Methode, die, seiner Meinung nach, „nicht nur ein legitimes Produkt der Wissenschaft ist, aber auch wiederum in der Lage ist, Wissenschaft zu erzeugen“ ([30], S. 234). Maxwell spricht von zwei Arten der Verwendung von physikalischen Analogien in der wissenschaftlichen Forschung: der Transfer von Lösungen von einem Problem zum anderen Bereich der Phy- T+S_5_18.qxp_T+S_2018 28.08.18 13: 50 Seite 42 Danksagung Die Autoren danken M. Popov, E. Willert, A. Filippov, I. Buyanovsky, J. Barber und J. Benad für wertvolle Kommentare. Literatur [1] Holton, Gerald. Themata, Zur Ideengeschichte der Physik, Friedr. Vieweg & Sohn, Braunschweig/ Wiesbaden, 1984, 188 р. [2] Розов, М.А. Пути научных открытий. (К критике историко-научной концепции Т.Куна), Вопросы философии, 1981, №8, С. 138-147. ([2] Rozov, M.A., Wege der wissenschaftlichen Entdeckungen. 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