Tribologie und Schmierungstechnik
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In Memoriam Evert Muijderman (1931 – 2022)
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Nachruf 41 Tribologie + Schmierungstechnik · 70. Jahrgang · 1/ 2023 In seiner Biografie schreibt Evert: „Wenn ich manchmal gefragt werde, was ich so bei Philips gemacht habe, sage ich oft: Deine Speicherplatte, die Festplatte in deinem PC, aber auch in allen anderen PCs auf der ganzen Welt, läuft auf Lager, die ich erfunden habe.“ 1 . Am 14. Dezember 2022 ist Evert Muijderman aus Geldrop verstorben. Er war 32 Jahre lang Gruppenleiter am Philips Physiklabor (NatLab), 17 Jahre lang Teilzeitprofessor für Maschinenelemente und Tribologie an der TU Delft und acht Jahre lang Teilzeitprofessor für Tribologie an der TU Eindhoven. Evert Muijderman wurde am 3. Februar 1931 in Hedel, an der Maas, geboren. Seine Familie und Verwandten nannten ihn „Eep“. Für seine Kollegen war er Evert. Seine Erfahrungen als Schüler im Zweiten Weltkrieg prägten sein Leben und bewegten ihn dazu, später Pazifist zu werden. Sein Elternhaus lag in der Nähe der Brücke über die Maas. Am 17. September 1944 begann die Schlacht um Arnheim, die auch als Operation Market Garden bekannt ist. Die Alliierten bombardierten die Brücke und auch Hedel, die Familie Muijderman flüchtete. Das Haus der Familie wurde vollständig zerstört. Nach wochenlanger Umherwanderung fand die Familie in der Nähe, in der kleinen Kirche von Hedikhuizen, eine Unterkunft. Zusammen mit anderen fühlten sich 42 Vertriebene im Fuß des Kirchturms wegen der dicken Mauern sicher. Um die Alliierten davon abzuschrecken, hohe Gebäude als Beobachtungsposten zu nutzen, hängten die deutschen Soldaten schwere Bomben an Fassaden und Türme. Zwei solcher Bomben hingen auch an der Turmspitze von Hedikhuizen. Evert erkannte, dass das gesamte Gebäude, einschließlich des Turms, in die Luft gesprengt werden könnte und schaffte es, alle Menschen zu evakuieren. Gerade noch rechtzeitig, siehe Bild 1. Andernorts ging dies völlig schief. So explodierten beispielsweise in der Nacht vom 4. auf den 5. November Bomben im Rathaus von Heusden und töteten 134 Menschen. Während des Krieges war die Familie ständig auf der Flucht und kehrte schließlich in ein anderes Haus in Hedel zurück. Während des Krieges verpasste Evert einen Teil seiner Ausbildung, um ab 1945 die HBS 2 in Zaltbommel zu besuchen. Im Jahr 1949 ging er an die TH Delft, wo er Maschinenbau studierte. Im Jahr 1954 absolvierte er ein Praktikum in der Philips-Garage, wo sein Mentor ihn mit dem NatLab bekannt machte. Das hat einen sehr tiefen Eindruck hinterlassen. Er machte 1955 seinen Abschluss in Fahrzeugtechnik bei Professor Van Eldik Thieme. Evert hatte den Militärdienst in Frage gestellt, fühlte sich dann aber irgendwie verpflichtet, ihn zu leisten. Er fand das NatLab faszinierend und wollte dort und nur dort arbeiten. Maschinenbauingenieure arbeiteten bei Philips nur in der Betriebsmechanisierung. Dank seiner Beharrlichkeit durfte Evert ab 1956 im NatLab arbeiten, ab 1958 in Vollzeit. Sein erster Chef, Herre Rinia, schlug ihm vor, zwischen drei möglichen Forschungsprojekten zu wählen. Es wurde die Studie eines Prinzips für ein Axiallager. Zu diesem Zeitpunkt gab es praktisch kein Wissen, also erfand Evert alles selbst 3 . Auch im experimentellen Bereich. Die Anwendung erfolgte im Bereich der Axiallager in Konsumgütern, wie z. B. Plattenspielern. Das gleiche Problem Mitteilungen der GfT In Memoriam Evert Muijderman (1931 - 2022) 1 Muijderman, E.A., 2022, Von Blankensteijn nach Helze. Ein Weg des Krieges und der Spirallager, auf Niederländisch, im Selbstverlag, S. 178. Ausgehend von der Anzahl der von 2002 bis 2020 produzierten Festplatten, beläuft sich die Anzahl der montierten Spiralrillenlager auf etwa 17,7 Milliarden. 2 HBS steht für „Höhere Bürgerschule“, eine Niederländische Form der Sekundarschule, die für die Universität ausbildet (1863-1974). 3 Evert studierte das posthum erschienene Buch Gümbel, L., und Everling, E., Reibung und Schmierung im Maschinenbau, M. Krayn Verlag, Berlin W, 1925, Kapitel C30, „Die Welle als Fördermittel“, S. 78-80, und C31, „Förderung durch Schrauben- und Spiralnuten“, S. 80-82, und merkte später immer wieder an, dass dort bereits die ersten Ideen zum Spiralrillenlager beschrieben waren. Bild 1: Der gesprengte Turm der NH-Kirche in Hedikhuizen, 5. November 1944 unikationswissenhe Sprachwissenent \ Altphilologie Kommunikationsistorische Sprachanagement \ Alttik \ Bauwesen \ schaft \ Tourismus ie \ Kulturwissenichte \ Anglistik \ \ BWL \ Wirtschaft Nachruf 42 Tribologie + Schmierungstechnik · 70. Jahrgang · 1/ 2023 trat im Axiallager der Ultrazentrifuge (Bild 2) auf, einem Gerät zur Anreicherung von Uran, das für Kernkraftwerke oder Kernwaffen benötigt wird. Es handelte sich um äußerst wichtige Forschung, es war die Zeit des Kalten Krieges. Die Niederlande waren im Rennen, um eine solche Fabrik zu bauen, und dieses Projekt ist buchstäblich am Lager festgelaufen. Die Verenigde Machinefabrieken Stork-Werkspoor (VMF) führte das Projekt durch, und Jaap Kistemaker war Projektleiter. Rinia saß zusammen mit Kistemaker im Unterstützungsausschuss für dieses Projekt und wusste um diese Probleme. Die bisherigen Lösungen hatten keine Tragfähigkeit, was zu einem hohen Verschleiß und zu Ausfällen führte. Bei seinen Recherchen in der Bibliothek des NatLabs fiel Evert plötzlich ein, dass er einen englischen Artikel über luftgeschmierte hydrodynamische Lager gelesen hatte, in dem eine Skizze eines Axiallagers mit einem sich wiederholenden Rillenmuster in der Oberfläche abgebildet war. Könnte das die Lösung sein? Sie bezog sich auf einen Bericht von Whipple (1949), der für die britische Atomenergiebehörde A.E.R.E. arbeitete, aber all dies war geheim. Diese Arbeit war und blieb nicht verfügbar und Evert musste seinen eigenen Weg gehen 4 . Nach Gefühl zeichnete er ein Rillenmuster, das die Nat- Lab-Werkstatt mit großer Präzision anfertigte. Beim ersten Versuch funktionierte das Lager hervorragend. Es wurde das spiral groove bearing (SGB, Spiralrillenlager) genannt. Rinia und Kistemaker kamen sofort, um zu sehen, wie das Lager im Labor funktionierte. Rinia schickte Evert gegen Ende 1958 zum Forschungslabor für physikalische Dynamik (FDO) der VMF-Stork, wo unter der Leitung von Kistemaker an der Ultrazentrifuge gearbeitet wurde. Ein Jahr zuvor hatte sich das Projektteam für ein ‚hydrosphere‘ Axialgleitlager 5 entschieden (Bild 2, Kugel 3 ruht auf Lagerschale 4). Dort diskutiert Evert regelmäßig über die Fortschritte seiner Untersuchungen an Lagern mit Rillenmustern. Er bringt theoretisches Wissen ein, und Hans Baron von Werkspoor-Stork beschäftigt sich mit Herstellungsmethoden. Beides ist unverzichtbar. Nach einigen Jahren stellt er fest, dass die Entourage sehr geheimnisvoll wird. Das Ultrazentrifugenprojekt ist dem Verteidigungsministerium unterstellt. Evert muss eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben, weigert sich aber beharrlich. Im Jahr 1964 bricht er alle Kontakte ab. Inzwischen (1963) war Evert Teamleiter der Gruppe Mechanik und Tribologie geworden. Das tägliche Management beanspruchte seine Zeit sehr, was ihn aber nicht daran hinderte, zusammen mit seinen Mitarbeitern auch selbst weiter am Spiralrillenlager zu arbeiten. Seit 1972 gehört der pakistanische Metallurge Abdul Qadeer Khan, allgemein als „Dr. Khan“ bezeichnet, zur FDO 6 . In der zweiten Hälfte der 70er Jahre suchte er den Kontakt zu Evert. Über das, was zu erahnen ist. Evert erhält auch mysteriöse Pakete, die er einem anderen Professor überbringen soll, was er aber nicht tut. Evert antwortet nicht und meldet dies alles der Philips-Geschäftsführung. Danach stellt er fest, dass sein Schreibtisch mehrmals durchwühlt wurde. Warum das getan wurde, wurde nie abschließend geklärt. Es gibt eine BVD (AIVD) 7 Dossier über Evert, aber er erhält keine Einsicht, auch nicht nach 40 Jahren 8 . Evert hat sich seit den 60er Jahren dafür eingesetzt, das Spiralrillenlager zu einem großen Erfolg zu machen. Er promovierte darüber 1964 „cum Laude“ bei Harmen Blok in Delft. Es gibt dafür viele Anwendungen, in grober chronologischer Reihenfolge (a) Ultrazentrifugen, 4 Whipple, R.T.P., 1949, „Herring-bone pattern thrust bearing“, PG(T) Report, No. 32, Restricted, 8 pp. Freigegeben am 20. Januar 2015 von der Bibliothek des STFC Rutherford Appleton Laboratory, Harwell Oxford, nach vielen Jahren der Bemühungen von HvL. 5 Das schien das Ei des Kolumbus zu sein, aber bei genauer Analyse stellte sich heraus, dass es praktisch keine Tragfähigkeit hat und damit völlig untauglich ist. 6 A.Q. Khan wird oft als der „Vater der pakistanischen Atombombe“ bezeichnet. 7 BVD ist der niederländische Inlandssicherheitsdienst, AIVD sein Nachfolger, der Allgemeine Nachrichten- und Sicherheitsdienst. 8 Siehe Knip, K., „Tücke im Natlab“, auf Niederländisch, NRC, 6. November 2010. Bild. 2: Patent NL 14093 für die Ultrazentrifuge, eingereicht am 27. Dezember 1957 Nachruf 43 Tribologie + Schmierungstechnik · 70. Jahrgang · 1/ 2023 (b) Videokassettenrekorder, (c) Röntgenröhren (Bild 3), (d) Laserscanner, (e) Freikolbenkompressoren (für Kühlanlagen), (f) Hochdruck-Kompressordichtungen (SGGS) und (g) Festplattenlaufwerke (HDD). Fast alle diese Anträge waren oder sind sehr erfolgreich. Im Jahr 1971 wurde Evert zum Professor an der TH Delft ernannt. Seine Inauguration mit dem Titel „Über Lager und Armeen“ erregte wegen seiner pazifistischen Ansichten großes Aufsehen 9 . Im Jahr 1988 trat er von der (heutigen) TU Delft zurück, weil die versprochene Personalaufstockung nicht stattfand. Im Jahr 1988 bot Philips ihm den Vorruhestand an. Jan Janssen von der TU/ e bat ihn, als Professor an die TU/ e, Fakultät Maschinenbau, zu kommen. Er war dort bis 1996 tätig und ging dann in den Ruhestand. Von 1964 bis 2005 hat Evert viel getan, um das Bewusstsein für das Thema Krieg und Frieden in den Niederlanden zu fördern. Schon 1964, nach einer intensiven Zeit der Reflexion, unter anderem in Gesprächen mit einem friedensorientierten Pastor, beschloss Evert sich als Kriegsdienstverweigerer anerkennen zu lassen. Er wandte sich an die Kommission für Kriegsdienstverweigerer, die ihn am 26. Juni 1964 anerkannte. Kurze Zeit später bat ihn der Pfarrer Mitglied dieser Kommission zu werden. Er war das mit Abstand jüngste Mitglied und nur von Juristen umgeben der einzige Maschinenbauingenieur. Er blieb Mitglied bis 2005, als die Kommission aufgrund der Aussetzung der Wehrpflicht kaum noch Arbeit hatte. Von 1978 bis 1990 war Evert niederländisches Mitglied des Pugwash-Komitees (einer internationalen Vereinigung von Wissenschaftlern, die 1957 von einer Reihe von Nobelpreisträgern gegründet wurde). Er hielt viele Vorträge über (nukleare) Rüstung in allen möglichen Zusammenhängen und sprach darüber im Radio, Fernsehen und in Zeitungen. Er war auch einer der Gründer der Stiftung Historisches Museum Hedel und später Mitglied, Finanzverwalter und Ehrenmitglied. In Deutschland war Evert ein gern gesehener und hoch angesehener Gastdozent an der Technischen Akademie in Esslingen (TAE, 1982-2002). Auf Anfrage hat er viele Branchen bei der Anwendung des SGBs beraten. Schließlich war er Mitglied der Tribologie-Abteilung des Niederländischen Bunds für Materialwissenschaften (1988-1996). Im Jahr 2020 erhielt Evert das Georg Vogelpohl Ehrenzeichen 2020 von der Gesellschaft für Tribologie (GfT). Das ist die höchste deutsche Auszeichnung für verdienstvolle Arbeiten in der Forschung, Entwicklung, Anwendung oder Verbreitung tribologischer Erkenntnisse 10,11 . Harry van Leeuwen Geldrop, den 26. Januar 2023 9 Darin verbirgt sich ein Wortwitz. Bis in die 60er Jahre wurde im Niederländischen das Wort „leger“ (auf Deutsch: „Heer“ oder „Armee“) für „Lager“ verwendet - danach blieb der Begriff „Lager“ übrig. 10 Siehe auch https: / / www.gft-ev.de/ de/ preistraegerdes-georg-vogelpohl-ehrenzeichens-2020/ , gefunden am 14. Januar 2023. 11 Siehe auch https: / / www.youtube.com/ watch? v=ncFlvEkVfFA, gefunden am 19. Januar 2023. Bild 3: Die Philips MRC TM200 Röntgenröhre
