eJournals Vox Romanica 51/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1992
511 Kristol De Stefani

Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt

121
1992
Siegfried Heinimann
vox5110001
Der Zeiten Lauf Mit dem 51. Band übernehmen Ricarda Liver (Bern) und Peter Wunderli (Düsseldorf) auf Beschluß des vom Collegium Romanicum bestellten Kuratoriums die Redaktion der Vox Romanica von Gerold Hilty (Zürich). Ihm gehört unser herzlicher und aufrichtiger Dank dafür, daß er während fast dreißig Jahren die von Jakob Jud imd Arnald Steiger 1936 in einer äußerst schwierigen Situation begründete schweizerische romanistische Fachzeitschrift (cf. VRom. l [1936]: ls.) in aufopfernder Weise betreut und ihr internationales Ansehen trotz zahlreicher Schwierigkeiten nicht nur bewahrt, sondern weiter gemehrt hat. Dank dem großen Einsatz ihrer Begründer überstand die Vox Romanica die schwierige Zeit des 2. Weltkrieges unbeschadet. 1952 verstarb dann Jakob Jud (cf. VRom. 12 [1951/ 52]: 1x-x1x), und das gemeinsam begonnene Werk wurde von Arnald Steiger mit großer Energie und trotz vielfältiger Probleme allein weitergeführt. Nach seinem vorzeitigen Tod im Jahre 1963 war die Vox Romanica verwaist. Unter dem Dach des Collegium Romanicum übernahmen es Carl Theodor Gossen, Gerold Hilty und Toni Reinhard, das Überleben einer schweizerischen Romanistenzeitschrift sicherzustellen und sie im Rahmen ihrer ursprünglichen Konzeption fortzuführen natürlich unter Berücksichtigung der veränderten Forschungslage, die sich in fast drei Jahrzehnten ergeben hatte (cf. VRom. 23 [1964]: ls.). Das «Triumvirat» sollte allerdings nur kurze Zeit Bestand haben, denn bereits 1965 verstarb Toni Reinhard völlig unerwartet (cf. VRom. 24 [1965]: 1-4). Carl Theodor Gossen und Gerold Hilty teilten sich nun bis zu Gossens Tod im Jahre 1983 in die Redaktionsarbeit (cf. VRom. 41 (1982]: l-10). Von da an lastete die ganze Bürde wieder auf den Schultern eines einzigen Herausgebers - und dies für rund zehn Jahre. Gerold Hilty zieht sich von diesem mühsamen Geschäft zum Zeitpunkt seiner Emeritierung zurück; er kann mit Stolz auf 50 Jahrgänge der Vox Romanica zurückblicken, von denen mehr als die Hälfte ihr Erscheinen seiner sachkundigen Betreuung verdankt. Die neuen Herausgeber sind mit dem Schicksal der Vox Romanica schon seit langen Jahren in der einen oder anderen Form befaßt und kennen die Probleme eines hochspezialisierten Fachorgans mit äußerst begrenztem Leserkreis zur Genüge. Dies wird sie allerdings nicht hindern, die Konzeption der Gründer beizubehalten: Die Vox Romanica soll eine schweizerische romanistische Zeitschrift mit internationaler Öffnung (auch über Europa und die USA hinaus) bleiben. Natürlich gilt auch heute wieder, was schon 1963 gegolten hatte: Die Romanistik hat sich weiterentwickelt, ältere Arbeitsgebiete stehen nicht mehr XII Der Zeiten Lauf gleichermaßen im Vordergrund und neue Forschungsschwerpunkte machen ihnen den Rang streitig. Die traditionellen Arbeitsgebiete werden auch weiterhin ihren gesicherten Platz in der Vox Romanica haben, aber auch neuere Strömungen wie Soziolinguistik, Pragmatik, Diskursanalyse, «neue» Rhetorik usw. sollen in ihr zu Gehör kommen. Wir laden deshalb alle schweizerischen Romanisten in allen vier Landesteilen ein, die Vox Romanica als IHR Publikationsorgan par exellence zu betrachten ganz unabhängig von der von ihnen vertretenen Forschungsrichtung; wir würden uns über ein reiches Angebot an publikationswürdigen Manuskripten freuen. Nicht weniger willkommen sind uns aber auch gehaltvolle Arbeiten nicht aus der Schweiz stammender oder in der Schweiz wirkender Kollegen. Gleichzeitig bitten wir alle an unserer Zeitschrift Interessierten, sich aktiv an dem seit einiger Zeit überall und immer mehr verfallenden Rezensionswesen zu beteiligen und so zu einer möglichst umfassenden Information der Leser beizutragen. * Die wechselvolle Geschichte der Vox Romanica betrifft nicht nur ihre Herausgeber, sie macht auch vor dem Verlag, in der sie erscheint, nicht halt. Die Zeitschrift war ursprünglich eine Gemeinschaftsproduktion der Verlage Niehans und Droz (wobei Niehans die führende Rolle zukam). 1942 erfolgte dann der Wechsel zu Eugen Rentsch, wo die Zeitschrift allerdings nur bis 1946 verblieb. Von da an trug sie ständig das Impressum des A. Francke-Verlags, doch hat sich hinter diesem Etikett in den letzten Jahren einiges getan. Ende der 80er Jahre schritt der Inhaber zur sukzessiven Auflösung seines Unternehmens. Ein erster Teil (u.a. mit Francke München) wurde an die Verlagsgruppe G. Narr in Tübingen veräußert. Der in Bern domilizierte Rest (u.a. mit der Vox Romanica und den Romanica Helvetica) ging 1989 in den Besitz des K. G. Saur Verlags (München) über, der selbst zur Verlagsgruppe Reed International P.L.C. gehört. Die doppelte Nutzung des Namens Francke in Deutschland führte zu schwierigen juristischen Problemen, die im April 1992 dahingehend bereinigt wurden, daß Gunter Narr auch den bei Saur angesiedelten Teil des Francke-Verlags fast vollständig übernahm. Wir freuen uns, daß sowohl die Vox Romanica als auch die Romanica Helvetica nun wieder in einem romanistisch profilierten Verlag angesiedelt sind und hoffen auf eine lange und fruchtbare Zusammenarbeit. * Der vorliegende Band enthält einen allgemeinromanistischen Beitrag, eine italianistische Arbeit, eine kontrastive italienisch-französische Studie, eine Untersuchung zum Französischen und einen hispanistischen Artikel. Dazu kommt noch ein besonderer Schwerpunkt im Bereich des Mittelfranzösischen. Neben dem Der Zeiten Lauf XIII review article von Birgit Gerecke sind fünf Beiträge aufgenommen worden, die auf dem 7. Internationalen Kolloquium über das Mittelfranzösische (Gent, 16./ 17. Mai 1991) präsentiert wurden; es handelt sich um Arbeiten von P. Wunderli, P. van Reenen/ Lene Sch0sler, R. Martin, G. di Stefano und W. Zwanenburg. Die übrigen Kolloquiumsbeiträge werden in den Zeitschriften Travaux de Linguistique und Le Mayen Fraru; ais erscheinen. Wir hoffen, daß diese Zusammenarbeit auch in Zukunft bei Bedarf fortgesetzt werden kann und es erlauben wird, weitere Bände mit einem deutlichen thematischen Schwerpunkt zu realisieren. Ricarda Liver! Peter Wunderli Gerold Hilty: 30 Jahre im Dienste der Vox Romanica Lieber Gerold, gleich in den ersten sprachwissenschaftlichen Proseminaren am Zürcher Romanischen Seminar waren wir anfangs der 60er Jahre auf die Vox Romanica hingewiesen worden, die uns als Arbeitsinstrument rasch vertraut wurde. Wie groß war da unser Erstaunen, als eines Tages ein aufgeregter älterer Kommilitone in den kleinen Seminarraum kam, in welchem wir regelmäßig arbeiteten, und uns das Titelblatt des neuesten Faszikels zeigte: Ehrfürchtig und auch ein bißchen stolz lasen wir den Namen <unseres> Professors zwischen jenen von Carl Theodor Gossen und Toni Reinhardt. Der Tod Deines Lehrers Arnald Steiger im Jahre 1963 hatte die von ihm und Jakob Jud 1936 in schwierigen Zeiten gegründete Zeitschrift verwaist zurückgelassen. Wenige Semester zuvor auf den Zürcher Lehrstuhl berufen, hattest Du mit den beiden Kollegen - und mit der Unterstützung des Collegium Romanicum den Mut gehabt, die Herausforderung der Weiterführung der renommierten Zeitschrift in einer veränderten Publikationslandschaft anzunehmen. Wegen des allzu frühen Todes Reinhardts 1965 teiltest Du dann die Verantwortung für die Zeitschrift für fast 20 Jahre mit Deinem Basler Kollegen und Freund Gossen. Nach dessen Hinschied hast Du schließlich während eines vollen Jahrzehnts die ganze Arbeitslast weitgehend allein getragen - und hast dabei überdies in den letzten Jahren einen doppelten Verlegerwechsel mit all den damit verbundenen lästigen Umtrieben durchgestanden. Nun wünschtest Du, ab Band 50 die Verantwortung an ein jüngeres Redaktorenteam abzutreten. Zwar ungern nur, aber glücklich über die von Dir vorbereitete Nachfolge, ist die Herausgeberkommission Deinem Wunsche nachgekommen. So erscheint dieser Band der Vox, <Deiner> Vox, nach dreißig Jahren zum ersten Mal ohne Deinen Namen auf dem Frontispiz. Grund genug, nicht nur im Namen der ganzen nationalen und internationalen Romanistengemeinde ein herzliches Dankeschön zu sagen, sondern auch einen Augenblick auf die drei Jahrzehnte der von Dir entscheidend mitgeprägten Geschichte unserer Zeitschrift zurückzublicken. Rückblick und Ausblick nanntet ihr 1963 eine kurze, das erste von Euch betreute Faszikel einleitende Standortbestimmung (ls.). Diese betraf zunächst eine inhaltliche Öffnung. Standen 1936 noch Dialektologie und Sprachgeographie im Vordergrund, so beanspruchten daneben, meintet ihr, «heute in der schweizerischen Romanistik andere Gebiete, wie die Geschichte der romanischen Schriftsprachen und der mittelalterlichen Literaturen, breiten Raum. All diesen und XVI Gerold Hilty: 30 Jahre im Dienste der Vox Romanica weiteren Bereichen der romanischen Philologie» wollte die Vox Romanica dienen. Von den Ansprüchen her kompromißlos sollte die Zeitschrift «den Charakter eines von echtem Erkenntniswillen und strenger Zucht geprägten Forschungsorgans» bewahren. Schließlich ging es darum, wie es ihrer ursprünglichen Konzeption entsprach, «in erster Linie der schweizerischen Forschung zu dienen», aber das Gespräch auch mit «ausländischen Gelehrten» und «über die engen Landesgrenzen hinweg [zu] fördern». Wurden diese hochgesteckten Ziele erreicht? Die Vox Romanica hat sich, dies sei als erstes erwähnt, als Begegnungsort der Schweizer Romanisten sprachwissenschaftlicher und mediävistischer Ausrichtung konsolidiert, und dies nicht nur in den 60er Jahren (mit Beiträgen von Ricarda Liver, Heinrich Schmid, Konrad Huber, Alexi Decurtins, Carl Theodor Gossen, Siegfried Heinimann, Peter Wunderli, Hans-Erich Keller, Gustav Ineichen, Marc-Rene Jung u.a. allein 1964-65), sondern auch bis in die jüngste Gegenwart. Dies ist in einer Zeit der wuchernden Spezialpublikationen, mit eigenen Zeitschriften für einzelne Autoren, methodologische Ausrichtungen oder gar Lehrstühle, keineswegs mehr selbstverständlich. Einträchtig und ohne sich in enge sprachliche und/ oder thematische Korsette einzwängen zu müssen, stehen so Beiträge zu fast allen romanischen Sprachen und Literaturen nebeneinander, fügen sich Studien zu Ortsnamen, zur Sprachtypologie, zur historischen Lexikologie, zu den Troubadours und zum Libro de Apolonio, um nur einige Beispiele aus dem Band 48 zu nennen, zu einem faszinierenden Mosaik zusammen. Daß die Zeitschrift <großen Namen> genügend attraktiv ist, zeugt von ihrem guten Ruf und ihrer großen Vergangenheit; daß sie gleichzeitig auch jungen Forschern offen steht wie mancher junge Romanist (der Schreibende eingeschlossen) hat nicht von der Redaktion der Vox für seinen ersten Aufsatz wohlwollende Unterstützung, gepaart mit strenger, aber aufbauender und weiterführender Kritik erhalten! -, ist eine Investition in ihre Zukunft. Freilich hätte eine Zeitschrift von Schweizer Romanisten für Schweizer Romanisten in der heutigen wissenschaftlichen Welt keine Daseinsberechtigung mehr. Mögen auch die politischen Grenzen bestehen bleiben, jene der Wissenschaft sind längst gefallen. Daß die Vox Romanica nicht nur ihre Leser, sondern auch ihre Autoren in der ganzen Welt sucht, ist deshalb selbstverständlich; daß sie sie auch findet, ist, Gerold, doch in großem Maße Deine Leistung. Einmal mehr unterscheidet sich die Vox Romanica dabei wohltuend von gewissen ausländischen Publikationen, welche ihr Heil in der Einsprachigkeit in einer der großen Verkehrssprachen suchen. In anderswo in Vergessenheit geratender vielsprachiger Schweizer Tradition sind nicht nur alle großen Landessprachen gleichberechtigt; auch Spanisch und Englisch sind gut vertreten, wie ein Blick auf die Bände 47 und 48 beweist, die neben 8 deutschen, 7 französischen und 4 italienischen auch 6 spanische und 3 englische Beiträge enthalten. Nun bestimmen neben der Auswahlpolitik des Herausgebers auch seine eigenen, in der Zeitschrift erscheinenden Aufsätze deren Bild maßgeblich. Hier sind Gerold Hilty: 30 Jahre im Dienste der Vox Romanica XVII zunächst Deine in schöner Regelmäßigkeit erscheinenden und nahtlos in die 1963 formulierte Ausrichtung der Vox passenden Studien zu den ältesten Sprachdenkmälern und zu den Anfängen der literarischen Sprache zu erwähnen (z.B. zu den <Straßburger Eiden> und zur <Sainte Eulalie> 1966 bzw. 1968 und nochmals 1978, zu den Ursprüngen der französischen und kastilischen Literatursprache 1973 bzw. 1984). Nicht zuletzt dank dieser Studien gelang es der Zeitschrift, in diesem von ihr privilegierten Bereich der internationalen Forschung maßgebliche Impulse zu geben. Ebenso exemplarisch sind Deine beiden Gallus-Aufsätze zur Romania submersa an der Westgrenze des Rätoromanischen (1985 und 1986), welche dank philologischer Akribie, onomastischer Methodologie und breitesten kulturhistorischen Kenntnissen ein faszinierendes Bild von den damaligen Verhältnissen im Kontaktgebiet zwischen Germania und Romania zeichnen. Daß Dir neben der Pflege der historischen romanischen Sprachwissenschaft auch theoretische und synchrone Fragestellungen ein wichtiges Anliegen waren, beweisen freilich u.a. Deine Arbeiten zu Tempus, Modus und Aspekt (1965 und 1967) und zur lexikalischen Semantik (1971 und 1972). Diese Aufsätze haben nicht nur die Diskussion in den beiden Bereichen entscheidend mitbestimmt, sie waren auch prägend für das Bild der Zeitschrift, welche sich als Forum für fruchtbare Auseinandersetzungen profilierte ich erinnere an die Diskussionsbeiträge von Harald Weinrich (1967) zu Fragen des Tempussystems sowie von Hans-Martin Gauger (1972) und Gert Wotjak (1974) zur Auffassung der Bedeutung als Semstruktur. Aber Du hast es stets mit Erfolg verstanden, nicht nur das Gleichgewicht zwischen Deinen eigenen, auseinanderstrebenden Forschungsinteressen zu bewahren (oft in schöner, jährlicher Alternanz), sondern auch jenen Bereichen Raum einzuräumen, die weiter von Deinen eigenen Arbeitsgebieten weglagen, ob es dabei nun um die Erschließung neuer Dimensionen ging (so figurieren in Band 48 zwei Aufsätze zur Sprachtypologie, welche in den letzten Jahren einen neuen Aufschwung erlebt hat), oder um die Pflege von Bewährtem (ein deutliches Schwergewicht desselben Bandes 48 liegt auf dem Gebiet der mittelalterlichen Literatur). So haben Deine Verwurzelung in der besten romanistischenTradition, zusammen mit Deiner Offenheit Neuem gegenüber, Dein unbestechliches Bemühen um wissenschaftliche Qualität, Deine Freude an der wissenschaftlichen Diskussion und Dein Mut zur Vielfalt der Vox Romanica über viele Jahre hinweg ein besonderes Gepräge gegeben. Wieviel unerquickliche, ermüdende Arbeit Du dazu aufwenden mußtest, weißt wohl nur Du allein. Aber Du darfst mit Stolz im Sinne des großen Schweizer Romanisten AdolfTobler sagen, Du hättest «ein kostbares Erbe mühevoll gewonnenen Besitzes nicht geschmälert, vielmehr ( ...) vermehrt den Nachkommenden [überliefert]». Dafür sind Dir Leser, Autoren und Herausgeber der Vox Romanica dankbar - und hoffen gleichzeitig, daß Dir die neugewonnene Muße die Möglichkeit gebe, mit zahlreichen Aufsätzen das Gesicht der Zeitschrift weiterhin maßgeblich mitzuprägen. Ad multos annos! Georges Lüdi Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt In Band 31 (1972) dieser Zeitschrift haben wir fünf Briefe von Hugo Schuchardt (1842-1927) an Jakob Jud (1882-1952) veröffentlicht, in denen der Grazer Gelehrte auf Wunsch des Empfängers seinen Werdegang als Sprachwissenschaftler skizziert. In einer Fußnote fügten wir bei, Juds Briefe seien leider verloren. Heute geht es darum, diese Bemerkung zu korrigieren. In der Universitätsbibliothek Graz liegen 81 Briefe und Postkarten, die Jud in den Jahren 1910 bis 1926 an Schuchardt geschrieben hat. Das teilte mir am 23.April 1991 freundlicherweise Frau Dr. Michaela Wolf mit 1, die im Rahmen eines Projektes zur Aufarbeitung des Schuchardt-Nachlasses die romanistische Korrespondenz bearbeitet hat 2. Die Jud-Briefe machen einen kleinen Teil des Schuchardtschen Brief-Nachlasses aus, der rund 15 000 Schriftstücke umfaßt. Zahlenmäßig übertroffen wird Jud durch Leo Spitzer, dessen Brief-Corpus nach Mitteilung von Frau Wolf 450 Stück zählt. Beiden ist gemein, daß sie zu den bevorzugten Korrespondenten gehören, wie aus einer Briefstelle Schuchardts zu ersehen ist, auf die wir schon in Vox Romanica 31 hingewiesen haben und die hier noch einmal im Wortlaut zitiert sei (Brief an Spitzer vom 12.-14.Mai 1921) 3 : «Es ist merkwürdig, das Briefschreiben wird mir noch saurer als alles andere Schreiben ... Wenn ich nun doch besonders an Sie und Jud nicht nur wirkliche, sondern auch lange Briefe schreibe, so geschieht dies keineswegs nur, um den Wünschen meiner Empfänger zu entsprechen, sondern auch einem Drang zu genügen. Ich möchte so manches ins richtige Licht setzen, auch wenn das niemanden interessiert; keinem zur Freud, keinem zum Leiden: wer so nahe an 0 ist, dem ist alles l. » Es sind so kommentiert Spitzer gleichsam Briefe an die Nachwelt. Entsprechend schreibt auch Jud richtige Briefe. In der Regel umfassen sie mehrere Seiten (meist Format DIN AS). Es kommt vor, daß er sich an einem 1 Dafür möchte ich ihr an dieser Stelle meinen herzlichen Dank aussprechen. Zu danken habe ich auch der Universitätsbibliothek Graz und insbesondere Herrn Dr. Walter Slaje, der mir den Zugang zu den handschriftlichen Beständen in zuvorkommender Weise erleichtert hat. 2 In Fachkreisen hat man in den 70er Jahren die Bedeutung Hugo Schuchardts neu entdeckt. Anläßlich der 50. Wiederkehr des Todesjahres haben die Linguisten der Universität Graz 1977 ein Schuchardt-Symposium veranstaltet. Die Vorträge, ein Teil der Diskussionen und drei Aufsätze wurden publiziert von K. L1CHEM und H. J. SIMON: Hugo Schuchardt, Schuchardt- Symposium, SB Wien 373 (1980). Im selben Jahr ist der Katalog der Schuchardt-Bibliothek von BRrGITTA WEiss in 2. erweiterter Auflage in Graz erschienen. Cf. P. SwrGGERS, RLiR 51 (1987), 169-172 (mit weiterer Literatur zu Schuchardt). 3 Zitiert von L. SPITZER, Hugo Schuchardt als Briefschreiber, Extrait de la Revue internationale des etudes basques 21 (1930), 3 N 2. 2 Siegfried Heinimann Ferientag, wo ihn keine Vorlesungspflichten drücken, von seinem Temperament hinreißen läßt und mehr als zehn Seiten mit seinen kräftigen Schriftzügen füllt. Selbst die Postkarten enthalten meist mehr als kurze Informationen oder bloße Grüße. In der Absicht, nach der Veröffentlichung von 15 Briefen Juds an Karl Jaberg (in Band 49/ 50 [1990/ 91] dieser Zeitschrift) das Bild des Zürcher Gelehrten zu ergänzen und zu verdeutlichen, haben wir aus den 81 Schreiben 25 Briefe und zwei Postkarten (Nr. 4 und 7) an Hugo Schuchardt ausgewählt, die zugleich Licht auf die Persönlichkeit des Grazer Meisters und auf die freundschaftliche Beziehung der beiden werfen. Man mag an diesen Schreiben auch ermessen, welchen Einfluß Schuchardt auf die Romanistik in der Schweiz ausgeübt hat 4• Jud fand bei Schuchardt, was er bei anderen Sprachwissenschaftlern vermißte: die Verbindung von gründlichen linguistischen Einzeluntersuchungen mit der Frage nach den großen Zusammenhängen und letztlich nach dem Wesen der Sprache. Schon als Gymnasiast hatte er sich gewünscht, diesen bedeutenden Gelehrten persönlich kennen zu lernen. Sein Wunsch ist im April 1914 in Erfüllung gegangen. Obwohl er nie bei Schuchardt Vorlesungen gehört hat, betrachtet er sich als dessen Schüler. Halb scherzhaft nennt er sich einmal seinen Jünger 5• Unsere Auswahl ist wie nicht anders zu erwarten subjektiv. Subjektiv sind auch die Kürzungen, die wir bei den ausgewählten Briefen da und dort vorgenommen haben. Die Alternative wäre der vollständige Abdruck des ganzen Corpus, was im Rahmen einer Zeitschrift wohl nicht machbar ist und unseres Erachtens auch nicht sinnvoll wäre. Die Anmerkungen werden dem Leser wo nötig über die Lücken hinweg helfen 6. Die ausgewählten Briefe sollen dem Leser Ein- 4 Von Schuchardts Wirkung auf die schweizerische Sprachforschung in der ersten Jahrhunderthälfte zeugen weitere Texte, auf die hier kurz hingewiesen sei: Zum 70. Geburtstag haben die Schweizer Romanisten ihrem Grazer «Lehrer» eine Festgabe dargebracht. Sie ist mit dem Titel Etrennes helvetiennes erschienen als Band X-XII (1911-13) des Bulletin du Glossaire des patois de la Suisse romande und enthält u.a. Beiträge von Cornu, Gauchat, Jaberg, Jud, Tappolet. In der Widmung nennen sich die zehn Verfasser «quelques linguistes qui, sans avoir eu Je privilege d'entendre ses le1;ons, s'efforcent de s'inspirer de ses feconds enseignements ...» Walther von Wartburg (1888-1971) hat bei Schuchardt brieflich Rat eingeholt betr. FEW und hat ihm die ersten Faszikel des Wörterbuchs zugesandt; cf. P. SwrGGERS, Lumieres epistolaires sur l'histoire du FEW: Lettres de W.v. W. a H.Sch., RLiR 54 (1990), 347-359. Schuchardt erscheint hier als «unser aller Meister». Auch Karl Jaberg (1877-1958) stand in Publikationsaustausch und Briefwechsel mit Sch. Die UB Graz bewahrt 18 Briefe und Postkarten von Jaberg an Schuchardt auf. Nur drei Antwortschreiben finden sich im Jaberg-Nachlaß des Romanischen Seminars der Universität Bern. Jabergs Hochschätzung des Grazer Gelehrten kommt in dem von ihm verfaßten Nekrolog zum Ausdruck. Eine meisterhafte Skizze von Schuchardts Forscherpersönlichkeit hat Jaberg ein paar Jahre später in einem seiner letzten öffentlichen Vorträge entworfen. Beide Texte sind abgedruckt in K.J., Sprachwissenschaftliche Forschungen und Erlebnisse, Bd. 1, p. 298-305; Bd. 2 (Neue Folge), p. 20-22 (RH 6 [1937] und 75 [1965]). Unverkennbar ist, vor allem in der zweiten Schrift, die geistige Verwandtschaft der beiden Gelehrten. - Cf. auch N 98. 5 Schuchardts Anrede lautet stets «Lieber Freund». 6 Bei der Wiedergabe der Briefe halten wir uns an dieselben Richtlinien wie in VRom. 49/ 50. In den wenigen Zitaten aus Schuchardts Briefen behalten wir die eigenwillige Interpunktion des Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 3 blicke vermitteln in Juds Forschung und Lehre, in seine weit ausgreifenden Pläne, seine leidenschaftliche Hingabe an große Aufgaben. Während des Kriegs und der ersten Nachkriegsjahre treten oft andere Themen in den Vordergrund: Kriegsschuld, Friedensverhandlungen, Ansprüche der Sieger, Sympathie und Antipathie gegenüber den kriegführenden Nationen. Nur weniges haben wir davon ausgewählt. Wollte man Juds politische Äußerungen richtig werten, müßte man auch die z. T. verlorenen Briefe Schuchardts daneben halten können. Fühlbar ist in der ganzen Korrespondenz, wie sehr die beiden Partner unter den Zeitereignissen leiden. Bibi. lud Brevier Brevier Verz. PK SB Wien UBG Verz. Verwendete Abkürzungen Bibliographie Jakob Juds, in: J. J., Romanische Sprachgeschichte und Sprachgeographie, Ausgewählte Aufsätze, hg. von K. HUBER und G. INEICHEN, Zürich 1973, p. 571-590 Hugo Schuchardt-Brevier, Ein Vademecum der allgemeinen Sprachwissenschaft, zusammengestellt und eingeleitet von LEo SPITZER, 2. erweiterte Auflage, Halle 1928 Verzeichnis von Schuchardts Druckschriften im Brevier, p. 15 ss. Postkarte Sitzungsberichte der Wiener Akademie Universitätsbibliothek Graz Brevier Verz. Die übrigen Abkürzungen entsprechen dem in Vox Romanica üblichen Verfahren. Nr.1 Geehrter Herr Professor! UBG 5150 Zürich, 4. IV. 10 Sprensenbühlstr. 14 Empfangen Sie meinen allerherzlichsten Dank für die so tiefe und eindringliche Umarbeitung von Meyer-Lübkes Studie über die Dreschgeräte 7, die ich nun beide erst gelesen, aber noch nicht in eigen Fleisch und Blut übergeführt habe. Ihr Artikel hat nun meinen Plan, durch eine Rezension einige Probleme anders als Meyer-Lübke darzulegen, vorläufig überflüssig gemacht: Sie sagen alles besser und gehen viel mehr in die Tiefe, als ich es zu tun vermocht hätte. Nur auf einen Punkt möchte ich hinweisen: Auf der Karte fleau des Atlas ist für das Dep. Aude natürlichflagellum angegeben: schlägt man nun die Karte jument des Atlas Verfassers bei. Was Jud unterstreicht, wird kursiv gedruckt. Die Orthographie wird nicht modernisiert. 7 Sachwortgeschichtliches über den Dreschflegel, ZRPh. 34 (1910), 257-294 (Brevier Verz. 596). 4 Siegfried Heinimann linguistique auf, so findet man auf Punkt 776, 787 equa angegeben mit dem bezeichnenden Zusatz: «pour battre le ble», was also auf Austreten des Kornes mit Hülfe des Pferdes hinweisen dürfte. (...) Ihre Diskussion über flagellum befriedigt mich mehr als diejenige von Meyer- Lübke, wenn auch natürlich weitere Sachstudien an Ort und Stelle notwendig sein werden, um das ganze Problem einer Lösung entgegenzuführen. - Ein frischer Zug geht durch den romanischen Blätterwald. Vor acht Tagen war ein Kleeblatt bei unserem teuren Meister Gillieron, der uns seine neuesten sprachgeographischen Arbeiten vorlegte: eine prächtige Studie über midi mijour und eine weitere noch interessantere über caput in Südfrankreich. So ist denn überall begründete Hoffnung vorhanden, dass wir aus diesen unfruchtbaren Wortklaubereien und etymologischen Versuchen zu richtiger Wortforschung gelangen, die nicht sich damit begnügt, ein lateinisches Grundwort aufzustellen, sondern Geschichte sein will. Freuen wir uns, dass unsere Wissenschaft so starker methodischer Umwälzungen fähig ist: das beste Zeichen, dass sie marschiert! Sie, geehrter Herr Professor, und Gillieron haben uns Jüngeren die reichste Anregung zu neuer Forschungstätigkeit gegeben. Leider kann ich Ihnen erst in einigen Wochen einen kleinen Beweis meines herzlichsten Dankes zustellen, den ich Ihnen schulde: es wird eine Antwort auf . Meyer-Lübkes aune-verne-Kritik sein 8• Empfangen Sie, verehrter Meister, meinen nochmaligen allerherzlichsten Dank. Nr.2 Ihr ergebener J.Jud UBG 5154 22. IV. 11 Sehr geehrter Herr Professor! Für die freundliche Zusendung des Separatums schulde ich Ihnen aufrichtigen Dank: in der Tat war ich daran, eine eingehende Rezension von Meyer-Lübkes Etymologischem Wörterbuch abzufassen 9, als die Spuren der Überarbeitung des letzten Winters sich zeigten, so dass ich mitten drin abbrechen musste. Prinzipiell stehe ich durchaus auf ihrem Boden und lege diesen Standpunkt eingehend in der 8 Sprachgeographische Untersuchungen: V. Fr. aune 'Erle', 2. Teil, ASNS 124 (1910), 83-108 (Bibl. lud 22); wieder abgedruckt in J. Juo, Romanische Sprachgeschichte und Sprachgeographie, Zürich 1973. 9 Juds Rezension der Lieferungen l und 2 des REW ist erschienen in ASNS 127 (1911, ausgegeben 1912), 416-438 (Bibl. lud 30); Schuchardts Rezension in ZRPh. 35 (1911), 383s. (Brevier Verz. 617). Cf. Brief Nr. 5 N 13. Briefe von Ja_kob Jud an Hugo Schuchardt 5 Einleitung dar: es ist in der Tat für mich unverständlich, dass, nachdem Sie in so beredten Worten zuletzt in der Grazer Festschrift den Wert der Persönlichkeit des Forschers für die wissenschaftliche Forschung im allgemeinen betont haben 10, gerade hier eine trostlose Namenlosigkeit hat Eingang finden müssen. So hoch ich die Leistung Meyer-Lübkes als solche werte, so ist doch manches wenig tief erfasst, die Grundlinien Gillieronscher Forschung z. T. sind wenig eingehalten: mancher Richterspruch wird autoritär verkündet, den anzuerkennen nicht leicht wird. Unsere romanische Sprachforschung krankt vielleicht etwas an der zu stark lokal begrenzten Centralisierung, wodurch eine anders geartete Auffassung unter den jüngeren Forschern nicht zum Durchbruch gelangen kann. Doch, verehrter Meister, Sie werden sich auf keinen Fall entmutigen lassen, und wir Jüngern, die wir so sehr in Dankesschuld bei Ihnen stecken, hoffen sehnlichst, dass Sie uns . bald jene Studien über die Insektennamen schenken möchten, die Sie uns einst in Aussicht gestellt hatten. Sie wissen wohl bereits, dass Edmont diesen Monat nach Corsica geht, um dort an 60 Punkten ein Questionnaire von 3200 Wörtern aufzunehmen: das Material wird als Appendix zum grossen Atlas in kleinerem Format auf Karten geboten werden; ein gewaltiges Material wird sich hier für den Forscher ergeben. Sollten Sie einmal in die Schweiz kommen, so würde es Gillieron ungemein Freude machen, Sie kennen zu lernen: wir erzählen ihm von Ihren Arbeiten so viel, dass er längst unsere Bewunderung für Sie teilt. Mit ergebenen Grüssen Ihr J. Jud Nr.3 UBG 5156 2. II. 12 Geehrter Herr Professor! Zu Ihrem heutigen Geburtstage empfangen Sie, geehrter Herr Professor, meine aufrichtigen Wünsche, an die sich die feste Hoffnung schliesst, es möchten Ihnen noch manche Jahre frohen Schaffens und trefflicher Gesundheit beschieden sein. Wir alle, die eine kleine Ecke des ager rornanus umzupflügen wünschen, stekken in tiefer Schuld bei Ihnen: Sie haben unser wissenschaftliches Denken von den ersten tastenden Versuchen auf dern Gebiet der Romanistik entscheidend beeinflusst und mit weitem Blick der Forschung neue aussichtsreiche Bahnen 10 Sprachgeschichtliche Werte, in: LTPQMATEU: , Grazer Festgabe zur 50. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner, 1909, p. 155-173 (Brevier Verz. 579); Sonderdruck p. 1-18. 6 Siegfried Heinimann gewiesen; heute möchte ich Ihnen meinen tiefgefühlten Dank für die stetige tiefgehende Förderung aussprechen, die aus Ihren Arbeiten für alle die ausging, welche neuen Zielen zuzustreben sich bemühen möchten. Ihnen ein von echter Liebe und reichlicher ungetrübter Freude umsonntes, schaffensfreudiges neues Dezennium wünschend, verbleibe ich Nr.4 Sehr verehrter Herr Professor! Ihr dankbarer J.Jud UBG 5160 PK 3. XII.12 Die fein durchdachte Darlegung über das V erhältnis von Wort und Sache habe ich mit wirklichem, tiefem Genuss heute Abend gleich nach dem Eintreffen Ihres Separatums gelesen 11: der Grundsatz der unendlich abgestuften Methode, die sich dem Gegenstand der Forschung stets anzupassen hat, dürfte jedem willkommen sein, der sich weigert, gewisse Methoden als die allein seligmachenden anzuerkennen. Auf Ihre uns in Aussicht gestellte Auseinandersetzung mit Wundt freue ich mich: mit Recht sollte dem Bezeichnungswandel ein breiterer Raum zugewiesen werden. Empfangen Sie die besten Wünsche zum bevorstehenden Jahresende und Festtagen von Nr.5 Verehrter Meister! Ihrem ergebenen J.Jud UBG 5165 23. III. 14 Zunächst möchte ich Ihnen meinen herzlichen Dank für Ihre Ermunterung sagen 12, die mir so spontan vor allen andern zugekommen ist. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie sehr ich mich freue, dass wenigstens in den grossen Linien ich mich Ihrer Zustimmung erfreuen darf, die mir der stärkste Ansporn ist, auf dem einmal betretenen Wege vorwärts zu schreiten. V or lauter neuen Plänen komme 11 Offenbar Schuchardts Aufsatz Sachen und Wörter in Anthropos 7 (1912), 827-839 (Brevier Verz. 629). Unvollständig abgedruckt im Brevier, p. 122ss. 12 Der ermunternde Brief ist nicht erhalten. Er bezog sich vermutlich auf Juds Aufsatz über Probleme der altromanischen Wortgeographie, ZRPh. 38 (1913), 1-74 (Bibi. lud 39). Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 7 ich leider nicht immer zur Ausführung meiner Arbeiten: es liegen nicht weniger als vier angefangene Untersuchungen auf meinem Schreibtisch, aber einzig die Zukunft weiss, wann ich zu Ende kommen werde. Ihre Zustimmung hat mir aber auch deswegen Freude bereitet, weil ich in letzter Zeit mehr denn je das Ziel hämischer Bemerkungen gewisser übereifriger Paladine von Meyer-Lübke geworden bin 13: ich werde oft wie ein dummes, mutwilliges Kind behandelt, das keine Ahnung hätte, welche Arbeitsleistung die Abfassung eines romanischen etymologischen Wörterbuchs bedeutet. Und doch darf ich mit ruhigem Gewissen die Ansicht vertreten, dass ich die Vorzüge und die Mängel der letzten zusammenfassenden Leistung des Wiener Meisters gewiss sehr wohl aus eigener Erfahrung einzuschätzen weiss. Mit welcher Spannung erwarte ich Ihre Arbeit über die lateinischen Lehnwörter im Berberischen 1 4 ; hier müssen sich doch prächtige Probleme für die sprachliche Eigenart der mediterranen Südromania ergeben: hoffentlich dürfen wir diese reiche Frucht bald kosten! Gillieron arbeitet gegenwärtig an Problemen der Geschlechtsnamengeographie; er hat die gewaltigen Adressbücher Frankreichs auf gewisse Geschlechtsnamen hin untersucht und erzielt dadurch ein höchst fesselndes Bild der Verbreitung gewisser Wörter (z.B. von Handwerkernamen) in der Epoche des ausgehenden Mittelalters. Er hat mir eine Anzahl von Problemen dargelegt, die wirklich fördernd sein werden. Und nun noch ein seit langer Zeit still gehegter Wunsch! Wer wie ich so starke Anregung in Ihren Arbeiten erfahren hat, bedauerte oft, dass gewisse Ihrer Arbeiten in unzugänglichen Zeitschriften vergraben sind (z.B. in Globus usw.). Könnten Sie Ihre Zustimmung zum Plane geben, eine Anzahl solcher in nichtromanischen Zeitschriften veröffentlichten Arbeiten in einem Band zu vereinigen und mit ausreichenden Indices auszustatten? Den Band würde wohl Winter gewiss übernehmen, und die Auswahl der Arbeiten, die Sie zur Wiederveröffentlichung empfehlen würden, sollte das ganze weite Gebiet Ihrer Tätigkeit umfassen. Damit Ihnen Ihre kostbare Arbeitszeit nicht geraubt würde, wäre ich gerne bereit, die Indices anzufertigen, um so einen kleinen Teil meiner Schuld abzutragen, in der ich bei Ihnen stehe. Ein alter Wunsch seit meinen Studentenjahren geht er je in Erfüllung? war, Sie in Graz einmal aufsuchen zu dürfen; ich hege noch immer die leise Hoffnung, diesen Plan diesen Frühling ausführen zu können, wofern ich Ihnen nicht ein ungebetener Gast bin 15: Empfangen Sie, verehrter Meister, meine herzlichen Wünsche. Ihr Jud 13 Meyer-Lübke hat eine Entgegnung auf Juds Rezension des REW publiziert in ASNS 129 (1912), 228-233; dazu nimmt Jud Stellung in ASNS 129, 233-235 (Bibi. lud 37). Cf. N 9. 14 Cf. Brief Nr. 16 mit N 61. 15 Von Schuchardt ermuntert, besuchte Jud den Grazer Meister an Ostern 1914; cf. UBG 5166, 5167 (nicht publiziert). 8 Nr.6 Verehrter Meister! Siegfried Heinimann UBG 5170 31.XII.14 In wenigen Stunden läutet das alte Jahr aus, ein Jahr der schmerzlichsten Erlebnisse und auch einiger schöner Erinnerungen. Brauche ich Ihnen zu sagen, dass unter die letzteren die Frühlingsreise nach Graz gehört? Für all die frohen Stunden, die wie ein ferner Traum weit hinter uns liegen, auch heute meinen wärmsten Dank! Unter die schmerzlichsten Erlebnisse dieses Jahres sind sicher die der letzten Monate zu rechnen. Nicht als ob ich je an den goldenen Friedensfrühling geglaubt hätte, aber an einen solchen starken Rückschlag mit all den schweren Begleiterscheinungen hätte ich nie geglaubt. Dabei befindet sich der Kriegsführende in einer glücklicheren Lage als der sogenannte «Neutrale»: jener schwingt mit seinen Volksgenossen mit, dieser wird von den verschiedensten Einflüssen bearbeitet; es ringen in seiner Seele Stammesinstinkte, alte innige Beziehungen und Erinnerungen, die uns mit den verschiedenen kriegsführenden Ländern verbinden, nationale Pflichten ganz eigener Art in einem Lande, das, wie das unsrige, Romanen und Deutschschweizer in einem Staatsverbande vereinigt; all dies macht aus dem sogenannten «Neutralen» einen tief gequälten Menschen, der sich von seinen kriegsführenden Nachbarn gerade darin unterscheidet, dass er ein stetig «Wahrheitsuchender» ist, dem der Glaube, die Wahrheit zu besitzen, völlig fehlt. Mit wahrer Leidenschaftlichkeit habe ich alle Dokumente geprüft, und ich erwarte mit wachsender Ungeduld das «rote Buch» Oesterreich-Ungarns, um mir ein festeres Urteil zu bilden, um dann doch wieder neuen Zweifeln Raum zu geben. Inmitten dieses inneren Sturmes, der mir schwer zusetzt, habe ich doch reichlich innere Erfahrungen durchgemacht: ich habe manchen meiner Mitmenschen wachsen sehen, andere kleiner werden; Krisen derartigen Umfangs und solcher Tiefen fördern oft manches zu Tage, was sich in ruhigen Zeiten sorgfältig versteckt, und es hat mich besonders gefreut, dass die starke Vaterlandsliebe in allen unseren Nachbarn so tiefe Wurzeln geschlagen und sie zu den schwersten Opfern bereit gefunden hat. Glauben Sie, verehrter Meister, dass, wenn die Gefahr an unseren Schweizertoren sich einstellt, ich der erste bin, mein Gewehr herunterzuholen und in ein Wehrkleid zu schlüpfen, und so denken heute Intellektuelle der romanischen und deutschen Schweiz in gleicher Weise. Wir werden sehen, ob unser Opfer noch nötig sein wird. Diese Wochen habe ich fast gar nichts Positives geleistet: ich betäube meinen Geist mit Ausziehen von Materialien. Ich möchte nämlich so etwas wie eine Centrale des sämtlichen lexicologischen Materials der Romania hier schaffen und habe zu diesem Behufe seit langem mit systematischem «spoglio» begon- Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 9 nen 16. Ein Traum? Gewiss einer, aber er hilft mir, hie und da die traurige Wirklichkeit zu verlassen. Leider stellen sich mir eine Anzahl von Schwierigkeiten entgegen, so u. a. die Unauffindbarkeit gewisser älterer Wörterbücher. Ich muss einmal versuchen, einen Weg zu finden, diesem Übelstand abzuhelfen. Im ganzen dürften etwas gegen 400 000 fiches bereits beieinander sein, und die nächsten 10 Jahre hoffe ich, sie etwa verfünffachen zu können, indem ich Hülfskräfte heranziehe. Ob aber die Bemeisterung des ganzen Materials noch gelingen wird? Und nun noch herzlichen Dank für Ihre neueste Publikation, in die ich heute als staunender Schüler eingetreten bin mit der gleichen Andacht, wie ich etwa zum ersten Mal in eine Moschee eintreten würde. Aber nach Ihren Fahrten nach den kreolischen Gebieten dürfen wir doch noch einige Kreuz- und Querfahrten im romanischen Gestrüpp erwarten? Oder sicher die versprochene Zusammenfassung des romanischen Einflusses im Baskischen und in den nordafrikanischen Sprachen? Ihnen wünsche ich also nochmals alles Gute im kommenden Jahr, Ihrem Vaterlande bald Ruhe nach dem schweren Ringen! Nr.7 Ihr stets dankbarer J.Jud UBG5174PK 24.V.15 Verehrter Meister; Zunächst warmen Dank für Ihre Abrechnung mit Schulten 17; es ist eigentümlich, wie oft linguistisches Denken bei Historikern fehlt und Trugschlüsse häufig sind. Es täte einmal wirklich not, dass über das Verhältnis von Sprache und Volk ein Linguist eine das Prinzipielle betonende kleine Arbeit publizieren würde. Hätten Sie nicht Lust, diese Kopfklärung durchzuführen? Herzlichen Dank für den Brief; Bovet wird Ihren Artikel nächstens bringen 18: er freute sich sehr, auf Ihre Mitarbeit rechnen zu dürfen. In welch schwerer Zeit leben wir heute! Wieviele moralische Werte leiden Schiffbruch! Ist dies nicht alles 16 Vergleiche, was in Brief Nr. 12 von dem geplanten Romanischen etymologischen Wörterbuch gesagt ist; ferner unsere Einleitung zu den Briefen Juds an Jaberg in VRom. 49/ 50 (1990/ 91). 17 Adolf Schulten (1870-1960), Althistoriker, lehrte ab 1907 an der Universität Erlangen. Auf welche seiner zahlreichen Schriften hier angespielt wird, wissen wir nicht. Cf. Lurs PERIcoT, Adolfo Schulten, su vida y su obra, Barcelona 1940. 18 Ernest Bovet, Professor für romanische Literaturen an der Universität Zürich 1901-21 (später Generalsekretär der Vereinigung für den Völkerbund), war Herausgeber der Zeitschrift Wissen und Leben. 10 Siegfried Heinimann die Katastrophe aller sogenannten Realpolitik, die sich in den letzten Jahren geradezu zu einem politischen Dogma herausgebildet hatte? Umwertung mancher Werte auch der Wissenschaft als völkerverbindenden Faktors! ist gewiss an der Tagesordnung bei manchem, der diesen gewaltigen Ereignissen zuschauen muss. Herzlichen Gruss und beste Wünsche Ihr Jud Nr.8 UBG 5177 17.IX.16 Verehrter Meister! Die so unerwartete Nachricht vom Verlust unseres lieben Herrn Nedwed hat mich tief ergriffen: ein Mensch mit solch reichen Anlagen ein Opfer des Krieges, ich wollte zunächst einfach daran nicht glauben! Da taucht gestern wieder ein blasser Hoffnungsstrahl auf: der Bericht läuft ein, dass sein Verlust vielleicht doch nicht so sicher sei, und so lebe ich weiter der Erwartung, dass dieser frohen Nachricht kein niederschmetterndes Dementi folge! Zunächst habe ich Ihnen noch mitzuteilen, dass Prof. Gaidoz sich stets noch einer ordentlichen Gesundheit erfreut (...). Endlich sage ich Ihnen wärmsten Dank für die so überaus willkommene Bibliographie 19, die wirklich den Fachgenossen wertvolle Dienste leisten wird. Ihre weitausgreifende Tätigkeit hat in so vielen Zeitschriften sich geäussert, dass man immer wieder neue Überraschungen in der Unkenntnis gewisser Seiten Ihrer Forschung erlebt. Und da Sie mir so gütigst helfen wollen, meinen Schuchardt-Band in dem die in nicht streng romanistischen Zeitschriften erschienenen Arbeiten vereinigt sind zu vervollständigen, so unterbreite ich Ihnen mit Freuden den Wunschzettel und bitte den Geber, ob dessen Reichtum und Ausdehnung nicht bestürzt zu sein! (...) Ihre Mitteilungen betreffend Saussures Buch 20 haben mich ausserordentlich 19 Schuchardt hat 1916 ein Verzeichnis seiner Druckschriften veröffentlicht (Brevier Verz. 688). 20 Am 28.August 1916 dankt Sch. für den Cours de linguistique generale, den ihm Jud gleich nach Erscheinen zugestellt hat, und teilt seinen ersten Eindruck mit (unveröffentlicht). Er schreibt über das Buch u. a.: «Es macht mir einen sehr gewinnenden Eindruck, auch vermittelst der einfachen Bildchen und Umrisse, welche Tafelzeichnungen wiedergeben. Sie bewahren das Gepräge der Vorlesungen. (...) Ich werde mich besonders bemühen festzustellen was Saussure über die Probleme gedacht hat die mir am Herzen liegen. [Interpunktion des Originals] (...) Auf einer einzigen Stelle ist bisher mein Blick haften geblieben: S. 268 f. Die beiden Fragen: was ist Sprachverwandtschaft? und wie lässt sie sich erweisen? sind nicht erledigt. Der Satz: La parente universelle des langues n'est pas probable ruft nach Begründung. (...) S.s Buch wird mir Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 11 gefesselt: wenn unser Plan, eine Revue de dialectologie in unserer Schweiz zu veröffentlichen 21 ich bitte Sie aber herzlich, davon niemandem Mitteilung zu machen, da wir Schweizer nicht gern Dinge ausposaunen wollen, deren Verwirklichung noch nicht sicher gestellt ist -, so würden wir im ersten Heft mit der lebhaftesten Freude eine Kritik des Saussureschen Buches gerade von Ihnen erwarten. Könnten Sie sich dazu entschliessen? Es berührt doch den Leser eigenartig, bei der Lektüre von De Saussures Buch den Forscher in so losem Contakt mit der romanischen Forschung zu sehen: den Kern des Buches dürfen wir wohl in dieser klaren Anschauung von der Sprache als historischer und a-historischer Erscheinung sehen: in dem, was Saussure über die statistique dans la linguistique sagt, ist der Ausgangspunkt zu sehr fruchtbarer Weiterforschung gegeben, wobei allerdings die «fremden» Romanisten 22 mitzumachen wohl es sich versagen müssen. Endlich noch eine Frage bibliographischer Natur. Ich erinnere mich, bei Anlass des Besuches in Graz im untersten Gestell eines der Mittelräume Ihres gastlichen Hauses ein spanisches dialektales Wörterbuch eingesehen zu haben, das mir bis heute unbekannt geblieben ist: könnten Sie mir dessen Titel angeben? - Ihnen, verehrter Meister, herzlichen Dank für alles Liebe, das Sie mir erwiesen haben. Ihr ergebener Jud Herrn Prof. Cornu besten Gruss 23. Nr.9 UBG 5181 22. I.17 Verehrter Meister! Meinen Neujahrsbrief2 4 dürften Sie wohl unterdessen erhalten haben: meinerseits möchte ich Ihnen warmen Dank für die drei Exemplare Ihrer Berberischen Hialebhafte Anregung gewähren und reichen Nutzen wenn ich noch dazu komme wie ich seit sehr langer Zeit plane meine Anschauungen allgemein-sprachwissenschaftlicher Art in einer kurzen Schrift zusammenzufassen. » Sch. bespricht dann den Cours auf Juds Anregung im Lbl. 38 (1917), 1-9 (Brevier Verz. 701). Weiteres über Saussure in Schuchardts Briefen vom 1. Februar und vom 29./ 30. September 1917; cf. VRom. 31 (1972), 5s. 21 Ergänze: sich verwirklichen läßt. 22 Gemeint sind die Romanisten nicht-romanischer Muttersprache. 23 Der Waadtländer Romanist Jules Cornu (1848-1919) lehrte zunächst an den Universitäten Basel und Prag; 1901 übernahm er die Nachfolge Schuchardts in Graz. Cf. Brief Nr. 18 und Juds Nekrolog in Romania 46 (1920). 24 Datiert vom 24. Dez. 1916. Wir nehmen ihn nicht auf. 12 Siegfried Heinimann tustilgung 25 abstatten, von denen ich eins Herrn Prof. Gauchat, das zweite an Herrn Dr. Hubschmied weitergegeben habe. Ich bin in die Arbeit mit derselben Verwunderung eingetreten, wie einer, der zum ersten Mal in eine Moschee eintritt: des Staunens kein Ende inmitten einer doch recht fremden Welt. Aber wenn ich mich vielleicht mit Energie hinter die arabisch-berberischen Sprachen setzen könnte, so würde ich ebenfalls so warme Freude an ihrer Eigenart bekommen, wie ich sie für die romanische Vielheit empfinde: am meisten hat mich das Versprechen in der Einleitung gefreut 26• Nächstes Semester gedenke ich an der Universität eine Vorlesung zu halten: Die Forschungsarbeit Hugo Schuchardts. Das soll zu einer intimen Feier werden für Sie, die Sie uns so reiche Anregung geschenkt und so viele Samen auf hoffentlich fruchtbares Erdreich ausgestreut haben. (...) In der vorletzten Woche habe ich die Etymologie des weit verbreiteten ambosta 27 (piemont.-südfranz.-westschweiz.-span.-catal.) 'was man mit beiden Händen fassen kann' aufgefunden: es steckt wohl darin nichts anderes als ein gallisches Compositum ambi-bosta (cf. bret. boz 'hohle Hand' bei Henry und Pedersen ) mit jener kollektiven Bedeutung von ambi, die im Bretonischen heute noch belegt ist (cf. Henry, s. am.). Oder ist darüber eine andere Vermutung geäussert worden? Ein ambo (ae? ) bosta(s) scheint mir weniger ratsam. - Haben Sie endgültigen Bericht von Nedweds 28 ? Empfangen Sie warmen Gruss von Ihrem stets ergebenen J.Jud Nr.10 Verehrter Meister, UBG 5183 2.V. 17 Gerade am 48. Jahrestage Ihrer Probevorlesung begann ich die meinige über Ihre Forschungsarbeit mit der Besprechung Ihres Vortrages: Ueber die Klassifikation der romanischen Mundarten 29 . Etwa 25 Studenten und -innen folgen den Darle- 25 SB Wien 182 (1916), 1-60 (Brevier Verz. 687). 26 In der Einleitung spricht Sch. über eine Arbeit, die er «unter den Händen» habe über die romanischen Lehnwörter im Berberischen. Cf. N 61. 27 Cf. Jun, RFE 7 (1920), 339-350 (Bibl. lud 88); Bündner Monatsblatt 1921, 37-51 (Bibl. lud 99); jetzt FEW 24, 411: gall. *ambosta. 28 Cf. Brief Nr. 8. 29 Sch. hielt seinen Probevortrag (Habilitationsvorlesung) Über die Klassifikation der romanischen Mundarten an der Universität Leipzig am 30. April 1870. Veröffentlicht hat er ihn erst 1900 (Brevier Verz. 352). Das Thema der Klassifikation nimmt er in seinem Antwortschreiben Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 13 gungen. Sie ersehen daraus, welch guten Klang Ihr Name unter den Zürcher Romanisten besitzt. In der Einleitung meiner Vorlesung versuchte ich, ein kurzes Lebensbild zu entwerfen, aber welch bedauerliche Lücken musste ich in meinem Bericht konstatieren. Gerade über Ihre Forschungsreisen bin ich trotz Gubernatis Mitteilungen durchaus ungenügend unterrichtet. In Friedenszeiten hätte ich Sie freundlichst um einen kurzen eigenhändigen Lebensabriss gebeten, aber jetzt muss ich ganz darauf verzichten. Vielleicht erzählen Sie mir im nächsten Brief, ob Diez auf Ihre Studienrichtung wirklich entscheidenden Einfluss ausgeübt hat 30 , welche Lehrer Sie in Halle besonders schätzten und wie Sie die Jahre 1866-70 verbracht haben. Mit dem Grundgedanken, die Klassifizierung der romanischen Mundarten sei ein Ding der Unmöglichkeit, bin ich nicht einverstanden, denn ich teile hier die Anschauungen von Ascoli - Horning - Gauchat, mit denen Sie ja wiederum in der Annahme von mächtigen sprachlichen Irradiationszentren einig gehen. Es scheint mir, dass wir auch zwei Arten von Klassifizierung der romanischen Sprachen unterscheiden sollten: eine geschichtliche und eine heute noch empfundene Einteilung der Romania. Die Corsen sind geschichtlich sicher toskanisch (früher vielleicht sardisch)-italienisch, heute aber rechnen sie sich zur französischen Sprachfamilie; die Wallonen waren eine Zeitlang im Begriffe, sich auch sprachlich als nichtfranzösisch zu betrachten; der Südfranzose der ungebildete erhebt heute kaum Anspruch auf sprachliche Autonomie, wenn auch sie ihm die historische Sprachforschung zusichert; dem Kölner ist die sprachliche Verwandtschaft mit dem Flämen bei weitem nicht so bewusst wie mit dem Frankfurter oder dem Münchner usw. Nach Ihrer Habilitationsvorlesung gedenke ich, Ihre Schrift: Ueber die Lautgesetze 3 1 zu besprechen, hierauf Ihr Vulgärlatein 32 , daran anschliessend Ihre Arbeiten über die Mischsprachen, dann auf Ihre Forschungstätigkeit im iberisch-baskischen Gebiet überzugehen, die leitenden Gesichtspunkte Ihrer Etymologien I und II 33 darzustellen, Ihren Anteil an der Forschung «Wort und Sache» 34 zu vom 29./ 30. Mai 1917wieder auf und verdeutlicht seine Auffassung; der Brief ist abgedruckt in VRom. 31 (19 72), 3ss. Die Habilitationsschrift trägt den Titel Über einige Fälle bedingten Lautwandels im Churwälschen, Gotha [1870 ] (Brevier Verz. 5). 30 Daß der Einfluss von FRIEDRICH DIEZ auf Schuchardts Studienrichtung sekundär war, erklärt Sch. in seinem Brief vom 29./ 30. Mai 1917 (VRom. 31 [19 72], 3 ). Der entscheidende Anstoß zur Beschäftigung mit dem Vulgärlatein kam von den römischen Inschriften in Trier. Diez lernte er erst später (1864 ) persönlich kennen ; er hat nie bei ihm Vorlesungen besucht. 31 Über die Lautgesetze: die grundlegende Schrift von 1885 gegen die Junggrammatiker (Brevier Verz. 172); abgedruckt im Brevier, p. 51-87. Cf. Brief Nr. 24. 32 Gemeint ist natürlich Der Vokalismus des Vulgärlateins, 3 Bände, Leipzig 1866-68 (Brevier Verz. 2a -2c ). 33 Romanische Etymologien I, SB Wien 13 8 (189 7), p. 1-82; II, SB Wien 141 (189 9 ), p. 1-222 (Brevier Verz. 317, 3 3 5). 34 Sachwortgeschichtliches über den Dreschflegel (zit. oben N 7); Grundsätzliches in der Schrift Sachen und Wörter von 1912 (zit. oben N 11). 14 Siegfried Heinimann berühren und endlich «la ville de Paris» 35 vorzunehmen. Ich freue mich herzlich auf die reiche Anregung, die sich im erneuten Contakt mit Ihren Arbeiten bei mir einstellen wird. (...) Ihrer Rezension von Saussures Werk kann ich nicht ganz gerecht werden. Mir scheint in Saussures Werk ein gewaltiger Anreiz zu ganz neuer biologischer Erforschung der Gegenwartslitteratursprachen zu liegen. Mit warmem Gruss (auch an Herrn Prof. Cornu) Nr.11 Verehrter Meister! Ihr stets dankbarer Jud UBG 5184 14.VI.17 Empfangen Sie wärmsten Dank für die seelisch so fesselnden Auskünfte über Ihre Jugendzeit sowie über die Epoche der Anfänge Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit 36. In mehr als einen Punkte namentlich das frühe Hervortreten ganz bestimmter Neigungen erinnern Sie mich an die Erinnerungen von WrNTELER 37 , der, wie Sie wohl in Wissen und Leben gelesen haben, bereits in früher Jugend den Problemen der Lautartikulation sein Interesse zugewandt hatte. Als ich letzthin mit Prof. Jaberg in Bern über Wintelers Aufzeichnungen mich unterhielt, da kam uns beiden der Wunsch, Sie möchten ebenfalls sich darüber einmal eingehend äussern, wie stark die Anlage (und nicht nur etwa der Lehrer) für die Richtung und die Begeisterung für das Studium entscheidend ist. Glauben Sie, dass irgendwie die sprachlichen Neigungen von Bridel 38 nachgewirkt haben? Sind 35 ZRPh. 36 (1912), 725-727 (Brevier Verz. 643), eine syntaktische Notiz über den Typus urbs Romae (gegen Meyer-Lübke). 36 Der Dank bezieht sich auf den Brief vom 29.Mai 1917 (abgedruckt in VRom. 31 (1972), 3ss.) und auf den darin erwähnten «Brief von neulich», der nicht erhalten ist. Über seinen Werdegang und namentlich über seine frühen Begegnungen mit fremden Sprachen und älteren Sprachstufen berichtet Sch.später wieder in seiner Schrift Der Individualismus in der Sprachforschung, SB Wien 204/ 2 (1925) (Brevier Verz. 767, wo irrtümlich 202/ 4 steht), abgedruckt im Brevier, p. 416ss. Der Selbstdarstellung gewidmet sind ferner Sch.s Briefe an Jud vom 6.9.17, 16.9.17, 19.9.17, 10.11.19, alle abgedruckt in VRom. 31 (1972). 37 Der Glarner JosT WrNTELER (1846-1929), Verfasser u.a. einer grundlegenden Darstellung der Kerenzer Mundart (1876), spricht von seinem frühen Interesse an der Sprache in seinen Erinnerungen aus meinem Leben, abgedruckt in der Zeitschrift Wissen und Leben 17 (1916/ 17). 38 Schuchardts Mutter war bekanntlich Waadtländerin, Nichte von Philippe Sirice Bridel (1757-1845, Le Doyen Bridel genannt), Verfasser eines Glossaire du patois de la Suisse romande (1866 postum ediert von L.FAVRAT); cf. VRom. 31 (1972), lüs. Sch. glaubt nicht, daß seine «ersten Antriebe zu sprachwissenschaftlicher Tätigkeit» sich durch Vererbung erklären (Brevier, p. 422). Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 15 Sie überhaupt mit der Familie Bridel im Contakt geblieben? War Ihre verehrte Mamma doppelsprachig? Wie lange sind Sie in Rätien (Bünden) gewesen? Aus Ihrem Briefe darf ich wohl schliessen, dass Sie in Italien Ascoli nur persönlich aufgesucht haben, oder haben Sie ihn auch einmal als akademischen Lehrer gehört? Sind die Vorarbeiten zu der Herausgabe von Cola Rienzis Leben nicht weit gediehen 39 ? Die Studentenschar, die über Ihre Forschungen informiert sein will, ist stets treu dem Munde, der von Ihren Arbeiten zu sprechen sich freut. Bis heute habe ich Ihre Habilitationsvorlesung und «Über die Lautgesetze» besprochen 40: die letztere Arbeit betrachte ich stets als eine Ihrer weittragendsten Arbeiten, und es reizte mich, den Studenten so schlagend zu zeigen, wie die moderne Forschung ganz in den von Ihnen vorgezeichneten Bahnen wandelt und Ihre Anschauungen in weitgehendem Masse bestätigt. Ich habe dabei vor den Studenten auch mich darüber geäussert, dass es so eigentümlich wirke, wenn Sie bei vielen Romanisten und Indogermanisten immer als der Verfasser des «Vokalismus des Vulgärlateins» gelten, als ob die kaum 40 Seiten starke Schrift «Über die Lautgesetze» in ihrer Bedeutung nicht beträchtlich über Ihr Jugendwerk hinausreiche. Seite 39 verlangten Sie von den Sprachforschern, sie sollten Gesetze höherer Ordnung gewissermassen das Leitmotiv der vielen kleinen Lautgesetzchen zu entdecken versuchen: es ist nun recht sonderbar zu sehen, dass weder GRÖBER in seinem Artikel: Eine Tendenz der französischen Sprache 41 noch MEYER-LüBKE in seiner Charakterisierung des Rumänischen-Dalmatischen-Albanesischen in den Mitteilungen des Rumänischen Instituts 42 an Ihre Anregungen explicite angeknüpft haben: sind sich beide des «Anregers» nicht mehr bewusst gewesen? Nächstes Mal bespreche ich kurz Ihren «Vokalismus», wobei ich mir erst recht klar geworden bin, wie schwer die Beurteilung eines Werkes ist, wenn wir es nach seiner Bedeutung innerhalb der zeitgenössischen Forschung einschätzen sollten: das Neue sehe ich vor allem darin, dass Sie dem Latinisten hinsichtlich der «Vitalität» einer vulgärlateinischen Form durch die Angabe der fortlebenden romanischen Form ein sicheres Kriterium an die Hand gaben. Ich bin leider zu wenig mit dem Stand der vulgärlateinischen Forschung Mitte der 60er Jahre vertraut, um hier die wirklich neuen Gesichtspunkte richtig zu bewerten: existiert über Ihr Werk eine Besprechung, die das prinzipiell Neue richtig hervorhob? In seiner Geschichte 39 Sch. antwortet am 22. Sept. 1918: «An eine Neuausgabe der Vita di Cola di Rienzo in römischer Mundart habe ich 1867/ 68 ernstlich gedacht. » 1925 schreibt er: «In Rom las ich Bellis romaneske Sonette, schrieb romaneske Wörterbücher ab (...), plante eine Neuausgabe vom altromanesken Leben Cola di Rienzi's, wozu ich ein Dutzend Handschriften verglich. » (Individualismus in der Sprachforschung [zit. oben N 36], p. 13. 4 ° Cf. N 29 und 31. 41 G. GRÖBER, Eine Tendenz der französischen Sprache, in: Miscellanea linguistica in onore di Graziadio Ascoli, Torino 1901, p. 263-273. 42 W. MEYER-LÜBKE, Rumänisch, Romanisch, Albanesisch, in: Mitteilungen des Rumänischen Instituts an der Universität Wien, Bd. 1, Heidelberg 1914, p. 1-42. 16 Siegfried Heinimann der Forschung des Vulgärlateins ist von Ettmayer 43 diesem Wunsch nach scharfer Charakterisierung des Neuen in den einzelnen Beiträgen zur Aufhellung des vulgärlateinischen Problems m.E. nicht gerecht geworden. Gerade er hätte uns mit seiner historischen Dokumentierung hervorheben sollen, welches die neuen Perspektiven waren, die sich mit Ihrem «Vokalismus» der Forschung eröffneten. Mir scheint, dass Sie als ein Vorgänger Wölfflins noch viel stärker als er den Compass der vulgärlateinischen Forschung nach dem Romanischen umrichten wollten, dabei aber weder von den Latinisten richtig verstanden noch von den Romanisten genügend unterstützt wurden. - (...) Sie dürfen glauben, dass es uns alle herzlich freuen würde, wenn Sie Ihre Anschauungen noch einmal zusammenfassen würden. Was nun Ihre spezielle Frage betreffend Mundartabgrenzung betrifft, so vertreten Sie S.8 Ihrer Habilitationsschrift die Anschauung der Unmöglichkeit des Grenzpfahls zwischen Piemontesisch und Provenzalisch, ebenso p.28 die Gebiete ..., und es scheint mir da mit Prof. Gauchat, dass wir a priori feste Mundartgrenzen zu verwerfen kein Recht haben, sondern zunächst die Forschung auf dem Terrain abwarten müssen. Eine Mundartgrenze, wie sie etwa zwischen Sopraporta und Sottoporta im Bergell existiert, zeigt eine Mundartgrenzlinie, wie sie schärfer gar nicht gedacht werden kann. Ob die Grenzlinie zwischen Piemontesisch und Provenzalisch scharf ist, bejaht mir Jaberg, der an Ort und Stelle die Mundarten aufgenommen hat. Geht die räumliche Entfernung parallel mit der sprachlichen Differenzierung? Die Frage ist nicht so leicht zu bejahen noch zu verneinen. Fassen wir die romanischen Mundarten von Chur bis nach Brindisi als Einheit auf, so ist z.B. die Diphtongierung von offenem und geschlossenem e, o unter Einfluss von -u und -i in den rätischen (z.T. alpinlombardischen) Mundarten, wie in den süditalienischen Mundarten nachzuweisen, nicht aber etwa im Emilianischen oder Venezianischen. Die Diphtongierung von r; > ei, oi erscheint in Rätien und in den Abruzzen und südlich von Neapel; die Bewahrung von pl, fi im Borminischen, auf einem kleinen Mittelstreifen der Marche. Wir müssten uns also zunächst klar werden über die Wahl der lautlichen, morphologischen Züge, die wir für den Grad der Differenzierung unter den Mundarten von Norden nach Süden entscheidend ins Feld führen wollen. Steht das ostwallonische fies mit Erhaltung des s dem südfranzösischen festo näher als fete? Das pikardische k vor a dem südfranzösischen k? Vielleicht geben Sie mir noch einige Angaben darüber, welchen Wertmasstab Sie in der Wahl der sprachlichen Züge beobachtet haben wollen. In den nächsten Tagen sende ich Ihnen eine kleine Schrift über das Rätische zu, die für weitere Kreise im Bündnerland bestimmt war 44 . 43 K. VON ETTMAYER, Vulgärlatein, in: W. STREITBERG (ed.), Geschichte der indogermanischen Sprachwissenschaft II: Die Erforschung der indogermanischen Sprachen I, Straßburg 1916, p. 231-280; zu Schuchardt: p. 237s. etc. 44 Ist das Bündnerromanische eine italienische Mundart? in: Bündner Monatsblatt 1917, 129-143 (Bibl. lud 63). Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 17 Hoffentlich ist die arge Hitzwelle in Graz vorbei und damit Ihre Ermattung, die uns alle sehr nahe berührte. Nochmals herzlichen Dank für alles Liebe, das Sie mir stets mit Ihrem Vertrauen beweisen. Warme Wünsche begleiten Sie von Ihrem stets lernbegierigen J.Jud Nr.12 UBG 5185 Guggisberg, 6.VIII. 17 Verehrter Meister! Meinen warmen Dank für alle Ihre lieben Zeilen. (...) Leider war ich in den ersten 14 Tagen meiner Ferien ein recht lässiger Briefschreiber: ich freute mich wieder einmal dermassen meiner Ruhe nach all der «Hatz» des Semesters und gab mich so sehr dem Genusse hin, wieder einmal ganze Bücher hintereinander lesen zu können, dass ich fast den ganzen Tag im Grase draussen lag und alle Pflichten vergass. Verzeihen Sie gütigst diesen Schlendrian! Das verflossene Semester war recht anstrengend: neben 17 Stunden am oberen Gymnasium, in denen ich mich ordentlich ausgab, die zwei Stunden Proseminar, in dem den Studenten eine Einführung in das Arbeitswerkzeug (artes et negotia) des Romanisten wie in die Grundbegriffe der romanischen Sprachwissenschaft, Philologie (im engeren Sinne) und der romanischen Litteraturwissenschaft geboten werden musste, dann die wenn auch nur einstündige Vorlesung über Ihre Forschungsarbeit liessen mich tüchtig ermüden: dazu trat dann noch ein Vortrag über «neue Richtungslinien in der Ausbildung der Neuphilologen», an den sich eine sehr ergiebige Diskussion anschloss. Darf ich bei all dem auf Ihre Nachsicht gegenüber dem nicht stets exakten Schreiber Anspruch erheben? Ich wage es wenigstens zu hoffen. Ich glaube, Ihnen bereits mitgeteilt zu haben, dass ich in der Vorlesung bei Ihren Ideen über die gewaltige Ausdehnung der Mischsprachen mich sehr lange verweilt habe: ich betrachte Ihre Anschauungen in dieser Frage als die allerwichtigsten und leider als die am wenigsten unter den Sprachforschern anerkannten: Das Kapitel bei Paul ist merkwürdigerweise recht dürftig ausgefallen 45. Auch in Delbrücks Einführung ist ein sprachlicher Schematismus unverkennbar, der so recht zeigt, wie wenig der grosse syntaktische Forscher mit dem, was Saussure als 45 Der Sprachmischung widmet HERMANN PAUL Kap. 22 seiner Prinzipien der Sprachgeschichte, erstmals in der 2. Aufl. (1886). Er zitiert darin ScHUCHARDT, Slawo-deutsches und Slawo-italienisches (1884), und verweist, ohne zu präzisieren, auf «andere Arbeiten desselben über Mischsprachen». 18 Siegfried Heinimann «l'etude de la parole» bezeichnet, sich eingehender abgegeben hat 46 . Immer wieder staune ich ob der geringen Bemühung und Durchdringung romanischer und indogermanischer Sprachwissenschaft in Deutschland in Frankreich steht es dank Meillet wesentlich besser: man meint wirklich, dass die romanische Sprachwissenschaft nur die Brosamen der Indogermanisten auflese. In der Schweiz haben wir in de Saussure und Planta zwei Pole: jener völlig von der romanischen Sprachwissenschaft unberührt, dieser in starkem innerem Verhältnis zu ihr. Niedermann in Basel ist ebenfalls im Romanischen stark zu Hause. Wie erklärt sich wohl dieser Umstand in Deutschland? Doch wohl aus der Tatsache, dass in Deutschland die romanische Sprachforschung jahrzehntelang nach Diez ich sehe ab von der französischen Sprachforschung sehr stiefmütterlich behandelt wurde. Wäre wohl Wundts «Sprache» nicht anders ausgefallen, wenn er als Gewährsleute nicht Brugmann und Leskien, sondern etwa Sie und Gauchat hätte heranziehen können? Aber selbst auf dem Gebiet der französischen Sprachforschung verdanken wir prinzipielle Förderung in Deutschland nur dem Syntaktiker Tobler und Gröber, der für sprachliche Erscheinungen oft eigenartige neue Gesichtsfelder eröffnet hat: sein in Ascolis Festschrift veröffentlichter Aufsatz 47 ist perspektivenreich, wenn auch die leitende Idee bereits vor Gröber von Ihnen mehrfach ausgesprochen worden ist, nämlich man müsse die Lautgesetze unter solche höherer Ordnung subsumieren: es ist eigenartig zu sehen, dass weder Gröber noch Meyer-Lübke in seiner ähnlichen Studie in den Mitteilungen des Rumänischen Instituts 48 an Sie angeknüpft hat. Und das führt mich wiederum zu einem Vorschlag, den ich Ihnen früher bereits vorgelegt und den ich heute wiederholen möchte: Sie möchten die Zustimmung geben zu einem Bande, der Ihre Anschauungen zu prinzipiellen Fragen chronologisch darstellen würde: unter bestimmten sachlichen Gesichtspunkten könnte hier ein Werk geschaffen werden, das Ihren Ideen den schönsten Resonanzboden schaffen müsste. Dabei würde es wenig verschlagen, wenn gewisse ältere Anschauungen überholt wären (ich denke an gewisse Capitel des «Vokalismus»): dies würde durch eine Anmerkung von Ihrer Seite angedeutet werden können. Mein Freund Hubschmied und ich würden eine solche Zusammenstellung sehr gerne besorgen und Ihnen zur Begutachtung unterbreiten: der Erlös des Bandes könnte, wenn Sie damit einverstanden sind, einem wissenschaftlichen Unternehmen zugewandt werden. Ich erwarte auf diesen Punkt Ihre gütige Ansichtsäusserung. Ich hätte jetzt eigentlich Ihnen einmal von den weitgeförderten Vorarbeiten des Romanischen etymologischen Wörterbuchs reden wollen, das mir bald über 46 BERTHOLD DELBRÜCK, Einleitung in das Studium der indogermanischen Sprachen, 5. Aufl., Leipzig 1908. Kurzer Hinweis auf Untersuchungen lebender Sprachen: Winteler, Ascoli, Leskien (p. 103s.). 47 Cf. N 41. 48 Cf. N 42. Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 19 den Kopf hinaus steigt, weil ich es vielleicht zu breit angelegt habe 49: das Ausziehen möglichst aller gedruckten Dialektwörterbücher dürfte zu 3/ 4 in einem Jahre beendigt sein, leider geht die Anordnung dieses gewaltigen Zettelmaterials nicht gleichen Schritt. Aber ich will davon absehen und bei dem geringen spatium, das der sonst schon grosse Brief mir noch erlaubt, auf Ihre Briefe zurückkommen 50 . ( . . . ) Haben Sie die Probeartikel des Rätischen Wörterbuches 51 eingesehen? Wenn sie auch nicht die definitive Form aufweisen, so zeigen sie doch zur Genüge, wie reiche Ernte hier eingebracht worden ist. Es ist einfach erstaunlich, welchen Schatz von Sprichwörtern, pittoresken Redensarten die Bündner Mundarten aufweisen. Überhaupt ist auf dem Gebiet der romanischen Metaphern eigentlich traurig wenig geleistet worden. Und doch liesse sich hier reichliche Ernte einheimsen. Mir schwebt immer ein Artikel vor, in dem ich zeigen möchte, in welchem Umfang der Thesaurus linguae latinae aus dem romanischen Wortschatz ergänzt werden könnte. Ich hätte hier allerlei hübsche Funde mitzuteilen. Aber nun basta! Ihnen wünsche ich nun einen ruhigen, heiteren Herbst, frische Arbeitsfreude für die berberischen Lehnwörter und sonst alles Gute! Nr.13 Ihr stets ergebener J.Jud UBG 5187 3.X.17 Verehrter Meister! Wärmsten Dank schulde ich Ihnen für die überaus aufschlussreichen Briefe 5 2, die Ihnen wohl ebenso viel Mühe und innere Erregung gekostet haben, wie sie mir ganz unerwartet die Erklärung für gewisse Eigenarten Ihrer Arbeitsmethode gegeben haben. Wiederum staune ich ob der frühen Vorbereitung, die sich bereits im Kinde durchsetzt, für die späteren Richtlinien des Lebensweges und der Lebensarbeit: dass das Baskische wie die «Inschrift» die romantische Phantasie so früh gefangen nehmen, erinnert mich an die aus meiner Jugend bezeugte 49 Cf. Brief Nr. 6, wo Jud von einer zu schaffenden »Centrale des sämtlichen lexicologischen Materials der Romania» spricht. 50 Anschliessend folgen zwei Seiten über die Problematik des Begriffs Mundartgrenze und über die damit zusammenhängende Frage der Klassifikation der Mundarten. 51 Gemeint ist das Dicziunari Rumantsch Grischun, das 1917 noch nicht diesen Namen trug. Der erste Faszikel mit diesem Titel ist 1938 erschienen. 52 Es sind die Briefe vom September 1917 (abgedruckt in VRom. 31 [1972]), in denen Sch. seinen Werdegang darstellt. 20 Siegfried Heinimann Tatsache, dass ich bereits in der zweiten Klasse Gymnasium ein rudimentäres, aber gross angelegtes lateinisches Lexicon anzulegen begann in dem Glauben, dass kein solches existiere: diese lexicographische Ader ist nicht mehr verschwunden, sondern hat sich geradezu zur Hauptarterie ausgebildet. Dagegen haben Sie mich noch nichts wissen lassen darüber, ob Sie eventuell mit dem Plane der Herausgabe charakteristischer Stellen Ihrer Arbeiten in Form eines Bandes sich einverstanden erklären könnten: ob Sie auch bestimmte Wünsche formulieren möchten und ob Sie z.B. in Bezug auf den Verlag sich äussern wollten. Ich vermute, dass ich auch für die Erlaubnis des Abdrucks aus den Zeitschriften Ihre ausdrückliche Zustimmung haben müsste, sonst befürchte ich, dass mein Plan ins Wasser fallen muss, wenn ich Ihrer Genehmigung nicht teilhaftig werde. Ein goldener Herbst ist in unser Land eingezogen, der eine Sonnenpracht und einen Erntesegen überall ausstreut, dass man alles Kriegselend vergessen möchte, aber ach so viel erinnert auch den lebensfreudigsten Naturschwärmer an die schwere Zeit! Der kommende Winter verspricht sehr hart zu werden: unsere Schulen müssen sich einschränken, das Semester wird gekürzt, die Ferien verlängert, Brotkarten und Kohlenrationierung sind an der Tagesordnung. Dazu ein Grollen gegen freches, unerbetenes Schieber-Spekulantenpack, das sich bei uns mehr denn je breit macht: wo das hinaus will, fragen sich alle einsichtigen Männer. Vor vier Wochen hatte ich Gelegenheit, bei Gillieron seine letzte Studie über die Geschichte von abeille in Frankreich 53 eine Arbeit von 250 Seiten teilweise zu lesen: eine Untersuchung, die zu dem Weittragendsten, was aus seiner Feder geflossen ist, gerechnet werden muss. Vier Jahre hintereinander hat er an diesem Problem gebrütet, und er bietet uns eine Lösung, die überraschende Einblicke in das Verhältnis des mundartlichen Wortschatzes zu demjenigen von Paris gewährt: sie wird Anfang des nächsten Jahres fertig gedruckt sein. Aber ob überhaupt die geisteswissenschaftliche Arbeit bei der gewaltigen Rekonstruktionsarbeit nach dem Kriege den ihr gebührenden Platz wieder einnehmen wird? Herrn Dr. Spitzers Besprechung von Toblers Wörterbuch 54 ist ausgezeichnet gelungen und verdient warme Unterstützung. Auch Ihnen wünsche ich so recht warme, sonnige, alle Lebensgeister weckende Herbsttage 55. Mit nochmaligem herzlichen Dank Ihr Jud 53 Genealogie des mots qui designent l'abeille d'apres ! 'Atlas linguistique de la France, 1918 in Paris erschienen. Jud liest bei Gillieron die Druckbogen. 54 Göttingische gelehrte Anzeigen 179 (1917), 429-445. 55 Am Rand Bemerkungen zu boche und camelin. Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 21 Nr.14 UBG 5188 25. XII.17 Verehrter Meister, Mit einem wirklich schweren Schuldgefühl ergreife ich heute die Feder, um Sie für mein ausserordentlich lang dauerndes Stillschweigen um gütige Nachsicht zu bitten. Und auf Ihre gütige Nachsicht darf ich nur deswegen Anspruch machen, weil Sie unschwer verstehen, dass bei meiner schweren Belastung von Schul- und Universitätspflichten ich nicht immer in der Stimmung bin, abends spät Briefe zu schreiben. Man schiebt dann seine Briefschuld von einem Tag auf den andern und schliesslich treten die Ferien ein, die endlich dem Abladen solcher Gewissenskonflikte die günstigste Gelegenheit gewähren. Also nochmals bitte ich für freundliche Nachsicht! Das letzte Quartal war besonders streng wegen der weitläufigen Vorbereitung für eine Vorlesung: Probleme der italienischen Orts- und Eigennamenforschung, wo der Forscher oft in einem wahren Urwald sich zu befinden wähnt: so sehr fehlen hier gangbare Strassen und sichere Wegweiser. Sind auch einige Lichtungen geschlagen: in der Garfagnana und in Venetien durch Pieri, Olivieri, Prati; in der Lombardei durch Salvioni, so sind doch die Hauptprobleme noch so wenig scharf herausgearbeitet, dass der Forscher fast verzweifeln muss. Und wenn man sich gar in die Geschichte der vorrömischen Namen vertieft, so weiss man wirklich oft nicht, wessen Anschauungen man teilen soll. Für die einen ist das Suffix -ona der italienischen Städtenamen illyrisches Kennzeichen, für die andern illyrisch-keltisch; -ua von Mantua, Padua ist den einen etruskisch, den andern illyrisch usw. Eine ganze Woche hindurch studierte ich die Verteilung der -ago- Namen in Oberitalien, die recht merkwürdig ist: sie fehlen fast völlig in den Poniederungen und in den Hochalpentälern, gruppieren sich um bestimmte römische Kolonien herum usw. Und doch ist es gut, sich vorzunehmen, ein solches Neuland umzustechen: so reichliche Probleme steigen einem auf, und andere Gesichtspunkte werden wieder lebendig! Doch ich rede ja immer von Forschung, die Ihnen in diesem Augenblick ferner liegt; ich möchte Sie mit diesen Problemen nicht allzu lange aufhalten und schnellstens zu Ihrer wirklich eindrucksvollen Abhandlung über die Verwandtschaft der Sprachen 56 ablenken, die mir bei der Lektüre grossen Gewinn brachte, aber auch Widerspruch ausgelöst hat. Der Widerspruch bewegt sich in der Richtung, dass ich gerne gesehen hätte, welches die Wahl der Merkmale sein muss, um von einer stetigen geographischen Abstufung reden zu können. Angenommen, die Gascogne liege am Anfang der Reihe a, b, c, d, e, f, g, h: h sei das 56 Sprachverwandtschaft, SB Berlin 37 (1917), p. 518-529 (Brevier Verz. 695); abgedruckt im Brevier, p. 189ss. 22 Siegfried Heinimann Portugiesische: keine dazwischen liegende Mundart weist Fall des -nauf, genügt z.B. die Übereinstimmung zwischen ae (Castilisch) in Bezug auf/ > h, um jene Übereinstimmung auszuschalten? Ich gebe zu, dass bei «ungestörten» Verhältnissen sich die geographische Abstufung mit der sprachlichen in correlatem Verhältnis befindet: aber hat die sprachliche Betrachtung je solche primitive Lagerung zu untersuchen Gelegenheit? Und ist es nicht gerade eines der reizvollsten Probleme zu zeigen was Sie am Schlusse so eindringlich betonen-, dass Sprachgeschichte Volksgeschichte oder besser Geschichte der Sprechenden einer Volksgenossenschaft oder der Menschheit ist? Ist die Gruppierung der italischen [sie] Mundarten nicht auch ein Capitel der Geschichte der italienisch Sprechenden? Voll und ganz kann ich mich allerdings mit Ihren Anschauungen befreunden in Bezug auf die Kriterien, die von inneren und äusseren Sprachformen ausgehen. Hier [Schluss des Briefes fehlt.] Nr.15 Verehrter Meister! UBG 5189 Guggisberg, 29. VII.18 In den schweren Zeiten, die uns seelisch erschüttern wie zerreissen, wird das Briefschreiben bald eine Erholung, bald eine Qual: eine Erholung, wenn man es über sich bringt, anderen sein Herz auszuschütten; eine Qual, wenn man der Überzeugung ist, dass andere ebensoviel, wenn nicht mehr, leiden und doch tapfer ihr Schicksal zu tragen wissen. Ich bin im letzten Jahre immer stiller geworden, weil in mir der Wille, selbst alle die inneren Conflikte in mir auszufechten, den Sieg davon getragen hatte über den Wunsch, andere zu Mitwissern der unausgetragenen seelischen Kämpfe zu machen. Meine Freunde beklagen sich bitter über meine Reserve, bezichtigen mich der Nachlässigkeit, der Undankbarkeit; sie haben vollauf Recht, und doch: wer wollte mir einen Stein nachwerfen? Ich kann nur eines tun: ich muss meine Freunde um Verzeihung für mein Nichtkönnen bitten. Zunächst meinen wärmsten Dank für den Brief, der über Ihre Beziehungen mit G. Paris so eingehend berichtet hat 57 (.•• ) Ich habe neulich die paar Seiten, die Sie G. Paris in einem Ihrer trouver-Artikel 58 unmittelbar nach dessen Tode gewid- 57 Auf einem undatierten Beiblatt zu seinem Brief an Jud vom 29. April 1918 berichtet Sch. ausführlich über seine erste Begegnung mit Gaston Paris in Vevey am 9. Sept. 1867. (Schuchardts Quelle ist ein Brief, den er damals von Genf an seine Eltern schrieb.) Zusammenfassend heißt es auf dem Beiblatt: «Mit G. Paris habe ich trotz Krieg, Politik, Dreyfus, trouver u. ä. bis zu seinem Tode in den besten Beziehungen gelebt. » Brief und Beiblatt liegen in der Karl Jaberg-Bibliothek des Romanischen Seminars der Universität Bern (nicht veröffentlicht). 58 Jud bezieht sich hier offenbar auf Schuchardts Artikel trouver in ZRPh. 27 (1903), 97ss. Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 23 met hatten, wiederum aufmerksam gelesen: ich finde, dass Sie die sprachwissenschaftliche Bedeutung des französischen Gelehrten sehr treffend eingeschätzt haben: es ist in der Tat wahr, dass er in seinen Forschungen wenig neue Wege eingeschlagen hat: aber vielleicht hatten Sie damals eines übersehen: er hat doch in einigen das heilige Feuer geweckt. Ohne G. Paris hätte Gillieron nie an einen Sprachatlas gedacht: und welche Anregung ist doch so indirekt aus seinem Unterricht hervorgegangen! Gewiss steckt ja nicht Parissche Methode in einer solch machtvollen Arbeit wie diejenige, die Gillieron eben über abeille veröffentlicht: aber bedarf es in der hartnäckigen Erforschung verwickelter Probleme nicht ebensosehr der tiefen Begeisterung wie der Methode? Wenn ich Gillieron von G.Paris erzählen höre, dann wird mir jeweils bewusst, wie sehr die Beurteilung eines Gelehrten nach dem wissenschaftlichen Ertrag seiner Arbeit doch recht unvollkommen sein muss. (...) Meine Arbeiten 59 schreiten stets vorwärts: Ende dieses Jahres dürften wohl 5/ 6 aller französischen Dialektwörterbücher ausgezogen sein. Die italienischen sind noch etwas im Rückstande, aber Ende des nächsten Jahres dürfte auch hier die Ernte weit fortgeschritten sein. Aber eines macht mir allerdings immer mehr Sorgen: die Unterkunft dieser Materialien, die sich in einer Menge auftürmen, dass meine Räumlichkeiten nicht mehr genügen wollen. Und bei den teuren Wohnungsmieten bedeutet dieses Problem des Raumes neue Schwierigkeiten. ( ... ) Ich wünsche, dass Ihnen der Sommer recht wohl bekommen möge: vor allem soll die arglistige Grippe Sie gütigst bewahren! Meine Familie hat sich für vier Wochen in Guggisberg niedergelassen und erfreut sich hier der Essensfülle, die in den Städten der Sage angehört. Warme Wünsche und herzlichen Gruss mit der Bitte, mir mein Stillschweigen gütigst nachsehen zu wollen! Nr.16 Verehrter Meister! Stets Ihr ergebener Jud UBG 5192 11.III.19 Auch Briefe haben ihre Schicksale! Der vorliegende war mehr als einmal begonnen, dann wieder abgebrochen, beiseite gelegt, abermals angefangen worden. Die Ereignisse des letzten Winters waren so überwältigend für den, der sie wirk- 59 Cf. Briefe Nr. 6 und 12. 24 Siegfried Heinimann lieh innerlich miterlebte, dass man sich stets scheute, zu ihnen Stellung zu nehmen. Ich will versuchen, die von Ihnen angeschnittene Frage betreffend die Stellung der deutschen Romanisten eingehend zu besprechen 60 . (... ) Romanist soll unter den Jungen nur noch der werden, der geistiges und seelisches Einfühlungsvermögen und auch den entsprechenden Willen, fremde geistige Art zu vermitteln, besitzt. Ich erinnere mich, wie Sie, verehrter Meister, das italienische Volksleben oder das kymrische in gewissen Ihrer Aufsätze liebevoll interpretiert haben: nicht als praeceptor, sondern als freudvoll Geniessender, dass eine so reiche Varietät unter den Menschen existiert. (...) Jetzt, da der Frühling machtvoll durch Europa rauscht, dürfte auch die Notlage mit dem doch bald zu erwartenden Präliminarfrieden etwelche Linderung erfahren: die knappen Mittel zum Leben werden allerdings aufs schwerste den Luxus wissenschaftlicher Forschung belasten. In diesem Punkte sieht die Lage in allen Staaten Europas recht düster aus. Aber es kann kein Zweifel obliegen [sie], dass die Wissenschaft als Lebensprinzip und als «geistiges Bildungsprinzip» in den hinter uns liegenden Krisen nicht gut abgeschnitten hat. Sie haben ja oft beklagt, wie sehr der Geist in der Forschung fehle, wie oft der Diskussion prinzipieller Probleme ausgewichen wurde, nur um auf dem «sicheren Festlande der Tatsachen» zu verbleiben. Ein solcher Block von Tatsachenmaterial ist das Etymologische Wörterbuch von Meyer-Lübke: aber ich kann mir nicht helfen: der Eindruck ist für mich stets ein trostloser: ich bewundere den Mut, ein solches Material anzuhäufen und kritisch zu zensieren: aber liegt hier wirklich geistige Perspektive vor? Ich sehe nur Steinhaufen, nie aber eine Aussicht ins gelobte Land. Und in dieser Hinsicht bleibt doch Diezens Etymologisches Wörterbuch immer noch unerreicht. Ihre so weittragende Arbeit über die romanischen Lehnwörter im Berberischen 6 1 traf mich schwer Grippekranken im Bett: und doch, kaum war das Fieber vorbei, durchlas ich Ihre Abhandlung wie einen Roman, der mich aus der fieberhaft verknäuelten Welt wieder zuerst in die richtigen Bahnen des Denkens zurückführte. Und über einige Probleme, die mir bei der Lektüre aufgestossen sind, möchte ich mich heute unterhalten: natürlich liegen sie auf dem romanischen, nicht auf dem afrikanischen Ufer, das mir wie ein Wunderland erscheint. Aber Sie haben von Süden her so helle Strahlen auf das romanische Ufer geworfen, dass der Romanist so oft wie der Afrikaner 62 zu Ihrem Werke greifen wird: das folgende habe ich für einen Bericht in der Romania verwertet: bis die Correc- 60 Es folgen vier Seiten, auf denen Jud sein Bedauern darüber ausdrückt, daß die deutschen Romanisten wenig beitragen zur Verständigung mit den romanischen Ländern. Wir greifen den folgenden Abschnitt heraus, der wie eine Schlußfolgerung klingt. 61 Die romanischen Lehnwörter im Berberischen, SB Wien 188/ 4 (1918), p. 1-82 (Brevier Verz. 704). Jud hat die Arbeit angezeigt in Romania 45 (1918/ 19), 272-275 (Bibl. lud 86). 62 Lies: Afrikanist. Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 25 turbogen eingetroffen sind, teilen Sie mir vielleicht gütigst mit, wo ich falsch gesehen habe 63. ( ... ) Mit der gleichen Post sende ich Ihnen auch Gillierons Arbeit 64 zu, die für mein Empfinden eine der tiefschürfendsten Arbeiten über den neufranzösischen Wortschatz darstellt. Wie hier der Wortschatz als ein eng ineinander gewobenes Tuch aufgefasst wird, bei dem die Wegnahme einzelner Fäden die ganze Struktur verändert, das ist eine Erkenntnis, die mir nie mit so eindringlicher Deutlichkeit sich offenbart hat wie bei der Studie über abeille. Ich habe diesen Winter meinen Studenten das Problem ecclesia basilica aufgerollt, später dasjenige von os bucca labrum maxilla; und es ist mir wieder so recht deutlich geworden, dass das «Fachsystem» der etymologisch numerierten Typen ein ebenso grosser Unsinn ist, wie wenn einer eine Geschichte der Architektur schriebe, in der er die Geschichte der Türe, des Fensters, der Schwelle, des Fensterladens, des Kamins usw. durch alle Zeiten hindurch zu verfolgen sich anschickt und dabei dem Leser zumuten würde, sich hieraus die Vorstellung eines Hauses des 13.Jahrhunderts zu bilden. Das Problem der Ordnung meiner Materialien, die immer gewaltiger anschwellen, drängt mir immer wieder das Problem der Verarbeitung auf: ich sehe keinen Ausweg als den der Monographien. ( ...) Ihnen alle guten Wünsche zum Frühling und herzliches Gedenken! Ihr Jud P.S. (...) Ihre Auffassung von der «Schule» teile ich durchaus: wir Schweizer haben uns stets als «Schüler Hugo Schuchardts» betrachtet, wenn auch keiner zu Ihren Füssen oder vor Ihrem Katheder sich niedergelassen hatte. Nur spielt ja beim Schüler voce viva stets ein persönliches Element mit: es ist doch wohl kein Zufall, dass soviele französische Romanisten sich auf ihren Lehrer Gaston Paris beriefen, nicht aber auf den ihnen doch wohl bekannten (und gefürchteten? ) Paul Meyer! - Aber nun genügt's! 63 Es folgen wortgeschichtliche Einzelheiten üb�r fünf Seiten. Wir lassen sie weg und geben den Schluß des Briefes (leicht gekürzt) und das Ende des zweiseitigen Postscriptums. Der ganze Brief umfaßt 16 Seiten, wovon vier großformatig. 64 Cf. N 53. 26 Nr.17 Verehrter Meister! Siegfried Heinimann UBG 5193 20.V.19 Warmen Dank schulde ich Ihnen für Ihren lieben ausführlichen Brief, ferner für die beiden Karten (1. verspätet, 2. heute eingetroffen), die mich zur sofortigen Beantwortung Ihrer Zeilen aufrüttelten 65 . (...) Unsere Diskussion hinsichtlich der Umstellung der Arbeit und des Zieles bei den deutschen Romanisten möchte ich nicht in dem Sinne weiterführen, als ob ich nur das Tadelnswerte östlich des Rheins, das Lobenswerte westlich des Rheins fände. Aber eines ist mir doch immer klarer geworden: unsere Neusprachler die V ermittler einer fremden Geistesart an den Mittelschulen hatte die Universität durchaus ungenügend ausgebildet. Erste Pflicht hätte darin bestanden, Leute von diesem Berufe wegzuweisen, die innerlich sich nicht mit fremdem Empfinden und andersgearteten Anschauungen vertraut machen können noch wollen.(...) Aber warum scheut sich die Universität, ins volle Leben des gegenwärtigen Italien oder Frankreich hineinzugreifen? Wir vertrinken im Historismus. (...) Wir haben an der Masse des Stoffes statt an dessen Qualität uns gefreut; wir glaubten, dass, je ferner die Kulturerscheinung unserer Zeit entrückt sei, umso grössere Objektivität erreichbar werde, als ob nicht auch in demselben Masse das lebendige Interesse des heutigen Menschen für diese uns fremd gewordenen Phänomene abnehmen müsste. Und da muss ich nun schon gestehen, dass die französischen Germanisten, die ich kennen zu lernen Gelegenheit hatte, in jeder Beziehung das moderne Deutschland besser kannten als die deutschen Neuphilologen Frankreich.(...) Aber nun will ich schliessen: die Kritik, die mich ebensosehr trifft wie andere, ist ja viel leichter als das Bessermachen! (...) Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass Sie uns noch den zweiten Teil des Romanobaskischen schenken, den wir nach dem Beiheft der Zeitschrift immer 65 Die beiden Karten sind nicht erhalten. Der Brief ist datiert vom 3.April 1919. Sch. klagt darin über seine Niedergeschlagenheit, seine Unfähigkeit zu arbeiten: «Wir sind ja alle in verzweifelter Lage und in verzweifelter Stimmung.» Zur Frage, was die Universität zum Völkerfrieden beitragen sollte, schreibt er: «Für mich ist das Studium der Sprachen, besonders der romanischen von je als Förderungsmittel des mir als Ideal vorschwebenden Völkerfriedens oder Völkerbundes erschienen. Es hat sich in diesem Kriege ganz nutzlos erwiesen.» Ähnlich - und ebenso resigniert klingt es später in einem Brief an Leo Spitzer: «Lasciate ogni speranza (...) Ich hatte einst das Gefühl als Romanist habe man auch eine sittliche Funktion, sei ein wenig, ein ganz klein wenig Vorarbeiter des allgemeinen Völkerfriedens ...» (L. SPITZER, Hugo Schuchardt als Briefschreiber, Revue internationale des etudes basques 21 [1930], 27, 9.Febr.1926, nach der Lektüre einer Rede Mussolinis.) - Den Brief von Jud beantwortet Sch. postwendend am 26.Mai. Er klingt ebenso trostlos wie der vorangehende. Der verlorene Krieg, die territorialen Forderungen Frankreichs und die wirtschaftliche Notlage bedrücken ihn in gleichem Mass. Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 27 noch erwarten dürfen 66. Und Sie dürfen, verehrter Meister, dasjenige Forschungsgebiet nicht im Stich lassen, auf dem Sie stärkeres Echo gefunden haben als irgend ein Deutscher seit Diez. Ihre Forschung und Ihre Problemstellung sind nicht österreichisch noch deutsch noch europäisch, sondern Ihre ganze Arbeit ist dem Suchen nach den tiefsten Gründen sprachlichen Seins und Werdens geweiht: eine solche Arbeit kennt keine Grenzen, sie adelt den Menschen, den wir lieben müssen, ob er südlich oder nördlich der Alpen wohnt. Und so rufe ich aus voller Überzeugung: Europa muss sich wieder finden. Sie aber dürfen als Altmeister dieser europäischen Wissenschaft uns in der Not nicht im Stiche lassen! Nr.18 Verehrter Meister! Warmen Gruss und Wünsche von Ihrem Jud UBG 5198 8.XII.19 Die Kunde von dem Hinschied von Prof. Cornu 67 hat mir sehr weh getan: ich hatte den aufrechten Mann gern wie einen lieben väterlichen Freund, der mir besonders während des Krieges sehr nahe gekommen war. (...) Herzlichen Dank schulde ich Ihnen ferner für die höchst interessante und fesselnde Darstellung von Ihrem Verhältnis zu A. Tobler 68: Ihr Einstehen für den intereuropäischen Charakter der Diezstiftung und Diezehrung fügt sich prächtig zum Bilde, das sich Aussenstehende stets von Ihnen entwarfen: Deutscher, aber zugleich Weltbürger! Diese Stellung über nationalem Hader, die Sie so oft und warm gegen Andersdenkende vertreten und verfochten haben, sicherte Ihnen unsere warme Sympathie und zog Ihnen die dauernde Verehrung der Schweizer zu. Wenn Sie so stark unter dem Unglück Deutschlands leiden, weil Sie ein gesundes Europa ohne ein gesundes Deutschland sich unmöglich vorstellen können, so begreifen wir dies vollauf; Sie haben ein Recht darauf, inmitten nationaler Leidenschaft auf Ihr Deutschtum als Weltbürgertum sich zu berufen, weil Sie beide in sich vereinigen 69. Dass Sie vielleicht heute zu einseitig die deutsche 66 Der 1. Teil erschien 1906 unter dem Titel Baskisch und Romanisch, Zu de Azkues Baskischem Wörterbuch als Beiheft 6 zur ZRPh. (Brevier Verz. 504). Später erschienen in der ZRPh. verschiedene romano-baskische Miszellen. Sch. ist den baskischen Studien treu geblieben bis an sein Lebensende. 67 Cf. N 23. 68 Über seine Beziehungen zu Adolf Tobler (Berlin), nach denen Jud sich erkundigt hattesie waren nicht eng-, berichtet Sch. in einem Brief vom 24. Okt. 1919 (unveröffentlicht) und weiteres am 10. Nov. desselben Jahres (abgedruckt in VRom. 31 (1972], 19ss., spez. 22s.). 69 Im Original: vereinigten. 28 Siegfried Heinimann Schuld nur als einen Teil der europäischen Gesamtschuld anerkennen wollen, verstehe ich sehr gut: in dem Augenblick, da Millionen Menschen leiden, ist die Aufrollung der Schuldfrage unendlich kleinlich und lindert des Nächsten Not in keiner Weise. Nur Verzeihen und Vertrauen hilft uns hinweg: aber ach die Menschen sind grausam und unerbittlich, man wäre oft geneigt, sich schaudernd von ihnen abzuwenden. Die erste Stunde des Neuerscheinungskollegs habe ich Ihnen gewidmet: ich besprach mit den Studenten die Berberischen Lehnwörter (die Rezension ist unterdessen in der Romania erschienen 70. (...) Sie sehen, Sie sind nicht vergessen, auch nicht verschollen, sondern lebendig und werden es für die Jungen bleiben. Meinen und Prof. Gauchats Studenten ist der Name Schuchardt ein Symbol: darf Sie das nicht auch ein bisschen freuen? (...) 71 Warmen Gruss und Gedenken Jud Nr.19 UBG 5203 20. II. 20 Verehrter Meister! (••.)72 Für Ihre lieben, anerkennenden Worte herzlichen Dank 7 3: dass Sie stets noch weitere Perspektiven zu eröffnen vermöchten, ist ja selbstverständlich. Ich muss mich damit begnügen, ein kleines Lichtzentrum zu sein. Für Ihre beiden Aufsätze: Über den Sprachursprung 74 habe ich Ihnen, glaube ich, noch gar nicht gedankt: ich bin da stets nur Lernender und freue mich, dass Ihnen stets aufs neue die Freude wird, Ihre abschliessenden Anschauungen und neu anregenden Ausblicke zu Papier zu bringen und zu fixieren. Was Sie über die Rückprojizierung der im heutigen sprachlichen Leben wirkenden Kräfte in die Vergangenheit sagen, findet meine volle Billigung: man wird nie vorsichtig genug sein können bei der Übertragung des heutigen Kräfteparallelogrammes auf die Vergangenheit. Aber anderseits halte ich doch dafür, dass die «paläontologische» Sprachbetrachtung noch sehr viel von der Einsicht in das Wesen der heutigen sprachlichen 70 Romania 45 (1919), 272-275 (Bibl. lud 86). 71 Es folgen vier Seiten (davon zwei in Großformat) über etymologische Probleme. 72 Der Anfang des Briefes handelt über Büchersendungen u. ä. 73 Sch. hat sich offenbar anerkennend geäussert über Juds Rezension der Romanischen Lehnwörter im Berberischen; der Brief ist nicht erhalten. Cf. Juds Brief Nr. 18 mit N 70. 74 Sprachursprung I und II, SB Berlin 1919, Bd. 39, 716-720; Bd. 45, 863-869 (Brevier Verz. 711, 712). Teil III ist erst 1920 erschienen (Verz. 726) und ein Exkurs dazu 1921 (Verz. 741). Alle vier Stücke sind abgedruckt im Brevier, p. 254ss. Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 29 Vorgänge zu lernen hat: ich denke z.B. an Gillierons Arbeiten, die m. E. für die ganze Anschauung von gesprochenem Latein und geschriebenem neue Ausblicke eröffnen. Wir sind von der indogermanistischen Sprachforschung noch viel zu sehr an Statistik gewöhnt. Sie und Gillieron haben stets nicht den einzelnen Faden, sondern das Gewebe untersucht. Aber das Gewebe ist in seinem Muster nur heute besser erkennbar, verfetzt und von Motten zerfressen starrt uns dasjenige der vergangenen Zeit entgegen. Daher hätte ich eigentlich gerne den Mahnruf an die Petrefaktenforscher deutlicher noch formuliert, als Sie es für richtig hielten. Trombettis Forschungen 75 zu verfolgen bin ich leider ausser Stande: er operiert mit zu vielen Unbekannten und mit zu reichlichen vorgefassten Meinungen. Mich stösst seine etwas selbstsichere Art ab: aber vielleicht tue ich ihm Unrecht. Urtel hat mir neulich seine Arbeit zugestellt 76: aber in seinen Zeilen stand nichts von Ihrer Rezension, die mir übrigens durchaus wohlwollend scheint. Dass er stets etwas rasch zu urteilen und zu schliessen geneigt ist, wird bei seiner ganzen Anlage und Forschernatur 77 nicht weiter verwunderlich sein: er hat ein so neues und ertragreiches Arbeitsfeld entdeckt, dass er vor Freude gar nicht weiss, wo er es in Angriff nehmen soll. Aber mich freut doch stets seine nimmermüde Begeisterung für die wissenschaftlichen Entdeckungen. Die engadinischen Briefe, die Sie mir in Aussicht stellten, sind noch nicht eingetroffen 78• Was gedenken Sie, verehrter Meister, für Ihren grossartigen Briefwechsel mit den führenden Gelehrten zu tun? Hoffentlich anvertrauen Sie diese Dokumente einem gut geleiteten Archiv mit der Bestimmung, dass nicht jeder nach Belieben darin schnüffeln kann. ( ... )79 Ihnen wünsche ich gute Genesung, damit ich bald wieder von Ihnen tröstliche Nachricht erhalte! Mit herzlichem Gruss verbleibe ich Ihr Jud 75 Im ersten Teil seiner Berliner Akademieschrift von 1919 (zit. oben N 74) setzt sich Sch. kritisch auseinander mit ALFREDO TROMBETTI, L'unita d'origine del linguaggio (1905) und lehnt dessen einseitig monogenetische Auffassung ab. 76 HERMANN URTEL, Zur baskischen Onomatopoesis, SB Berlin 1919, Bd. 13, 138-157. Schuchardts Rezension erschien im Lbl. 40 (1919), 397-406 (Brevier Verz. 716). Urtel beginnt seine wissenschaftliche Laufbahn mit einer Heidelberger Dissertation (1897) über die Neuenburger Mundart, beschäftigt sich weiter mit französischen Patois, aber auch mit umfassenden gesamtromanischen Problemen und wendet sich später dem Iberischen und dem Baskischen zu. 77 Im Original: Forschungsnatur. 78 Am 12. Dez. 1919 hatte Jud an Sch. geschrieben: «Das Rätische Idioticon wünscht, daß ich Sie anfrage, ob Sie die Freundlichkeit hätten, Ihre in Ihrem Besitz liegenden rätischen Briefe ihm für das Idioticon zu überlassen. » Sch. hat darauf offenbar positiv reagiert; sein Antwortschreiben ist nicht erhalten. 79 Hier steht Persönliches über Nedwed (cf. Nr. 8) und Cornu (cf. Nr. 8 N 23) u. a. 30 Nr.20 Verehrter Meister! Siegfried Heinimann UBG 5204 14.IV. 20 Ihre Sehnsucht nach unserem Lande begreife ich und fühle ich lebhaft nach: und wenn die Reise etwas bequemer und namentlich rascher sich vollzöge, hätte ich Sie gleich zu einem Besuche in der Schweiz eingeladen: wir würden es uns als grosse Ehre anrechnen, Ihnen diese Freude bereiten zu dürfen. Aber wir wagen an eine Realisierung nicht zu denken! Mein Stillschweigen für ein paar Monate mag ich nur dadurch erklären, dass ich Ihnen nun den Plan verrate, an dem Prof. Jaberg und ich unermüdlich gearbeitet haben: es handelt sich um den Sprachatlas Oberitaliens und der rätischen Mundarten. Wir haben seit Jahren (1912) diesen Plan gehegt und ihn nie aus dem Auge verloren: jetzt ist er im Marsch. Das ganze Jahr 1919 arbeiteten wir an der Ausarbeitung des Questionnaire, an der Ausbildung des Explorators, an der finanziellen Sicherung des Unternehmens für die ersten anderthalb Jahre. Nun ist die Arbeit geleistet: der Explorator, Herr Dr. Scheuermeier, ist seit dem 19.November 1919 unterwegs, die Aufnahmen (etwa 20) von Bündens Tälern sind bereits vorhanden, die Photos sachlicher Art sind erprobt und last not least: die finanziellen Mittel wenigstens bis auf den Betrag von 29 mille gesichert. (...) Das Stillschweigen über all diese Vorbereitungen erklärt sich ja ohne Schwierigkeiten daraus, dass es uns beiden zuwider ist, über einen Plan zu sprechen und ihn darzulegen, bevor er in Ausführung begriffen ist. Und wir wünschen auch heute noch keine weite Oeffentlichkeit, sondern stille unentwegte Arbeit im Dienste des Unternehmens, von dem wir uns für die italienische Sprachforschung neue Wege versprechen. Ihnen aber wollte ich das wie auch Wagner 80 nicht länger vorenthalten, denn ich weiss, wie sehr Sie der Plan interessieren muss. Wir gedenken, am Nordrande Italiens je einige französische und deutsche Grenzmundarten heranzuziehen, um als Vergleichsobjekt zu dienen. Gillieron schreibt mir, dass Saroihandy für den baskischen Teil nun ebenfalls der Idee eines Atlasses nähertritt. Mir schwebt eigentlich als Abschluss meiner Lebensarbeit immer noch die Durchführung eines deutschschweizerischen Atlasses vor, der so ungemein interessant sein müsste: man wendet mir nur immer ein, das sei nicht Sache der Romanisten! - Ich laboriere immer noch am Problem von amblaz 'Jochriemen' herum 81. (...) 80 Max Leopold Wagner (1880-1962) wurde erst 1924 zur Mitarbeit am AIS beigezogen. Über seine Exploratorentätigkeit in Sardinien berichtet er in seinen Briefen an Karl Jaberg; sie sind auszugsweise publiziert in der Festschrift für Johannes Hubschmid zum 65. Geburtstag, Bern 1982, p. 451-466. 81 Cf. JuD, Rätoromanisch umblaz, bündnerdeutsch amblaz, Bündner Monatsblatt 1921, 37-51 (Bibi. lud 99). Briefe von Jakob Jud an Hugo Schuchardt 31 Übermorgen wandere ich nach Bünden: mit Herrn Dr. Scheuermeier gedenke ich im Lugnez gemeinsam eineAufnahme zu machen (...)An jedem Ort soll er eineAnzahl Photos von Geräten aufnehmen, die als Bilderatlas einst veröffentlicht werden sollen. Das ist die teilweise Verwirklichung Ihrer Idee: Sprach- und Bilderatlanten! (...)Aber nun genügt es: ich habe zu lange geplaudert und will mich befleissigen, das nächste Mal nicht soviel von mir zu berichten: le moi est hai"ssable! Warme Wünsche und stetes Gedenken! Nr.21 Verehrter Meister! Ihr ergebener Jud UBG 5207 22.XII.20 (... ) 82 In Herrn Dr. Scheuermeier, dessenArbeit 83 ich Ihnen in seinemAuftrage nächstens zustellen möchte, haben wir einen ganz tüchtigen Explorator gewonnen: Liebe zur Sache,Ausdauer bei allem Widerwärtigen, Geschick in derAuswahl seiner Gewährsleute, wirklich einen Jungen haben wir gewonnen, den man lieben muss. Seit 5/ 4 Jahren ist er nun fast ununterbrochen unterwegs und übernimmt alle Entbehrungen mit einer Begeisterung für das Unternehmen, dessen Gelingen ihm anvertraut ist. Aber ich habe nun immer wieder von meinem (oder besser gesagt: unserem) Pflegekinde 84 gesprochen, dem die ganze Liebe Jabergs und auch die meinige gilt: die des kinderlosen Jaberg ist noch fast leidenschaftlicher als die meinige, die wenigstens ebenfalls meinen beiden Jungen zugute kommt. Als vor wenigen Tagen ich mit Dr. Hubschmied mich unterhielt (der an Ihrem Leben und Leiden stets den allerherzlichstenAnteil nimmt), da stellten wir wieder einmal die grosse Schuld fest, in der wir bei Ihnen stehen. Und wir fragten uns, wie es sich denn eigentlich erkläre, dass Sie Ihre grossen Diskussionen über methodische Fragen in der Sprachforschung meistens mit Romanen ausfochten. Überhaupt wieviel stärkere Bewunderung hat Ihre Forschung bei Nichtdeutschen ausgelöst! Womit hängt also diese Tatsache zusammen? Wenn ich mir vergegen- 82 Jud berichtet ausführlich über den Fortgang der Mundartaufnahmen für den AIS. Sch. hatte sich am 17. Dezember danach erkundigt. 83 Gemeint ist die Dissertation von PAUL ScHEUERMEIER, Einige Bezeichnungen für den Begriff 'Höhle' in den romanischen Alpendialekten, Beih. ZRPh. 69, Halle 1920. 84 Gemeint ist natürlich der AIS.