eJournals Vox Romanica 51/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1992
511 Kristol De Stefani

BIRTE STENGAARD, Vida y Muerte de un Campo Semdntico. Un estudio de la evoluci6n semantica de los verbos latinos stare, sedere e iacere de! latin al romance del s. XIII, Tübingen (Niemeyer) 1991, 414 p. (Beih. ZRPh. 234)

121
1992
C. Wittlin
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250 Besprechungen - Comptes rendus sten Weise sowohl direkt als auch indirekt im Rahmen der Silben- und Wortprosodie ausgewirkt und eine Fülle von Lautveränderungen zur Folge gehabt hätte. - Für diese Grundhypothese versucht nun Verf. zuerst eine theoretische Basis zu entwickeln (3ss.), vor deren Hintergrund in der Folge dann vier ausgewählte Phänomene in mehr oder weniger ausgedehnten Bereichen der Romania untersucht werden: die Synkopierung (44ss.), die Entwicklung von A[ (90ss.), die beide dem Bereich der direkten Auswirkungen der Akzentdruckverstärkung zuzurechnen wären, sowie die Palatalisierung von K (123ss.) und die Behandlung von intervokalischem K (141ss.), Phänomene, die nach Geisler als Sekundäreffekte zu gelten haben. Auf eine kurze Schlußbetrachtung (150-53) folgt dann eine umfangreiche Bibliographie (154-75) 2 , ein Wortindex (176-84) sowie ein eindrücklicher Kartenteil, der der Illustration der untersuchten Phänomene in der Romania dient. Seinen Ansatz gründet Geisler auf ein produktionsorientiertes Silbenmodell, wobei die Silbe als eine Funktionseinheit aufgefaßt wird, die sich aus der Polarität von Sonoritätsmaximum und konsonantischer Obstruktion ergibt. Dies ist soweit richtig, doch stellt sich natürlich die Frage, was denn eigentlich die Funktion der Silbe ist. Verf. bleibt uns hierauf die Antwort schuldig, ja er muß sie eigentlich schuldig bleiben, denn eine linguistische Funktion der Silbe hat bis jetzt noch niemand nachweisen können nicht umsonst spielt die Silbe in der strukturellen und funktionellen Linguistik keine Rolle. Sie dürfte vielmehr eine substanzbedingte Größe der Lautproduktion sein, und wenn dem so ist, dann muß der Terminus Funktion eigentlich als unangemessen gelten 3 • Da die Substanzebene im Blickfeld steht, ist es auch nur konsequent, wenn Geisler darauf insistiert, daß Lautveränderungen keinen diskreten Charakter hätten, sondern vielmehr als kontinuierlich, d. h. skalar zu gelten haben. Die als Auslöser der Lautveränderungen angesehene Akzentdruckzunahme hätte nun direkte Folgen auf den Sonoritätsbereich (den man etwas verkürzt mit demjenigen der Vokale gleichsetzen kann); die sich daraus ergebenden Verschiebungen bezüglich der Druckverteilung innerhalb der Silbe würden nun sekundäre Veränderungen im Obstruktionsbereich (Silbenan- und auslaut) auslösen, und zwar deshalb, weil die Sprache als selbstregulierendes synergetisches System zu gelten habe (3). Es gäbe sowohl sprecherbezogene Optimierungen (Minimierungen) des Produktionsaufwandes als auch hörerbezogene Optimierungen (Reduzierungen) des Rezeptionsaufwandes. Auch diese Ausführungen sind nicht ganz unproblematisch. Der Begriff der Selbstregulierung (autoreglage) gehört in den Bereich der strukturalistischen Grundaxiome 4 und kann deshalb nicht ohne weiteres auf den Substanzbereich übertragen werden. Geislers Konzeption läßt sich eigentlich nur retten, wenn man davon ausgeht, daß er so etwas wie eine Energiekonstante für die Silbe oder die Akzenteinheit (oder beides) annimmt wenn er dies auch nirgends in dieser Form sagt; zumindest muß man nach seinen Ausführungen aber davon ausgehen, daß es eine Art physiologisch bedingte Begrenzung des Energieaufwands gibt, die zur Folge hat, daß Verstärkungen in gewissen Mikrosegmenten durch Schwächungen in andern (korrelierten) Mikrosegmenten kompensiert werden, wobei diese Kompensa- 2 Es mutet allerdings recht eigenartig an, daß in der Bibliographie Arbeiten aus dem Bereich der Experimentalphonetik und der Intonologie weitgehend fehlen; obwohl Geislers Zielsetzung nicht in diesem Bereich liegt, hätten die Erkenntnisse in diesem Bereich für ihn doch große Bedeutung gehabt und ihn an zahlreichen Stellen sicher vorsichtiger formulieren lassen. 3 Das Gleiche gilt auch für die Termini prosodisch/ Prosodie, die für die von Geisler untersuchten Gegebenheiten wenig glücklich sind. Es geht hier nicht um suprasegmentale, den segmentalen überlagerte Einheiten, sondern vielmehr um die Interrelation zwischen eine Sequenz bildenden Phonemen bzw. Phonemrealisierungen (Substanzebene), oder mit anderen Worten: um die Syntax dieser Einheit. 4 Cf. hierzu P. WuNDERLI, «Glanz und Elend des Poststrukturalismus», RZLG 1992 [erscheint demnächst]. Besprechungen - Comptes rendus 251 tionsphänomene offensichtlich über die Silbengrenze hinausgehen können. Aufgrund dieser Gegebenheiten kommt Verf. dann zum Schluß, daß die ständige Ausbalancierung als allgemeines Motiv für Sprachwandel zu gelten habe (3) 5 • Wie Geisler selbst erklärt, ist der Ausgangspunkt für seinen Ansatz in den (für den morphosyntaktischen Bereich gültigen) Linearisierungsuniversalien von Greenberg (1963) zu suchen, die er gewissermaßen auf den lautlichen Bereich zu übertragen versucht. Für einen Zusammenhang zwischen morphosyntaktischen und prosodischen Phänomenen kann er sich auf Vorläufer wie Elise Richter (1911, 1919), Ch. Bally (1932), L. Deszö (1977, 1982), Th. Vennemann (1974) usw. berufen 6 . Grundthese ist die Annahme, daß der Übergang vom Lateinischen zum Romanischen durch die folgenden voneinander nicht unabhängigen Veränderungen gekennzeichnet sei: Wechsel von einer OVzu einer VO- Struktur; Übergang von einer fallenden zu einer steigenden Intonation; Ersatz des melodischen durch einen expiratorischen Akzent 7. Diese Phänomene würden den Rahmen liefern für den durch prosodische Faktoren im Rahmen der Silbe bedingten Lautwandel. Da dieser Lautwandel primär im Bereich der Substanz (Phonetik) ablaufe, sei eine spätere Phonologisierung der Ergebnisse keineswegs zwingend, da phonetischer und phonologischer Bereich ja nur bedingt voneinander abhängig sind (7s.). Im folgenden wird dann die phonetische Basis des Ansatzes weiter präzisiert. Geisler weist zu Recht darauf hin, daß im artikulatorischen Bereich bis jetzt nur der subglottale Druck einigermaßen verläßlich gemessen werden kann (9), wobei die Korrelation dieser Werte zu den akustischen und auditiven Parametern aber weitgehend ungeklärt ist 8 weshalb er sich bei seinen Ausführungen ganz auf die artikulatorische Größe beschränken will. Anschließend werden dann Phänomene wie der Kontinuum-Charakter des Lautstroms und die Koartikulation im Hinblick auf ihre Relevanz für die Arbeit diskutiert (10s.); Probleme sieht Verf. v. a. in der Ermittlung von eindeutig begrenzbaren Segmenten im Lautstrom, doch bleiben diese für ihn wegen der ausschließlich in schriftlicher Form zur Verfügung stehenden Quellen trotzdem unverzichtbar 9 • - Des weiteren geht Geisler dann auf die prosodischen Einheiten ein. Die Akzenteinheit wird etwas arg vereinfacht mit dem Wort gleichgesetzt (12); für die Silbe wird weiter ausgeholt: Verf. übernimmt im wesentlichen das sog. Trichtermodell, das auf Sonoritätsmaxima und -minima basiert, bei dem sich aber große Probleme mit der Abgrenzung der Silben ergeben (12ss.). Geisler macht zu Recht deutlich, daß die Silbenmuster weder konstanten noch universalistischen Charakter haben sie sind vielmehr einzelsprachlicher Natur und dem historischen Wan- 5 Dies ist etwas arg pauschal und müßte zumindest auf den Lautwandel eingeschränkt werden. Andere Sprachwandeltheorien (Keller, Labov, Meillet, Coseriu, Schuchardt), die durchaus auch für den Bereich des Lautwandels relvant sind, kommen nirgends zur Sprache. 6 Für die genauen bibliographischen Angaben cf. die Bibliographie bei Geisler. 7 Zur Problematik dieser Annahmen cf. auch unten. 8 Die Korrelationen zwischen artikulatorischem, akustischem und auditivem Bereich sind sicher noch nicht erschöpfend erforscht, aber so schlecht sind unsere Kenntnisse hierüber auch wieder nicht, wie Geisler behauptet hier macht sich seine bereits erwähnte Vernachlässigung der experimentalphonetischen Literatur bemerkbar. Auf jeden Fall wissen wir mit Sicherheit, daß es zwischen diesen drei Bereichen keine direkten Abhängigkeiten gibt und daß die verschiedenen für sie jeweils charakteristischen Parameter sich in hohem Maße kompensatorisch vertreten können. Cf. hierfür u. a. P. WuNDERLI, Französische lntonationsforschung, Tübingen 1978, passim; rn., «Intonationsforschung und Prosodie», in: LRL 5/ 1 (1990), p. 34-46. 9 Die Problematik besteht allerdings nur, wenn man ausschließlich die Substanzebene in Betracht zieht. Wie schon Saussure erkannt hat, sind Segmentierungen aber nur möglich, wenn man Substanz und Form dialektisch zu einander in Bezug setzt. Cf. CLG 154ss.; auch WuN- DERLI, Saussure-Studien, Tübingen 1981, p. 116-20. 252 Besprechungen - Comptes rendus de! unterworfen (21ss.) 10 • Als wortprosodische Funktion wird der Akzent ermittelt (19ss.) 11 , dessen artikulatorisches Korrelat der (über den subglottalen Druck meßbare) «Akzentdruck» wäre. Bei der silbenprosodischen Funktion dagegen tut sich Geisler schwer. Er sieht sie in der Sonorität und der Obstruktion aber dies sind mit Sicherheit keine sprachlichen Funktionen! 12 Großes Gewicht wird dann auf die Hierarchisierung der «prosodischen Funktionseinheiten» gelegt (24ss.) 1 3. Die «genetische Stärke» 1 4 wird auf die Sonorität (Schallfülle) bzw. den Öffnungsgrad zurückgeführt. Die Diskussion der Ansätze von Grammont, Lausberg, Vennemann, Hooper und Vogel führt Geisler zu dem berechtigten Schluß, daß sie alle irgendwie unbefriedigend sind. Er entwickelt deshalb ein eigenes Hierarchisierungssystem, in dem Sonoritäts- und Obstruktionsskala nicht ineinander übergehen, sondern vielmehr getrennt bleiben, und zwar aufgrund der Tatsache, daß ein Übergang zwischen vokalischem und konsonantischem Bereich zwar nicht immer ausgeschlossen, keinesfalls aber unbedingt gegeben ist. Dieses als (durchaus brauchbare) Arbeitshypothese deklarierte Schema präsentiert sich dann folgendermaßen (30): ÜBSTRUKTION SONORITÄT [+ l [-] [±] 1 p b fv m j ? E e a 1 t d s z n r q g y re 12) B a t k g JJ w u ::, 0 D t [-] [+l Der zweite zu berücksichtigende Parameter ist die positionsbedingte Stärke (von Konsonanten; 31s.). Die Position kann die «genetische» Stärke bzw. Schwäche je nachdem entweder akzentuieren oder auch (z. T.) aufheben. Am stärksten erweist sich die silbeninitiale Position, am schwächsten die silbenfinale; dazwischen liegt die silbenzentrale Stellung, die jedoch nur von Sonanten (d. h. Konsonanten in vokalischer Funktion) eingenommen werden kann. - Der dritte Parameter ist die umgebungsbedingte Stärke (32ss.). Auch hier entwickelt Geisler für Vokale und Konsonanten zwei von einander unabhängige Skalen. Vokale: Sonorität (+) 1 offene Silbe (C)y. 2 offene Silbe im Auslaut (C)Y# (-) 3 geschlossene Silbe (C)YC 10 Weshalb in dieser Diskussion nirgends auf die Silbentheorie Saussures (CLG 77ss.) eingegangen wird, ist schwerverständlich, denn sie enthält eigentlich schon die ganze Problematik, die sich Geisler mühsam in Auseinandersetzung mit neuerer Literatur erarbeiten muß. 11 Dies ist etwas zu pauschal formuliert, wie die Situation des Modernfranzösischen zeigt: Da der Akzent nicht mehr an das «Wort» gebunden ist, sondernvielmehr an das mot phonique, kann das «Wort» (im Sinne einer lexikalischen Einheit) höchstens noch als potentieller Akzentträger gelten. 12 Cf. oben, p. 250. Auch beim Akzent erweist sich Geislers Funktionsbegriff als problematisch, denn der Akzent selbst ist keine Funktion, sondernvielmehr ein (ausdrucksseitiges) Phänomen. Seine Funktion istvielmehr die p. 19 erwähnte mise en relief. 13 Gemeint sind damit letztlich die Phoneme bzw. Laute. 14 Auch dies ein wenig glücklicher Ausdruck!