Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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1992
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Kristol De StefaniW. DAHMEN/O. GSELL/G. HOLTUS/J. KRAMER/M. METZELTIN/O. WINKELMANN (ed.), Zum Stand der Kodifizierung romanischer Kleinsprachen. Romanistisches Kolloquium V, Tübingen (Narr) 1991, 410 p.
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1992
Ricarda Liver
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Besprechungen - Comptes rendus 257 wären (104s.). Wie wäre es mit der viel traditionelleren Sicht, daß man bei tal! tel, al!el, mal/ mel mit einer neben- und einer haupttonigen Entwicklung rechnen muß, wobei zu einem späteren Zeitpunkt die Funktionsdifferenzierung aufgegeben wird, und daß -m eben viel früher verstummt als -t und so grundlegend andere Bedingungen für die Entwicklung im vokalischen Bereich entstehen? Und schließlich wäre auch noch darauf hinzuweisen, daß bei der Diphthongierung A[---+ ae (---+ e) für die Schließung des zweiten Vokalsegments eine Abschwächung der Artikulation gegen Ende der Dehnung hin angenommen werden muß; da wüßte man natürlich gerne, wie Geisler Diphthongierungen vom Typus offenes E[---+ ie und offenes 6[-- -+ uo erklärt. Detailkritik ähnlicher Art könnte noch in zahlreichen anderen Punkten vorgetragen werden. Schwerwiegender scheint mir jedoch die Tatsache, daß die Erklärung des Lautwandels durch Erhöhung des Akzentdruckes und damit verbundene Optimierungsverfahren so lange letztlich nichts erklärt, als Geisler uns die Antwort schuldig bleibt, warum es denn zu einer Akzentdrukkerhöhung kommt wir haben letztlich nur eine post festum-Beschreibung. Sollte Geisler hier an eine Einwirkung des germanischen Superstrats (das ja in der Romania ganz unterschiedlicher Natur ist) denken? Er sagt es nirgends, und doch legen die Ausführungen dies oft nahe, zumal er die Sonderstellung des normannisch-pikardischen Raumes bezüglich der Palatalisierung und der Entwicklung von A[ auf eine späte Schwächung der ursprünglichen Gegebenheiten durch den Einfluß der Normannen zurückführt. Gerechterweise muß man allerdings zugestehen, daß die Schwächen von Geislers Ansatz im Kernbereich der Arbeit nie größer sind als die konkurrierender Erklärungsversuche. Viel problematischer sind dagegen gewisse Aussagen, die eher den «Randbereich» betreffen und wo Geisler in verhängnisvoller Weise dazu neigt, traditionelle Klischees ohne weitere Hinterfragung zu übernehmen. So wird z. B. behauptet, der Übergang vom Lateinischen zum Romanischen falle mit einem Überg'ang von der OVzu einer VO-Struktur zusammen (4). Nur: daß das Lateinische eine OV-Sprache gewesen sei, ist mehr als fragwürdig. Selbst für die klassische Literatursprache kann allerhöchstens von einer gewissen Tendenz in diese Richtung gesprochen werden; sowohl im Altlatein als auch im Vulgärlatein dominiert aber VO, und da das Vulgärlatein auch in vielen andern Fällen die altlateinischen Gegebenheiten fortsetzt, müßte man eigentlich annehmen, dies gelte auch für das Sprechlatein der Zwischenphase. - Aufgrund der Entwicklung OV-+ VO wird auch eine (korrelative) Veränderung der Satzprosodie behauptet: Wir hätten einen Übergang von einem fallenden zu einem steigenden Intonationsverlauf (4). Derartige Behauptungen sind in den Kreisen um Vennemann nicht selten, doch werden sie dadurch nicht annehmbarer. Wer weiß denn wirklich etwas über die lateinische Intonation und kann dies auf einigermaßen überprüfbare Weise belegen? Wir bewegen uns hier im Bereich der vollkommen willkürlichen Spekulationen. - Nicht besser steht es um die Behauptung, wir hätten im gleichen Zusammenhang mit einem Übergang von einem melodischen zu einem expiratorischen Akzent zu rechnen (5). Auch dies ist ein traditionelles Klischee, für dessen auch nur annähernde Richtigkeit es nicht die Spur eines Beweises gibt. V. a. müßte auch in Rechnung gestellt werden, daß bei suprasegmentalen Phänomenen immer Intensität, Dauer und Tonhöhe beteiligt sind und diese Parameter in einer kompensatorischen Relation zueinander stehen; ein nur auf einem dieser Parameter beruhender Akzent ist somit von vornherein auszuschließen. - Als Illustration für die Rückwirkungen der veränderten Satzprosodie (fallend -, steigend) auf die Wortprosodie werden Beispiele wie lat. muro fr. au mur angeführt (5). Dies gilt allerdings höchstens für das Französische, denn im Sp., Port., lt. usw. gibt es keine vergleichbare Generalisierung der Oxytonie. - Im gleichen Zusammenhang (5) wird auch behauptet, der französische Akzenttyp eigne sich wegen seiner Druckstärke besonders dazu, wortübergreifende Akzenteinheiten zu schaffen und trage so zum Aufbau der prädeterminierenden Strukturen und zur Nachsilbenreduktion (und damit zum Abbau der Postdetermination) bei 19 . Nur: was weiß man denn über die Akzentverhältnisse in früheren Zeiten? Und was macht man mit der Tatsache, 19 Der Ausdruck Determination ist in diesem Zusammenhang obwohl verbreitet wenig glücklich, denn ein Determinationsverhältnis im Sinne von Bally, Hjelmslev usw. liegt gerade nicht vor. 258 Besprechungen - Comptes rendus daß nach Delattre gerade die Intensität im (modern)französischen Akzent so gut wie keine Rolle spielt? Natürlich kann sich vom Altfranzösischen bis heute eine Menge getan haben, aber stutzig muß dies alles schon machen und sollte eigentlich von allzu spekulativem Vorgehen abhalten. So bleibt denn der Eindruck von Geislers Arbeit zwiespältig. Der allgemeine Rahmen ist äußerst fragwürdig, der Kern der Arbeit sicher interessant, im Detail in vielerlei Hinsicht aber noch verbesserungsbedürftig. Der Versuch, scheinbar disparate Phänomene einheitlich zu erfassen, ist aber auf jeden Fall begrüßenswert und sollte Nachfolger finden. P.W. * BrnTE STENGAARD, Vida y Muerte de un Campo Semdntico. Un estudio de la evoluci6n semantica de los verbos latinos stare, sedere e iacere de! latin al romance del s. XIII, Tübingen (Niemeyer) 1991, 414 p. (Beih.ZRPh. 234) Stengaard beginnt ihre Arbeit mit einem Zitat aus Marouzeau: «Le frarn;:ais dit: <l'arbre est sur la colline; le livre est sur la table; l'oiseau est sur la brauche>, tandis que l'allemand precisera: ,der Baum steht auf dem Berg; das Buch liegt auf dem Tisch; der Vogel sitzt auf dem Zweig»>. Auch Wandruszka hatte beobachtet, daß romanische Sprachen Mühe haben, Verben wie «hocken, kauern, knien, lehnen, hängen» usw. zu übersetzen; er vermutete, ein zunehmendes Desinteresse an Präzision in der Beschreibung räumlicher Positionen habe es ermöglicht, dem Verbum stare mehr und mehr grammatikalische Funktionen zu übergeben (oder umgekehrt? ). Aber: «Was diese Entwicklung ausgelöst hat, läßt sich heute nicht mehr sagen» (zit. p.7). Ullmann und Togeby sahen dahinter ein weiteres Indiz, daß romanische Sprachen lieber abstrakte als konkrete Verben benutzen. Andere Forscher, wie Spalinger und Ribeiro, verweisen auf phonetische und morphologische Lücken, Unregelmäßigkeiten und Homophonien in der Entwicklung der Verben stare, esse und sedere, die größere Rekonstruktionen in den romanischen Sprachen nötig machten. Bei einer solchen Forschungslage erklärt sich der Wunsch nach einer groß angelegten Aufarbeitung der Geschichte des Wortfeldes der Positions-Verben vom alten Rom bis zu den Anfängen der romanischen Nationalsprachen, als stare ein Hilfsverb wurde und Positionen dann umschrieben werden mußten (estar de pie, se tenir debout usw.). Stare, sedere und iacere bilden ein «Kontinuum der Realität» (Coseriu) von der vertikalen zur horizontalen Position. Der Fokus der drei Verben kann aber auch die Lokalisierung sein ('befindet sich ...'), oder ein Verbalaspekt, wie inchoativ, imperfektiv, durativ ('stoppt', 'wohnt' usw.). Die drei Seme [pos] [loc] und [dur] können sich also auf drei Niveaus beziehen, jedes davon in a und b unterteilt, gemäß Bedeutungsschwerpunkt. Die Tabelle, die p.22 diese Analyse des Wortfeldes schematisch zusammenfaßt, ist im Text recht gut erklärt; der eilige Leser aber hat später Schwierigkeiten mit häufigen Hinweisen wie z.B. «EI nivel 3a no se relacionaria ... con el nivel 2, sino que derivaria primariamente de! nivel 3b» (307). Stengaard nennt sich selbst «eklektisch in der Methode», aber eine Präsentierung ihrer Ergebnisse in der Metasprache auch anderer Darstellungsweisen, oder ganz einfach mit mehr Klartext, wäre ein pädagogisches Plus gewesen - und hätte vielleicht dazu geführt, die unwissenschaftliche Schublade «automatischer Gebrauch (des Verbums x mit dem Objekt y)» mit einer Reihe präziserer Kategorien wie '+/ belebt' usw. zu ersetzen. Das Hauptziel dieses Buches war es, über 1500 Beispiele des Gebrauches von stare, sedere und iacere und ihrer romanischen Nachfolger bis ins 13.Jahrhundert zu analysieren, sie zu gruppieren und mit dem «idealen» (theoretischen, textunabhängigen) Schema der Verteilung semantischer Schwerpunkte zu vergleichen. Lateinische Texte werden in vier Besprechungen - Comptes rendus 259 Perioden unterteilt, von Plautus bis zum Hl.Benedikt. Das iberoromanische Sprachgebiet wird in Portugiesisch (zwei Epochen), West-Spanisch, Kastilisch (drei Epochen) und Ost- Spanisch gegliedert, mit eigenen Kapiteln für den Cid, Berceo und für Texte unsicherer Herkunft. Der mittelalterlichen Situation entsprechend, werden Katalanisch und Okzitanisch als eine eigene Sprachgruppe behandelt. Im Verhältnis zu den Kapiteln mit iberoromanischen Beispielen werden dann Französisch und Italienisch eher kurz besprochen. Das Buch schließt mit einem Rückblick, drei Anhängen, Quellenverzeichnis und Bibliographie (in der leider die Anzahl von Druckfehlern weit größer ist als im übrigen Buch; so finden wir auf der allerletzten Seite Curia [statt Curial], Sicr6nico, la vocubalaire du Pelegrinage, L'emploie, sintaxe). Die Gedankenführung der Autorin und ihre Interpretationen der Zitate nachzuvollziehen, verlangt vom Leser viel Zeit und Konzentration. Die alten Texte werden nämlich unverändert aus neueren Ausgaben übernommen, oft mit mehr Kontext als nötig. Daß in einem portugiesischen Dokument vom Jahre 946 in einem Bibelzitat nicht esse sondern stare steht, ist natürlich bemerkenswert; aber die Ausgabe von 1856 zu imitieren, ist der Mühe nicht wert: «dixit deus non est bo ... tare ominem solum sed demus ei coniugem adiutorium similem siui ...» (114). In Beispielen aus Glossaren mehr als die zur Diskussion stehenden Verben zu zitieren, verwirrt bloß den Leser: «Mulier, quamuis 281 [macare ke siegat] docta ... uiros in conbentu 283 [con/ ceillo] docere non presumat» (110). Der Leser wundert sich oft, ob bestimmte seltsame Formen nicht vielleicht Fehler des ersten, zweiten oder dritten Kopisten sind, z.B. in «Facanos Deus omnipotes tal serbitjo fere ke denante sua face gaudioso segamus. Amem» (110). Der Leser wäre nicht nur dankbar für eine rascher faßbare Zitierweise, sondern allgemein für weniger Beispiele und weniger Unterabteilungen. Man spürt nicht viel von den Vorarbeiten der Autorin, mit dem unvermeidlichen Hin und Her (induktiv und deduktiv) zwischen Beispielen, Arbeitshypothesen, Adaptationen in der Methode, Kontrolle an weiteren Beispielen usw. Stengaard hat bewußt jegliches Vorurteil vermieden, und wünscht sich Leser, die ihre Zitatensammlung vorurteilslos studieren. Deshalb hat sie auf Übersetzungen ihrer Quellen verzichtet: «He querido evitar la imagen confusa que crean las traducciones» (372). Dem Leser ist aber ein Beispiel - Exzerpte aus dem Corpus Inscriptionum Latinarum, aus dem Portugaliae Monumenta Historica, aus spanischen fueros usw. nur dann von Nutzen, wenn er es versteht. Die Zitate zu übersetzen hätte aber die Autorin gezwungen, das Wortfeld der Positions-Verben im modernen Spanischoder, was auch aus pädagogischen Gründen vorzuziehen gewesen wäre, einer nicht-romanischen Sprache aufzuarbeiten und dann konsequent für eine bestimmte Koordinate in ihrem Schema immer denselben Ausdruck zu benutzen. So hätte sich jegliche imagen confusa vermeiden lassen ... Oder es hätte sich herausgestellt, daß eben manches konkrete Beispiel inhärent «konfus» oder plurivalent ist. Wie soll man z.B. stabat mater dolorosa iuxta crucem übersetzen? Doch wohl so, wie es Dutzende mittelalterlicher Maler verstanden haben: Maria stand neben dem Kreuze. Aber die alten Marienleben zeigen einen anderen Sinn: sie floh nicht wie alle andern, sie verharrte standhaft beim Kreuze. Über 1500 Beispiele aus vierzehn Jahrhunderten und fast einem Dutzend Sprachzonen zu sammeln und zu interpretieren ist eine große Leistung. Stengaard ist dafür zu danken. Der Leser wünschte sich aber mehr direkt assimilierbare nnd zitierbare Zusammenfassungen der Resultate und würde gerne von der Autorin selbst erfahren, wie wir nun die bisherige Forschung zu diesem Thema korrigieren und ergänzen sollen. Das Fehlen einer Eingangs- oder Schlußnotiz mit persönlichen Angaben über die Umstände dieser Arbeit wird so doppelt vermißt aber ist auch, in einem gewissen Sinne, konsequent. C. Wittlin *