Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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1992
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Kristol De StefaniJOACHIM SCHULZE, Sizilianische Kontrafakturen. Versuch zur Frage der Einheit von Musik und Dichtung in der sizilianischen und sikulo-toskanischen Lyrik des 13. Jahrhunderts, Tübingen (Niemeyer) 1989, X + 260 p. (Beih.ZRPh. 230)
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1992
Grazia Lindt
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266 Besprechungen - Comptes rendus Bevor wir auf ein paar ausgewählte Beiträge näher eingehen, seien an dieser Stelle einige generelle Bemerkungen zu Inhalt und Präsentation des Bandes vorweggenommen. Zunächst einmal vermißt man eine Definition des Begriffs «Kodifizierung». In den meisten Beiträgen geht es (ohne daß dies je ausdrücklich festgehalten würde) um eine bewußte, geplante Standardisierung von Kleinsprachen, um die gezielte Herstellung einer verbindlichen Sprachnorm. Daneben begegnet in einigen Beiträgen eine zweite Bedeutung des Terminus «Kodifizierung», nämlich «Herausbildung einer Sprachnorm ohne bewußte Steuerung». Das gilt vor allem für den Fall des Franko-Italienischen im Mittelalter (G. Holtus, p. 105-118). Der Autor kommt zum Schluß: «Die Kodifizierung der franko-italienischen Kunstsprache ist letzten Endes in den Anfängen, in isolierten Versuchen und Bemühungen einzelner Autoren und Schreiber steckengeblieben. Erst mit der Expansion des Toskanischen setzt auch für die italienische Literatursprache ein deutlicher Kodifizierungsprozeß ein» (117). Auch die beiden Beiträge zum Ladino als Sakralsprache der Spaniolen (J. Kramer, p. 267-283) und zur Orthographie des Judenspanischen (G. Bossong, p. 285-309) haben mit Kodifizierung in der zweiten Bedeutung zu tun. Sie fallen insofern, wie der Beitrag zum Franko-Italienischen, aus dem thematischen Rahmen des Bandes, wenn sie auch hochinteressant sind. Während diese inhaltliche Heterogenität «kolloquiumsbedingt» sein mag, hätten technische Unstimmigkeiten bei der Redaktion des Bandes behoben werden können. Die Bibliographien am Schluß der Artikel sind nach verschiedenen Systemen gestaltet, je nach den Gewohnheiten des jeweiligen Autors (zum Teil sind sie sogar in die Fußnoten integriert, so bei Kremnitz und Kramer). Im Beitrag von J. Born zum Asturischen (217-236) werden Autorennamen, teils auch Titel, in Versalien gedruckt, was sonst nie der Fall ist 1. Typographisch präsentiert sich der Band dagegen sehr schön. Abschließend einige Bemerkungen zu ausgewählten Beiträgen. Erwin Diekmann schildert «Probleme und Aspekte von Kodifizierungsbemühungen des Bündnerromanischen und Bericht über eine Umfrage zur Rezeption und Akzeptanz des Rumantsch grischun als gesamtbündnerromanische Schriftsprache» (69-104). Nach einer Einleitung über die Entwicklung der regionalen Schriftsprachen in Romanisch Bünden und frühere Versuche zur Schaffung einer Einheitssprache, in der er sich auf Billigmeier und Arquint stützt 2 (69-76), stellt Diekmann die neue Standardsprache «Rumantsch Grischun» vor (76-78), um dann im Hauptteil seiner Ausführungen die Resultate einer von ihm selbst durchgeführten Umfrage zusammenzufassen, die die Haltung der Rätoromanen zum «Rumantsch Grischun» erforschen sollte. Wenn auch die Resultate im Gesamten optimistisch stimmen (eine deutliche Mehrheit der Befragten stellt sich positiv zum Versuch der neuen Einheitssprache), so kann sich doch der mit bündnerischen Verhältnissen vertraute Leser einer gewissen Skepsis nicht erwehren. Wenn man p. 78 liest, es sei der Lia Rumantscha gelungen, «das Rumantsch Grischun binnen kurzer Zeit im Sprachgebiet bekannt zu machen und zu verankern», so fragt man sich, was diese Metapher im Klartext beinhaltet. Daß als Kontaktpersonen Leute ausgewählt wurden, die zu den Kulturträgern gehören (79), beeinflußt natürlich die Resultate der Umfrage a priori in Richtung zustimmender Ant- 1 Wie brauchbar die Indices am Schluß des Bandes sind (Sachindex p. 391-398, Wortindex p. 399-410), würde erst eine intensive Beschäftigung damit erweisen. Eine Stichprobe ergibt z.B., daß unter dem Eintrag «Sprachrenaissance» nur ein einziger Verweis steht (auf p. 119, das Sardische betreffend), während doch in mehreren Beiträgen der (etwas fragwürdige) Begriff «Renaissance» für das Wiedererwachen des Selbstbewußtseins gewisser Sprachgemeinschaften verwendet wird, so p. 73 für das Bündnerromanische, p. 139 und 142 für das Korsische. 2 R.H. BrLLIGMEIER, Land und Volk der Rätoromanen, Frauenfeld 1983, J. C. ARQUINT, «Stationen der Standardisierung», in: Die viersprachige Schweiz, ed. R. ScHLAEPFER, Zürich/ Köln 1982, p. 273-300. Besprechungen - Comptes rendus 267 warten. Hier stellt sich das auch anderswo bedeutsame Problem des Verhältnisses zwischen der Sprachposition einer intellektuellen Elite und der Haltung der «Basis», der Mehrzahl der Sprecher 3 . Ob der Enthusiasmus von wenigen die Trägheit der vielen überwinden kann, hängt von zahlreichen Faktoren ab und ist schwer vorhersagbar. Während im Falle des «Rumantsch Grischun», trotz den erwähnten Vorbehalten, ein vorsichtiger Optimismus doch am Platze zu sein scheint, hat man bei der Lektüre des Beitrags von Rosita Rindler Schjerve zum Sardischen (119-137) eher Mühe, an einen Erfolg der geschilderten Kodifizierungsbemühungen zu glauben. Die Autorin erhebt am Schluß selbst den Einwand, es sei verfrüht, im Falle des Sardischen von «Verbreitung und Elaboration» einer Standardsprache zu sprechen (131). Tatsächlich fragt man sich, welchen Sinn es hat, Schemen wie die von Haugen und Kloss (cf. p. 121) auf eine Sprachsituation anzuwenden, wo weder von einer koordinierten Statusplanung noch von Korpusplanung die Rede sein kann. Auch die Aussage, die Bemühungen in kleinen Kollektiven von Intellektuellen zeugten für die Vitalität der Sprache (133), überzeugt wenig; man könnte ebenso gut das Gegenteil behaupten. Ein weiterer Fall, in dem sprachplanerische Bemühungen von Intellektuellen einer weitgehenden Gleichgültigkeit oder sogar Verachtung der eigenen Sprache bei den «gewöhnlichen Sprechern» gegenübersteht, ist der des «Bable» in Asturien (J. Born, p. 217-236).· .. Ganz anders scheint die Situation in gewissen Kreolsprachen zu sein. Annegret Bollee schildert im letzten Beitrag des Bandes die beachtlichen Fortschritte der Kodifizierung des Kreolischen der Seyschellen (377-389). Hier hat eine (selbstverständlich von oben gesteuerte) konsequente Sprachpolitik offenbar auch einen Wandel in der Einstellung der Sprecher zu ihrer Sprache bewirkt. Die Lektüre des Bandes ist nicht nur deshalb spannend, weil eine Menge Informationen zu weitgehend wenig bekannten Sprachsituationen vermittelt wird; sie lohnt sich auch, weil der Vergleich der geschilderten Verhältnisse Gemeinsamkeiten und Unterschiede in verschiedensten Konstellationen erkennen läßt. Aus diesem Vergleich ergibt sich eine Erkenntnis, die zwar nicht neu, aber unabweisbar ist: Erfolg oder Mißerfolg von spracherhaltenden Maßnahmen hängen viel weniger von der jeweiligen Ausgestaltung der Standardsprache ab als vielmehr vom Willen der Sprechenden, die eigene Sprache zu erhalten und in möglichst vielen Kommunikationssituationen zu verwenden. R.L. * DARIO PETRINI, La koine ticinese. Livellamento dialettale e dinamiche innovative, Berna (Francke) 1988, 280 p. (RH 105) Die vorliegende Arbeit ist eine unter der Betreuung von Gaetano Berruto entstandene Zürcher Dissertation, die sich zum Ziele setzt, die dialektale Architektur im Tessin hinsichtlich des Ist-Zustands zu analysieren und gleichzeitig Entwicklungstendenzen in der jüngsten Vergangenheit herauszuarbeiten. Sie besteht aus einer Einleitung (11-24), einem Definitionsversuch der Tessiner Dialektkoine (25-56), einem Materialteil (57-227), der in Phonetik (57-174) und Morphologie (175-227) zerfällt, einer abschließenden Zusammenfassung (229-35), einer umfangreichen Bibliographie (237-59) und Indices (Namen, Orte, Wörter; 261-80). 3 Ähnlich in Sardinien (cf. 132-133), in Südfrankreich (180-182), in Asturien (217-236). 268 Besprechungen - Comptes rendus In der Einleitung weist Petrini zu Recht darauf hin, daß es bis jetzt noch keine Studie zum dialetto regionale ticinese bzw. zur koine ticinese gebe 1 , und dies, obwohl es in vielen dialektologischen Arbeiten Hinweise auf die Existenz des Phänomens gibt. Ziel der Untersuchung ist es, diese verstreuten Hinweise (v. a. seit den grundlegenden Arbeiten von Oscar Keller zu den Tessinerdialekten) zu sammeln und sie aufgrund neuesten oralen Materials, insbesondere des Phonetikarchivs der Universität Zürich (cf. 12ss.), zu überprüfen; Einzugsbereich ist dabei nicht nur das eigentliche Tessin, sondern auch die italienischsprachigen Bündnertäler (Mesolcina, Val Calanca). Der Verf. liefert somit kaum eigene neue Daten, wenn er auch viele bisher unzugängliche Aufnahmen erstmals transkribiert und ausgewertet hat. Ob hierfür allerdings ein eigenes Transkriptionsbzw. Transliterationssystem nötig war, das eine Art Gemisch der Umschriftprinzipien von VS! , DSI, RTT und den gängigen phonetischen Alphabeten darstellt (19ss.), ist mehr als fraglich; warum nicht eines der existierenden Verfahren einfach übernommen wurde, begründet Petrini nirgends. - Die den Ausgangspunkt der Untersuchung bildenden dialektologischen Arbeiten waren noch in hohem Maße durch das junggrammatische Paradigma geprägt und konzentrieren sich in erster Linie auf den Bereich der Phonetik; manchmal wird noch die Morphologie, u.U. auch das Lexikon mit einbezogen. Auch Petrini bleibt dieser Tradition treu, ja es bleibt ihm bei der Anlage der Arbeit eigentlich gar nichts anderes übrig, als auf eine Berücksichtigung von Syntax und Intonation zu verzichten. Was das Lexikon angeht, so läßt es Verf. deshalb außen vor, weil sein Überprüfungskorpus für diesen Bereich nicht ausreicht und eigene umfangreiche Erhebungen aufgrund eines Fragebuchs nötig gewesen wären (lls.). Im ersten Hauptkapitel, dessen Gegenstand die Definition der koine dialettale sein soll, wird dieser sprachliche Varietätstypus zuerst einmal zwischen Dialekt und lingua 2 angesiedelt, wobei sich die verschiedenen Ebenen aufgrund formaler und funktionaler Kriterien unterscheiden lassen. Der ausgedehnte Anwendungsbereich des Dialekts läßt überdies den Schluß zu, daß wir es im Sinne von Kloss mit einer makrodiglossischen Situation zu tun haben. Damit hängt natürlich eng zusammen, daß die Dialekte im Tessin auch heute noch ein hohes Prestige haben, das in vielerlei Hinsicht mit demjenigen der deutschschweizerischen Dialekte vergleichbar ist. Sie unterscheiden sich von diesen jedoch dadurch, daß es einen deutlichen Unterschied zwischen ländlichen und städtischen Varietäten gibt, wobei die Stadtdialekte bezüglich des Ansehens deutlich besser abschneiden. - Vor diesem Hintergrund muß nun die koine dialettale gesehen werden, für deren Erfassung Petrini zuerst einmal auf die Definitionen von Pellegrini und Sanga 3 für den dialetto regionale zurückgreift (32); ich zitiere hier nur die zweite: II dialetto regionale e una «koine» basata sul dialetto de! centro principale (Milano, Torino, Venezia, ecc.), ehe accoglie le isoglosse comuni ai dialetti della zona, elimina i tratti locali piu vistosi e per il resto si riferisce al dialetto de! centro principale, ehe e anche il dialetto piu italianizzato. (zit. PETRINI 1988: 32) Die Existenz einer solchen Varietät erlaubt es den Dialektsprechern in der Kommunikation mit Tessinern aus anderen Dialektzonen, nicht auf das Standarditalienische auszuweichen, sondern eine Varietät zu verwenden, die ihrem angestammten Lokaldialekt sehr 1 Die Gleichsetzung dieser beiden Termini ist mit Vorsicht zu behandeln, cf. unten. 2 Unter lingua ist lingua comune, lingua standard oder etwas ähnliches zu verstehen. Dieser in Italien gängige Gebrauch ist natürlich für jeden Saussureaner ein Ärgernis. 3 Cf. G. B. PELLEGRINI, "Tra lingua e dialetto in Italia", in: id., Saggi di linguistica italiana, Torino 1975: 1-54, bes. p. 12 N 2; GL. SANGA, "La situazione linguistica in Lombardia", in: Jl paese di Lombardia, Milano 1978: 343-71, bes. p. 362.
