eJournals Vox Romanica 51/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1992
511 Kristol De Stefani

CHARLES DAHLBERG, The Literature of Unlikeness, Hannover/London (University Press of New England) 1988, 207 p.

121
1992
Richard Trachsler
vox5110276
268 Besprechungen - Comptes rendus In der Einleitung weist Petrini zu Recht darauf hin, daß es bis jetzt noch keine Studie zum dialetto regionale ticinese bzw. zur koine ticinese gebe 1 , und dies, obwohl es in vielen dialektologischen Arbeiten Hinweise auf die Existenz des Phänomens gibt. Ziel der Untersuchung ist es, diese verstreuten Hinweise (v. a. seit den grundlegenden Arbeiten von Oscar Keller zu den Tessinerdialekten) zu sammeln und sie aufgrund neuesten oralen Materials, insbesondere des Phonetikarchivs der Universität Zürich (cf. 12ss.), zu überprüfen; Einzugsbereich ist dabei nicht nur das eigentliche Tessin, sondern auch die italienischsprachigen Bündnertäler (Mesolcina, Val Calanca). Der Verf. liefert somit kaum eigene neue Daten, wenn er auch viele bisher unzugängliche Aufnahmen erstmals transkribiert und ausgewertet hat. Ob hierfür allerdings ein eigenes Transkriptionsbzw. Transliterationssystem nötig war, das eine Art Gemisch der Umschriftprinzipien von VS! , DSI, RTT und den gängigen phonetischen Alphabeten darstellt (19ss.), ist mehr als fraglich; warum nicht eines der existierenden Verfahren einfach übernommen wurde, begründet Petrini nirgends. - Die den Ausgangspunkt der Untersuchung bildenden dialektologischen Arbeiten waren noch in hohem Maße durch das junggrammatische Paradigma geprägt und konzentrieren sich in erster Linie auf den Bereich der Phonetik; manchmal wird noch die Morphologie, u.U. auch das Lexikon mit einbezogen. Auch Petrini bleibt dieser Tradition treu, ja es bleibt ihm bei der Anlage der Arbeit eigentlich gar nichts anderes übrig, als auf eine Berücksichtigung von Syntax und Intonation zu verzichten. Was das Lexikon angeht, so läßt es Verf. deshalb außen vor, weil sein Überprüfungskorpus für diesen Bereich nicht ausreicht und eigene umfangreiche Erhebungen aufgrund eines Fragebuchs nötig gewesen wären (lls.). Im ersten Hauptkapitel, dessen Gegenstand die Definition der koine dialettale sein soll, wird dieser sprachliche Varietätstypus zuerst einmal zwischen Dialekt und lingua 2 angesiedelt, wobei sich die verschiedenen Ebenen aufgrund formaler und funktionaler Kriterien unterscheiden lassen. Der ausgedehnte Anwendungsbereich des Dialekts läßt überdies den Schluß zu, daß wir es im Sinne von Kloss mit einer makrodiglossischen Situation zu tun haben. Damit hängt natürlich eng zusammen, daß die Dialekte im Tessin auch heute noch ein hohes Prestige haben, das in vielerlei Hinsicht mit demjenigen der deutschschweizerischen Dialekte vergleichbar ist. Sie unterscheiden sich von diesen jedoch dadurch, daß es einen deutlichen Unterschied zwischen ländlichen und städtischen Varietäten gibt, wobei die Stadtdialekte bezüglich des Ansehens deutlich besser abschneiden. - Vor diesem Hintergrund muß nun die koine dialettale gesehen werden, für deren Erfassung Petrini zuerst einmal auf die Definitionen von Pellegrini und Sanga 3 für den dialetto regionale zurückgreift (32); ich zitiere hier nur die zweite: II dialetto regionale e una «koine» basata sul dialetto de! centro principale (Milano, Torino, Venezia, ecc.), ehe accoglie le isoglosse comuni ai dialetti della zona, elimina i tratti locali piu vistosi e per il resto si riferisce al dialetto de! centro principale, ehe e anche il dialetto piu italianizzato. (zit. PETRINI 1988: 32) Die Existenz einer solchen Varietät erlaubt es den Dialektsprechern in der Kommunikation mit Tessinern aus anderen Dialektzonen, nicht auf das Standarditalienische auszuweichen, sondern eine Varietät zu verwenden, die ihrem angestammten Lokaldialekt sehr 1 Die Gleichsetzung dieser beiden Termini ist mit Vorsicht zu behandeln, cf. unten. 2 Unter lingua ist lingua comune, lingua standard oder etwas ähnliches zu verstehen. Dieser in Italien gängige Gebrauch ist natürlich für jeden Saussureaner ein Ärgernis. 3 Cf. G. B. PELLEGRINI, "Tra lingua e dialetto in Italia", in: id., Saggi di linguistica italiana, Torino 1975: 1-54, bes. p. 12 N 2; GL. SANGA, "La situazione linguistica in Lombardia", in: Jl paese di Lombardia, Milano 1978: 343-71, bes. p. 362. Besprechungen - Comptes rendus 269 nahe ist. Allerdings zeigt es sich im Tessin, daß wir es nicht mit einem einheitlichen, von einem den ganzen Raum dominierenden Zentrum abstrahlenden Regionaldialekt zu tun haben, sondern eben vielmehr mit einer Art Koine, einem relativ breiten Variationsspektrum, in dem die auffälligsten lokalen Züge eliminiert und «fremde» (regionale oder überregionale) Prestigezüge übernommen werden, die Basis aber gleichwohl immer der jeweilige Lokaldialekt bleibt. Diese Situation wird von Petrini mit einem schönen Beispiel aus Airolo illustriert (35s.). Die Koine ist somit nicht aufgrund einheitlicher und konstanter Züge erfaßbar, sondern nur aufgrund eines Büschels von bis zu einem gewissen Grade konvergierenden Merkmalen, die die starke sprachliche Fragmentation des Tessins zwar abschwächen, keineswegs aber ganz aufheben. Ob man diese Situation allerdings mit derjenigen der Pidgins (z. T. auch der Kreolsprachen) vergleichen darf, wie dies Verf. mehrmals tut, ist mehr als fraglich: Der Tessinerkoine geht doch gerade der reduktionistische Charakter (sowohl im morphosyntaktischen als auch im lexikalischen Bereich) ab, der für die Pidgins charakteristisch ist, und ebenso ist sie von der Anwendung her nicht auf einen ganz engen, rein utilitaristischen Bereich beschränkt; damit kann sie (ganz abgesehen von der Frage des sozialen Status) aber auch nicht eine Kreolsprache, d. h. ein zur Muttersprache gewordenes Pidgin sein. Überhaupt wäre zuerst einmal nachzuweisen, ob und wo der koine ticinese die Rolle der Muttersprache zukommt. Nach den Erkenntnissen von Petrini ist die Tessinerkoine im Gültigkeitsraum nicht nur sehr unterschiedlich ausgestaltet, sie ist in einzelnen Zonen und bei den einzelnen Sprechern auch unterschiedlich gut verankert. Dabei läßt sich nicht übersehen, daß die städtischen Zentren für ihre Gültigkeit eine wichti'ge Rolle spielen, und zwar sowohl wegen ihres Prestiges, als auch wegen der hohen Zahl von Berufspendlern (inklusive Auszubildenden und Schülern). Die regionalen Zentren haben so dem lombardo illustre, das noch zur Zeit der Untersuchungen von Oscar Keller in den 30er und 40er Jahren eine dominante Rolle als vehikuläre Bezugsnorm spielte, weitgehend den Rang abgelaufen: eine größerräumige Ausgleichsbewegung ist durch eine kleinerräumige ersetzt worden. Dem steht zwar der immer stärker werdende Einfluß des italiano comune entgegen, das einen noch umfassenderen Bezugsrahmen bereitstellt, dessen Einfluß sich aber einstweilen nur auf der Ebene des Lexikons und auch hier nur in beschränktem Ausmaß geltend zu machen scheint, und dies insbesondere in den Städten. Aber auch in dieser Hinsicht ist das Bild uneinheitlich, läßt sich doch insbesondere im Sopraceneri feststellen, daß die Generation der bis zu 20-jährigen sich sprachlich wieder bedeutend dialektbewußter verhält als die beiden vorhergehenden Generationen und daß selbst in den größeren Zentren der Dialekt plötzlich wieder in Mode kommt. Dies ändert zwar nichts an der Tatsache, daß die italienische Standardsprache ein wichtiges Bezugssystem darstellt und die Koine beeinflußt, gleichzeitig darf aber nicht übersehen werden, daß ihr Gewicht für diese wesentlich geringer ist als der regionale Kontext bzw. die Architektur gewisser Teilregionen. Daß sich diese Gewichte in Zukunft möglicherweise zugunsten des italiano comune verschieben könnten, ist zwar wahrscheinlich, muß sich aber zuerst noch erweisen. Dieses wichtige, ja für die Arbeit zentrale Kapitel soll eine Art soziologischen und soziolinguistischen Rahmen für die nachfolgenden Teile liefern. Die Ausführungen verdienen sicher großes Interesse, wenn auch nicht verschwiegen werden darf, daß eine klare Linie oft schwer erkennbar ist und unsere Zusammenfassung mehr Ordnung vermuten läßt, als die oft widersprüchlich wirkenden Darlegungen tatsächlich bieten. Insbesondere ist zu unterstreichen, daß theoretische Überlegungen weitgehend fehlen und meist mit (mehr oder weniger gesicherten) Fakten argumentiert wird. Dazu paßt auch, daß die stärker theoretisch orientierten Arbeiten von Berruto aus den Jahren 1974 und 1987 4 4 Cf. G. BERRUTO, La sociolinguistica, Bologna 1974; id., Sociolinguistica dell'italiano contemporaneo, Roma 1987; usw. 270 Besprechungen - Comptes rendus weder im Text erwähnt werden noch in der Bibliographie erscheinen und daß auch die theoretischen Ansätze aus der angelsächsischen Soziolinguistik (Labov, Trudgill usw.) so gut wie nicht rezipiert werden. Zu bemängeln ist an dieser Situatibnsskizze v. a. aber auch, daß nirgends die Rolle und die Geltung des Standarditalienischen im Tessin (z.B. in der Verwaltung, in den Massenmedien, in der Universitätsausbildung, im Verkehr mit den anderen Regionen der Schweiz und mit Italien, usw.5) thematisiert wird und daß auch kein Versuch unternommen wird, den dialetto regionale (bzw. die koine ticinese) vom Phänomen des italiano regionale abzugrenzen. Das Argument, die Grenzen zwischen diesen Bereichen seien ohnehin fließend, kann bei einem Schüler von Berruto nicht gelten, da dieser doch wie kaum ein anderer die Auffassung vom sprachlichen Kontinuum vertritt, in dem es nur so etwas wie Kristallisationskerne gibt. Vielmehr ist Petrinis Vorgehen durch eine gewisse Theoriescheu gekennzeichnet, was auch erklären dürfte, warum er (trotz der Überschrift des ersten Kapitels) keine eigene Definition der Tessinerkoine liefert, sondern sich hinter variierenden und diversifizierenden Bemerkungen zu den Definitionen von Pellegrini und Sanga versteckt. Im Hauptteil der Arbeit, der der Materialpräsentation gewidmet ist, entfällt dann die bisherige soziolinguistische Orientierung praktisch vollständig, und wir bewegen uns wieder weitgehend in den Bahnen der traditionellen Dialektologie (mit starker historischer Komponente) ein nicht zu übersehender und auch recht überraschender Bruch in der Arbeit. Im phonetischen Teil tragen die Unterkapitel Titel wie: Esiti di A latina (57), Esiti del suffisso lat. -ARIU (62), Esiti di E lunga/ J breve (76), Esiti di wgermanica (174), etc.; im morphologischen Teil finden wir Titel wie Formazione de! plurale: Esiti .metafonetici da -I lunga finale latina (175), Plurale dei femminili (185), Possessivi (186), Pronomi personali (193), Articolo determinativo femminile plurale (197), etc. Im wesentlichen haben wir es in all diesen Fällen mit einer Art historischen Grammatik zu tun, die zu den jeweiligen dialektalen Resultaten führt; anschließend daran werden dann (in Kleindruck! ) die Abweichungen von diesen «Zielvorgaben» in den oralen Quellen jüngeren Datums aufgeführt und diskutiert. Was dabei an Ergebnissen herauskommt, darf sicher als aufschlußreich und interessant bezeichnet werden. Gleichwohl bleibt das Ganze wenig befriedigend, was zu einem großen Teil darauf zurückzuführen ist, daß die ganze Materialklassifikation etymologisch aufgezogen und vorwiegend am Latein orientiert ist (cf. oben die Titel der Unterkapitel im phonetischen Teil). Dies ist zwar sicher ein verbreitetes und praktisches Klassifikationsprinzip, aber ist es für die Fragestellung dieser Arbeit auch sinnvoll? Ich meine nein, denn das Latein liegt entwicklungsgeschichtlich viel zu weit weg; wenn man es als Klassifikationsraster benutzt, wird einerseits aus heutiger Sicht Zusammengehörendes oft auseinander gerissen, andererseits Unterschiedliches zusammengepackt. Ähnliches müßte (obwohl in abgeschwächter Form) auch festgestellt werden, wenn auf das italiano comune oder das lombardo illustre als Bezugsrahmen zurückgegriffen würde. Um das Funktionieren der Beeinflussungsmechanismen wirklich in den Griff zu bekommen, gibt es eigentlich nur eine saubere Lösung: Der Bezugsrahmen muß der jeweilige Basisdialekt sein, auf den dann die interferierenden Systeme bezogen werden. Eine solche Lösung stünde durchaus im Einklang mit Petrinis Feststellung, die verschiedenen Erscheinungsformen der Koine wurzelten immer in einem Lokaldialekt. Allerdings hätte dieses Verfahren den Nachteil, daß jeder Lokaldialekt hinsichtlich seiner «Regionalisierung» für sich abgehandelt werden müßte aber da dies der sprachlichen Realität entspricht und so auch die tatsächlich ablaufenden Mechanismen besser in den Blick treten, könnte man die 5 Cf. hierzu z.B. P. WuNDERLI, "Die mehrsprachige Schweiz und Europa", in: P. RücK, Grenzerfahrungen. Schweizer Wissenschaftler, Journalisten und Künstler in Deutschland, Mahrburg 1991: 213-41, bes. p. 219-22.