Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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1992
511
Kristol De StefaniM. SHEPHERD, Tradition and Re-creation in Thirteenth-Century Romance: «La Manekine» and «Jehan et Blonde» by Philippe de Remi, Amsterdam/Atlanta (Rodopi) 1990 (Faux Titre 48)
121
1992
H. Klüppelholz
vox5110278
270 Besprechungen - Comptes rendus weder im Text erwähnt werden noch in der Bibliographie erscheinen und daß auch die theoretischen Ansätze aus der angelsächsischen Soziolinguistik (Labov, Trudgill usw.) so gut wie nicht rezipiert werden. Zu bemängeln ist an dieser Situatibnsskizze v. a. aber auch, daß nirgends die Rolle und die Geltung des Standarditalienischen im Tessin (z.B. in der Verwaltung, in den Massenmedien, in der Universitätsausbildung, im Verkehr mit den anderen Regionen der Schweiz und mit Italien, usw.5) thematisiert wird und daß auch kein Versuch unternommen wird, den dialetto regionale (bzw. die koine ticinese) vom Phänomen des italiano regionale abzugrenzen. Das Argument, die Grenzen zwischen diesen Bereichen seien ohnehin fließend, kann bei einem Schüler von Berruto nicht gelten, da dieser doch wie kaum ein anderer die Auffassung vom sprachlichen Kontinuum vertritt, in dem es nur so etwas wie Kristallisationskerne gibt. Vielmehr ist Petrinis Vorgehen durch eine gewisse Theoriescheu gekennzeichnet, was auch erklären dürfte, warum er (trotz der Überschrift des ersten Kapitels) keine eigene Definition der Tessinerkoine liefert, sondern sich hinter variierenden und diversifizierenden Bemerkungen zu den Definitionen von Pellegrini und Sanga versteckt. Im Hauptteil der Arbeit, der der Materialpräsentation gewidmet ist, entfällt dann die bisherige soziolinguistische Orientierung praktisch vollständig, und wir bewegen uns wieder weitgehend in den Bahnen der traditionellen Dialektologie (mit starker historischer Komponente) ein nicht zu übersehender und auch recht überraschender Bruch in der Arbeit. Im phonetischen Teil tragen die Unterkapitel Titel wie: Esiti di A latina (57), Esiti del suffisso lat. -ARIU (62), Esiti di E lunga/ J breve (76), Esiti di wgermanica (174), etc.; im morphologischen Teil finden wir Titel wie Formazione de! plurale: Esiti .metafonetici da -I lunga finale latina (175), Plurale dei femminili (185), Possessivi (186), Pronomi personali (193), Articolo determinativo femminile plurale (197), etc. Im wesentlichen haben wir es in all diesen Fällen mit einer Art historischen Grammatik zu tun, die zu den jeweiligen dialektalen Resultaten führt; anschließend daran werden dann (in Kleindruck! ) die Abweichungen von diesen «Zielvorgaben» in den oralen Quellen jüngeren Datums aufgeführt und diskutiert. Was dabei an Ergebnissen herauskommt, darf sicher als aufschlußreich und interessant bezeichnet werden. Gleichwohl bleibt das Ganze wenig befriedigend, was zu einem großen Teil darauf zurückzuführen ist, daß die ganze Materialklassifikation etymologisch aufgezogen und vorwiegend am Latein orientiert ist (cf. oben die Titel der Unterkapitel im phonetischen Teil). Dies ist zwar sicher ein verbreitetes und praktisches Klassifikationsprinzip, aber ist es für die Fragestellung dieser Arbeit auch sinnvoll? Ich meine nein, denn das Latein liegt entwicklungsgeschichtlich viel zu weit weg; wenn man es als Klassifikationsraster benutzt, wird einerseits aus heutiger Sicht Zusammengehörendes oft auseinander gerissen, andererseits Unterschiedliches zusammengepackt. Ähnliches müßte (obwohl in abgeschwächter Form) auch festgestellt werden, wenn auf das italiano comune oder das lombardo illustre als Bezugsrahmen zurückgegriffen würde. Um das Funktionieren der Beeinflussungsmechanismen wirklich in den Griff zu bekommen, gibt es eigentlich nur eine saubere Lösung: Der Bezugsrahmen muß der jeweilige Basisdialekt sein, auf den dann die interferierenden Systeme bezogen werden. Eine solche Lösung stünde durchaus im Einklang mit Petrinis Feststellung, die verschiedenen Erscheinungsformen der Koine wurzelten immer in einem Lokaldialekt. Allerdings hätte dieses Verfahren den Nachteil, daß jeder Lokaldialekt hinsichtlich seiner «Regionalisierung» für sich abgehandelt werden müßte aber da dies der sprachlichen Realität entspricht und so auch die tatsächlich ablaufenden Mechanismen besser in den Blick treten, könnte man die 5 Cf. hierzu z.B. P. WuNDERLI, "Die mehrsprachige Schweiz und Europa", in: P. RücK, Grenzerfahrungen. Schweizer Wissenschaftler, Journalisten und Künstler in Deutschland, Mahrburg 1991: 213-41, bes. p. 219-22. Besprechungen - Comptes rendus 271 Unbequemlichkeit wohl in Kauf nehmen. - Eine weitere Schwäche des Hauptkapitels ist die mangelhafte Unterscheidung zwischen phonetischen und morphologischen Phänomenen. So ist z. B. im Phonetikteil unter M latina» von den Imperfektendungen (60ss.), dem lat. Wortbildungssuffix -ARIU (62s.), unter «o breve latina» von den mask. Formen des Possessivums (99s.) die Rede, während andererseits bei der Pluralbildung im morphologischen Teil die Entwicklung von langem lat. -r (175ss.) diskutiert wird, usw. Natürlich ist unbestritten, daß phonetische Veränderungen auf morphologische Gegebenheiten zurückwirken können und daß morphologische Ausgleichsphänomene die «Lautgesetze» stören; dies sollte aber nicht daran hindern, den jeweiligen Diskussionsschwerpunkt im Auge zu behalten und v. a. das Klassifikationsraster konsequent zu gestalten. In den Osservazioni conclusive listet dann Petrini zuerst noch einmal die wichtigsten Ergebnisse seiner Untersuchung auf (229-32). Er betont anschließend, daß die Formen des Standarditalienischen höchstens eine Stützfunktion beim regionalen Ausgleich ausüben könnten, nicht aber wirkliche Leitformen seien. Hier liegt eine überraschende Umorientierung seit den 60er Jahren vor: Mailand und das Standarditalienische sind in den Hintergrund getreten und haben dem innerregionalen Ausgleich weichen müssen, was durch eine weitere Liste von Phänomenen, die dies belegen sollen, illustriert wird (232s.). Dazu kommt dann noch, daß für die Bevölkerung im ländlichen Raum (ausgenommen gewisse «Bildungssnobs») die Varietäten der Regionalzentren keineswegs mehr zwingend die Funktion von Leitformen haben (234) was allerdings die Verbreitung von einzelnen urbanen Zügen noch nicht unbedingt ausschließt. Es bleibt somit ein etwas diffuses Bild, das aber die wichtigsten Grundtendenzen doch mit genügender Deutlichkeit erkennen läßt. Bedauerlich ist, daß Petrini nirgends nach dem Grund für den Tendenzwandel in den letzten 30 Jahren fragt: wieso diese Abkehr von den eigentlichen Prestigevarietäten und eine Rückwendung nicht zum Lokaldialekt, wohl aber zu einer Art «entlokalisiertem» Regionaldialekt? Die Frage kann sicher nicht nur für das Tessin allein beantwortet werden, denn ähnliche Erscheinungen findet man auch in der deutschen Schweiz, in der Wallonie, in Quebec, in Louisiana, usw. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß ein Zusammenhang mit der sich ausbreitenden Ökologiewelle, der bewußten Rückwendung zum Einfachen, Bodenständigen, Natürlich-Kleinräumigen besteht. Die Arbeit von Petrini hat sicher interessante und brauchbare Resultate gebracht. Schade bleibt, daß diese aufgrund der Schwächen im theoretischen Bereich nicht immer das Gewicht und die Überzeugungskraft haben, die man sich wünschen würde. P.W. * GrovAN BATTISTA PELLEGRINI, La genesi del retoromanzo (o ladino), Tübingen (Niemeyer) 1991, 71 p. (Beih.ZRPh. 238) Man nimmt das dünne Bändchen, in dem einer der besten Kenner der Materie Bilanz zieht aus mehr als hundert Jahren Forschung und wissenschaftlicher (z. T. auch unwissenschaftlicher) Diskussion, mit Spannung zur Hand. Wer sich je mit den endlosen Polemiken um die «questione ladina» herumgeschlagen hat, ist dankbar für eine kritische Übersicht über die einschlägigen Themen und Positionen. Kernstück der Argumentation Pellegrinis ist, wie jeder weiß, der die Arbeiten des Autors kennt, die Widerlegung der von den meisten romanistischen Handbüchern vertretenen Auffassung, wonach die drei Dialektgebiete Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friulanisch eine effektive Einheit bildeten («unita ladina»), die es rechtfertigte, sie als eigene romanische Sprache zu qualifizieren. Mit dieser Fragestellung, die der (geographisch) «horizontalen» Zusammengehörigkeit der betreffenden Gebiete nachgeht,
