eJournals Vox Romanica 51/1

Vox Romanica
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0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1992
511 Kristol De Stefani

In memoriam Heinrich Lausberg

121
1992
Arnold Arens
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Besprechungen - Comptes rendus 301 CHRISTIANE BEINKE, Der Mythos «franglais». Zur Frage der Akzeptanz von Angloamerikanismen im zeitgenössischen Französisch mit einem kurzen Ausblick auf die Anglizismen-Diskussion in Dänemark, Frankfurt/ Bern/ New York/ Paris (Peter Lang) 1990, 380 p. (Europäische Hochschulschriften XIII, Französische Sprache und Literatur 151) Dissertationen mit sarkastischen Titeln sind eher selten. Der Doktorand soll sich ja ehrfürchtig in die Forschung seiner Ältern einarbeiten und sich als würdig erweisen, sich ihnen anschließen zu dürfen. Nun hatte es aber Beinke schwer, sich über Spezialisten der Anglizismen im modernen Französischen eine hohe Meinung zu bilden. Daß Etiemble (118ss.) und seine Epigonen wie Gobard, Marmin, Cellard usw. (134ss.) nicht als seriöse Denker ernst zu nehmen sind, sieht man schon schnell in ihren Ideen, daß z.B. Frankreichs Schulen bloß praktisches business-Englisch zu unterrichten brauchen, während Ausländer sich am literarischen Französisch kulturell emporranken sollen. Oder daß die Landessprache dank der Dialekte im Hexagon ausländische Lehnwörter vermeiden könne während den Regionalsprachen das Wasser abgegraben wird. Oder daß selbsterfundene unverständliche Wortschöpfungen wie usaification, universiturique (149) weniger zu kritisieren seien als populäre Fremdwörter. Oder daß Anglizismen französischer Abstammung nur halb so schlimm seien: z.B. gadget, das auf fr. gagee fußt. Oder daß Xenismen orthographisch assimiliert werden sollten (also wie die vielbewunderte redingote nun auch blougines und tichirtes), während andererseits kuaför im Türkischen oder korniszon im Polnischen «barbarisch» sei - und dies nur wegen der Schreibweise; Gallizismen geben ja anderen Sprachen oft un charme supplementaire, während Anglizismen im Französischen als Symptome eines processus de colonisation bekämpft werden müssen. Beinke hatte es aber auch schwer, von bona fide Philologen in diesem Gebiet einen guten Eindruck zu gewinnen. Daß Wörterbücher wegen ihrer inkonsequentenBehandlung von Lehnwörtern meist unbrauchbar sind, überrascht zwar nicht besonders; aber man fühlt sich auch hilflos, wenn man z.B. beobachtet, daß die Schätzung der Menge von Anglizismen im heutigen Französischen zwischen 75 bei Guiraud und 578 bei Gebhardt schwankt. Beinke beschränkt sich auf eine Beschreibung von solchen Widersprüchen, und diskutiert nur beiläufig die theoretischen Grundlagen, die es ermöglichen würden, den Prozentanteil von Anglizismen vorteilsweise unterteilt in «nötige» und «unnötige» am Gesamtwortschatz zu errechnen. Die Stärke ihrer Arbeit liegt im objektiven Überblick über die außersprachlichen das heißt, volkspsychologischen - Beziehungen Frankreichs mit Großbritannien und den Vereinigten Staaten, und die Selbsteinschätzung der Franzosen als Kulturinsel mit Missionsauftrag in einer neuen Weltordnung. Wie Präsident Pompidou sagte, wird Europa nur insoweit Europa sein, wie es sich von Amerika unterscheidet. Französisch als erste europäische Arbeitssprache muß von jeglichem amerikanischen Einfluß verschont bleiben, was am besten im Rahmen eines allgemeinen Sprachpurismus erreicht werden kann. Diese Vermischung von internem Purismus und Projektion nach außen ist bestens ersichtlich in der langen Liste von offiziellen, halboffiziellen und privaten Organisationen zur Pflege der französischen Sprache, die p. 211-226 besprochen und p. 315-358 aufgelistet werden. In einem weiteren Anhang (359-380) resümiertBeinke neuere ministerielle Erlasse zu Anglizismen (bis 1985 sind 6200 Ersetzungen von Anglizismen vorgeschrieben oder empfohlen worden! ) und kopiert das Sprachgesetz von 1975 (Diskussion p. 227-255). Da. dieses Buch vor allem zeigen will, daß die Reaktion der Franzosen auf Anglizismen ein sprachpolitisches und sprachpsychologisches Phänomen darstellt und nur indirekt von sprachwissenschaftlichem Interesse ist, konnte das Kapitel über «Die Anglizismen-Diskussion in Dänemark» kurz ausfallen (257-286). Es wird vor allem die Aktivität der staatlichen Organisation Dansk Sprogncevn beschrieben, die u. a. zeigt, daß die Benutzer ihrer telephonischen Auskunftsstelle meistens Sekretärinnen ohne Wörterbuch weit weniger 302 Besprechungen - Comptes rendus unter anglizistischen Verfolgungsängsten leiden, als die Franzosen. Zumindestens die Franzosen, die den anti-amerikanischen Puristen in die Falle gegangen sind. C. Wittlin * BRIGITTE PALAZZOLO-NömNG, Drei Substandardregister im Französischen: «familier», «populaire», «vulgaire». Ergebnisse einer Wörterbuchuntersuchung und einer Umfrage in Draguignan, Frankfurt a.M. (Haag + Herchen) 1987, 240 p. (Mannheimer Studien zur Linguistik 7) Die Studie erfüllt ohne Zweifel ein Desiderat: sie wendet sich der empirischen Bearbeitung dreier Substandardregister zu und ist damit letztlich in die Varietätenlinguistik einzuordnen, in deren Rahmen es immer noch an konkreten Ergebnissen mangelt. Die Autorin untersucht ein Korpus von 84 Substandardwörtern und -wendungen (z.B. bagnole, lancer des canards, tripoter une femme) auf ihre Registereinstufung hin. Referenzautoritäten sind dabei einerseits 9 Wörterbücher des 20. (und 19.) Jahrhunderts und andererseits 50 native speakers aus Draguignan. Ein Vergleich dieser beiden unterschiedlichen Informationstypen scheint interessante Ergebnisse zu versprechen. Das Ziel der Analysen ist zunächst unklar, kann aber vom Ende der Untersuchung her (cf. Kap. 4.2. «Zusammenfassung») rekonstruiert werden: Es geht der Autorin offensichtlich um die Ermittlung der Frage, «wie bewußt ... die Existenz sprachlicher Register ist» (220). In einem ersten Kapitel (3-29) wird ein Forschungsüberblick zum Thema geliefert, eingeschränkt auf Untersuchungen ab 1965. Ausführlicher werden die Registerunterscheidungen von Bodo Müller (Das Französische der Gegenwart, Varietäten, Strukturen, Tendenzen, 1975) diskutiert, an dessen Auffassung von franr,;ais familier, populaire und vulgaire sich die Autorin scheinbar anlehnt. Sie kritisiert ihn, da seine Aussagen nicht vor empirischem Hintergrund gemacht seien (22), sie widerlegt ihn durch ihre Ergebnisse hinsichtlich der soziographischen Anbindung von Registern: das fram; ais populaire ist nicht, wie Müller annimmt, auf die mittlere und untere Schicht beschränkt (22), sondern es zeigt sich gerade bei den Kopfarbeitern eine Tendenz, Elemente dieses Registers zu verwenden (221). Eine eigentliche theoretische Einordnung des vorliegenden Ansatzes findet nicht statt. Aus diesem Grunde fehlen in der Bibliographie Namen wie Coseriu, Polenz, Hjelmslev (von Saussure gar nicht zu reden), Martin, Höfler etc. Es werden weder Standard und Substandard, noch Markiertheit und Unmarkiertheit, noch Stil und Konnotation, noch Normen im allgemeinen und in Wörterbüchern diskutiert. Könnte man dieser Auslassung noch mit dem Hinweis begegnen, ein Theorieüberhang habe noch keine empirische Arbeit weiter gebracht, so gilt dies nicht mehr für den folgenden Punkt: Das Übergehen der Problematik von deskriptiven und präskriptiven Wörterbüchern, zumindest der von ihr zugrundegelegten, ist doch schmerzlich, auch - oder besonders? für eine empirische Studie. Denn Aussagen von Wörterbüchern müssen immer in Beziehung gesetzt werden zu ihrer jeweiligen Intention, zum anvisierten Zielpublikum und zur Gesamtkonzeption. Dies hat besondere Relevanz für das hier untersuchte Thema. Es erweist sich als äußerst bedauerlich (und folgenträchtig), daß der Verfasserin offensichtlich das bereits 1984 erschienene Buch von E. Maier, Studien zur Sprachnormtheorie und zur Konzeption der Sprachnorm in französischen Wörterbüchern, nicht zugänglich war, in dem alle die genannten Punkte umfassend behandelt werden. Darüber hinaus untersucht diese Studie alle 9 Besprechungen - Comptes rendus 303 Wörterbücher (und mehrl, die auch bei Palazzolo-Nöding zugrundegelegt werden, auf Normen und Register hin . Die Kapitel 2 und 3 widmen sich den Wörterbüchern und der Umfrage. Die Arbeit endet mit einer Zusammenfassung (4), der Bibliographie (5), dem verwendeten Fragebogen (6), dem Verzeichnis der 27 Tabellen (7) und einem Register der 84 Substandardwörter (8). - Die eigentlichen Analysen und Ergebnisse sind also in den Kapiteln 2 und 3 enthalten. Die Zahlen mögen für sich selbst sprechen: Von 183 Seiten (30-213) liefern ca. 120 ausschließlich Tabellen, d. h. wir haben es mit ca. 63 Seiten Text zu tun. Ich werde mich im folgenden vor allem auf das Vorstellen und Diskutieren der Grundannahmen und der Verfahrensweisen beschränken. Die Verfasserin betont, daß von 9 untersuchten Wörterbüchern (Littre, DG, Acad., PL, DFC, TLF, Lexis, DFV, PR) einzig der PR die verwendeten Registereinstufungen (marques d'usages) definiert, und zwar sowohl im Abkürzungsverzeichnis als auch im Vorwort (40s.). Die Verfasserin fragt ihr Korpus in den genannten Wörterbüchern hinsichtlich Aufnahme und Markierung ab. In diesem Zusammenhang wird die These widerlegt, wonach es zwischen den einzelnen Wörterbüchern nur Abweichungen um eine, nicht um 2 oder mehr Stufen gebe (cf. Tabellen, 44ss.). Ihre Stufeneinteilung ist dabei O für unmarkiert, -1 für fam., -2 für pop. und -3 für triv.lgross./ vulg. Die Abweichungen seien zum Teil beträchtlich ein Ergebnis, das eigentlich schon jedem unbefangenen Benutzer von mehr als einem Wörterbuch ziemlich klar sein dürfte. Hier stellen sich folgende Probleme: 1. Wie kann nach einem solchen allgemein angesetzten Stufenraster gewährleistet sein, daß die jeweiligen Wörterbuchautoren unter der jeweiligen Markierung auch wirklich das gleiche Register meinen, werden diese doch wie die Autorin selbst feststellt außer im PR gar nicht definiert, sondern mehr oder weniger intuitiv gesetzt. Wie aussagekräftig können dann etwa überhaupt Feststellungen zu den prozentualen Abweichungen sein? Subjektive Fakten werden nicht dadurch objektiver, daß man sie statistisch erfaßt. Man erfaßt damit allerhöchstens den Grad der Subjektivität. 2. Es gilt das oben Gesagte: Intention und Zielgruppe der jeweiligen Wörterbücher sind entscheidend sowohl für die Aufnahme als auch für die Art und Weise der Markierung von Substandardwörtern. Letztendlich ist dies auch der Verfasserin bewußt, weist sie doch (allerdings erst in Kap. 3, in dem es um die Fragebogenaktion geht) mit Rey-Debove darauf hin, daß etwa vulgaire-Wörter «wegen des Drucks der sozialen Norm» keine der Gebrauchsnorm getreue Aufnahme in Wörterbüchern finden, um nicht zu schockieren (55). Obwohl 9 Wörterbücher in der eben beschriebenen Weise untersucht werden, wird im Grunde einzig PR für die Umfrage (cf. Kap. 3, 54-213) relevant. Der Fragebogen (227-235) ist folgendermaßen aufgebaut: I. Persönliche Daten (die dann auch gruppenspezifisch ausgewertet werden); II. Definitionen des PR zufam. und vulg., und Beispiele des PR zu pop. Im letzten Fall vermeidet die Verfasserin die Definition, da PR dieses Register unzutreffend auf die Unterschicht beschränkt (41) und sich die Probanden diskriminiert fühlen könnten (54); III. das Korpus: alle Wörter werden jeweils in einem (minimalen) Kurzkontext (oft aber auch völlig isoliert, z. B. une chiasse) geliefert, der in der Regel auch dem PR entnommen ist. Die Testpersonen haben im Sinne des multiple-choice-Systems jeweils die Wahl, ein entsprechendes Wort als fam., pop. oder vulg. anzukreuzen. Ein viertes Kästchen bleibt für die Benennung eines in diesem Dreier-System nicht aufgenommenen möglichen anderen Registers. Das Verfahren, zusätzlich noch das standardsprach- 1 Hierzu �nsere Besprechung in VRom. 47 (1988), 286-290. Das gleiche gilt für das Buch von R. BARTSCH, Sprachnormen: Theorie und Praxis, Tübingen 1985, das neben der Normproblematik auch dem Standard und den Varietäten viel Aufmerksamkeit schenkt. 304 Besprechungen - Comptes rendus liehe Äquivalent zu liefern, wie z.B.: «Une belle bagnole (automobile)», scheint mir nicht glücklich, schafft dieses Element des «gepflegten» code ecrit doch möglicherweise eine (ungewollte) Distanz der Befragten zum Substandardwort. Ferner: Die mitgelieferten Definitionen schränken die Aussagekraft des Tests erheblich ein. Die Aussagen der Fragebogen stellt die Verfasserin den Aussagen der Wörterbücher gegenüber (70-158), um dann die Ergebnisse bezüglich der von ihr angesetzten Gruppen zu errechnen (158-213). Die Gruppen werden nach folgenden Parametern gebildet: 1. Herkunft; 2. Berufsgruppen (geistig Arbeitende, körperlich Arbeitende, Angestellte, Beamte); 3. Geschlechtsgruppen; 4. Altersgruppen. Nebenergebnisse sind u.a., «daß die Gruppenkategorien Beamte und Angestellte ... für soziolinguistische Untersuchungen nicht sinnvoll sind», da auch Beamte manchmal geistig arbeiten (186) (dies hätte man sich eigentlich auch schon bei der Erstellung der Kategorien klar machen können und muß night erst als Resultat herauskommen). Was sind nun eigentlich ihre Ergebnisse (Kap. 4)? Wen wundert's, daß es ein Kapitel über das Sprachbewußtsein ausgerechnet des PR gibt? Dieses Wörterbuch repräsentiert nach der Verfasserin das Sprachbewußtsein jüngerer Männer aus der Kopfarbeiterschicht, die räumlich mobil ist (218), dies u.a. aufgrund der Tatsache, daß die acht befragten (Ober-)Schüler in ihren Einschätzungen am wenigsten vom PR abweichen (ob sie nicht vielleicht ihren PR gut kennen ...? ). Ein anderes Ergebnis ist, daß von der in der Literatur angenommenen «Einebnungstendenz» der sprachlichen Register keine Rede sein kann und damit auch kein Anhaltspunkt vorliegt für ein schwindendes Bewußtsein für sprachliche Niveaus. Darüber hinaus wird bestätigt, daß Registergebrauch gruppenspezifisch ist, wobei Kopfarbeiter jedoch Substandard viel positiver bewerten als körperlich Arbeitende (der Unterschicht). Kommen wir zum Schluß: Hat die Verfasserin ihr Ziel erreicht? Dadurch, daß sie den Informanten bestimmte, wohldefinierte Substandards «unterschiebt», ist ihr Vorgehen zirkulär: man kann nicht ermitteln, ob Register bewußt sind, wenn deren Existenz vorgegeben wird. Der Fragebogen scheint nicht glücklich; eine mündliche Befragung hätte bessere Ergebnisse erzielt. Spontanes Sprachverhalten sagt ungleich mehr aus über das Registerbewußtsein. Aber auch bei einer schriftlichen Erhebung hätte man anders vorgehen können, und zwar durchaus im Sinne des hier angestrebten Ziels: keine Mitlieferung von Definitionen, dafür beträchtlich mehr Kontext, und zwar sowohl standardsprachlichen als auch registermarkierten. Der standardsprachliche Kontext entspricht dem in den Wörterbüchern (implizit) zugrundegelegten neutralen Parameter. Da aber die Registermarkierung eines Wortes, wie z.B. bagnole, nur in Kontrast zu standardsprachlichen Texten dynamisiert (und damit konnotativ wirksam) wird, nicht aber in Texten, deren gesamter Sprechstandard dem Register pop. angehört 2 , schiene es mir sinnvoll, die Substandardwörter auch in entsprechende substandardsprachliche Kontexte einzubetten. Ein solches Vorgehen hätte aus der Gegenüberstellung der in der vorliegenden Studie eingesetzten unterschiedlichen Informationsquellen (Wörterbücher: Standardnorm; Fragebogen: Textnorm) höchst interessante Resultate bringen können bezüglich der kontext- und situationsbedingten Wirkung von (statischen, lexikalen) Substandardwörtern 3. 2 Cf. hierzu P. BRASELMANN, Konnotation - Verstehen Stil, Frankfurt a.M./ Bern 1981, bes. zur «statischen/ dynamischen Konnotation», p. 138ss. 3 Cf. v.a. H. RossrPAL, «Konnotationsbereiche, Stiloppositionen, Sprachen in der Sprache», Germanistische Linguistik 4 (1973), 1-87. Rossipal unterscheidet zwischen lexikalem (langue-Ebene) und kontextuell/ kommunikativem (parole-Ebene) Stilwert von sondersprachlichen Einheiten, wobei letzterer erst durch Kontrast wirksam wird.