eJournals Vox Romanica 52/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
1993
521 Kristol De Stefani

Der Grenzgänger und die Grenzen

121
1993
Peter Wunderli
Olaf Deutschmann gehört zu einer Generation von deutschen Romanisten, deren Bedeutung für die Geschichte des Faches in der Regel nicht sonderlich hoch veranschlagt wird. Dies beruht zum einen auf der Tatsache, daß sein wissen­schaftliches Werk nicht durch gewaltigen Um­fang herausragt, zum anderen darauf, daß sein Ansatz im wesentlichen auf den Traditionen der Zwischenkriegszeit zu beruhen scheint. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckt man, daß dies nur bedingt zutrifft: Die innovativen Elemente stehen zwar nicht im Vordergrund, sie sind aber gleichwohl vorhanden und haben so den Um­bruch in den 60er und 70er Jahren maßgeblich mit vorbereitet. Gerade seine durch den 2. Welt­krieg bedingte Mittlerstellung macht seine Be­deutung für die Geschichte der Romanistik aus.
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Der Grenzgänger und die Grenzen Das Werk Olaf Deutschmanns als Fragment einer Geschichte der Romanistik Olaf Deutschmann gehört zu einer Generation von deutschen Romanisten, deren Bedeutung für die Geschichte des Faches in der Regel nicht sonderlich hoch veranschlagt wird. Dies beruht zum einen auf der Tatsache, daß sein wissenschaftliches Werk nicht durch gewaltigen Umfang herausragt, zum anderen darauf, daß sein Ansatz im wesentlichen auf den Traditionen der Zwischenkriegszeit zu beruhen scheint. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckt man, daß dies nur bedingt zutrifft: Die innovativen Elemente stehen zwar nicht im Vordergrund, sie sind aber gleichwohl vorhanden und haben so den Umbruch in den 60er und 70er Jahren maßgeblich mit vorbereitet. Gerade seine durch den 2. Weltkrieg bedingte Mittlerstellung macht seine Bedeutung für die Geschichte der Romanistik aus. 0. Olaf Deutschmann wurde am 14. März 1912 in Hamburg geboren; er verstarb am 7. August 1989 in München. Dazwischen liegt ein erfolgreiches Leben als Wissenschaftler, gleichzeitig aber auch ein Leben voll von Schwierigkeiten und Tragik 1. Sowohl im persönlichen wie im wissenschaftlichen Bereich ist Olaf Deutschmann immer wieder an Grenzen gestoßen, sei es nun, daß ihm diese von außen gesetzt wurden, sei es, daß sie in ihm selbst begründet waren. Da er kein Revolutionär war, hat er gegen diese Hemmnisse, Beschränkungen und Einengungen nie offen revoltiert, er hat nie den Aufstand geprobt. Andererseits hat er aber auch nie resigniert. Äußerlich unberührt hat er seine einmal gewählten, ihm vorerst verwehrten Ziele still weiter verfolgt; oft kaum vorstellbare Energieleistungen haben es ihm immer wieder erlaubt, scheinbar definitive Grenzen zu überwinden, sie zu überschreiten, einmal ins Auge Gefaßtes zu verwirklichen und darüber hinaus sich neue Ziele zu setzen (bei deren Verfolgung er dann meist wieder an irgendwelche Grenzen stieß). Olaf Deutschmann sah in seinem Leben oft wie ein Besiegter aus, und dies sowohl im persönlichen wie im beruflichen Bereich. In Wahrheit war er bis zu seinem Tod immer wieder der (heimliche) Sieger. 1 Für die Biographie und die Bibliographie von Olaf Deutschmann bis 1982 cf. WuNDERLII MüLLER 1982; für die Bibliographie der letzten Jahre cf. den Anhang zu diesem Beitrag. 2 Peter Wunderli 1. Begrenzungen in seinen Aktivitäten und in seiner Selbstverwirklichung erfuhr der junge Deutschmann schon als Student und unmittelbar im Anschluß an sein Studium. Die Gründe hierfür sind in erster Linie in den Zeitumständen, d.h. in der Naziherrschaft zu suchen; Olaf Deutschmann konnte dieser Ideologie nichts abgewinnen, dazu war er viel zu stark in der katholischen Jugendbewegung verwurzelt. Ein Mitmachen an dem unheilvollen Treiben war für ihn so von allem Anfang an ausgeschlossen. Aber Deutschmann konnte sich auch nicht in ein sicheres Schweigen zurückziehen, dafür war er ein viel zu engagierter Mensch - und dies mußte unweigerlich zu Spannungen mit seinem Lehrer Fritz Krüger führen, der sich nach dem Kriege der Strafe für seine braune Vergangenheit nur durch einen Rückzug nach Argentinien entziehen konnte. Andererseits war Olaf Deutschmann ein derart brillanter Student, daß man ihm das Studium der Fächer Romanische Philologie, Latein und Experimentelle Phonetik nicht einfach verunmöglichen konnte. Die Studienzeit war somit eine schwierige Gratwanderung, der sich der engagierte Christ nur zeitweise durch Studienaufenthalte in Madrid und Paris entziehen konnte. Diese Auslandsaufenthalte sind bereits so etwas wie eine erste Grenzüberschreitung, die Überwindung einer Beschränkung, die das damalige System Olaf Deutschmann aufzuzwingen versuchte. Und er verstand diese Ausbruchsmöglichkeit auch voll zu nutzen. Nicht nur legte er in Madrid und Paris den Grundstein für viele spätere Arbeiten, er war an der Ecole pratique des Hautes Etudes, wo er v.a. mit dem Textphilologen Mario Roques und dem Paläographen Charles Samaran zusammenarbeitete, derart erfolgreich, daß er 1937 auf Vorschlag von Roques zum «Eleve titulaire» dieser ehrwürdigen Institution ernannt wurde eine Auszeichnung, die Olaf Deutschmann bis an sein Lebensende mit Stolz führte. Es dürfte nicht zuletzt dem erfolgreichen Pariser Aufenthalt zu verdanken sein, daß Deutschmann 1938 in Hamburg mit einer als«Untersuchungen zum volkstümlichen Ausdruck der Mengenvorstellungen im Romanischen» betitelten Dissertation promovieren konnte. Dies war sicher ein heimlicher Sieg gegen die herrschenden Nationalsozialisten, eine neue Überwindung von Grenzen, die man ihm zu setzen versuchte. Aber es war auch so etwas wie ein Pyrrhussieg, wie sich schnell zeigen sollte. Aufgrund seiner angeblichen«politischen Unzuverlässigkeit» gab es für ihn keine Chance, in der Universität Fuß zu fassen, geschweige denn eine Universitätskarriere zu planen und in Angriff zu nehmen. Aus diesem Grunde orientierte sich Olaf Deutschmann auf das Lehramt hin und legte 1939 das erste Staatsexamen in den Fächern Latein, Französisch und Spanisch ab. Und erneut blockte man ihn ab: Man ließ ihn zum 2. Staatsexamen (Assessorexamen) einfach nicht mehr zu. Aus ihrer Sicht hatten die Machthaber damit vielleicht nicht einmal so Unrecht, denn ein derartig unabhängiger und kritischer Geist als Lehrer wäre für sie sicher sehr unbequem geworden. Somit war Deutschmann schon wieder an eine Grenze gestoßen, die er vorerst nicht überwinden konnte, und hinter ihr zeigte sich auch gleich eine neue: Es sollte Der Grenzgänger und die Grenzen 3 ihm in der Folge verwehrt sein, sich seiner über alles geliebten Wissenschaft zu widmen, denn er wurde zur Wehrmacht eingezogen und an die Front geschickt. Erst der Zusammenbruch erlaubte es ihm, die von den Nazis aufgebauten Hindernisse zu überwinden ein Erfolg also mit erheblichem Verzögerungsfaktor. Olaf Deutschmann wurde als vollkommen unverdächtig und unbelastet bereits am 1. November 1945 zum wissenschaftlichen Assistenten an dem im Neuaufbau begriffenen Romanischen Seminar der Universität Hamburg ernannt. Seine Karriere schien nun gesichert. Es folgte in der Tat eine Periode der Stabilität und des Erfolges. Deutschmann machte sich gleich daran, seine Habilitation vorzubereiten und realisierte dieses Projekt in geradezu phänomenal kurzer Zeit: Er habilitierte sich bereits am 17. Mai 1947 mit der Studie «Zum Adverb im Romanischen», die den Untertitel «Anläßlich französisch Il est terriblement riche - Il a terriblement d'argent» trägt. In einem gewissen Sinne ging das alles sogar viel zu schnell. Nicht umsonst dauerte es bis 1959, bis die Arbeit im Druck erschien: Der nicht nur gegenüber andern, sondern auch und v.a. gegenüber sich selbst äußerst kritische Verfasser konnte sich nicht dazu entschließen, sich von einem Manuskript zu trennen, dessen durch den Zeitdruck, den Zwang zum raschen Handeln bedingte Mängel er nur allzu gut kannte. Hier zeigt sich eine Art «innere Grenze» Olaf Deutschmanns, die sicher positiv zu sehen ist: sein Perfektionismus. Andererseits sollte dieser Aspekt seines Charakters schon sehr bald mit seiner Krankheit und der Angst, wichtige Ideen nicht mehr veröffentlichen zu können, in Konflikt geraten. In der Regel hat in der Folge das Mitteilungsbedürfnis, die Überzeugung, etwas Wesentliches weitergeben zu müssen, den Sieg über den Wall des Perfektionismus davongetragen. Bis 1951 war Deutschmann Privatdozent in Hamburg, um dann gleichzeitig zwei Angebote zu bekommen: eine Diätendozentur in Freiburg und ein Extraordinariat für Spanische Sprache und Literatur in Saarbrücken. Da Saarbrücken damals «Ausland» war, entschloß sich der junge und geradezu arbeitsbesessene Forscher und Lehrer, sie vorerst beide wahrzunehmen. 1954 wurde er dann zum Außerordentlichen Professor in Freiburg ernannt, und nachdem er 1960 einen Ruf nach Frankfurt abgelehnt hatte, erfolgte 1961 die Umwandlung dieser Stelle in ein Ordinariat das erste Ordinariat für Romanische Sprachwissenschaft in Freiburg übrigens. Olaf Deutschmann schien somit am Ziel seiner Wünsche zu sein und mit 49 Jahren noch eine lange und erfolgreiche Karriere vor sich zu haben. Dieser Schein war allerdings trügerisch. Schon lange hatten sich gesundheitliche Probleme gezeigt, und 1955 wurden die Anfänge der Parkinsonschen Krankheit («Schüttellähmung») diagnostiziert. Damit stieß Olaf Deutschmann an eine neue Grenze, war doch die Medizin damals noch kaum in der Lage, auf diese Krankheit Einfluß zu nehmen und mußte sich mit bescheidenen Versuchen der Symptombekämpfung zufrieden geben. Das Leiden nahm seinen vorhergesehenen Verlauf und beeinträchtigte den dynamischen Lehrer und Forscher in zunehmendem Maße. Dazu 4 Peter Wunderli kam dann noch eine Reihe von unschönen Querelen und Auseinandersetzungen sowohl mit engeren als auch ferneren Fachkollegen, im Seminar und in der Fakultät. Vor diesen nun massiert auftretenden Hindernissen kapitulierte Olaf Deutschmann: Er ließ sich 1969 emeritieren. Damit schien die Karriere einer der großen Hoffnungen der deutschen Romanistik in der unmittelbaren Nachkriegszeit ein vorzeitiges Ende gefunden zu haben. Zwar publizierte er 1971 noch sein schon seit langem sich in Vorbereitung befindendes Handbuch «Lateinisch und Romanisch», aber diese Arbeit schien eher ein Abgesang, ein Vermächtnis zu sein, eine Art wissenschaftliches Testament. Daß dem nicht so sein konnte, mußte aber jedem klar sein, der Olaf Deutschmann und seinen Lebensweg etwas näher kannte. Ein erster Hinweis dafür war schon die Tatsache, daß sich Deutschmann auch in den folgenden Jahren immer wieder sporadisch in Zeitschriften- und Festschriftenartikeln zu Wort meldete (1977, 1980, 1981, 1985). Und in der Tat, es gelang ihm, auch diesescheinbar endgültige - Grenze zu überschreiten. Zu Beginn der 80er Jahre hatte er seine spätere Frau Karin kennengelernt, und mit ihrer Hilfe gelang es ihm, seinem Leben nochmals eine Wende zu geben, aus dem Pflegeheim, in dem er wie ein lebendig Begrabener vegetierte, wieder auszubrechen. Er nahm als Emeritus seine Lehrtätigkeit in Freiburg 1985 wieder aufin 14tägigem Rhythmus, jedes Mal mit der beschwerlichen Fahrt von München nach Freiburg (und zurück) verbunden-, und er publizierte in verstärktem Rhythmus: Er stellte noch zwei Bücher (1988a, 1990) und zwei Aufsätze (1986, 1988b [1990]) fertig, von denen zwei Arbeiten noch zu Lebzeiten, zwei andere erst postum erschienen. Der Tod riß ihn aus einer Reihe von weiteren Plänen und Projekten. 2. Olaf Deutschmann war wie könnte es anders sein in erheblichem Maße durch den Zustand der deutschen Romanistik während seiner Studienzeit und in den nachfolgenden Jahren geprägt. Solche Fesseln kennt jeder von uns, und das Vakuum, das die nationalsozialistische Herrschaft auch im wissenschaftlichen Bereich geschaffen hatte, sollte noch lange vorhalten; in der Romanistik dauerte es z.B. bis in die 60er Jahre hinein, bevor eine allgemeine Neuorientierung sichtbar wurde und sich eine breite Abwendung von den traditionellen Pfaden bemerkbar machte. Dieser zeitbedingten Stagnation mußte auch Olaf Deutschmann bis zu einem gewissen Grade seinen Tribut zollen. Die deutsche Romanistik zwischen den beiden Weltkriegen und in der unmittelbar daran anschließenden Periode war durch eine hochgradige Theoriefeindlichkeit gekennzeichnet, die mit einer Verliebtheit in das sprachliche Material gepaart war. Theoriefeindlich war nun Olaf Deutschmann allerdings nicht; sowohl seine Dissertation wie auch seine Habilitationsschrift beginnen mit einem langen, im Falle der Dissertation schon fast überlangen theoretischen Vorspann; diesem Muster sind auch zahlreiche seiner Aufsätze verpflichtet. Allerdings darf man bei Deutschmann nicht «Theorie» im heutigen Sinne erwarten: Die Termini sind Der Grenzgänger und die Grenzen 5 selten «wohldefiniert», und auch ein streng deduktives Verfahren ist ihm vollkommen fremd. Die «Theorie» ist bei ihm eine Explikation der im Rahmen eines hermeneutisch-induktiven Verfahrens gewonnenen Ergebnisse. Wenn diese Quintessenz am Anfang der Arbeiten steht, dann begründet dies kein deduktives Verfahren, sondern hat den Status einer Darstellungstechnik, die die Materialinterpretation entlasten soll. - Diese Feststellung macht auch gleichzeitig deutlich, daß bei Deutschmann die Liebe zum Material erhalten geblieben ist. Er erweist sich als ein wahrer Titan der Materialbewältigung, der mit ungeheurem Eifer sammelt, klassifiziert und dann ausbreitet und im Detail interpretiert. Bei ihm gibt es nie theoretische Spekulationen im luftleeren Raum; jede seiner Aussagen ist durch eine Fülle von Beispielen belegt, jeder Schluß läßt sich von der Beleglage rechtfertigen, und gleichzeitig werden auch mögliche Gegenbeispiele in Betracht gezogen, gewürdigt, bewertet und gegebenenfalls entkräftet. Diese Treue zum Material, Deutschmanns absolute wissenschaftliche Redlichkeit haben allerdings zur Folge, daß seine Arbeiten manchmal über lange Strecken schwer lesbar, ja für den modernen «eiligen» Leser oft geradezu unleserlich sind. Derartige Kritik ist in Rezensionen auch verschiedentlich geäußert worden, und sie ist bis zu einem gewissen Grade sicher berechtigt 2• Die Romanistik zu Deutschmanns Ausbildungszeit war weiter geprägt durch eine fast ausschließlich diachronisch orientierte Fragestellung. Aus diesem Grunde dominierten zwischen 1920 und 1960 etymologische und sprachgeschichtliche Arbeiten, und selbst dort, wo man sich der Dialektologie zuwandte, geschah dies nicht um der Dialekte selbst willen, sondern ganz im Sinne von Jules Gillieron um sie als Zeugen für längst entschwundene Sprachzustände auszuwerten. Eine solche Haltung fehlt bei Olaf Deutschmann vollkommen, ja er betont sogar in den meisten Arbeiten ausdrücklich, daß es ihm um die Darstellung des modernen Sprachzustands per se gehe. Gleichwohl konnte er sich dem «Zeitgeist» nicht entziehen: Praktisch immer ist auch ein Teil da, den man als historischen Ausblick bezeichnen könnte, wobei diese Teile in der Regel nicht sauber von der synchronischen Darstellung getrennt sind. Deutschmann scheint hier weniger Saussure als vielmehr Wartburgs Theorie des «Ineinandergreifens» von beschreibender und historischer Sprachwissenschaft zu folgen (cf. WuNDERLI 1981: 121ss.). Trotz einer im Prinzip vollzogenen Abkehr von der Tradition bleibt er ihr somit de facto in zahlreichen Punkten verhaftet. Schließlich ist Olaf Deutschmann auch noch in hohem Maße durch die «Hamburger Schule» und ihre Hauptvertreter Fritz Krüger und Wilhelm Giese geprägt. Im Zentrum der Gruppe, die sich um die Zeitschrift Volkstum und Kultur der Romanen gebildet hatte, stand das Bestreben, die Sprache von Völkern und Volksgruppen im Zusammenhang mit ihrer soziokulturellen Bedingtheit (und damit dem Brauchtum) zu erforschen. In den 30er Jahren degenerierte dieser an 2 Cf. Z.B. LüUREIRO 1962/ 63, HALLIG 1960, ULLAND 1972, STEFENELLI 1972. 6 Peter Wunderli sich durchaus interessante Ansatz unter dem Druck der braunen Ideologie jedoch rasch zu Volkstümelei, Rassentheorie und Blut-und-Boden-Ideologie. Olaf Deutschmann ist diesen Gefahren nie erlegen, ganz im Gegenteil, er hat sie von allem Anfang an deutlich erkannt und versucht, den gleichen Fragestellungen eine neue Orientierung zu geben. Dies hat nach dem Krieg zur Gründung des Romanistischen Jahrbuchs geführt, dessen erster Redaktor er war und zu dessen Herausgebergremium er bis zu seinem Tode gehörte. Ziel dieser Zeitschrift war es, nach dem Zusammenbruch einen neuen Standort zu definieren, den man heute wohl soziolinguistisch nennen würde (obwohl das Instrumentarium der modernen Soziolinguistik noch fehlte). Sprache sollte im Zusammenhang mit den romanischen Lebenswirklichkeiten, in Bezug auf die spezifischen soziokulturellen Verhältnisse in den verschiedenen romanischen Ländern untersucht werden, es sollte im Sinne der Mentalitätsforschung nach den gesellschaftlichen und traditionellen Fundierungen von Sprach- und Redephänomenen gefragt werden. Mit diesem durch die französische Ecole des Annales geprägten Ansatz wurde der Begriff des «Sitzes im Leben» verschmolzen, der aus der formgeschichtlichen Schule der Theologie stammt und der bei einem andern «Hamburger», Erich Köhler, in den 60er Jahren zu zentraler Bedeutung gelangen sollte. 2.1. Die Dissertation Untersuchungen zum volkstümlichen Ausdruck der Mengenvorstellung im Romanischen ist insofern von zentraler Bedeutung, als sie den «ganzen Olaf Deutschmann» bereits im Kern enthält, mit all seinen Qualitäten, aber auch mit den bereits erwähnten Grenzen. Innovativ an der Arbeit ist vorerst einmal die Tatsache, daß hier erstmals die onomasiologische Fragestellung auf einen abstrakten Begriff in der Volkssprache angewendet wird, die «unbestimmte» Mengenbezeichnung 'viel' ('beaucoup de, bien des'). Den ursprünglichen Plan, sowohl die bestimmte als auch die unbestimmte Mengenbezeichnung in den romanischen Sprachen und ihren Dialekten zu analysieren, hatte Deutschmann schon sehr rasch aufgeben müssen, denn die Materialfülle erwies sich als derart gewaltig, daß aus der Dissertation nicht ein Gesellenstück (was jede Dissertation ist), sondern ein Lebenswerk geworden wäre. Aber auch der Bereich der Vielheit erwies sich noch als zu weit, so daß letztlich eine Beschränkung auf die Konstruktionen vom Typus <Subst. + de + Subst. > mit der Bedeutung 'viel' vorgenommen werden mußte. Deutschmann war somit schon im Vorfeld seiner Arbeit wieder einmal an eine Grenze gestoßen, diejenige des Machbaren. Und die Grenze sollte ihm gleich noch ein zweites Mal deutlich werden, nämlich als es um die Publikation der Dissertation ging. Die ausführliche theoretische (oder besser interpretative) Aufarbeitung des Themas und die Fülle des ausgebreiteten Materials hatten zu einem Manuskript von rund 1750 Seiten geführt, was am später publizierten Teildruck gemessen ein Buch von gegen 900 Seiten ergeben hätte. Eine derartige Publikation zu finanzieren ist für einen jungen Forscher ein Ding der Unmöglichkeit. Deutschmann mußte sich deshalb vorerst mit einem Der Grenzgänger und die Grenzen 7 Teildruck begnügen, der nur den theoretischen Teil (Teil 1) umfaßte (DEUTSCH- MANN 1938). Der dritte Teil erschien nach dem Kriege in überarbeiteter und stark gekürzter Form in zwei Beiträgen im Romanistischen Jahrbuch (1951, 1952). Der mittlere Teil blieb als Ganzes unpubliziert, doch sind einige Bruchstücke als Aufsätze veröffentlicht worden. Die wichtige theoretische Einleitung definiert zuerst einmal die Aufgabenstellung: die Untersuchung der Ausdrücke für 'viel' im Rahmen des Syntagmas <Subst. + de + Subst. > in den romanischen Volks- und Umgangssprachen des 19. und 20. Jh.s, eine synchronische Untersuchung also. Als Materialbasis sollten Wörterbücher, Sprachatlanten, eigene Beobachtungen, v.a. aber populärsprachliche Texte wie coplas, romances und insbesondere Theaterstücke des genero chico dienen. Im theoretischen Bereich auffällig ist vorerst einmal die Unterscheidung zwischen Begriff und Vorstellung (XXVI). Mit dem ersten Terminus bezeichnet Deutschmann in heute ungewöhnlicher Weise den denotativen Gehalt eines Zeichens, während mit dem zweiten auf die konnotativen und assoziativen Elemente abgehoben wird. Unglücklich ist daran eigentlich nur, daß die sozialkonnotativen und die individuell-assoziativen Phänomene nicht sauber voneinander getrennt werden. Nicht haltbar ist aus heutiger Sicht die Annahme, daß Konkreta per se einen präzisen Bedeutungsumfang hätten und gewissermaßen wohldefiniert seien, während fließende Ausgrenzungen nur bei Abstrakta anzutreffen wären (XXVI): Der (sprachliche) Wertbegriff Saussures ist Deutschmann offensichtlich noch unbekannt, und den (sprachlichen) Relativitätsbegriff von Whorf konnte er noch gar nicht kennen. Beeindruckend dagegen sind einige andere Theorieelemente. So postuliert Deutschmann z.B. im Spannungsfeld zwischen Konkretheit und Abstraktion im Bereich der Mengenbezeichnungen eine im Laufe der Zeit zunehmende Schwächung der syntaktischen und semantischen «Kraft» der einzelnen Ausdrücke, die sie von konkreten Substantiven oft zu abstrakten «Mengenadjektiven» werden läßt (XXVII, 54ss.; z.B. kat. massa de feina > massa feina; vgl. auch frz. force moutons). Ob man hier wirklich von «Adjektiven» sprechen kann und soll, ist ein terminologisches Problem; entscheidend ist jedoch, daß Deutschmann mit seinen Überlegungen den Subduktionsbegriff von Gustave Guillaume vorwegnimmt. Und eine ähnlich avantgardistische Position haben wir bei der Unterscheidung zwischen direkten und indirekten (substantivischen) Mengenbezeichnungen (14). Unter direkten Ausdrücken versteht Deutschmann solche Substantive, die selbst schon ein quantitatives Element enthalten wie fr. tas, sp. montan, unter indirekten dagegen solche, denen per se jede quantitative Komponente abgeht, z.B. sp. barbaridad, horror, it. flagello, subisso usw. Mit dieser Unterscheidung stellt sich Deutschmann in die Nähe der Differenzierung zwischen direktem und indirektem Sprechakt, die wir inzwischen aus der Ordinary Language Philosophy ( 0LP) und der Pragmatik bestens kennen, und erweist sich als seiner Zeit weit voraus. 8 Peter Wunderli Von hohem Interesse ist auch die Feststellung, daß es (zumindestens zum Teil) für die Mengensubstantive Selektionsbeschränkungen gibt. Während z.B. fr. force, tas unbeschränkt anwendbar sind, kann troupeau nur für Quantifizierungen eingesetzt werden, die das Merkmal/ + anime/ enthalten; andererseits ist monceau nur dort verwendbar, wo ein Merkmal/ anime/ (gegebenenfalls / 0 anime/ ) vorliegt. Deutschmann macht hier in nuce eine semantische Merkmaianalyse, die sich sieht man einmal von der Terminologie ab durchaus als modern erweist und graphisch folgendermaßen dargestellt werden könnte: tas / 0 anime/ troupeau monceau / + anime/ / anime/ Diese an sich deutliche Strukturierung hindert Deutschmann allerdings nicht daran zu sehen, daß die Grenzen zwischen den von ihm geltend gemachten Bereichen gleichwohl fließend sind; eine Erklärung für die Existenz der Übergangsphänomene fehlt bei ihm, doch scheint mir der Grund eindeutig in der Möglichkeit zur Metaphernbildung zu liegen. Hier zeigt sich erstmals ein Phänomen, dem man in seinen Arbeiten immer wieder begegnen wird: Er hält nichts von den rhetorischen Figuren, ja er ignoriert sie systematisch und sucht selbst in (fast) eindeutigen Fällen nach anderen Erklärungsmöglichkeiten. Im folgenden (15ss., 59ss.) geht es dann v.a. um das Spannungsfeld zwischen Konkretisierung und Abstraktion, Affekt und Intellektualismus, in dem Mengenbezeichnungen stehen und in dem sie sich realisieren. Deutschmann wird nicht müde zu betonen, daß die populäre Sprache eher zu konkreten, die Schriftsprachen eher zu abstrakten Mengenausdrücken neigen (z.B. un tas de foin vs. beaucoup de foin), daß ursprünglich konkrete Bezeichnungen oft einem sukzessiven Abstraktionsprozeß unterliegen, dann für die affektische Mengenwiedergabe nicht mehr geeignet sind und durch neue Konstruktionen ersetzt werden müssen. Dieses Bedürfnis nach Affektivität sieht er darin begründet, daß der Begriff 'viel, zu viel' immer die Abweichung von einer (vorgegebenen) Norm (die man als lebensweltlich gegeben bezeichnen könnte) impliziert und damit in aller Regel entweder positiv oder negativ besetzt ist: un tas d'argent ist etwas Schönes und löst beim Besitzer Freude aus, bei einem Schuldner dagegen Sorge und Kummer; un tas d'ennuis dürfte dagegen immer negativ gesehen werden, usw. Aus diesem Grunde kommen auch Schriftsprachen nicht ohne tendenziell konkretisierende Mengen- Der Grenzgänger und die Grenzen 9 ausdrücke aus. - Diesem Konkretisierungsstreben kämen nun die substantivischen Mengenausdrücke in besonderem Maße entgegen (44ss.). Sicher sind nicht alle der von Deutschmann angeführten Gründe stichhaltig 3, aber es bleibt gleichwohl unbestritten, daß ein un montan de dinero anschaulicher und zum Affektausdruck besser geeignet ist als ein mucho dinero. Dies gilt sicher einmal für zum Mengenausdruck herangezogene Konkreta; aber auch Abstrakta können hier wirksam werden, wenn sie einem affektaffinen Wortfeld entstammen oder entsprechende Assoziationen auslösen (z.B. una barbaridad de dinero). Auch die äußere Form des Affektausdrucks erlaubt schon Rückschlüsse auf den Abstraktionsgrad, was von Olaf Deutschmann durchaus richtig gesehen wird (18ss.). So unterscheidet er terminologisch vielleicht nicht ganz überzeugend, sachlich aber durchaus korrekt zwischen Synkretismus und Konkretismus beim Mengenausdruck. Ein Synkretismus läge z.B. überall dort vor, wo Sach- und Mengenbezeichnung unauflöslich miteinander verschmolzen sind, z.B. liegeois crete 'pile de buches ou de fagots', neuchatelois menee 'amas de neige seche amoncelee par le vent', etc. Einen «Konkretismus» hätten wir dagegen überall dort, wo Sach- und Mengenbezeichnung voneinander getrennt erscheinen, z.B. sp. una manada de vacas, it. uno stormo di uccelli, etc. Von Konkretismus würde ich hier gegenüber dem ersten Typus deshalb nicht sprechen, weil die Trennung der beiden Elemente bereits einen ersten Abstraktionsschritt voraussetzt, d.h. der synkretische Ausdruck letztlich «konkreter» ist. - Sachlich gerechtfertigt ist im Prinzip sicher auch die Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Mengenbezeichnung, die zumindest teilweise mit der vorhergehenden Opposition überlappt (29ss.). Dieser neue Gegensatz fällt im wesentlichen zusammen mit der Unterscheidung von eingliedrigen und mehrgliedrigen, lexematischen und syntagmatischen Formen der Mengenbezeichnung, z.B. sp. un dineral vs. un montan de dineros, it. un vocio vs. una moltitudine di voci, etc. Problematisch scheint mir hier v.a. die Tatsache zu sein, daß als Basis für die Unterscheidung innerer/ äußerer Typus das Wort (die Lexie) als Kriterium fungiert, d.h. letztlich ein Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen wortinterner und wortexterner Syntax (Lexematik vs. Syntagmatik) stattfindet. Dabei wird die Tatsache vollkommen verwischt, daß die Wiedergabe der Mengenidee 'viel' über ein Wortbildungsmonem (z.B. Kollektiv- und Iterativsuffixe) eine viel höhere Abstraktionsleistung darstellt als die Realisierung über eine autonome Lexie im Rahmen eines Syntagmas. Für mich 3 So sind die von Deutschmann angeführten formalen Gründe wohl kaum stichhaltig (z.B. Subst. als «wichtigste» Wortart, Pluralisierbarkeit des Subst., Qualifizierbarkeit durch Adj., usw.); die entscheidenden Vorteile dürften vielmehr einzig und allein im Semantismus bestimmter Substantive zu suchen sein (weshalb ja auch nicht alle Subst. zum Mengenausdruck herangezogen werden können). Nicht zutreffend ist sicher auch die Behauptung (59), die Formel ,Subst. + de + Subst. > (1. Subst. = Mengenausdruck) sei deshalb so erfolgreich gewesen, weil hier das «Wichtige» an erster Stelle ausgesagt werde. Daß dem keineswegs so zu sein braucht, habe ich kürzlich im Zusammenhang mit dem frz. Adjektiv gezeigt (WUNDERLI 1987). 10 Peter Wunderli würde die Abstraktionsskala somit vom «Synkretismus» über das (substantivische) Syntagma zur lexematischen Bildung fortschreiten, während die Kombination der beiden hier diskutierten Kriterien von Deutschmann zur Annahme einer vertauschten Reihenfolge der beiden letzten Elemente zwingt. Olaf Deutschmann hat hier ansatzweise zwei wesentliche Aspekte der Mengenbezeichnung erkannt, ist aber insofern an eine Grenze gestoßen, als er die Konsequenzen seiner Darstellung nicht vollständig zu Ende gedacht hat. Zum Schluß noch einige kurze Bemerkungen zu dem nur in Bruchstücken veröffentlichten zweiten Teil der Arbeit. Bereits 1937, also noch vor der Promotion, erschien in der Revue de linguistique romane der Aufsatz «L'emploi des noms d'action designant une 'volee de coups' pour signifier 'beaucoup' en territoire galloroman»: Hier geht es um den Übergang von Iterativa in den Bereich der Mengenbezeichnung, der mit der üblichen Akribie und Sorgfalt für den Raum der Galloromania analysiert wird. - Zwei Jahre später folgte in Biblos der Aufsatz über den Typus «ce fripon de valet» im Spanischen, wobei nach Deutschmann dieses ursprünglich qualifizierende Muster als Modell für die quantifizierenden Konstruktionen vom Typus «une foule de gens» etc. anzusehen wäre. - 1952 folgte dann in der Festschrift für Fritz Krüger eine Analyse des Gebrauchs der Ausdrücke für 'Haufen' zum Ausdruck der Vielheit in der Romania, und 1955 schloß sich daran eine entsprechende Studie für 'Meer' in der Festschrift für Helmuth Petriconi an. In allen diesen Arbeiten bewegt sich Olaf Deutschmann im bereits skizzierten theoretischen Rahmen, mit all seinen Vorteilen gegenüber der Linguistik seiner Zeit und mit allen bereits erwähnten Defiziten gegenüber dem aktuellen Forschungsstand. Auch hier zeigt sich somit wieder die bereits hinreichend deutlich gemachte Zwischenstellung zwischen Innovationsfreudigkeit und Traditionsgebundenheit. In einem Punkte bleiben allerdings alle diese Arbeiten neueren Studien vergleichbarer Art weit überlegen: in der Fülle und in der Breite des verarbeiteten, gesichteten und klassifizierten Materials. Man mag mit Deutschmann hinsichtlich einer Reihe von theoretischen Aussagen uneins sein, der Wert seiner Arbeiten wird dadurch kaum beeinträchtigt, denn sie liefern immer alle Elemente für eine anders orientierte Interpretation. 2.2. Auch die Habilitationsschrift, vom Titel her dem Adverb im Romanischen gewidmet, ist ein typischer «Deutschmann». Zum einen geht es in dieser Arbeit nicht um das Adverb im allgemeinen, sondern nur um den Gebrauch von Adverbien zum Ausdruck von Mengenvorstellungen; zum andern steht die Konstruktion <Adv. +de+ Subst. > (il a terriblement d'argent) eindeutig im Zentrum, und andere Typen werden nur gestreift. Die Arbeit kann somit als direkte Fortsetzung der Dissertation angesehen werden, wobei in der Formel <X + de + Subst. > in der Position X statt <Subst. > einfach <Adv. > eintritt. Eine solche Habilitationsschrift wäre vor dem Krieg und auch nach 1950 kaum möglich gewesen, da sie praktisch im Bereich der Dissertation liegt. Aufgrund der besonderen Zeitumstände war sie Der Grenzgänger und die Grenzen 11 dagegen 1947 durchaus akzeptabel, zumal sie anhand eines begrenzten Problemkreises dokumentiert, welche Fortschritte der Verfasser in der Zwischenzeit sowohl in methodischer als auch in gestalterischer Hinsicht gemacht hatte. Aus unserer heutigen Sicht ist sie v.a. deshalb interessant, weil wiederum eine Reihe von traditionellen Grenzen relativiert bzw. überschritten werden: diejenige zwischen Einzelsprache und Sprache als universellem Phänomen, diejenige zwischen Dialekten und Hochsprache, diejenige zwischen Synchronie und Diachronie, diejenige zwischen Syntax, Stilistik und Semantik, usw. Hauptthema der Studie ist die Entwicklung von Qualitätsbzw. Bewertungsadjektiven und -adverbien zu Intensitätsmerkmalen und schließlich zu Mengenausdrücken. Deutschmann stellt sicher zu recht fest, daß dieser Prozeß zuerst einmal auf der affektischen Nutzung von Qualitäts- und Bewertungsausdrücken als Verstärker beruht, z.B. abominablement, affreusement, diablement, fierement usw. (22ss.). Nach seiner Auffassung handelt es sich hierbei um ein typisch galloromanisches und insbesondere nordfranzösisches Phänomen. Die Voraussetzung für ein Eintreten in den Bereich der Mengenbezeichnungen sind aufgrund von Deutschmanns Ausführungen ganz eindeutig nicht funktioneller, sondern vielmehr assoziativer Art. So zeigt er z.B., daß bei den Ausdrücken der geistigen Abnormität es immer die Feststellung einer Abweichung vom Normalen ist, die die Basis für die Bedeutungsentwicklung liefert. Diese Feststellung könnte letztlich mit geringfügigen Modifikationen auf alle semantischen Typen ausgedehnt werden, so daß man etwa folgendermaßen formulieren könnte: Prädestiniert für eine Entwicklung zum Mengenausdruck sind alle qualifizierenden Lexien, die die Erfüllung oder Überschreitung (bzw. die Verletzung) einer expliziten oder impliziten Norm zum Ausdruck bringen. Dabei braucht diese Norm nicht unbedingt per se gegeben zu sein, sie kann durchaus auch erst im Rahmen des Diskurses generiert oder ausgehandelt werden (49ss.). Was die Kritik angeht 4 , so hat sie im allgemeinen Olaf Deutschmanns Habilitationsschrift recht positiv aufgenommen. Das Material und die Materialbewältigung werden einmütig gelobt und als reife Leistung bezeichnet, als Arbeit eines Mannes, der sein Handwerk beherrscht und über große methodische Sicherheit verfügt. Kritik wurde dagegen v.a. an der äußeren Form geübt, insbesondere an der Tatsache, daß die Arbeit nicht einmal ein Inhaltsverzeichnis hat und die einzelnen Teile, Kapitel und Unterkapitel allerhöchstens durchnumeriert, nie aber mit einem Titel versehen sind. Dies mag z. T. mit Deutschmanns Darstellungsweise zusammenhängen, die ein Problem immer wieder unter allen möglichen Aspekten zu beleuchten versucht, es gewissermaßen von allen Seiten her einkreist und es deshalb fast unmöglich macht, einzelne Abschnitte unter ein einheitliches Thema zu stellen. Dieses Vorgehen hat auch dazu geführt, daß die Arbeit voll von Wiederholungen, Wiederaufnahmen, Variationen usw. ist. Auch dies wurde zu 4 Cf. z.B. MEIER 1959, HALLIG 1960, LüDTKE 1960, SANDMANN 1960/ 61, LouREIRO 1962/ 63. 12 Peter Wunderli Recht moniert, obwohl in dieser Hinsicht gegenüber der Dissertation schon große Fortschritte zu verzeichnen sind. Eines ist allerdings sicher: Deutschmann hat in allen seinen Arbeiten das nicht praktiziert, was PADLEY (1985: 25) einmal in bezug auf Ramus «law of wisdom» genannt hat, ein Verfahren, das einen Gedanken nur einmal präsentiert und ihn dann bei seinem Leser als bekannt voraussetzt; ganz im Gegenteil: Er versucht an jeder Stelle, den ganzen Argumentationszusammenhang komplett und neu zu geben. Dies ist bei einer punktuellen Lektüre natürlich sehr angenehm, bei einer Gesamtlektüre aber oft ermüdend. Auch die Interpretationsleistung Deutschmanns wird im allgemeinen sehr positiv gewürdigt; die Kritik betrifft nur einzelne Punkte und tut somit der Gesamtbewertung kaum Abbruch. SANDMANN (1960/ 61: 335) weist z.B. zu Recht darauf hin, daß die Darstellung nicht in modernem Sinne funktionell sei, sondern vielmehr rein deskriptiven, gleichzeitig aber auch stark historisch geprägten Charakter (ähnlich wie gewisse Arbeiten von Walther von Wartburg) habe; der Verfasser bleibe hier an einer selbstauferlegten methodischen Grenze stehen und vergebe die Möglichkeit, einen wichtigen zusätzlichen Schritt zum Verständnis des Funktionierens des modernen Französisch in dem von ihm untersuchten Bereich zu tun. - Weiter meldet Sandmann Zweifel daran an, ob wirklich, wie Deutschmann annimmt, alle -ment-Adverbien (und gegebenenfalls ihre «neutralen» Entsprechungen [fort, raide, rude usw.]) ursprünglich Qualifikatoren des Verbs waren. Für bougre/ bougrement, diable/ diablement, diantre/ diantrement usw. scheint ihm die Basis eher in einer phrase segmentee mit isoliertem nominalem Element (Bougre! I Diable! Il estfort! usw.) zu suchen zu sein, wobei zu einem späteren Zeitpunkt eine Kontamination mit dem Typus Il est terriblement fort stattgefunden hätte (334s.). Deutschmanns Erklärung ist im Falle der genannten Ausdrücke sicher nicht unproblematisch, aber Sandmanns Vorschlag vermag mich auch nicht zu überzeugen und scheint mir allzu sehr den Charakter einer ad-hoc-Lösung zu haben. - HARRI MEIER schließlich (1959: 191s.) meldet Zweifel daran an, daß es sich bei der untersuchten Erscheinung wirklich um eine französische Eigenart handele. Er betont in der für ihn typischen Weise, daß sich entsprechende Konstruktionen schon im Latein und Vulgärlatein fänden und auch in allen andern romanischen Sprachen bezeugt seien. Die nicht wegzudiskutierenden lateinischen Belege würden es verbieten, das Phänomen in diesen Sprachen als Gallizismus zu betrachten; erklärungsbedürftig sei eigentlich nur die Tatsache, warum der Typus im Französischen so viel häufiger auftrete. So erweist sich denn auch die Habilitationsschrift als eine Arbeit, in der Olaf Deutschmann einerseits zahlreiche traditionelle Grenzen überschreitet, andererseits aber auch an eine Reihe von Grenzen stößt, die zu überwinden die Zeit noch nicht reif war. 2.3. Der als Handbuch (v.a. für Studenten) konzipierte Band Lateinisch und Romanisch (1971) stellt eine überblicksartige Bilanz der Arbeiten des Forschers Der Grenzgänger und die Grenzen 13 und Lehrers Olaf Deutschmann dar. Er geht im wesentlichen auf eine Reihe von interdisziplinären, im positiven Sinne vulgarisierenden Vorträgen zurück, die er im Hochschulsanatorium von St. Blasien gehalten hatte und die er durch eine leichte Überarbeitung zu einer Einheit zusammenzufügen versuchte. Sie sollen v.a. deutlich machen, welch großen Einfluß das Christentum auf die Entwicklung der romanischen Sprachen gehabt hat, ein Einfluß, den Deutschmann so hoch einschätzt, daß er sogar von der «sprachbildenden Kraft der Religion» spricht. Die Arbeit ist im wesentlichen einer gesamtromanischen Perspektive verpflichtet und besteht aus fünf Teilen. Das erste Kapitel ist dem Verhältnis von lingua latina und lingua romana gewidmet, das zweite befaßt sich mit den romanischen Sprachen unter dem Blickwinkel von Etymologie und Syntax, und hier insbesondere mit der Fortführung der lateinischen Tradition, das dritte ist dem mittelalterlichen Latein und insbesondere der Kirchensprache gewidmet, und im vierten schließlich geht es um das Römische und das Phänomen der Romanisierung. Alle diese Teile sind nur bedingt romanistischer Natur, denn sie befassen sich mit der Vorgeschichte der romanischen Sprachen; in ihnen kommt weniger der Romanist als vielmehr der Altphilologe und Mittellateiner Deutschmann zu Wort, d.h. wir haben es mit einem neuen Phänomen der Grenzüberschreitung zu tun, diesmal die Überwindung der Grenzen der universitären Lehrfächer. Spezifisch romanistisch ist eigentlich nur das fünfte Kapitel, in dem die Lateinrezeption in der Hispania, der Dacia und der Gallia dargestellt und eine geraffte Sprachgeschichte der drei Räume vorgeführt wird. In einer Reihe von Exkursen werden überdies die Überblicke anhand von ausgewählten Problemen vertieft, wobei Deutschmann z.T. auf Altbekanntes wie die -mente-Adverbien zurückgreifen kann. Wichtig ist in dieser Studie ohne jeden Zweifel die Betonung der zentralen Rolle der Kirchensprache für die Entwicklung der romanischen Sprachen; allerdings ist diese Erkenntnis nicht neu, hat doch der von Deutschmann hochverehrte Jakob Jud 5 schon ähnliche Wege beschritten. Neu bei Deutschmann ist, daß er diese Erkenntnis nicht nur auf Teile der Romania (Ostromania, rätoromanischer Raum) anwendet, sondern sie auf alle romanischen Sprachen ausdehnt. Allerdings entsteht dabei der leicht schiefe Eindruck, wir hätten es mit einem spezifisch romanischen Phänomen zu tun, was ganz sicher nicht richtig ist: Ein Blick auf die Entwicklung einer Reihe von nicht-romanischen Sprachen (germanische, keltische, slawische, usw.) zeigt schnell, daß auch dort ein massiver Einfluß von Christentum und Kirche nicht wegdiskutiert werden kann, wenn er vielleicht auch nicht ganz so weit geht wie in den romanischen Sprachen. Diese größere Aufnahmebereitschaft der romanischen Vulgärsprachen für kirchliche Einflüsse ist sicher darauf zurückzuführen, daß die romanischen Sprachen aufgrund der historischen Gegebenheiten eben eine bedeutend größere Affinität zum (Kirchen-)Latein zeigen als die übrigen europäischen Sprachen und Sprachfamilien. s Cf. DEUTSCHMANNS Nachruf auf Jud (1952). 14 Peter Wunderli Die Analyse der lateinischen Sprache in ihren verschiedenen Verwendungsbereichen führt Deutschmann auch zu wichtigen Erkenntnissen, die bis heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben. So unterscheidet er z.B. in Rom zwischen einem gesprochenen und einem geschriebenen Latein, und im Rahmen der Kirchensprache stellt er ein (geschriebenes) Kirchenlatein einem (oralen) Kirchenromanisch gegenüber. Trägt man noch den gelungenen Charakterisierungen der jeweiligen Oppositionsterme Rechnung, dann drängt sich der Schluß auf, daß er schon viele Erkenntnisse des heute in Freiburg beheimateten Sonderforschungsbereichs «Mündlichkeit und Schriftlichkeit» der Deutschen Forschungsgemeinschaft vorweggenommen hat; er hätte unter anderen Umständen sicher eine der treibenden Kräfte dieses Zusammenschlusses von Forschern werden können 6• Die Kritik 7 hat diese Arbeit bedeutend ungnädiger aufgenommen als etwa die Studie zum Adverb. Allerdings kann man einigen Rezensenten den Vorwurf nicht ersparen, daß sie von dem Buch Dinge verlangen, die es gar nicht geben kann und will. Erinnern wir uns, was Olaf Deutschmann als Zielsetzung nennt: Er will ein Handbuch für Studenten vorlegen, das den (damals) aktuellen Stand der Forschung wiedergibt. Zudem weist er ausdrücklich auf den ursprünglichen Vortragscharakter der Beiträge hin. Ihm also vorzuwerfen (so Ulland und Stefenelli), die Form sei allzu «kolloquial», nicht hinreichend «wissenschaftlich» (was auch immer das sein mag), ist mehr als unangemessen, und gleiches gilt auch für die Bemerkung, die Darstellung liefere über weite Strecken nur Handbuchwissen und problematisiere die aktuelle Forschungslage nicht. Nur: Sind Problematisierungen nicht primär für den Forscher bestimmt? Gegenüber solchen Ungerechtigkeiten (die überdies auch die unglaubliche Energieleistung des bereits schwer kranken Olaf Deutschmann bei der Fertigstellung dieses Manuskripts verkennen) nimmt sich die Bewertung von Gustav Ineichen geradezu wohltuend aus: Er betont den Überblickscharakter, sieht klar, daß es in diesem Rahmen nicht um die Vermittlung von Detailwissen gehen kann, lobt das didaktische Geschick des Autors und würdigt die immer persönliche Stellungnahme zu den verschiedenen Problemen. 2.4. Erst praktisch zu seinem Lebensende sollte Olaf Deutschmann wieder mit Buchpublikationen - und gleich deren zwei an die Öffentlichkeit treten (1988, 1989), wobei natürlich die Vorbereitung dieser Arbeiten eine längere Vorlaufzeit impliziert. Als Reihenherausgeber habe ich in einem dieser Fälle selbst miterlebt, mit welch bewundernswürdiger Energie und Hartnäckigkeit der durch seine Krankheit doch schwer behinderte Olaf Deutschmann seine Projekte weiter verfolgte und vorantrieb. Natürlich war er hierbei auf die Hilfe anderer, insbesonde- 6 Durchaus richtig wird auch die Rolle des Lateins als Quelle für Entlehnungen bis in die jüngste Vergangenheit gesehen. Cf. hierfür auch WuNDERLI 1989: 43ss. 7 ULLAND 1972, CocK HINCAPIE 1972, INEICHEN 1972, STEFENELLI 1972. Der Grenzgänger und die Grenzen 15 re seiner Frau, angewiesen; dies ändert aber nicht das geringste an der Tatsache, daß hier eine Leistung vorliegt, der man nur Bewunderung zollen kann. In Ungeschriebene Dichtung in Spanien (1988), einer eher literaturwissenschaftlich als linguistisch orientierten Arbeit, wendet sich Olaf Deutschmann populären Textsorten zu, die ihn seit seiner Dissertation immer wieder beschäftigt haben und denen er einen großen Teil seines linguistischen Belegmaterials verdankt. Es handelt sich dabei um literarische Erscheinungsformen, die ursprünglich rein oral tradiert wurden und erst spät und relativ zufällig eine schriftliche Fixierung (v.a. durch aficionados) erfuhren. Damit bewegt sich Deutschmann wiederum in dem bereits erwähnten Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die dargestellten Textsorten sind in erster Linie die piropos, maldiciones, bendiciones und refranes, sodann die coplas und die romances, und schließlich die Theaterstücke des sog. genero chico in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s. Die Arbeit enthält zuerst einmal eine ausführliche deskriptive Darstellung der erwähnten Genera mit reichem Illustrationsmaterial. Dabei bleibt Olaf Deutschmann allerdings nicht stehen. Vielmehr vertritt er darüber hinaus die Theorie eines aszendenten genetischen Zusammenhangs der verschiedenen Gattungstypen: Die Kleinstgattungen (piropos, maldiciones, bendiciones, refranes) wären nach ihm gewissermaßen die Bausteine der coplas, diese wiederum die Basis der romances. Die romances schließlich würden eine der wesentlichen Grundlagen für das genero chico darstellen. Damit gerät er natürlich in Konflikt mit der sog. 3-M-Theorie (Mila Fontanals, Menendez y Pelayo, Menendez Pidal), die die romances als Trümmerstücke größerer Epen betrachtet und diese sogar zu rekonstruieren versucht. Deutschmann präsentiert diese Auffassung zuerst einmal ohne jede Wertung (llüss.), und Entsprechendes gilt auch für die ihr entgegengesetzte Kantilenentheorie (Friedrich August Wolf, Ferdinand Wolf, usw.). Hätte er sich nicht schon in der Einleitung für die Aszendenz ausgesprochen, müßte man bis zur letzten Seite der Arbeit (133) warten, um zu erfahren, auf welcher Seite er nun selbst steht. Dieses Vorgehen ist geradezu ein Musterbeispiel für Deutschmanns Streben nach Objektivität, das immer versucht, Fakten, Aussagen, Texte usw. für sich selbst sprechen zu lassen und die eigene Bewertung immer erst in extremis einzubringen. Zur Stützung seiner aszendenten Theorie greift er überdies auf einen Ansatz zurück, den man bei ihm kaum erwartet hätte: die generative Poetik von KANY6 (1981). Dies zeigt, daß er auch neueste Entwicklungen in seinem Fach noch verfolgt und rezipiert hat. Allerdings tut er bei der Rezeption Kany6 insofern Gewalt an, als er die letztlich synchronisch-generative Sichtweise des Autors historisch uminterpretiert. Wenn man aber bedenkt, daß dieses Verfahren der Inbezugsetzung von Diachronie und Synchronie z.B. in der generativen Phonologie gang und gäbe ist, wird man daraus Olaf Deutschmann sicher keinen Vorwurf machen können. Auch in dieser Arbeit dokumentiert sich somit wieder seine Freude, seine 16 Peter Wunderli Neigung zur Überschreitung von Grenzen: Er überschreitet dezidiert die Grenzen zur Literaturwissenschaft, und nicht minder eindrücklich ist, wie er mit größter Selbstverständlichkeit eine eher traditionelle Sichtweise mit einer avantgardistischen Position zu verbinden versteht. 2.5. Die letzte der Buchpublikationen von OLAF DEUTSCHMANN ist eine kleine Anthologie mit dem Titel Spanische Romanzen (1989, postum), die die längst vergriffene Sammlung von LuowrG PFANDL aus dem Jahre 1933 ersetzen soll. Die Texte sind thematisch geordnet und z.T. von der deutschen Übersetzung von Emanuel Geibel begleitet. Zu jedem Text wird überdies ein knapper Kommentar mit Interpretationsansätzen gegeben. In einem abschließenden Kapitel werden auch noch einige für die romances charakteristische Stilmittel zusammengestellt (115ss.). Zu ihnen gehören u.a. die Wiederholung und insbesondere das, was Deutschmann «innere Wiederholung» (mit Hilfe von Demonstrativa) nennt, der häufige Wechsel zwischen Vergangenheitstempora und präsentischen Tempora, die oft sehr umständliche Redeeinleitung, der Chiasmus, usw. Hier zeigen sich nun allerdings gewisse Defizite in der Rezeption der neueren Forschungsliteratur, was aber einer Reihe von prinzipiell richtigen Einsichten keinen Abbruch tut. So ist z.B. die «innere Wiederholung» nichts anderes als eine mit Hilfe der Demonstrativa realisierte Anapher; ähnliche Leistungen erbringen überdies auch der sog. «bestimmte» Artikel, sowie alle Formen, die normalerweise (und oft zu Unrecht) als Pronomina klassifiziert werden. Was den Tempuswechsel angeht, so ist er nicht einfach willkürlich, sondern kann als Hin- und Herspringen zwischen Hintergrund- und Vordergrunddarstellung, als ein spezifisches Fokusierungsverfahren interpretiert werden; usw. Es ist nicht zu übersehen, daß die lange Krankheit Olaf Deutschmann hier Grenzen gesetzt hat, Grenzen, die nicht seine intellektuelle Leistung, wohl aber die rein physische Arbeitsfähigkeit betreffen. 3. Es bleibt uns noch die Aufgabe, einen Blick auf die zahlreichen Aufsätze von Olaf Deutschmann zu werfen. Schon bei der Besprechung der Buchpublikationen ist die große Kohärenz seines Werkes deutlich geworden, die letztlich schon in der Dissertation angelegt ist. Man kann sicher sagen, daß es v.a. drei Komponenten dieses Erstlings sind, die sich als weiterhin produktiv erwiesen haben. Da ist einmal das Thema der (unbestimmten) Mengenvorstellung ('viel'), das in der Habilitationsschrift weitergeführt worden ist, und diese wiederum hat in das Handbuch Lateinisch und Romanisch hinein nachgewirkt. Da ist weiter die Bevorzugung des Syntagmas <Subst. + de + Subst. > (bzw., in allgemeinerer Form, <X + de + Subst. > ), das ebenfalls in der Habilitationsschrift unter der Form <Adv. + de + Subst. > wieder eine zentrale Rolle spielt, darüber hinaus aber auch eine direkte Verbindung zur Annahme eines starken kirchenlateinischen, oft durch hebräische Traditionen geprägten Einflusses auf die romanischen Sprachen. Und da ist Der Grenzgänger und die Grenzen 17 schließlich die zentrale Quelle für Deutschmanns Materialbasis, die volkstümliche spanische Dichtung (in ursprünglich oraler Form), ein Thema, das in der Ungeschriebenen Dichtung und in den Spanischen Romanzen wieder aufgenommen wird. Diese drei Dimensionen erweisen sich als Koordinaten, die sich bestens dazu eignen, auch eine Einordnung der Aufsätze vorzunehmen. 3.1. Beginnen wir mit zwei Arbeiten, die mit den bisherigen Studien auf den ersten Blick kaum etwas zu tun haben, geben sie sich doch als etymologische Untersuchungen. 1940 erscheint in VKR der Aufsatz «Caterva und feramen», der sich bescheiden als Ergänzung der Artikel 1765a und 3248a der dritten Auflage des REW gibt. Dies gilt sicher bezüglich des reichen Materials, das Deutschmann hier ausbreitet, aber die Arbeiten sind weit mehr: Sie illustrieren beide Male auch eine Bedeutungsentwicklung, die aus dem konkreten in den abstrakten Bereich führt. Im Falle von CATERVA kann Deutschmann zeigen, daß die Bedeutung 'große Zahl von lebenden Wesen (v.a. Menschen)' schon im Lat. zu einer sekundären Bedeutung 'Schar von Bewaffneten' geführt hat, die ein Element der 'Unordnung' implizierend nie auf römische Truppen angewandt wurde. Diese zweite Bedeutung findet sich wieder als Lehnwort in den romanischen Sprachen und gehört somit eher dem literarischen Bereich an. Die erste Bedeutung dagegen wird von den Volkssprachen weitergeführt und z.T. auch (auf dem üblichen Weg) zu einem Ausdruck für den Begriff 'viel'. - Noch komplexer ist die Situation bei FERAMEN, einer Ableitung von PERUS, das ursprünglich das 'wilde/ wild lebende Tier' bezeichnet. Mit unglaublicher Akribie wird hier eine gesamtromanische Bedeutungsfächerung nachgewiesen, die ihresgleichen sucht und von der ich hier nur einige wenige Elemente anführen kann: 'wildes Tier', 'Wild', 'Haustier(e)', 'Geflügel', 'schädliches Tier'; 'Wildling', 'Unkraut'; 'brutaler, häßlicher Mensch', 'schreckliches, phantastisches Wesen', 'wild, schrecklich, erstaunlich', 'Taugenichts, frecher/ dummer/ langweiliger usw. Mensch'; 'Menge minderwertiger Menschen', 'Menge von Kindern', 'Menge unnützes Zeug', 'unbestimmt große Menge', 'dummes Zeug', 'Prahlerei', 'Gerede' bzw. 'Prahlhans', 'Schwätzer', 'Betrüger'. Mit diesem Überblick dürfte klar sein, was Olaf Deutschmann zur Beschäftigung mit dieser Wortfamilie bewogen hat: Es ist der Begriff der Vielheit. Ein zweiter etymologischer Aufsatz stammt von 1947/ 48 und trägt den Titel «Französisch aveugle. Ein Beitrag zur Methodik und Problematik etymologischer Forschung». Es findet aber keine abstrakte Methodendiskussion statt, der Verfasser läßt vielmehr v.a. die Fakten für sich sprechen und hält sich mit eigenen Kommentaren betont zurück.Deutschmann diskutiert ausführlich die drei konkurrierenden Etymologievorschläge für aveugle: 1. ABOCULUS, 2. AB ocuus, 3. '' ALBOcuws. Der erste, auf Diez zurückgehende Vorschlag wird schnell als unhaltbar zurückgewiesen, weil abin spätlateinischer Zeit nicht mehr als Privativpräfix habe fungieren können. Der zweite Vorschlag, u.a. von Meyer-Lübke vertreten, 18 Peter Wunderli sieht in der lateinischen Form eine Lehnübersetzung nach griechischem Vorbild. Deutschmann zeigt nun mit großem Aufwand, daß die Belege aus dem Codex Vercellensis (7. Jh.) eine derartige These nicht stützen, da in den gr. Vorlagetexten an den betreffenden Stellen ein Modell vom Typus füto oµµa-tffiv fehlt. Die Belege des Codex sind dadurch als solche aber keineswegs entkräftet. Gleichwohl tendiert Deutschmann eher zu der auch durch die Kasseler Glossen gestützten Etymologie *ALBOCULUS, ein Ausdruck, der ursprünglich den weißen Star, später dann die Blindheit im allgemeinen bezeichnet hätte. Damit wird auch deutlich, wie dieser Aufsatz an die bisherigen Arbeiten Deutschmanns anzubinden ist: Es ist das Spannungsfeld zwischen Konkretheit und Abstraktion, das als Verbindungselement anzusehen ist. Nimmt man tatsächlich Deutschmanns Vorschlag auf, dann hätten wir auch hier einen der bereits wohlbekannten Abstraktionsprozesse, aber losgelöst vom Mengenbegriff. Allerdings scheint es mir schwierig, sich so eindeutig gegen AB ocuus zu entscheiden; die Beleglage suggeriert weit eher eine Doppeletymologie bzw. eine Überlagerung und Verschmelzung der beiden möglichen Traditionen. 3.2. Die folgenden drei Aufsätze kann man dem Themenbereich «hebräische bzw. kirchenlateinische Einflüsse auf die romanischen Sprachen» zuordnen. Der erste dieser Beiträge erschien 1980/ 1981 in zwei Teilen im Romanistischen Jahrbuch und trägt den Titel «Kirchenlateinisch-hebräische Elemente in der spanischen und portugiesischen Syntax und Stilistik». Offensichtlich sollte daraus eine längere Serie werden, wobei der erste Teil sich mit dem Typus hijo de mi alma ( <Subst. + de + Poss. + Subst. > ) befaßt. Nach Deutschmann haben wir es hier mit einem für das Hebräische typischen Verfahren zu tun, das der Konkretisierung bzw. Nominalisierung des Ich-Begriffs (qua Possessivum) dient, also eine gewissermaßen gegenläufige Orientierung zu den bisher analysierten Abstraktionsprozessen; das Verfahren wäre ein Zeugnis für das Bedürfnis der Volkssprachen nach einer konkretisierenden Darstellung abstrakter Inhalte und Begriffe. Die Studie liefert eine große Fülle von Material, nicht nur aus den romanischen Sprachen, sondern auch aus dem Bibellatein, das nach Deutschmann die angenommene «Wanderung» Hebräisch➔ Griechisch➔ Bibellatein➔ romanische Sprachen plausibel machen würde. Allerdings muß man sich auch fragen, ob der Rekurs auf das Hebräische sich wirklich aufdrängt. Haben wir hier nicht vielmehr ein relativ abstraktes Muster, das praktisch immer und überall im Rahmen eines metonymischen Verfahrens ohne direkten Anstoß von außen genutzt werden kann? Mag man über diesen Punkt noch geteilter Meinung sein, so scheint mir die noch weiter gehende Schlußfolgerung, die Analyse zeige, daß dem spanischen Paradigma der Possessiva eine zusätzliche Spalte in den Grammatiken beigefügt werden müsse, vollkommen unhaltbar (353s.). Wir haben hier ein allgemeines syntaktisches Verfahren bzw. Muster, das bei geeigneter lexiesemantischer Füllung zwar Sinneffekte ergeben kann, die denjenigen eines eigentlichen Possessivums (teils auch eines Personal- Der Grenzgänger und die Grenzen 19 pronomens) sehr nahe stehen können, es handelt sich aber keinesfalls um für die Morphologie relevante Moneme (d.h. minimale Zeichen). Aufgrund der Berührung im Bereich der effets de sens findet hier eine unstatthafte Vermischung von zwei Ebenen (Morphologie und syntagmatische Semantik) statt. Dieser erste Beitrag enthält auch noch einen Ausblick auf den Typus Carne de mi carne, der 1985 in einem Aufsatz für die Festschrift Galmes de Fuentes unter dem Titel «Caro de carne mea» nochmals aufgenommen wird. Wir hätten es hier mit einer Variation des Typus hijo de mi alma mit «partitivem» Wert zu tun, wobei wiederum hebräischer Ursprung und Vermittlung über das Kirchenlatein angenommen wird. Zwar sieht Deutschmann durchaus, daß es auch im Arabischen Anknüpfungspunkte gibt, doch will er diesen höchstens sekundären Charakter zugestehen, da die Verbreitung der Konstruktion über die iberische Halbinsel hinausgeht. In diesen Zusammenhang gehört schließlich auch noch der zweite Teil der Serie über kirchenlateinisch-hebräische Elemente, der 1986 im Romanistischen Jahrbuch erschienen ist und sich mit dem sog. hebräischen Superlativ befaßt. Es handelt sich hierbei um Fügungen vom Typus roi des rois, saint des saints usw., die wiederum aus dem Hebräischen über das Griechische ins Kirchenlatein und von dort in die romanischen Sprachen gedrungen wären. Obwohl auf der iberischen Halbinsel besonders populär, wäre der Typus auch in den andern romanischen Sprachen zu belegen, was wiederum als ein Beweis für die angenommene Filiation zu gelten hätte. 3.3. Ein weiterer Themenbereich, in dem Olaf Deutschmann wiederholt gearbeitet hat, sind die Charakteristika der volkstümlichen Sprache. Ein erster Aufsatz aus dem Jahre 1939 ist den spanischen und portugiesischen Phraseologismen gewidmet und trägt den Titel «La familia en la fraseologia hispano-portuguesa». Es geht ihm hier um die Darstellung der Verwendung von Verwandtschaftsbezeichnungen sowohl in der Anrede (hijo mfo, madre de mi vida, hermano de mi alma usw.) als auch in Redewendungen, z.B.: Te quiero mas que a Ja mare que me pari6. Por Ja gJoria de mi madre .. . . . .no mas ... que mi padre ... Mardito tu padre y madre ! etc. Das Material wird nach Leitlexien klassifiziert, was insofern bedauerlich ist, als Deutschmann p. 329 eine weit bessere Lösung ins Auge faßt, diese dann aber gleichwohl wieder verwirft, wohl wegen ihrem allzu innovativen Charakter: Er überlegt, ob man nicht eine Organisation ins Auge fassen sollte, die dem entspricht, was man heute illokutionäre Rollen nennt. Sicher zutreffend ist der Schluß, daß im iberischen Kulturraum die Familiensolidarität und v.a. die Mutter (und über diese «Brücke» der Marienkult) eine ganz besondere Rolle spielen und so etwas wie soziokulturelle und mentalitätsgeschichtliche Leitelemente darstel- 20 Peter Wunderli len 8 • Weniger zu befriedigen aus heutiger Sicht vermag dagegen die Tatsache, daß diese korrekten Feststellungen immer wieder mit einem nicht weiter definierbaren «Gefühl der Spanier» in Zusammenhang gebracht werden; hier bleibt der Verfasser zu sehr dem sprachlichen Duktus seiner Zeit verhaftet. In einem zweiten Beitrag aus dieser Gruppe aus dem Jahre 1949 befaßt sich DEuTSCHMANN mit den «Formules de malediction en espagnol et en portugais». Aufgrund eines reichen Quellenmaterials das sich z.T. in der Ungeschriebenen Dichtung wiederfinden wird zeigt er, daß die magische Weltsicht auf der iberischen Halbinsel von grundlegender Bedeutung ist und sich sprachlich in äußerst vielfältiger Form niederschlägt. Dabei handelt es sich keineswegs nur um erstarrte Formeln, sondern sehr oft auch um relativ freie und variierbare Muster, die die Aktualität und Vitalität dieser mentalitätsgeschichtlichen Größe dokumentieren. In dem Aufsatz «Abstrakt-konkrete Ausdrucksformen im Spanischen» aus dem Jahre 1961 geht DEUTSCHMANN dem Phänomen nach, daß im Spanischen (sowohl in der Schriftwie in der Volkssprache) sehr oft Abstrakta ( qua Synekdochen oder Metonymien, P.W.) für den Ausdruck von Konkretem verwendet werden: Es geht v.a. um Wendungen wie jque barbaridad! , ... es un fustidio, ... es um encanto, hijo de mis pecados usw., d.h. um Elemente, denen wir bereits in anderem Zusammenhang begegnet sind und unter denen auch der Typus <Subst. + de + Subst. > nicht fehlt. Diese Konkretisierungstendenz von Abstrakta wird v.a. auf die religiöse Sprache zurückgeführt, und damit wären wir wieder beim Kirchenlatein und Kirchenromanisch angelangt. In dem Aufsatz «Die Sünde und die Syntax» (1977) geht es um Redewendungen mit pecado und culpa, die sich z.T. auch in Konstruktionen des Typus <Subst. + de + Subst. > finden: por mis pecados neben por malos de mis pecados, mujer de mis pecados usw. Die Untersuchung liefert eine inhaltliche Analyse der mit diesen Wendungen erzielten Sinneffekte, wobei diese gleichzeitig als Klassifikationsrahmen dienen. Entsprechendes gilt auch für den postum erschienenen Aufsatz «Moros und cristianos» (1988), der gewissermaßen eine Kopie der vorhergehenden Studie mit zwei anderen Leitlexien darstellt. 3.5. Bleibt noch eine letzte Untersuchung, die sich keiner der bisherigen Kategorien exakt zuordnen läßt und gleichwohl mit allen zu tun hat. Es handelt sich um den Aufsatz «Stilistik als Aufgabe der Linguistik» aus dem Jahre 1968. Diese verstärkt theoretische Arbeit dient gewissermaßen der Absicherung des gesamten Lebenswerkes, in dem es immer wieder um Stil, Stileffekte, Stilsprachen und Sprachstile (Spitzer) geht. Dabei definiert DEUTSCHMANN den Stil (in Anlehnung an Winkler) folgendermaßen: «Der Stil ist alles das in einem sprachlichen Ausdruck, was nicht zum rationalen Inhalt des Ausdrucks gehört» (1968: 132 9 ). Diese Stildefinition vermag mich nicht zu befriedigen, denn sie macht den Stilbegriff s Cf. hierfür v.a. die Zusammenfassung p. 377. 9 Cf. auch 1980: 277. Der Grenzgänger und die Grenzen 21 gewissermaßen zum Auffangbecken für alles, was nicht denotativ (referentiell) relevant ist: Konnotationen, Assoziationen, Sprecherhaltung, Affekt, usw. Charakteristisch für die Arbeit ist zuerst einmal, daß Deutschmann versucht, die Begriffe von Homonymie und Synonymie auf den syntagmatischen Bereich zu übertragen: marinero de mi vida ('mi marinero') wäre (vom Muster her) homonym mit marinero de mi amor ('marinero a quien amo') (142s.); Synonymie läge dagegen bei Sequenzen wie sans doute viendra-t-il und sans doute qu 'il viendra vor. Was die Homonymierelation angeht, so frage ich mich, ob es wirklich angemessen ist, diesen Terminus hier zu verwenden: Schließlich liegt beide Male das gleiche Muster vor, und die Unterschiede ergeben sich einzig und allein aufgrund der lexikalischen Auffüllung und damit der referentiellen Gegebenheiten, gegebenenfalls aber auch nur aufgrund der Willkürlichkeit der Paraphrasen. Nach meiner Auffassung haben wir es hier beide Male mit ein und demselben syntagmatischen Muster zu tun. Anders liegen die Dinge bei dem Synonymiebeispiel. Einmal arbeitet Deutschmann hier durchaus korrekt mit der Kommutationsprobe, und es liegen auch wirklich zwei verschiedene syntaktische Muster vor; allerdings sind sie nur bezüglich des denotativen Wertes gleichwertig, konnotativ dagegen eindeutig verschieden - und gerade dieser Aspekt wird von Deutschmann vernachlässigt 10 • Für den Stilbegriff Deutschmanns ist weiter charakteristisch, daß er auf die «stilistische Kongruenz» abhebt, d.h. so etwas wie einen «Gleichklang» fördert, ja diesen sogar gewissermaßen zu erzwingen versucht, indem er bei Divergenzen eine «stilistische Attraktion», d.h. eine Umwertung durch Anpassung an ein dominantes Element annimmt (143s.). Stilmischung, Stilbruch usw. werden bei ihm prinzipiell negativ gesehen. Damit steht er in krassem Gegensatz zu neueren Stiltheorien wie z.B. derjenigen von Riffaterre (u.a. 1971), für die der Kontrast, die «enttäuschte Kontexterwartung» geradezu stilkonstitutiv ist. In diesem Punkt ist Deutschmann ganz offensichtlich zu sehr in der deutschen Stilistik der 20er und 30er Jahre verhaftet und hat es nicht geschafft, deren Grenzen zu überwinden. - Problematisch ist auch (dies habe ich schon oben angedeutet), daß Elemente der Sprecherhaltung wie Interjektion, bestimmte wertende Präfixe und Suffixe einfach dem Stilbereich zugewiesen werden (136s.), und Entsprechendes gilt auch für den Affektausdruck (138ss.), wo Deutschmann gewissermaßen das Opfer von Ballys unglücklicher Terminologie wird: Dieser meint mit affectivite nämlich keineswegs so etwas wie Emotionalität, Gefühl usw., sondern vielmehr den Verweis auf bzw. die Anbindung an bestimmte sprachliche Register (BRASELMANN 1982). Ein weiteres schweres Mißverständnis liegt vor, wenn die «innere Sprachform» Humboldts einfach mit dem sprachlichen Inhalt gleichgesetzt wird; hierbei handelt es sich um eine typisch deutsche Fehlinterpretation, die inzwischen eine lange Tradition hat; in Wirklichkeit liegt hier ein Äquivalent zum Wertbegriff bei Saussure vor 11 • 10 Cf. zu diesen Problemen MARTIN 1976: 88ss. 11 Cf. SAussuRE 1932: lS0ss. 22 Peter Wunderli Gesamthaft vermag somit dieser theoretische Versuch wenig zu überzeugen v.a. deshalb, weil hier eine Stilistik postuliert wird, die allzu deutlich die Züge der Zwischenkriegszeit trägt und 1968 bereits längst überholt war. Olaf Deutschmann hat es in diesem Falle nicht geschafft, die Grenzen des Forschungsstandes seiner Studienzeit zu überwinden. 4. Damit wären wir an das Ende unseres Überblicks gelangt. Was ist nun das Fazit? Einmal können wir feststellen, daß Olaf Deutschmanns Werk von einer erstaunlichen Homogenität ist. Alle Arbeiten sind irgendwie organisch miteinander verbunden, was keineswegs heißt, sie würden sich immer im gleichen Themenbereich bewegen. Vielmehr haben wir, von der Dissertation ausgehend, ein sukzessives Variieren und Ausweiten der Fragestellungen, ein vorsichtiges Sich-Vortasten in angrenzende Domänen, das eine optimale Nutzung des bereits Erarbeiteten garantiert und unkontrollierte Spekulationen von allem Anfang an nicht zuläßt. Graphisch ließe sich diese enge «Vernetzung» etwa folgendermaßen darstellen: Stil aveugle � kirchenlat. -hebräische Elemente Aufsätze caterva volkstümliche feramen Sprache � <Ce fripon de valet> Dissertation <Viel> Subst. + de + Subst.> popupäre Texte Bücher Adverb � Lateinisch und Ungeschriebene (Habil.) ---+ Romanisch Dichtung --------------- Romanzen Der Grenzgänger und die Grenzen 23 Im theoretischen Bereich ist das Ergebnis zwiespältig. Einerseits gibt es gewisse Bereiche, in denen er auf dem Stand seiner Studienzeit stehen geblieben ist, und dies gilt v.a. für seinen Begriff der Stilistik. Andererseits haben wir aber auch eine Reihe von innovativen Elementen feststellen können, u.a. die Vorwegnahme des Subduktionsbegriffs, die Unterscheidung von direktem und indirektem Sprechakt, die Vision der illokutionären Rollen, usw. Bei aller Traditionsgebundenheit war Olaf Deutschmann neuen Strömungen gegenüber immer offen. Er hat u.a. den generativen Ansatz rezipiert, er hat die Umgestaltung der etymologischen Forschung durch Walther von Wartburg mitvollzogen, einer soziologisch und mentalitätsgeschichtlich fundierten Linguistik den Weg geebnet, etc. Nicht übersehen werden darf auch, daß die Darstellung moderner Strömungen in seiner Lehre eine wichtige Rolle spielte: Saussure, Bally, die Prager Schule u.v.a.m. hatten in ihr einen festen Platz. Wie im Leben, so war Olaf Deutschmann auch in der Forschung kein Revolutionär; ihm lag der evolutionäre Weg viel mehr, eine Art Dialektik zwischen Tradition und Innovation, die dann zu einer Synthese, einem Kompromiß führte. Viele Punkte, die aus der Sicht unseres heutigen Kenntnisstandes nicht mehr oder nur noch bedingt Aktualität für sich beanspruchen können, erklären sich aus der Stagnation der deutschen Romanistik in den 30er und 40er Jahren. Olaf Deutschmann hat immer gegen diese Fesseln angekämpft, oft mit Erfolg, manchmal auch ohne. In diesem Sinne hat sein Werk eine Art Brückenfunktion zwischen der traditionellen und der modernen Linguistik; er ist ein Mann des Übergangs, und daß er diese schwierige und undankbare Aufgabe klaglos zum Nutzen der späteren Generationen übernommen hat, ist vielleicht sein größtes Verdienst. Düsseldorf Bibliographie 1. Arbeiten von Olaf Deutschmann 12 Peter Wunderli DEUTSCHMANN, 0. 1980/ 81: «Kirchenlateinisch-hebräische Elemente in der spanischen und portugiesischen Syntax und Stilistik. 1. Deus animae meae (hijo de mi alma). Mit einem Anhang caro de carne mea (carne de mis carnes)», Rolb. 31: 277-300, 32: 321-67 DEUTSCHMANN, 0.1985: «Caro de came mea», in: Homenaje aAlvaro Galmes de Fuentes, vol. II, Oviedo/ Madrid, p. 505-13 DEUTSCHMANN, 0. 1986: «Kirchenlateinisch-hebräische Elemente in der spanischen und portugiesischen Syntax und Stilistik. 2. Zum <hebräischen Superlativ, im Kirchenlatein und im Romanischen», Rolb. 37: 219-24 DEUTSCHMANN, 0.1988a: Ungeschriebene Dichtung in Spanien, Frankfurt/ M. usw. 12 Es werden hier nur Arbeiten von Olaf Deutschmann aufgeführt, die zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses für die Festschrift (Ende 1981) noch nicht erschienen waren; für die Basisbibliographie cf. WuNDERLIIMüLLER 1982: 5-10. 24 Peter Wunderli DEUTSCHMANN, 0. 1988b: «Moros und cristianos. Die Mauren in der spanischen und portugiesischen Sprache», Rolb. 39: 299-322 DEUTSCHMANN, 0. 1989: Spanische Romanzen. Ausgewählt und erklärt von O.D. Unter besonderer Berücksichtigung der romances viejos, romances del Cid y Jimena G6mez, romances carolingios und romances fronterizos. Mit deutschen Übersetzungen von EMANUEL GEIBEL, Frankfurt/ M. usw. 2. Sekundärliteratur BRASELMANN, PETRA M.E. 1982: Konnotation - Verstehen - Stil, Frankfurt a.M./ Bern CocK HrNCAPIE, ÜLGA 1972: *DEuTSCHMANN 1971; ZFSL 82: 587-89 HALLIG, R. 1960: *DEUTSCHMANN 1959; ASNS 197: 72-75 INEICHEN, G. 1972: *DEUTSCHMANN 1971; ZRPh. 88: 511-13 KANY6, Z. 1981: Sprichwörter. Analyse einer einfachen Form. Ein Beitrag zur generativen Poetik, Budapest LOUREIRO, M. 1962/ 63: *DEUTSCHMANN 1959; RPF 12: 276-81 LüDTKE, H. 1960: *DEUTSCHMANN 1959; Rolb. 11: 246--49 MARTIN, R. 1976: Inference, antonymie et paraphrase. Elements pour une theorie semantique, Paris MEIER, H. 1959: *DEUTSCHMANN 1959; RF71: 191-95 PADLEY, G.A. 1985: Grammatical Theory in Western Europe 1500-1700. Trends in Vernacular Grammar I, Cambridge PFANDL, L. (ed.) 1933: Spanische Romanzen, Halle/ S. RrFFATERRE, M. 1971: Essais de stylistique structurale, Paris SANDMANN, M. 1960/ 61: *DEUTSCHMANN 1959; RomPhil. 14: 331-36 SAussuRE, F. DE 1932: Cours de linguistique generale, p.p. CHARLES BALLY et ALBERT SECHEHAYE avec la collaboration de ALBERT RIEDLINGER, 2Paris STEFENELLI, A. 1972: *DEUTSCHMANN 1971; ZFSL 82: 269-73 ULLAND, w. 1972: *DEUTSCHMANN 1971; KritLit. 1: lOs. WuNDERLI, P. 1981: Saussure-Studien, Tübingen WuNDERLI, P. 1987: «La place de l'adjectif: Norme et infraction a la norme», TL 14/ 15: 221-35 WuNDERLI, P. 1989: Französische Lexikologie, Tübingen WuNDERLI, P./ MüLLER, W. (ed.) 1982: Romania historica et Romania hodierna. Festschrift für Olaf Deutschmann zum 70. Geburtstag, Frankfurt/ M. usw.