Vox Romanica
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2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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1993
521
Kristol De StefaniProbleme der altsurselvischen Morphosyntax
121
1993
Ricarda Liver
vox5210117
Probleme der altsurselvischen Morphosyntax Zum Desiderat einer Sprachgeschichte des Bündnerromanischen 1. Einleitung Zu den vielen Desideraten in der Erforschung des Bündnerromanischen, die noch einer Bearbeitung harren, gehört eine Sprachgeschichte, wie man sie im Bereich anderer, größerer romanischer Sprachen besitzt. Das Buch des amerikanischen Soziologen ROBERT H. BILLIGMEIER, Land und Volk der Rätoromanen, trägt in seiner deutschen Fassung den Untertitel Eine Kultur- und Sprachgeschichte 1 • Eine Sprachgeschichte ist diese Darstellung insofern, als sie die äußeren Schicksale der rätoromanischen Sprache in ihrer Verflechtung mit politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen nachzeichnet. Eine Geschichte der sprachinternen Veränderungen des Bündnerromanischen im Sinne etwa der Storia della lingua italiana von BRUNO MIGLIORINI (1971) sucht man jedoch bei BILLIGMEIER vergeblich. Eine bündnerromanische Sprachgeschichte dieser Art steht heute noch in weiter Feme; zu viele Vorarbeiten müßten erst noch geleistet werden, bevor man es wagen könnte, ein solches Werk in Angriff zu nehmen. Einen ersten Entwurf zu einer internen Sprachgeschichte haben H. STIMM und K. P. LINDER im Artikel «Bündnerromanisch. Interne Sprachgeschichte I. Grammatik» im Lexikon der Romanistischen Linguistik III vorgelegt (STIMM/ LINDER 1989). Die Autoren halten jedoch zu Recht fest, daß erst durch die systematische Untersuchung älterer Texte (vom 16. bis ins 19. Jahrhundert) die Basis für eine umfassende Sprachgeschichte des Bündnerromanischen geschaffen werden müßte. Freilich sind Vorarbeiten zur Geschichte des Bündnerromanischen auf gewissen Gebieten vorhanden, so, um nur einige wichtige Problemkreise zu nennen, Untersuchungen zum Futur 2 , zu den Personalpronomina 3 , seit kurzem zur 1 BILLIGMEIER 1983. Titel der englischen Originalausgabe: A Crisis in Swiss Pluralism, Den Haag 1979. 2 EBNETER 1973. Cf. die Darstellung (mit Bibliographie) bei STIMM/ LINDER 1989, die auf EBNETER 1973 beruht, dessen These von einem in Romanisch Bünden einheimischen synthetischen Futur jedoch stark in Frage stellt. Ein gewichtiges Argument gegen diese These, das STIMM/ LINDER nicht anführen, ist das Fehlen eines Konditionals des Typus «Infinitiv+ Vergangenheitstempus von HABERE» im Bündnerromanischen. LAUSBERG 1975: 850 macht darauf aufmerksam, daß überall dort, wo ein Futur des Typs «Infinitiv+ Präsens von HABERE» einheimisch ist, auch eine entsprechende Konditionalform vorhanden ist. Dazu ausführlich WuNDERLI 1993: 267-70. 3 WrnMER 1959, wo jedoch die historische Perspektive nicht ausdrücklich verfolgt wird. 118 Ricarda Liver Geschichte der Verschriftung 4 • Viele Probleme der bündnerromanischen Sprachgeschichte sind jedoch noch so gut wie unbearbeitet. Im Bereich der Morphosyntax wäre etwa die Geschichte des Präteritums zu nennen, das im mündlichen Gebrauch heute weder im Engadin noch in der Surselva vorkommt (genauso wenig wie im Alemannischen 5 ). In der Schriftsprache des Engadins ist das Präteritum von den Anfängen bis heute präsent. Die Schriftsprache der Surselva kennt Präterialformen nur in ihren alten Phasen; aus der heutigen Schriftnorm sind sie völlig verschwunden. Niemand hat sich bisher mit der Untersuchung dieses schwierigen Problems beschäftigt, das auch aus gesamtromanischer Sicht von hohem Interesse ist 6• Ein weiteres Problem der historischen Morphosyntax aus dem Bereich des Verbs stellen die Formen auf -ss, -ssi und -vi im Surselvischen dar. Ihnen gilt das Interesse der folgenden Ausführungen, die einen (leider noch sehr bescheidenen) Baustein zum erst noch zu errichtenden Gebäude einer bündnerromanischen Sprachgeschichte liefern möchten. Der Platz dieser Formen im Verbalsystem des modernen Surselvischen hat mich bei der Überarbeitung meines Manuel pratique de romanche (LIVER 1982; LIVER 1991) beschäftigt; hier soll eine Vorstufe der heutigen Situation als Etappe einer langfristigen Umgestaltung des surselvischen Verbalsystems untersucht werden. 2. Die Verbalformen auf -ss, -ssi und -viim Surselvischen 2.1. Problemstellung Bei der Überarbeitung meines Manuel pratique de romanche (LIVER 1991) wurde mir bewußt, daß meine Darstellung der mit den im Titel genannten Verbalparadigmen verbundenen Probleme in der ersten Auflage (1982) den tatsächlichen Sprachverhältnissen überhaupt nicht gerecht geworden war. In Anlehnung an die damals maßgebenden Grammatiken 7 war ich davon ausgegangen, daß die Form 4 CAVIEZEL 1993; cf. auch DARMS 1989. s Roland Ris stellte kürzlich die Ergebnisse seiner noch nicht abgeschlossenen Untersuchung über die Geschichte des Präteritums im Schweizerdeutschen in einem Vortrag in Bern vor. Er glaubt eine mündliche Verwendung des Präteritums in einer westalpinen Zone höchstalemannischer Dialekte nachweisen zu können. Die Resultate der Untersuchung dürfen mit Spannung erwartet werden. 6 A. DECURTINS klammert das Präteritum aus seiner Darstellung der unregelmäßigen Verben im Bündnerromanischen aus, «in der Meinung, dieses umstrittene Problem erfordere eine zusammenfassende, vertiefte Studie» (DECURTINS 1958: XVI). STIMM/ LINDER (1989: 775) listen zwar die Formen des Präteritums in der altsurselvischen Schriftsprache auf, gehen jedoch auch nicht auf die sprachgeschichtlichen Probleme ein. WuNDERLI 1993: 265s. umreißt die Problematik aus gesamtromanischer Sicht. 7 Vor allem NAY 1938 und (für das Engadinische) ARQUINT 1964. Probleme der altsurselvischen Morphosyntax 119 auf-ss im Bündnerromanischen den Grundwert eines Konjunktivs der Vergangenheit hätte, ähnlich wie im Italienischen die Formen auf -sse (cantasse, avesse, udisse). Daß die Dinge ganz anders liegen, wurde mir in der Folge klar. Ein paar wichtige Tatsachen seien hier summarisch vorweggenommen: 1. Der Konjunktiv im heutigen Surselvischen ist atemporal. Die Form, die ursprünglich ein Konjunktiv Präsens war (conti, hagi, seigi etc.), tritt auch in Nebensätzen von Perioden auf, deren übergeordnetes Verb in einem Vergangenheitstempus steht. 2. Die Form auf -ss (cantass, havess,fuss etc.) ist heute vorwiegend ein Konditionalis. Sie steht im unabhängigen Satz (jeu less ir 'ich möchte gehen'), im präsentischen hypothetischen Satzgefüge in Prodosis und Apodosis (sehe jeu savess, vegnessjeu 'wenn ich könnte, käme ich') und nach der Konjunktion seo sehe 'als ob' in allen Tempora (elfalfigeva seo seh'elfuss in um bienstont 'er tut/ tat, als wäre er ein wohlhabender Mann'). 3. Die Form auf -ssi (eantassi, havessi,fussi) wird vorwiegend in Kontexten verwendet, wo ein Konditional in syntaktische Anhängigkeit gerät (el di/ seheva eh'el lessi vender la easa 'er sagt/ sagte, er möchte das Haus verkaufen'). Sie hat, wie die unter 1. und 2. genannten Formen, keine temporale Bedeutung. 4. Die Form auf -vi (eantavi, havevi,fuvi) ist die syntaktisch abhängige Variante des Indikativ Imperfekt. Sie tritt vor allem in indirekter Rede und nach Verba dicendi im Imperfekt auf (el seheva ch'els mavien adina a Trun en vacanzas 'er sagte, sie wären immer nach Truns in die Ferien gegangen'). Diese Bestandsaufnahme umreißt die funktionalen Schwerpunkte, um die die vier Verbalparadigmen sich heute gruppieren. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß in der sprachlichen Praxis die Funktionsverteilung bei weitem nicht so sauber ist, wie die obige Skizze glauben machen könnte 8 • Im folgenden soll dargelegt werden, wie bisherige Darstellungen diese Problematik angegangen sind (2.2). In einem weiteren Schritt soll untersucht werden, inwieweit sich die Verhältnisse im Altsurselvischen von der heutigen Situation unterscheiden (2.3). Der Vergleich der beiden Sprachstufen wird dann Schlüsse im Hinblick auf die Modalitäten der Umgestaltung des surselvischen Verbalsystems erlauben (3.). s Cf. LIVER 1991: 56ss. und 90ss. 120 Ricarda Liver 2.2. Die Beschreibung der Situation im heutigen Surselvischen in der Forschung Es wurde bereits kurz dargelegt, wie der Gebrauch der Formen auf-ss, -ssi und-vi im heutigen Surselvischen im Groben aussieht. In einem (unpublizierten) Referat zu diesem Thema, gehalten in Laax 1989 anläßlich einer Jamna da studis romontschs, habe ich die Auffassung vertreten, bei der Alternanz -ssl-ssi handle es sich nicht um eine funktionelle Opposition, sondern um kontextabhängige Varianten. Am gleichen Ort stellte ich die Hypothese auf, eine solche Variante könnte ihren Ursprung in den Verhältnissen des Schweizerdeutschen haben, wo für den Konjunktiv II (Konjunktiv Präteritum) ebenfalls eine Variante -il-0 besteht. (hättl hätti, wettlwetti etc.; cf. SDS III: 117s.). Ob die Alternanz tatsächlich auf das deutschschweizerische Adstrat zurückzuführen ist oder nicht, bleibe hier dahingestellt; jedenfalls läßt sich nicht bestreiten, daß es sich in beiden Sprachen um eine Variante handelt. Diese Auffassung teilt auch PETER WuNDERLI, der in der erwähnten Studienwoche in Laax die von mir dargestellten Besonderheiten des surselvischen Verbalsystems in einen gesamtromanischen Zusammenhang stellte. WuNDERLI 1993: 276s. kommt zum Schluß, daß sowohl -vi in bezug auf -va als auch -ssi in bezug auf -ss als kontextgebundene Varianten im abhängigen Satz zu interpretieren seien und nicht als eigentliche Konjunktivformen. Eine solche Sicht der Dinge steht in deutlichem Gegensatz zu den Darstellungen sowohl in der alten Schulgrammatik von SEP MuDEST NAY (1938) als auch in der ausführlichen neuen Grammatik des Surselvischen von ARNOLD SPESCHA (1989), aber auch zu derjenigen von STIMM und LINDER im LRL (STIMM/ LINDER 1989). NAY 1938 bezeichnet die Form auf -vi als «imperfect conjunctiv» (125), um dann fortzufahren: «Das Romanische hat die Eigentümlichkeit, daß es zwei Formen des Imperfekt Konjunktiv besitzt» (ib.). Nach NAY wäre -vi auf die indirekte Rede beschränkt, während die «fuorma indirecta dil condiziunal», die Form auf -ssi, für den «eigentlichen Konjunktiv» in der Vergangenheit (nach gewissen Verben und Konjunktionen) stünde. SPESCHA 1989 folgt NAY in der Auffassung, die Form auf -vi sei als Konjunktiv Imperfekt zu werten (§643: 631). Seine Beispiele enthalten lauter Verba dicendi als übergeordnete Verben (a); im Abschnitt (b) figuriert die «erlebte Rede» («discuors indirect liber»). Von höchstem Interesse für unsere Fragestellung ist der § 644, überschrieben «II cundiziunal indirect enstagl dil conjunctiv imperfect» (632s.). Diese Formulierung insinuiert, daß die Form auf -ssi mit derjenigen auf -vi, die ja als Konjunktiv Imperfekt deklariert wird, vertauschbar sei. Die Beispiele zeigen jedoch, daß es sich um völlig verschiedene syntaktische Kontexte handelt. Im §644 geht es um komplexe Satzgefüge in der Vergangenheit, deren übergeordnetes Verb ein Gefühl, einen Wunsch oder eine Absicht ausdrückt (Verba sentiendi), oder um Perioden, in denen gewisse Konjunktionen (senza ehe, perche, sinaquei ehe, avon ehe) den Nebensatz einleiten, also genau die Probleme der altsurselvischen Morphosyntax 121 Voraussetzungen, unter denen in der französischen und italienischen Schriftsprache ein Konjunktiv Imperfekt stehen würde (was wohl NAY dazu veranlaßt hat, in diesem Fall von «eigentlichem Konjunktiv» zu sprechen). Aber nicht genug: die folgenden «remarcas» (632s.) schränken die obige Regel (indirekte Form des Konditionals nach Verba sentiendi und gewissen Konjunktionen) soweit ein, daß sie als nicht verbindlich angesehen werden muß. Aus den «remarcas» geht hervor: 1. daß die Form auf -ssi vertauschbar ist sowohl mit dem Konditional (Form auf -ss) als auch mit dem Konjunktiv «Präsens» 9; 2. daß die Form auf -ssi keineswegs an einen Vergangenheitskontext gebunden ist, sondern auch nach einem Verb im Präsens auftritt. Aus dieser Darstellung, die dem Usus in der heutigen Sprache sicher gerecht wird, muß der Schluß gezogen werden, daß eine Etikettierung «Konjunktiv Imperfekt» für die Form auf -ssi inadäquat ist. Diese Form ist eindeutig tempusneutral, und es ist sogar problematisch, ihr konjunktivischen Charakter zuzuschreiben (cf. WuN- DERLI 1993: 275s.). Recht vorsichtig äußern sich STIMM und LINDER (STIMM/ LINDER 1989) zu unserer Problematik. Sie behandeln gesondert «Konjunktiv Imperfekt/ Konditional (-ss-Form)» und «Konjunktiv Imperfekt (-v-Form)». Die Form auf -ssi wird als «Konjunktiv des Konditionals» bezeichnet. In der theoretischen Bewertung der fraglichen Paradigmen stellt dieser Artikel allerdings keinen Fortschritt dar gegenüber den Darstellungen bei Nay und bei Spescha. Immerhin wird die Untersuchung der Frage angeregt, ob der «Konjunktiv des Konditionals» auch als Konjunktiv Imperfekt nach Vergangenheitstempora verwendet werden könne (777) und ob die Form auf -vi auch außerhalb des Verwendungsbereichs der indirekten Rede in anderer Funktion vorkomme (778). In der revidierten Fassung meines Manuel pratique de romanche (LIVER 1991) habe ich versucht, die heutige Situation, wie sie aus den Zeugnissen der modernen Schriftsprache resultiert, zu beschreiben. Dabei ergab sich, wie schon angedeutet, daß die drei fraglichen Paradigmen (auf -vi, auf -ss, auf -ssi) zwar je einen Schwerpunkt des Gebrauchs aufweisen (-vi für indirekte Rede in der Vergangenheit, -ss für Konditional, -ssi für Konditional in syntaktischer Abhängigkeit), daß jedoch gerade im Bereich dessen, was man traditionell als «Konjunktiv Imperfekt» zu bezeichnen pflegt, die drei Paradigmen bis zu einem gewissen Grad austauschbar sind. Ferner zeigte es sich (was auch aus der Grammatik von Spescha deutlich wird), daß der Konjunktiv «Präsens» heute der Konjunktiv tout court ist. Der Konjunktiv ist heute tempusneutral; dasselbe gilt vom Konditional (sowohl vom 9 Ich setze «Präsens» in der Verbindung mit «Konjunktiv» in Anführungszeichen, weil es sich in der Folge dieser Ausführungen ergeben wird, daß diese Form höchstens in historischer Sicht als präsentisch gelten kann, synchronisch jedoch als atemporal zu werten ist. 122 Ricarda Liver direkten wie vom indirekten). Einzig die Form auf -vi ist an die Vergangenheit gebunden. Sie ist eine kontextbedingte Variante des Indikativ Imperfekt, die im abhängigen Satz (und in freier indirekter Rede) auftritt, genauso wie die Form auf -ssi als (tempusneutrale) abhängige Variante der Form auf -ss zu werten ist. (cf. WUNDERLI 1993: 275ss.). Diese Situation ist das Resultat einer nicht völlig durchgeführten Umstrukturierung des surselvischen Verbalsystems, die man wohl nie in all ihren Phasen wird rekonstruieren können: zu dürftig (nahezu inexistent) sind unsere Kenntnisse des mittelalterlichen Surselvischen, zu spät setzt die schriftliche Überlieferung ein. Immerhin lassen Beobachtungen an altsurselvischen Texten, wie wir sie im folgenden anstellen wollen, einige Schlüsse zu im Hinblick auf den Verlauf dieser Umstrukturierung. 2.3. Die Situation im Altsurselvischen 2.3.1. Vorbemerkungen In den beiden Texten, die ich im Hinblick auf den Gebrauch von Modus und Tempus im Altsurselvischen untersucht habe, kündigt sich die heutige Situation tendenziell an; das Verbalsystem ist offensichtlich in einer Umstrukturierung begriffen. Im Zentrum dieser Umgestaltung scheint der Rückgang der Verwendung der Formen auf -ss als Konjunktiv der Vergangenheit zu stehen. Gleichzeitig beobachtet man die Ausdehnung des Konjunktiv Präsens auf Vergangenheitskontexte und damit die Enttemporalisierung dieser Form. Die Form auf -ssi erweist sich als häufige Variante der Form auf-ss, während die Form auf -vi noch äußerst selten ist. Die untersuchten Texte sind zwei längere Prosaerzählungen, in denen dank ihrem narrativen Charakter Vergangenheitstempora vorherrschen: Der erste ist die von Ascoli in den «Annotazioni soprasilvane» linguistisch kommentierte Geschichte von Barlaam e Giosafat (BeG), der zweite der schaurig-rührende Roman de Octavianus (Oct.). Beide Texte hat Caspar Decurtins nach Manuskripten des 17. (im Falle von Oct. vielleicht anfangs 18.) Jahrhunderts im 7. Band des AG/ publiziert. Obschon die beiden Texte, die zusammen über 100 Druckseiten einnehmen (BeG 41, Oct. 67), recht viel Material für unsere Fragestellung liefern, ist das aus ihnen gewonnene Korpus natürlich viel zu schmal, um sichere Schlüsse auf den Usus der Zeit zu erlauben oder sogar statistisch relevante Resultate herzugeben. Die Beobachtungen an den beiden Texten können höchstens als eine erste Sondierung im Gebiet der altsurselvischen Morphosyntax im Verbalbereich gelten. Auf den ersten Blick gewinnt man den Eindruck einer absolut chaotischen Situation. Es sieht aus, als ob Konjunktiv Präsens, die Form auf -ss und die Form Probleme der altsurselvischen Morphosyntax 123 auf-ssi ohne Unterschied in Nebensätzen von komplexen Perioden, deren Hauptverb in einem Vergangenheitstempus steht, erscheinen könnten. Tatsächlich sind die Beispiele nicht selten, wo ein Wechsel zwischen den genannten Formen in syntaktisch identischen Kontexten ohne ersichtliche Motivierung erfolgt (cf. unten 2.3.2.). Überblickt man jedoch das Material in seiner Gesamtheit, stellt man fest, daß bei übergeordnetem Verb im Perfekt («passe compose») das Verb des abhängigen Satzes vorwiegend im Konjunktiv Präsens (oder einer mit diesem zusammengesetzten Form) steht (cf. unten 2.3.3.), bei übergeordnetem Verb im Imperfekt dagegen meist in der Form auf -ss oder derjenigen auf -ssi (cf. unten 2.3.4.). Die Verben der Hauptsätze, deren Semantismus einen Konjunktiv im abhängigen Satz provoziert, gehören fast ausschließlich zu der großen Gruppe, die man als Verba dicendi et sentiendi bezeichnen kann. Zu den Verben des Sagens gehören auch diejenigen, die eine Empfehlung, einen Befehl oder eine Bitte ausdrücken 10, zu den Verba sentiendi Verben, die eine Wahrnehmung, eine Einschätzung oder eine Gemütsbewegung beinhalten 11. Dazu kommen vereinzelt einige weitere Verben 12. Die Konjunktionen, die in unseren Texten für eine konjunktivische Verbform im Satz, den sie einleiten, verantwortlich sind, stimmen nur zum Teil überein mit denjenigen, die heute den Konjunktiv nach sich ziehen 13: neben sinaquei ehe (final) und avon ehe (temporal) findet sich in der alten Sprache auch entoehen ehe (temporal) mit Konjunktiv 14 • Die Konjunktion, die einen hypothetischen Vergleich einleitet, seo sehe, erscheint hier auch als seo, ohne sehe. Vereinzelt treten finales ehe und per quei ehe auf. Im folgenden wird das Material aus den beiden exzerpierten Texten nach den schon angesprochenen Gesichtspunkten geordnet: 2.3.2. Vertauschbarkeit von Konjunktiv Präsens, Form auf -ss und Form auf -ssi. 2.3.3. Hauptsatz im Perfekt. 2.3.4. Hauptsatz im Imperfekt. 2.3.5. Konjunktiv nach gewissen Konjunktionen. 2.3.6. Übersichtstabellen mit den Zahlenverhältnissen der Beispiele aus den Abschnitten 2.3.3. bis 2.3.5. 10 In den hier untersuchten Texten kommen vor: dir, raquintar, avisar, far de saver, relatar, grir, clomar ora, termetter ina stafetta, comendar, dar uorden, sentenziar, rugar, far oraziun, clomar per agid, domendar (dumendar), emparar, selamentar, profetizar, ludar Diu, persuader, scussigliar, scongiurar. 11 Endriescher, veser, adverter, enconuscher, udir, mirar, entelgir, saver, manegiar, crer, patertgar, suspettar, semiar, sesmarvegliar, dubitar, temer (tumer), selegrar. 12 Vuler, mussar, entruidar, far la figura, parer. 13 Cf. SPESCHA 1989: §640. Zu sco sehe cf. unten 2.3.5. 14 Der Artikel entocca des DRG (5: 627-31), wo immerhin zwei Beispiele für den Konjunktiv in älterer Sprache angeführt werden, geht nicht auf Syntaktisches ein. 124 Ricarda Liver 2.3.2 Vertauschbarkeit von Konjunktiv «Präsens», Form auf -ss und Form auf -ssi Die Beispiele für einen Wechsel zwischen den drei Möglichkeiten konjunktivischer Formen, Konjunktiv «Präsens», Form auf -ss und Form auf -ssi, bei syntaktisch äquivalenter Konstellation, sind zahlreich 15 : - Hauptsatz im Perfekt, Nebensatz im Konjunktiv «Präsens» und in der Form auf -ss: ... ha faig dar en en scret, cons paupers basegnius ei seigi a cons paupers Cavaliers e contas munglusas-Dunschallas ei fussen en lur marcaus. (BeG 288) ...aber nies Segner ha voliu, ehe la peina corrispondes alla cuolpa ... En (lies: Ed) en questa visa ha el voliu ehe las peinas seigien simigliontas alla cuolpa dil puccau. (BeG 270) Hauptsatz im Perfekt, Nebensatz im Konjunktiv «Präsens» und in der Form auf -ssi: ... ed ha enciet a rogar nies Segner, ehe et gli detti tonta grazia, ehe et sappi responder a Nardon, a ehe et dessi tonta vertit ed entelleig per puder convertir Nardon tier la vera cardienscha. (BeG 277) ...e Giosafat ha enciet a requintar . ..eo el gli havessi dau la quarta part de siu Regenavel, ed eo i1 Bab seigi vivius treis onns en buna e sointgia veta, a suenter seigi et morts: a eo et hagi suenter la mort dil Beb regiu in onn ... (BeG 294) Der gleiche Parallelismus von Konjunktiv «Präsens» und Form auf -ssi begegnet im einzigen(! ) Beispiel in unseren Texten, in dem das übergeordnete Verb im Präteritum steht: Avon siat ons eis el staus cun nus cau, a schet, ehe el vegnessi dall'India ...a ehe el hagi perdegau la Cardienscha de Christo ... (BeG 292) - Hauptsatz im Imperfekt, Nebensatz in der Form auf -ss und in der Form auf -ssi: Mo gl'auter di ei vegniu en i1 Pallaz in ehe scheva ehe etfuss in marcadont, a ehe et vessi de dar ina Pedra custeivla, ehe havessi quella vertit, ehe quel ehe portassi ella vid sesez, vegnessi mai a murir, a tgi chefussi ciogs, survegnessi la vesida ... (usw., lauter Formen auf -ssi) (BeG 276) - Hauptsatz im Imperfekt, Nebensatz in der Form auf -ssi und im Konjunktiv «Präsens»: ... pertgei chels tumevan, ch'il liun sigliessi suenter en la nav, e vegni mazar tuts. (Oct. 312) 1s Ich spreche von Konjunktiv «Präsens» in allen Fällen, in denen das konjugierte Verb in dieser Form steht, also auch dort, wo zusammengesetzte Formen Vorzeitigkeit oder Nachzeitigkeit markieren: hagi fatg, vegni (a) far. Probleme der altsurselvischen Morphosyntax 1 25 Unsere Texte weisen ein einziges Beispiel für die heute in der indirekten Rede der Vergangenheit geläufige Form auf-vi (von den Grammatiken «Konjunktiv Imperfekt» genannt; cf. oben p. 120s.) auf: Ils Surviturs della Cuort han detg, eh'ella seigi vegnida malspertada, e levi magliar en Ja gliaut viva. ( Oet. 361s.) Offensichtlich besteht hier, anders als bei den übrigen Beispielen in diesem Abschnitt, eine Aspektopposition zwischen Perfekt und Imperfekt. 2.3.3. Hauptsatz im Perfekt Obschon wie gesagt das Material für relevante statistische Ergebnisse nicht ausreicht, geht doch mit Deutlichkeit daraus hervor, daß der verbreitetste Typus von Satzgefügen in der Vergangenheit mit einem Verbum dicendi aut sentiendi als Hauptverb die folgende Struktur aufweist: Hauptsatz im Perfekt, Nebensatz im Konjunktiv «Präsens». Von den total 125 Beispielen für Satzgefüge mit einem Hauptverb im Perfekt gehören 92 ( = 73,6%) diesem Typus an. Ein Beispiel zur Illustration: ...jau hai plitost eartiu, eh'ei veglien mo sgomiar vus. ( Oet. 340) An zweiter Stelle, was die Häufigkeit der Beispiele angeht, stehen die komplexen Perioden in der Vergangenheit mit Hauptverb im Perfekt, Verb des untergeordneten Satzes in der Form auf -ssi; es sind 22 Beispiele oder 17,6% von den total 125 Belegen: ... ed ha enciet a rugar Diu, ehe el dessi grazia de enflar Barlaam. (BeG 292) Nur halb soviel Beispiele, nämlich 7 oder 8,8%, liefert der dritte Typus, in dem das Hauptverb im Perfekt, das Verb des abhängigen Satzes in der Form auf -ss steht. Sie stammen ausschließlich aus BeG: ...sehe ha il Reig eommendau a tutts ils Sabis de siu Reginavel, ehe en termin u temps de treis meins vegniessen tutts en sia preschienscha. (BeG 256s.) 2.3.4. Hauptsatz im Imperfekt Die komplexen Satzgefüge in der Vergangenheit, deren Hauptverb im Imperfekt steht, sind weniger häufig als diejenigen mit Hauptverb im Perfekt (67 gegenüber 125). Während beim Typus mit Hauptverb im Perfekt die Verben des Nebensatzes in einer überwiegenden Zahl von Fällen (73,6%) im Konjunktiv «Präsens» stehen, ist das Verb des untergeordneten Satzes bei einem Hauptverb im Imperfekt am häufigsten (61,2%) eine Form auf -ssi: ... di e noig ealava el bueea de rugar Diu, ehe el prendessi el ord de quest mund. (BeG 295) 126 Ricarda Liver ...pertgei els manegiavan, eh'el fussi era in Tijrg. ( Oet. 350) Weniger als halb so oft findet sich in der gleichen syntaktischen Konstellation die Form auf -ss (28,35% ): Ed sco el dueva dir a Giosafat ehe Ia Cardienscha dils Christgiauns fuss faulsa, ha el deg il contrari. (BeG 282) II cavalier manegiava schon, eh'el stovess morir. (Oet. 330) Noch viel seltener ist ein Konjunktiv «Präsens» nach einem Hauptverb im Imperfekt (7 Fälle auf 67, = 10,45% ): La mumma dil Kaiser lev' aber per sforz, eh'ei vegnien barsehai. ( Oet. 303) 2.3.5. Konjunktiv nach bestimmten Konjunktionen Weniger ergiebig als im Fall der Konjunktivformen, die von Verba dicendi et sentiendi abhängig sind, ist eine zahlenmäßige Auswertung der Beispiele für Konjunktiv nach bestimmten Konjunktionen. Die Belege aus unseren beiden Texten sind insgesamt nur 41. Davon fallen mehr als die Hälfte (22) auf die Konjunktion sinaquei ehe 'damit' (final), 9 auf seo sehe 'als ob' (hypothetischer Vergleich) und 2 auf seo allein in gleicher Bedeutung, 3 auf entoehen ehe 'bis' (temporal) und 2 auf avon ehe 'bevor' (temporal). Je ein vereinzeltes Beispiel liegt vor für ehe 'damit' (final),perquei ehe 'damit' (final) und ehe 'ohne daß' (exklusiv). Immerhin läßt sich auch hier beobachten, daß bei der verbreitetsten Konjunktion, die einen Konjunktiv provoziert, sinaquei ehe, sowohl Formen auf -ss (7) und -ssi (5) als auch solche des Konjunktiv «Präsens» (5) im abhängigen Satz auftreten. Das übergeordnete Verb steht in sämtlichen Beispielen im Perfekt: ... ed han arviu si las truchas, sinaquei ehe mintgin pudess ver. (BeG 296) Aschia en els stai runai gl'emprem per tutt il Marcau ... sinaquei ehe quel vesessi ed havessi tema della mort. (BeG 283) ... ha priu giu siu helm, sinaquei eh'el sappi plidar ton pli entelgienteivel. ( Oet. 343) Anders liegen die Dinge bei der zweithäufigsten Konjunktion, seo (sehe) 'als ob'. Hier ist, entsprechend der Irrealität des supponierten Vergleichs, ein Konjunktiv «Präsens» ausgeschlossen. Das Verb des abhängigen Satzes erscheint in der Form auf -ss oder auf-ssi, unabhängig davon, ob das Verb des übergeordneten Satzes im Perfekt oder im Imperfekt steht: Sisum quellafuv'ei in adler ...il qua! teneva siu schnabel enconter Paris, seo sehe el sehmanatsehass la ruina. ( Oet. 352) II survitur vasend vegnend il Kaiser en combra, ha fatg, seo el dormessi. (Oet. 301) Probleme der altsurselvischen Morphosyntax 127 Wiederum anders ist die Situation bei den temporalen Konjunktionen avon ehe und entoehen ehe. Wo der Hauptsatz im (überkomponierten) Perfekt steht, findet sich im Nebensatz ein Konjunktiv «Präsens»: ... ed avon eh'el arivi, ha el treis dis bucca giu enflau de beiver e strusch de migliar. (BeG 292) Im einzigen Beispiel, in dem entoehen ehe auf ein Hauptverb im Imperfekt folgt, hat der Nebensatz die Form auf -ss: ... ei agli pareva milli onns, entochen ehe ei ventschessen la despitta. (BeG 282) 2.3.6. Übersichtstabellen 16 2.3.6.1. Konjunktiv nach Verba dicendi et sentiendi in Vergangenheitstempora BeG Oct. Total HS Perfekt, NS Konjunktiv «Präsens» 28 64 92 (73,6%) HS Perfekt, NS -ss 10 1 11(8,8%) HS Perfekt, NS -ssi 14 8 22 (17,6%) 125 (100%) HS Imperfekt, NS Konjunktiv «Präsens» 1 6 7(10,45%) HS Imperfekt, NS -ss 6 13 19(28,35%) HS Imperfekt, NS -ssi 6 35 41(62,1%) 67 (100%) 16 HS = Hauptsatz, NS = Nebensatz. In den Beispielen sind auch die indirekten Fragesätze inbegriffen, da sie sich syntaktisch gleich verhalten wie die mit ehe oder eo eingeleiteten Nebensätze nach Verba dicendi. 128 Ricarda Liver 2.3.6.1. Konjunktiv nach bestimmten Konjunktionen BeG Oet. Total sinaquei ehe HS Perfekt, NS Konjunktiv «Präsens» 2 4 6 HS Perfekt, NS -ss 12 - 12 HS Perfekt, NS -ssi 4 - 4 avon ehe HS Perfekt, NS Konjunktiv «Präsens» 1 1 2 seo sehe HS Perfekt, NS -ss - 3 3 HS Perfekt, NS -ssi - 1 1 HS Imperfekt, NS -ss 1 4 5 seo 'als ob' HS Perfekt, NS -ss - 1 1 HS Perfekt, NS -ssi - 1 1 entoehen ehe HS Perfekt, NS Konjunktiv «Präsens» - 2 2 HS Imperfekt, NS -ss 1 - 1 per quei ehe 'damit' HS Perfekt, NS Konjunktiv «Präsens» 1 - 1 ehe 'damit' HS Imperfekt, NS Konjunktiv «Präsens» - 1 1 ehe 'ohne daß' HS Imperfekt, NS -ssi 1 - 1 3. Ergebnisse Die Epoche surselvischer Sprachgeschichte, der die beiden hier untersuchten Texte angehören, erweist sich als eine Phase des Übergangs in einem Prozeß der Umstrukturierung des Verbalsystems. Diese Umstrukturierung, die auch im modernen Surselvischen noch nicht völlig durchgeführt ist, läuft darauf hinaus, daß die Form auf -ss, die zunächst die Funktion eines Konjunktiv Imperfekt hatte, aus dieser Stellung durch den ursprünglichen Konjunktiv Präsens verdrängt wird, der nunmehr atemporal ist. Die Form auf -ss ihrerseits spezialisiert sich auf den Bereich des Nicht-Realen: sie ist heute in erster Linie Konditional und im abhängigen Satz - Irrealis. Die Sprachstufe, die unsere Texte spiegeln, ist gekennzeichnet durch einen Modus-Tempus-Gebrauch, der sowohl am alten als auch am neuen Zustand teil- Probleme der altsurselvischen Morphosyntax 129 hat. Der alte Zustand zeigt sich darin, daß Formen auf -ss in der Funktion eines Konjunktiv Imperfekt noch sehr stark präsent sind, am massivsten dort, wo das Verb des Hauptsatzes im Imperfekt steht. Der neue Zustand kündigt sich insofern an, als der Konjunktiv «Präsens» sich auf nichtpräsentische Kontexte ausdehnt. Er tritt besonders häufig in Nebensätzen auf, die von einem übergeordneten Verb im Perfekt abhängen. Diese Verteilung ist jedoch weit davon entfernt, generell zu sein: bei Hauptverben im Imperfekt findet sich auch Konjunktiv «Präsens» im abhängigen Satz, bei Hauptverben im Perfekt auch die Form auf -ss. Wenn man sich' ein Gesamtbild von dieser Verteilung machen will, ist es sinnvoll, zusammen mit den Formen auf -ss auch diejenigen auf -ssi den Formen des Konjunktiv «Präsens» gegenüberzustellen. Form auf -ss und Form auf -ssi sind lediglich Varianten ohne funktionelle Opposition. Graphisch läßt sich die Verteilung wie folgt wiedergeben: HS im Perfekt NS Konj. «Präs. » 1 NS -ss(i) 73,6% 26,4% HS im Imperfekt NS -ss(i) 1 NS Konj. «Präs. » 89,55% 10,45% Was die Häufigkeit der Formen auf -ssi gegenüber den Formen auf -ss angeht, ist die Tatsache von Bedeutung, daß die Formen auf -ssi bei weitem überwiegen. Dieser Befund scheint darauf hinzuweisen, daß sich die Form auf -ss zur Zeit unserer Texte schon weitgehend auf die Funktion 'Konditional' spezialisiert hat; die Variante auf-ssi, in ihrer Lautgestalt dem Konjunktiv «Präsens» ähnlich, bietet sich als Zeichen für syntaktische Abhängigkeit an. Es wurde schon oben (p. 120) auf die Vermutung hingewiesen, das Aufkommen der Formen auf -ssi könnte durch den Sprachkontakt mit dem Alemannischen, wo Varianten wie hättlhätti, wettlwetti etc. bestehen, gefördert worden sein. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß von den beiden hier untersuchten Texten der eine, Barlaam e Giosafat, aus dem Italienischen, der andere, Octavianus, aus dem Deutschen übersetzt ist 17 • Es fällt nun auf, daß der Anteil an -ssi- Formen im Oct., derjenige an -ss-Formen im BeG größer ist. Überhaupt erscheint Oct. gegenüber BeG in bezug auf die Modus-Tempus-Situation «moderner»; das bedeutet einerseits, daß die Neuerung auf -ssi stärker vertreten ist als in BeG, andererseits, daß der Vormarsch des Konjunktiv «Präsens» auf Kosten des alten Konjunktiv Imperfekt (Form auf -ss) weiter fortgeschritten ist (cf. Tabellen 2.3.6.1.). Im Bereich der Nebensätze, deren Konjunktiv von einer bestimmten Konjunktion abhängt, sind unsere Beispiele nicht ausreichend für relevante Folge- 11 Zu BeG cf. Ascou 1880-83: 417ss. Der Text von Oct. ist derart gespickt mit lexikalischen Germanismen, daß es sich aufdrängt, eine deutsche Vorlage zu vermuten (cf. Kaiser, Kaisera, adler, schnabel, Vechsel, vechsler, lager, karnisch, heim etc.). 130 Ricarda Liver rungen. Immerhin zeigt sich im Fall der Konjunktion sinaquei ehe, wo die Beispiele am zahlreichsten sind, daß auch hier Oct. den (auch heute gültigen) Konjunktiv «Präsens» bevorzugt, während BeG mehrheitlich Formen auf -ss, resp. -ssi aufweist (cf. Tabelle 2.3.6.2). Die Frage, ob die Umstrukturierung weg vom alten Konjunktiv Imperfekt (-ss) Richtung Konjunktiv «Präsens» mit dem Verschwinden (oder der Nicht-Existenz) des vom lateinischen Perfekt ererbten Präteritums zusammenhänge, läßt sich aufgrund des hier verarbeiteten Materials nicht diskutieren. Es enthält eine einzige Präteritalform, von der im Nebensatz eine Form auf -ssi und parallel dazu ein Konjunktiv «Präsens» abhängen: Avon siat ons eis el staus cun nus cau, a sehet, ehe el vegnessi dall'India ... a ehe el hagi perdegau la Cardienscha de Christo ... (BeG 292) Deutlich ist jedoch, daß die Ausdehnung des Konjunktiv «Präsens» auf Vergangenheitskontexte von Perioden mit übergeordnetem Verb im Perfekt ausgeht, also einem zusammengesetzten Tempus mit konjugiertem Verb im Präsens, das eine abgeschlossene Handlung ausdrückt. Die Form auf -vi, die zum Indikativ Imperfekt im gleichen Verhältnis steht wie die Form auf -ssi zu der auf -ss, tritt in unseren Texten ein einziges Mal auf 18 : Ils Serviturs della cuort han detg, ch'ella seigi schon da ditg morta ... Ella seigi vegnida malspertada, e levi magliar en la gliaut viva. ( Oet. 361s.) Dieser Befund legt es nahe, daß die Variante -ss/ -ssi der Variante -val-vi historisch vorausgeht auch dies eine Stütze der Hypothese, wonach die Alternanz -ssl-ssi vom alemannischen Adstrat beeinflußt sein könnte. Kehren wir zum Schluß zu den Verhältnissen im heutigen Surselvischen zurück. Vergleicht man sie mit denjenigen, die wir in den beiden altsurselvischen Texten vorgefunden haben, ergeben sich die folgenden Unterschiede: 1. Die Ausdehnung des Konjunktiv «Präsens» auf Kontexte der Vergangenheit ist im heutigen Surselvischen sehr viel weiter fortgeschritten als im Altsurselvischen. Es ist deshalb, synchronisch gesehen, nicht sinnvoll, von «Konjunktiv Präsens» zu sprechen. Die Form, die ursprünglich präsentische Bedeutung hat, ist heute einfach der Konjunktiv. Gelegentliche Schwankungen im Gebrauch (Vertauschbarkeit von Konjunktiv «Präsens», Form auf -ss, auf -ssi und auf -vi) sind als Relikte früherer Zustände zu interpretieren. 1s Dies stellt schon Ascou 1880-83: 478 fest. Probleme der altsurselvischen Morphosyntax 131 2. Die Form auf-ss ist in der heutigen Sprache viel eindeutiger ein Konditional als im Altsurselvischen, wo die Funktion als Konjunktiv Imperfekt, wenn auch im Rückzug begriffen, durchaus noch präsent ist. Im modernen Surselvischen ist weder die Form auf -ss noch die auf syntaktische Abhängigkeit festgelegte Variante auf -ssi an ein Vergangenheitstempus gebunden; sie ist allen Tempusoppositionen gegenüber neutral. 3. Die Form auf -vi als syntaktisch abhängige Variante des Indikativ Imperfekt ist (abgesehen von den erwähnten gelegentlichen Schwankungen) auf die indirekte Rede in der Vergangenheit (besonders oft: discuors indirect liber) beschränkt. Als einzige der hier untersuchten Formen (Konjunktiv «Präsens», Form auf-ss, Form auf-ssi, Form auf-vi) ist sie an ein Tempus, das Imperfekt, gebunden. Es ist jedoch wenig sinnvoll, diese Form als «Konjunktiv Imperfekt» zu deklarieren (cf. oben p. 120s.). Weder erfüllt sie in der heutigen Sprache die Funktion des ursprünglichen Konjunktiv Imperfekt (die hat vielmehr der Konjunktiv «Präsens» mit übernommen), noch geht sie historisch auf eine Form zurück, die einmal diese Funktion hatte. Bei allen Vorbehalten, die die Beschränktheit unseres Materials einerseits, das Fehlen einer strikten Normierung der surselvischen Schriftsprache andererseits nahelegen, hat sich doch ein recht klares Bild der Umgestaltung des surselvischen Verbalsystems im untersuchten Sektor ergeben. Den Gründen für die skizzierten Entwicklungen nachzugehen, wäre die Aufgabe einer weiteren Untersuchung, die als eine unter vielen notwendigen Vorarbeiten für die eingangs postulierte bündnerromanische Sprachgeschichte geleistet werden müßte. Bern Bibliographie 1. Altsurselvische Texte BeG = Barlaam e Giosaphat, in: DECURTINS 1880-83: 225-96 Ricarda Liver Oct. = Roman u Historia de Octavianus, Kaiser de Roma ..., in: DECURTINS 1880-83: 297-364 2. Kritische Literatur ARQUINT, J. C. 1964: Vierv ladin. Grammatica elementara da! rumantsch d'Engiadina bassa, Tusan Ascou, G. I. 1880-83: «Annotazioni sistematiche al Barlaam e Giosafat soprasilvano», AGI 7: 406--602 BILLIGMEIER, R. 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