Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
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1993
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Kristol De StefaniWALTER BERSCHIN/ARNOLD ROTHE (ed.), Ernst Robert Curtius: Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven. Heidelberger Symposion zum hundertsten Geburtstag 1986, Heidelberg (Winter) 1989, 300 p.
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J. Jurt
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Besprechungen - Comptes rendus 301 A problemi generali delle strutture temporali nella lingua e infine dedicata la quarta sezione, con interventi di: CH. SCHWARZE sulle caratteristiche fondamentali dai punti di vista funzionale, concettuale e formale dei tempi verbali in italiano; P. M. BERTINETTO, sulle perifrasi verbali (con particolare attenzione metodologica ai criteri di identificazione delle perifrasi); A. PuGLIELLI, con considerazioni sulla nozione del tempo e della temporalita in prospettiva antropologico-culturale. Nel complesso, il volume si legge con grande interesse. Esso testimonia non solo di vivaci attivita di ricerca in un settore emerso negli ultimi tempi sempre piu in primo piano quale terreno di collaudo ideale per la verifica e la discussione di ipotesi e risultati della teoria linguistica, alle prese con gli effettivi comportamenti di parlanti ehe stanno ,creando> una propria lingua; ma anche di un felice connubio fra attenzione ai problemi teoricometodologici retrostanti e analisi di multiformi dati empirici, ehe appare chiaramente in molti contributi e ehe consente di illuminare i fenomeni considerati in un quadro globale di grande attualita scientifica. G. Berruto * WALTER BERSCHIN/ ARNOLD RoTHE (ed.), Ernst Robert Curtius: Werk, Wirkung, Zukunftsperspektiven. Heidelberger Symposion zum hundertsten Geburtstag 1986, Heidelberg (Winter) 1989, 300 p. Zum hundertsten Geburtstag von Ernst Robert Curtius veranstaltete die Universität Heidelberg, wo der Gelehrte fünf Jahre gewirkt hatte, ein Symposion, dessen Akten hier vorliegen. Zum selben Anlaß führte das Romanische Seminar der Universität Bonn, Hauptwirkungsort von Curtius ab 1929, eine Vortragsreihe durch, die jetzt ebenfalls greifbar ist 1. Christoph Dröge hatte gleichzeitig in der Bonner Universitätsbibliothek eine Gedenkausstellung unter dem Titel «Ernst Curtius - Europäer und Romanist» organisiert. Im südelsässischen Thann dem Geburtsort von Curtius - und an der Universität Mülhausen fand Ende Januar 1993 ein Kolloquium zum Thema «Ernst Robert Curtius et l'idee de l'Europe» statt 2 . Kurz zuvor war auch in Rom in feierlicher Weise seiner gedacht worden. Es mag erstaunen, daß ein Literaturprofessor nach seinem Tode derart im Rampenlicht steht. Es liegt wohl daran, daß Curtius nicht bloß ein Gelehrter war, der für seine Fachkollegen schrieb, sondern auch ein Essayist, der über Presse und über Kulturzeitschriften ein breiteres Publikum ansprechen wollte. Er selber verstand sich auch als Schriftsteller. Dieser Aspekt wurde in mehreren Beiträgen des Heidelberger Kolloquiums herausgestellt. In seiner Polemik gegen Jaspers im Jahre 1949 unterstrich Curtius, er habe gegen den Philosophen nicht in seiner Eigenschaft als Professor protestiert, sondern als «deutscher Schriftsteller». Als solcher habe er das Recht, «publizistische Waffen zu gebrauchen, wie sie in Deutschland seit Lessing üblich sind» (13). Schon sein erstes großes Buch Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich (1919) wollte er an literarischen Maßstäben messen lassen: «Das goldene Wort von Thomas Mann (... ) ,Ein Schriftsteller ist ein Mann, dem das Schreiben schwerfällt> ich hatte es in seinem vollen Gewicht erfahren.» 3 Er sprach von seiner Arbeit als einem «künstlerischen Gestaltungsprozess», den er nicht durch ständiges Suchen und Herumlesen unterbrechen wolle. Er arbeite mit einer Assi- 1 W.-D. LANGE (ed.), «In Ihnen begegnet sich das Abendland». Bonner Vorträge in Erinnerung an Ernst Robert Curtius, Bonn 1990. 2 Siehe dazu J.JuRT, «Ernst Robert Curtius und die Europa-Idee. Ein Kolloquium in Mülhausen», NZZ 32, 10.Februar 1993: 28. 3 E.R.CURTIUS, Französischer Geist im zwanzigsten Jahrhundert, Bern 3 1965: 524. 302 Besprechungen - Comptes rendus stentin, die ihm das ganze Material so vorbereitet auf den Schreibtisch lege, daß er selber auch nicht ein einziges Zitat nachzuschlagen brauche. Es überrascht nicht, daß Curtius mit vielen bedeutenden Schriftstellern in Kontakt stand: früh schon begegnete er George; intensiv aber war der Austausch mit Gide, Charles Du Bos, Valery Larbaud. Die Briefwechsel mit diesen Autoren sind mittlerweile ediert 4• Kurz vor seinem Tod richtete Proust einen Brief an ihn 5• Auch mit T.S.Eliot war er eng befreundet 6. Arnold Rothe unterstreicht so im vorliegenden Band, daß Curtius von bedeutenden Schritstellern seiner Zeit ernst genommen, ja anerkannt wurde, daß er im Essay eine Spielart der Schriftstellerei fand, eine Form, um Wissenschaft und Kunst zu verbinden. «Il se sentait ecrivain se considerant comme tel», so der spätere Botschafter Arnaud Berard, der ihn während der Heidelberger Zeit kennengelernt hatte. «11 eüt vivement souffert de n'etre qu'un professeur: il n'exerr;:ait ces fonctions que pour vivre» (101). EARL JEFFREY RICHARDS spricht in seinem Beitrag, «E.R.Curtius' Vermächtnis an die Literaturwissenschaft» von einer fruchtbaren andauernden Spannung zwischen dem Literaturkritiker am Rande des George-Kreises und dem Philologen aus der Gröber-Schule. Begonnen hatte er jedoch zunächst als Philologe bei Gröber in Straßburg mit einer kritischen Edition von Li quatre Livre des Reis (1910) als Dissertation und einer Untersuchung zum Literaturkritiker Ferdinand Brunetiere als Habilitation (1914). Bei Brunetiere hatte Curtius, wie Richards schreibt, bereits eine Definition von Literatur als gemeinsamer seelischer Besitz des einzelnen gefunden, die in den <lieux communs> zum Ausdruck komme. Curtius sprach hier schon von «rhetorischer Topik», was bereits auf seine spätere Topos-Forschung, die ihn so berühmt machen sollte, verwies 7 . WOLF-DIETER LANGE rekonstruierte auf der Basis eines unveröffentlichten Briefwechsels im vorliegenden Band den Dialog Curtius' mit einem anderen bekannten Philologen, Philipp August Becker, auch ein Gröber-Schüler, der ebenfalls aus dem Elsaß stammte. Curtius stimmte dessen früher Interpretation der Chansons de geste als Werk bewußt schaffender Dichter zu und sah bei Becker auch eine Bestätigung seiner Theorie zur Kontinuität und zur historischen Topik, selbst wenn er die Bedeutung festgefügter Diskursschemata mehr herausstellte. Die Mittelalter-Studien von Curtius und Becker sind nach W.D.Lange durch «antiromantische Rationalität» (48) geprägt. Bekannt wurde Curtius gleichermaßen durch sein Buch Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich (1919), das binnen kurzem dreimal aufgelegt und bei der Tagespresse begeistert aufgenommen, von den Fachgenossen aber, wie Curtius selber im späteren Nachwort hervorhob, scharf abgelehnt wurde. «Essayismus, mangelnde Distanz zum Gegenstand, die Ausblendung historischer Zusammenhänge, überhaupt das Betrachten eines so unsicheren Terrains wie die Gegenwartsliteratur und selbst das Engagement für das aktuelle Frankreich: all das warf man ihm von romanistischer Seite vor», schreibt Arnold Rothe (60). Auch Harald Weinrich spricht davon, das Buch sei von den romanistischen Fachkollegen «so gut wie einhellig abgelehnt» (139) worden 8• 4 H. und J.M.DrncKMANN (ed. ), Deutsch-französische Gespräche 1920-1950. La correspondance de Ernst Robert Curtius avec Andre Gide, Charles Du Bos et Valery Larbaud, Frankfurt 1980; siehe dazu R.THEIS, Auf der Suche nach dem besten Frankreich. Zum Briefwechsel von Ernst Robert Curtius mit Andre Gide und Charles Du Bos, Frankfurt 1984. 5 Siehe dazu R.KEMPF, <«Savez-vous l'adresse de Curtius a qui je voudrais envoyer mon livre? Faut-il HERR, faut-il PROFESSOR? , (Marcel Proust a Andre Gide, juillett 1922)», Allemagne d'aujourd'hui 5 (L) 1956, p.25. 6 Siehe P.GoDMAN, «T.S.Eliot et E.R. Curtius», Liber I, n ° 1, oct. 1989: 53. 7 Diesen Zusammenhang unterstrich auch A.CoMPAGNON in seinem Beitrag zum Mülhauser Kolloquium: «Curtius et ! es critiques franr;:ais (Brunetiere, Thibaudet, Du Bos)». 8 In seiner Arbeit Ernst Robert Curtius und die deutschen Romanisten (Akademie der Wis- Besprechungen - Comptes rendus 303 HANs HINTERHÄUSER berichtet in seinem ganz persönlichen Beitrag, wie er im Winter 1941/ 42 vom Kriegsdienst beurlaubt in einem Münchner Antiquariat Die literarischen Wegbereiter erstanden hatte, weil er einen darin behandelten Autor, Romain Rolland, näher kennenlernen wollte. Er habe das Buch nicht als ein literaturwissenschaftliches Werk, sondern als schöne Literatur aufgenommen. Curtius ging es hier um das intuitive Erfassen der Individualität seiner Autoren. Fasziniert war Hinterhäuser von seinem Ethos und seiner Sprache. «So subjektiv-bildhaft und dann wieder so sentenziös hatte bei uns kein Philologe geschrieben» (100). Hinterhäuser verschweigt aber auch nicht, daß für ihn gewisse Passagen «geschmacklich ans Dubiose streifen» (105). Es brauchte allerdings Mut, dieses Buch unmittelbar nach dem Versailler Vertrag zu veröffentlichen. Es wird auch daran erinnert, daß ganz allgemein Frankreich gegenüber eine Position der Zurückhaltung als angemessen empfunden wurde. So schrieb Curtius seine ersten Briefe an Gide bewußt deutsch. Curtius' Vorschlag, 1925 eine Lektorenstelle für Französisch an der Universität Heidelberg mit einem Franzosen zu besetzen, stieß etwa bei seinen Kollegen auf lebhaften Widerspruch, da einige Spionage und Agitation seitens eines französischen Dozenten befürchteten! HARALD WEINRICH betont in seinem Beitrag, daß die Wegbereiter auch als kulturkundliches Werk gedacht waren, um hier ein anderes Frankreich als das der Dekadenz und des Esprit vorzustellen. Allerdings ist auch Curtius' Vorstellung nicht von völkerpsychologischen Klischees frei, wenn er etwa schreibt, Frankreich sei in einem festen, Deutschland in einem flüssigen Aggregatzustand 9• Dieses stereotype Bild ist auch dadurch bedingt, daß Curtius Frankreich als Person oder, wie er selber in seinem Buch Die französische Kultur (1930) schrieb, als «nationale Kollektivperson» wahrnahm. Selbst wenn französische Autoren wie Michelet oder Peguy über diese Metapher das Selbstverständnis ihres Landes zu artikulieren versuchten, so eignete sich diese Kategorie kaum zur Perzeption einer Nation. Curtius sah in den Wegbereitern - Gide, R. Rolland, Claude! , Suares, Peguy - Vertreter eines «Jungfrankreich», die dem deutschen Selbstbild des Werdenden entgegenkamen; er glaubte bei ihnen ein Wertgefühl zu entdecken, «das mit unserem ein gemeinsames Maß hat»; er hob bei seinen Autoren die Kategorien der Lebens- und Erlebnisintensität hervor. Bergsan und Nietzsche, so bemerkt Weinrich zu Recht, beglaubigten bei Curtius den neuen Elan von der Lebensphilosophie her. Mit dieser lebensphilosophischen Lektüre der <jungfranzösischen Autoren> wollte Curtius diese auch mit den Tendenzen des George-Kreises vermitteln. Er verstand sein Wegbereiter-Buch als Auseinandersetzung zweier seiner «Geistesinhalte»: «französischer Geist und georgischer staatswille» 10• Über Gundolf wurde ihm indes mitgeteilt, daß George in den genannten Autoren wenig Zukunftsweisendes sehen konnte. «Curtius», so gibt W. Lepenies Georges Meinung wiesenschaften und der Literatur, Mainz 1987) nimmt HANS HELMUT CHRISTMANN die romanistischen Fachkollegen von Curtius allzusehr in Schutz. Christmann hatte immerhin einen Aufsatz von EuGEN LERCH gefunden, der Curtius' Buch in einem Artikel der Münchner Zeitung vom 9. Juni 1920 mit dem Titel «Anbiederung an die Neger-Nation» besprach! «Es gibt ihn also leider» (21) so Christmann zu diesem Aufsatz, um dann hinzuzufügen: «Der Berichterstatter hätte aufrichtig gewünscht, belegen zu können, daß es den Text nicht gibt, oder wenigstens, daß er nicht von Eugen Lerch ist» (22). Die Arbeit von Christmann ist fast wörtlich wieder abgedruckt im Bonner Vortragsband «In Ihnen begegnet sich das Abendland» (Nl), p. 65-84. 9 Siehe dazu die Kritik von G: ERARD RAuLET, «Gescheiterte Modernisierung. Kritische Überlegungen zur deutschen Frankreichkunde der Zwischenkriegszeit», in: Begegnung mit dem <Fremden>. Band 2: Theorie der Alterität. Akten des VIII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Tokyo 1990, p. 289-301. 10 L. HELBLING/ C. BocK (ed.), Friedrich Gundolf' Briefwechsel mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, Amsterdam 1962/ 63: 251. 304 Besprechungen - Comptes rendus der, «war einfach zu töricht, er sah die Dinge schief, und vom geheimen Frankreich zu reden war ein Skandal im George-Kreis, der das geheime Deutschland verkörpern wollte (... ) Auch an Curtius bemängelte er nicht in erster Linie die für einen Romanisten nur allzu verständliche Hinneigung zu Frankreich. Seine Kritik war grundsätzlicher Natur: <Welch ein irrtum so geistige + politische dinge zu verquicken»> 1 1 . Für Curtius waren die behandelten Autoren, wie Weinrich schreibt, auch Wegbereiter «über Grenzen hinweg für eine neue Qualität des Verstehens und der Verständigung zwischen Frankreich und Deutschland» (141). Auf der Basis eines gemeinsamen <Lebensgefühls> seien die Bedingungen für eine Begegnung nie so günstig gewesen wie in jenen Vorkriegsjahren. «Man geht gewiß nicht fehl», meint indes Hans Manfred Bock, «wenn man annimmt, daß diese These, die die Argumentation des ganzen Buches zusammenhält, im wesentlichen eine Wunschprojektion war, die aus seiner elsässischen Grenzland-Sozialisation entstand.» 12 Am subjektiven Vermittler-Willen von Curtius, der sein Buch «der neuen Jugend unseres Volkes» darbieten wollte, die «die geistige Wiedergeburt Deutschlands mit heraufführen» werde 13 , ist nicht zu zweifeln. Zu fragen ist allerdings, ob ein Dialog nicht eher möglich ist auf der Basis der Anerkennung historisch gewachsener Alterität als auf derjenigen einer postulierten - und vereinnahmenden lebensphilosophischen Gemeinsamkeit. Nach dem Erfolg des Wegbereiter-Buches wirkte Curtius für vier Jahre 1920 bis 1924 als Professor in Marburg, nicht sehr glücklich in diesem <Exil> - «nur südlich des Limes kann man eben leben» schrieb er damals an Carl Schmitt. Der George-Schüler Gundolf hatte sich dafür eingesetzt, daß er nach Heidelberg berufen wurde. Die fünf im übrigen sehr fruchtbaren - Heidelberger Jahre werden im vorliegenden Band in einem fünfzigseitigen sehr informativen Beitrag von ARNOLD RoTHE rekonstruiert. Diese Studie ist auch darum so aufschlußreich, weil sie nicht bloß den Gelehrten beleuchtet, sondern das ganze Umfeld, so daß sich die intellektuelle Biographie zu einer Sozialgeschichte des deutschen Universitätslebens der zwanziger Jahre ausweitet. Denn die Figur von Curtius definierte sich auch durch den Kontrast zu diesem Milieu. Er pflegte, wie Rothe ausführt, einen «durchaus großzügigen Lebensstil» (69), ließ sich mit der Taxe zur Uni fahren, bezahlte aus eigener Tasche eine Privatsekretärin und -assistentin, Frau Eva Mertens, die spätere Proust-Übersetzerin, mietete sich, etwa zur Bewirtung des Ehepaars Mann, eigens einen Lohndiener an, pflegte auswärts in Hotels der obersten Kategorie abzusteigen, wirkte als Professor ohne Bart, mit Hornbrille, Anzügen aus englischem Schnitt dandyhaft provozierend gegenüber den eher puritanischen Kollegen. Er werde sich immer bewußter, so schrieb er an Max Rychner, daß er nicht <dazugehöre,: «Für mich besitzt eben die Wissenschaft nicht jene Wertordnung, die meine Collegen ihr einräumen(...) Der Kosmos des Geistes ist für mich kein Museum, sondern ein Garten, in dem ich wandere und Früchte breche (...) Ich will frei sein, in hellen Sommernächten im Neckar baden oder Freunde sehen, auch wenn tausend Kränzchen oder Congresse an dem Abend tagen.» (89). So pflegte er Geselligkeit in einem kleinen Kreis selbstgewählter Freunde, richtete sich auch bei den Studenten eher an eine kleine Elite. Während der zwanziger Jahre schrieb Curtius weniger in wissenschaftlichen Organen, sondern vor allem in Blättern, die im Dienste der deutsch-französischen Verständigung standen. Dieser Aspekt wird im vorliegenden Band vor allem in einem Beitrag von ROBERT PICHT in sehr positiver Weise gewürdigt, ohne daß die Aporien der Verständi- 11 W. LEPENIES, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, München 1985: 392-93. 12 H.M. BocK, «Die Politik des <Unpolitischen>. Zu Ernst Robert Curtius' Ort im politischintellektuellen Leben der Weimarer Republik», lendemains 59 (1990), 20. 13 E.R. CuRTIUS 1965: 5. Besprechungen - Comptes rendus 305 gungskonzeption von Curtius angesprochen werden. Schon 1924 war Curtius zu den berühmten Tagungen in Pontigny eingeladen worden; ab 1926 beteiligte er sich am <Deutsch-Französischen Studienkomitee>, das der Luxemburger Industrielle Emile Mayrisch, der Gründer des Arbed-Stahlkonzerns, eingerichtet hatte, bei dem nicht nur er und Gide, sondern Paul Desjardin, Gundolf und insbesondere Rathenau teilnahmen 14• Weinrich bewundert in diesem Zusammenhang die «ruhige Würde» -im Gegensatz zu den heftigen Ausfällen Thomas Manns -, mit der Curtius das neue Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich definierte, wenn er etwa schrieb: «Erst wenn man Deutschland wieder zu hören wünscht als unentbehrliches und unersetzliches Glied der europäischen Lebensgemeinschaft: erst dann können wir eine Hoffnung für die Wiederherstellung des geistigen Europas erblicken. Solange wir dieses Zeichen nicht erblicken, ist Zurückhaltung für uns das einzige Gebot» (142). Gide, den Curtius in Colpach kennengelernt hatte, reagiert darauf durchaus positiv: «Enfin une voix d'outre Rhin nous encourage et nous rassure.» Die sich daraus entwickelnde lebenslange Freundschaft zwischen Gide und Curtius trug nach Weinrich auch zu dem wachsenden Interesse des französischen Schriftstellers an Deutschland bei. Curtius betonte indes, daß in Frankreich die Kriegszerstörungen auf dem Gebiete des Geistes deutlich zu spüren seien. Das neue Lebensgefühl, das damals die starren rationalistischen Konventionen zerbrach, sei zersetzt worden. Der Haß gegen Deutschland habe durch den Krieg eine außerordentliche Stärkung erfahren. Die pazifistische Gruppe <Clarte>, der sich auch ein Heinrich Mann, Duhamel, Einstein angeschlossen hatten, wollte diesen Haß überwinden. Curtius kritisierte die Bewegung, wie R. Picht schreibt, aufs heftigste wegen des <rationalistischen Doktrinarismus>, dem Fanatismus des Gleichheitsgedankens. Wenn man nur Brücken über den Abgrund des Völkerhasses schlagen könne «unter der Verpflichtung auf die schalen Dogmen eines Aufklärer-Vereins, unter der Verleugnung aller Tiefen und Höhen des Geistes, dann wollen wir nichts damit zu schaffen haben» (152). Curtius lehnte die nationalistische und die internationalistische Variante ab, plädierte für «ein leidenschaftsloses sachliches Durchdringen der nationalpsychologischen und kulturbiologischen Tatbestände», für ein organizistisches Europa-Konzept im Sinne der «deutschen Art» Goethes, Adam Müllers, Rankes. Damit sind auch die Referenzpunkte des konservativen Denkens klar benannt. In der doppelten Ablehnung des nationalistischen und des internationalistischen Ansatzes wußte sich Curtius mit Gide einig. Ihm gegenüber sprach er sich für einen Dialog aus zwischen «besten Geistern beider Nationen», die sich finden würden auf einer Basis, die sie beide teilten: «eine kosmopolitische (nicht internationalistische) europäische Gesinnung auf dem Fundament eines unbefangenen und unverzerrten nationalen (nicht nationalistischen) Gefühls» (160). Man hätte noch mehr betonen müssen, daß dieser geistesaristokratische Dialog zwischen den «besten Geistern» kaum tragfähig war, weil er nicht die Begegnung der Völker intendierte, wie das der Internationalismus suchte, sondern bloß die der Eliten im Zeichen des Kosmopolitismus 15• Robert Picht fragt sich, ob man die wachsende «Trennung von Geist und Politik» in den Gesprächen von Curtius mit den französischen Schriftstellern nicht als «ein erstes Zeichen von Desillusion» (162) deuten könne. Ich würde meinen, daß das -elitäre - Konzept als solches zum Scheitern verurteilt war. 14 Siehe dazu auch CHR. DRÖGE, «Ernst Robert Curtius und Colpach», Galerie 6 (1988), 26-36. 15 Siehe dazu auch J.JURT, «Sprache, Literatur, Nation, Kosmopolitismus, Internationalismus. Historische Bedingungen des deutsch-französischen Kulturaustausches», in: Le Fram;;ais aujourd'hui: une langue ii comprendre. Melanges offerts a Jürgen Olbert, Frankfurt 1992: 230--41. 306 Besprechungen - Comptes rendus In seinem Beitrag über das Deutschlandbild von Curtius hebt HARALD WEINRICH zu Recht hervor, daß dieses wesentlich durch das Verhältnis zu Frankreich geprägt war. Seine Vorstellung von Deutschland orientierte sich deutlich an räumlichen Kategorien etwa an der Ost-West-Achse des unsäglichen Nadler und operierte mit «rücksichtslosen Ausgrenzungen » (137), war eindeutig westdeutsch orientiert, mit dem Dreieck Straßburg, Heidelberg, Bonn als Kern. Da die große Verständigungsgeste der Franzosen unterblieb 16 , orientierte sich Curtius zunehmend vom Westen nach Süden. Diese Wende ist ablesbar in seiner Schrift Deutscher Geist in Gefahr aus dem Jahre 1932, in der er ausführt, es gebe in Frankreich keine fruchtbare Bewegung mehr, die «uns mitreißen könnte » . Für das Ensemble von Formqualitäten, die Frankreich repräsentiere, könnten die jungen Deutschen kaum empfänglich sein. «Wer der Abkehr von Frankreich das Wort redet, hat aber noch lange nicht das Recht, einen geistigen Protektionismus zu verordnen. Schaltet man die fruchtbare Spannung zwischen deutschem und französischem Geist aus, so muß man erst recht dafür Sorge tragen, daß uns auf anderem Wege die Verbindung mit der klassischen und christlichen Substanz des abendländischen Geisteslebens bewahrt bleibt. Wer den Weg nach Paris abschneidet, muß den Weg nach Rom öffnemP. Curtius fährt dann fort, die Frage, ob die französische oder die italienische Kultur die lateinische Idee verkörpere, sei nunmehr geklärt: «Seit dem Sieg des Faschismus hat die Romidee eine Renaissance erlebt. » 18 ! Daraus ergebe sich zwangsläufig, «daß die nationalistische Jugend Deutschlands, sofern sie überhaupt kulturelle Ziele in ihr Wollen einbezieht, genötigt ist, Italienisch zu lernen und sich an der großen Kultur Italiens zu bereichern» 19. Wenn H. Weinrich dann schreibt, diese Schrift von Curtius sei «höchstens eine ganz blasse Warnung vor dem Faschismus » (145), so trifft das mindestens für die italienische Variante nicht zu; diese wird ja zur Restauratorin der Romidee erklärt. Zuzustimmen ist H. Weinrich, wenn er schreibt, Curtius erweise sich hier «politisch ziemlich ahnungslos hinsichtlich der Gefahr, die dem deutschen und nicht nur dem deutschen Geist wirklich drohte » (145). Der Begriff des ,deutschen Geistes> wird von Weinrich von Richard Wagner hergeleitet, der diesen in kulturellen Leistungen eines Bach oder eines Goethe verkörpert sieht, selbst wenn die Nation am Rande des Abgrundes stehe. In diesen Bahnen dachte auch Nietzsche, der darum nach 1871 die «Extirpation des deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reiches » befürchtete (147). Auch für Curtius war Goethe «die größte Gestalt des deutschen Geistes » , der «letzte Klassiker » ; nach ihm komme bloß mehr Hofmannsthal eine überragende nicht bloß literarische, sondern geistige Bedeutung zu, als «Verkünder einer neuen Einheit von Natur und Bildung » (147). In den Augen von H. Weinrich ist das Deutschlandbild von Curtius keineswegs stereotyp; er operiert allerdings fast durchweg kulturmorphologisch und läßt die politischen Strukturen und Traditionen der Nation außer acht. So verfügte Curtius nicht über Kategorien, die ihm eine Auseinandersetzung mit den schwerwiegenden politischen Umwälzungen der dreißiger Jahre erlaubt hätten. Eine Variante des kulturmorphologischen Ansatzes wurde von LEA RITTER-SANTINIS Beitrag «Im Raum der Romania - Curtius, Benjamin, Freud » herausgearbeitet. Die Auto- 16 Man müßte hier immerhin an die Locarno-Verträge, an die Begegnung von Briand und Stresemann erinnern; aber das war für Curtius wohl zu politisch. 17 E. R. CuRTIUS, Deutscher Geist in Gefahr, Stuttgart/ Berlin 1932: 47s. 18 Ib., p. 49. 19 lb., p. 50. Zur Schrift Deutscher Geist in Gefahr siehe auch D. HoEGES, «Emphatischer Humanismus. Ernst Robert Curtius, Ernst Troeltsch und Karl Mannheim: Von Deutscher Geist in Gefahr zu Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter», in: W.-D. LANGE 1990: 31-52, und K. SoNTHEIMER «Ernst Robert Curtius' unpolitische Verteidigung des deutschen Geistes», ib., 53-61. Besprechungen - Comptes rendus 307 rin betonte, daß in diesen Jahren nach Oswald Spengler die Reflexion über das Raumproblem und seine symbolischen Bezüge zu den Weltbildern der Kulturen das Denken beherrschte. L.Ritter-Santini und H. Weinrich entwickelten den interessanten Gedanken, daß Curtius in seinem räumlich geprägten Denken die These des von ihm bekämpften Soziologen K. Mannheim über die Affinität zwischen dem Raumerleben und konservativem Denken letztlich bestätigte. «Der Adel», so schreibt er [Mannheim], «denkt sich von Grund und Boden her, er ist ja Grund- und Boden-Adel, und in diesem Sinne darf man nicht vergessen, daß Curtius latent adlig war, und die latenten Adligen sind ja manchmal in ihrem Bewußtsein noch viel adliger als die manifest Adligen 20• Die Bürgerlichen und Liberalen hingegen», so fährt Mannheim fort, «haben ein entsprechend intensives Verhältnis zur Zeit» (178). In der Tat findet sich bei Curtius kein ausgeprägtes Geschichtsbewußtsein. CLAUS UttuG hebt dies in seinem Beitrag über E. R. Curtius und T. S. Eliot hervor 21• Eliot war mehr an einer transhistorischen Aufhebung der Zeit interessiert als an einer gegliederten Sukzession der Zeiten. Ganz ähnlich die biologistische Konzeption, die Curtius, etwa in Deutscher Geist in Gefahr, vertrat: «Es gehört zur Biologie der Kultur, daß Niedergang und Erneuerung sich ablösen. Ohne Verfall kann es auch keine Renaissance geben» (118) 22• Eine wesentliche Denkfigur ist so der Zyklus, die auch gegen die Wissenssoziologie Karl Mannheims - «das Währende durch allen Wandel hindurch» behauptete. Der «restaurative Mediävismus» ist nach C. Uhlig schon 1932 vorgegeben. Sowohl Eliot als auch Curtius denken anti-evolutionär, sehen nicht den Wandel, sondern die Variation konstanter Denkmotive. Hofmannsthal und Calder6n werden einem «zeitlosen Mittelalter» zugewiesen, einem katholisch-christlichen Weltbild, das nicht an eine Epoche gebunden sei. Im Sinne der These der «zeitlosen Gegenwart» sieht Curtius die Literatur der Vergangenheit als in der Gegenwart mit wirksam. Fixpunkt der Kontinuitätsthese, die sich gegen das «Trugbild der Evolution» wendet, die auch Analogien zu Toynbees zyklisch strukturierter Kulturmorphologie aufweist, ist für Curtius der abendländische Humanismus, für Eliot indes die anglikanische Religion. Nach Claus Uhlig ist die Einstellung zur Tradition von der jeweiligen Geschichtsphilosophie abhängig. Ob diese sich nun linearprogressiv oder zyklisch-regressiv artikuliere, sei nicht so sehr eine logische als vielmehr eine psychologische Notwendigkeit. So irenisch urteilt HANS-ULRICH GUMBRECHT in seinem Beitrag <«Zeitlosigkeit, die durchscheint in der Zeit. »> nicht. In seinen Augen können wir uns an Curtius' Gestalt bewußt machen, «was heute nicht mehr die Praxis der Literaturwissenschaft sein kann und sein soll» (227). Historisches Bewußtsein verstanden «als Asymmetrie zwischen (Vergangenheits-)Erfahrungen und (Zukunfts-)Erwartungen» (228) gehe Curtius ab. Als Konservativer affirmiere er die «dauernde Präsenz des Substantiellen» (229). Gumbrecht konsta- 20 Arnold Rothe zitiert einen Brief des jungen Curtius an seine Mutter Louise Curtius, geborene Gräfin von Erlach-Hindelbank, die aus französisch-schweizerischem Patriziat stammte. Er berichtet von jemandem, der ihm seinen Stolz auf die adlige Herkunft vorwarf: «II ne fallait pas etre fier de quelque chose qu'on n'avait pas acquis soi-meme. Que c'etait Ja une faiblesse. Mais moi je lui ai dit que tout au contraire c'etait une force. Que je ne m'enorgueillissais pas, que je ne me vantais jamais de mon origine, mais que certainement j'en etais tres, tres fier.» (59) 21 Siehe dazu auch L. HöNNIGHAUSEN, «Curtius, Eliot und der konservative Beitrag zum Modernismus», in: W.-D. LANGE 1990: 245-56. 22 Ganz ähnlich in seinem Rückblick 1952 auf die Wegbereiter: «Es ist das Gesetz alles geschichtlichen Geschehens, welches die Phasen von Entstehung, Wachstum, Differenzierung, Auflösung durchläuft (...) Diesem Phasengesetz wäre das neue Frankreich, wie es sich 1914 abzeichnete, auch ohne den Krieg verfallen» (Französischer Geist, p.520). 308 Besprechungen - Comptes rendus tiert Ende der zwanziger Jahre bei Curtius eine Richtungsänderung; der vorher latente Konservatismus werde nun zum Programm. Väter der <Modeme> wie Aragon, Joyce, Proust würden nicht mehr behandelt. Die Wende wurde nach Gumbrecht ausgelöst durch die Provokation eines neuen Denkens der Ent-Substantialisierung, wie er es bei Karl Mannheim gefunden hatte. Die Angst vor Ent-Substantialisierung als <geistiger Leere> habe den Substantialismus einer neuen Traditionspflege heraufbeschworen 23. Die Wende zum Mittelalter sei so nicht durch den Nationalsozialismus ausgelöst worden, sondern diesem vorausgegangen. «Selbstverständlich», schreibt Gumbrecht, «war Curtius Welten davon entfernt, mit dem Nationalsozialismus zu sympathisieren, und daß ihn die Nationalsozialisten ihrerseits für <unzuverlässig> hielten, ist mehrfach belegt. Freilich macht es diese Distanz, welche Curtius hielt eine Distanz aus Verachtung-, auch fraglich, ob er, wie Leo Spitzer meint, den Nationalsozialismus je als eine ernsthafte Bedrohung für seine so gerne übernommene Rolle eines Repräsentanten des europäischen und des deutschen Geistes erlebte» (234) 24. 23 W.-D.Lange wies in der Diskussion indes auf individualpsychologische Gründe hin, die die Wende zum Mittelalter bei Curtius motivierten. Curtius schrieb am 22. Dezember 1945 an Jean de Menasce: «In diesem Jahr - 1932 wurde ich durch tiefe Erschütterungen meiner Psyche in einen Zustand alternierender produktiver Spannung und schwerer Depression versetzt. Ich schrieb Deutscher Geist, brach dann zusammen, mußte Jung in Zürich consultieren. Es war eine schwere Krise, in der ich später die bewußte Antizipation des Grauens erkannte, das 1933 begann. Aus der Krise kam aber auch Heilung. Einern psychischen Zwang folgend warf ich mich auf das Studium der mittellateinischen Literatur (...) Es bedeutet psychisch die Polarisierung um die <Roma aeterna,. Sie wirkte in mir als Archetyp im Jungsehen Sinne, und d.h. zugleich als ein mit vielfältiger Bedeutung und Energie geladenes Symbol» (244). Ganz ähnlich in dem Entwurf zum Vorwort im Jahre 1945 zu Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter: «Eine zwingende seelische Notwendigkeit drängte mich zu einem Wechsel des Forschungsgebietes. Ich empfand das Bedürfnis, in ältere Zeiträume symbolisch gesprochen, so würde ich heute sagen, in archaische Bewußtseinsschichten zurückzugehen» (Kritische Essays, p.439). Die Analogie der Topoi von Curtius zu den Archetypen Jungs wurde im Kolloquium mehrmals angesprochen. Hinsichtlich der Rückwendung zur Antike über das Mittelalter wäre auch auf die Begegnung mit dem Kunsthistoriker Aby Warburg im Winter 1929 in Rom hinzuweisen, der dort sein Mnemosyne-Projekt vorstellte, das das Weiterleben der Antike untersuchen wollte. Curtius versuchte dies zu verwirklichen allerdings, um seine Kontinuitätsthese zu untermauern, währenddem es Warburg um die Funktion des Nachlebens antiker Formen in der modernen Welt ging. Curtius blieb mit den Mitgliedern des Warburg Institute in der Emigration in London in Kontakt. Der Briefwechsel ist nunmehr greifbar: D. WuTTKE (ed.), Kosmopolis der Wissenschaft. E.R.Curtius und das Warburg Institute. Briefe 1928 bis 1953 und andere Dokumente, Baden-Baden 1989. In seiner Besprechung dieses Bandes wies ULRICH RAULFF auf die unterschiedlichen Metaphern hin, mit denen die Warburg-Leute und Curtius den Prozeß der Überlieferung darstellten: «Die Emigranten im Umkreis der Bibliothek Warburg sprachen durchwegs von <Wanderstraßen der Tradition" von der ,Wanderung der Symbole>. Curtius hingegen sprach erst von <Verwurzelung> in der Tradition und zum Schluß von <Verwachsung,. Unbeschadet aller persönlichen Humanität und Integrität (...) blieb Curtius kraft der Metaphorik seiner Traditionsforschung im Umkreis derer, die auf <Bodenständigkeit> pochten und den andern ihre <Entwurzlung> vorwarfen» (F.A.Z., 16.März 1991). 24 Siehe dazu die Bemerkung von Maria von Rysselberghe über ein Gespräch von Curtius mit Gide über die Situation im deutschen Reich vom Jahre 1935: «Curtius avoue que ! es premiers temps [du nouveau regime] furent intolerables mais qu'on s'habitue et puisque la diminution des intellectuels permet une plus grande ferveur parmi les etudiants». ([MARIA voN RYSSELBERGHE], Les cahiers de la petite Dame, t. II: 1929-1937. Paris, 1974, p.432). Siehe dazu auch F.-R. HAUSMANN, «Les romanistes de Bonn et de Cologne face a la prise de pouvoir par ! es Besprechungen - Comptes rendus 309 H.-U.Gumbrecht beruft sich auf eine normative Vorstellung des historischen Bewußtseins, um zu zeigen, daß Curtius heute nicht mehr <geht>. In der Diskussion relativierte er allerdings diesen strikten Standpunkt; es gebe durchaus große Denkleistungen, die von denselben Aprioris ausgehen wie Curtius: etwa Levi-Strauss (245). Für Earl Jeffrey Richards <geht> aber Curtius durchaus heute noch: Mit der Betonung der Rhetorik, der rhetorischen Strategien, der Topoi nehme Curtius die Semiotik, die <archeologie du savoin Foucaults und sogar die <de-construction> vorweg. Das ging sogar dem so freundlichen Harald Weinrich zu weit. Als Strukturalisten <avant la lettre> könne man Curtius nicht bezeichnen: «Das, was seit Saussure das Strukturfeld konstituiert, ist die Negativität des sprachlichen Zeichens, das heißt die Differenzqualität eines Topos gegenüber anderen Topoi. Davon findet sich bei Curtius kein Anzeichen; diese Differenzqualität hat er nie wahrgenommen» (271). Der kleinste gemeinsame Nenner mit dem <Strukturalismus> ist negativer Natur: die Ausblendung der Geschichte. Die Frage, inwieweit Curtius' Ansatz für die heutige Literaturwissenschaft noch fruchtbar ist, ist letztlich nicht so relevant. Daß man heute noch soviel von ihm spricht und so viel über ihn schreibt, belegt immerhin seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. Daß ihm historisch diese Bedeutung zukam, liegt auch daran, daß er im intellektuellen Feld genau jene Rolle ausfüllte, die dieses Feld auch für die elitäre Selbstlegitimation bereithielt, die des Repräsentanten des <deutschen Geistes" eine Rolle, die von ihm auch verlangte, sich von einem engen, bloß fachbezogenen professoralen Selbstverständnis abzugrenzen 25. J. Jurt * nationalsocialistes en 1933. Deux etudes de cas comparatives», in: Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans ! es annees 1930, Paris 1993, und J.JuRT, «La romanistique allemande sous Je Troisieme Reich: attentistes, resistants, emigres», Actes de la recherche en sciences sociales 86/ 87, mars 1991: 125-28. Curtius, der während des III. Reiches überwintern konnte allerdings observiert durch einen germanistischen Kollegen, der ihn denunzierte, und die letztenMonate des Krieges auf der Flucht vor der SS (so W.-D. LANGE [244]) -, reagierte nach dem Krieg gereizt auf den moralischen Anspruch derjenigen, die das Exil gewählt hatten. Dazu noch einmalMaria von Rysselberghe über ein Gespräch von Curtius und Gide im Jahr 1937: «II est difficile de se rendre compte jusqu'a quel point Curtius souffre du regime hitlerien. Certes il en souffre (...) mais son temperament un peu passif considere ! es choses comme des fatalites historiques qu'il faut subir et il n'est pas loin de blämer Thomas Mann, qu'il aime et admire par ailleurs, de prendre aussi nettement position au lieu de simplement se taire. II lui reproche exactement de ne pas rester au-dessus de Ja melee, de manquer de grandeur dans son opposition» (Les cahiers de la petite Dame, t. III: 1937-1945, Paris 1975, p.38). Hinsichtlich der Weigerung ThomasManns, nach Deutschland zurückzukehren, äußerte sich Curtius in einem Brief vom 1.August 1947 so: «(...) il n'ira pas en Allemagne <pour ne pas se desolidariser avec l'emigration>. Je crois plutöt qu'il a peur. Je tächerai de lui faire voir Je tort qu'il se fait en se laissant accaparer par Ja soi-disante emigration (...)Mais c'est un homme qui aime ses aises» (H. et J. M. DrncKMANN [ed.], Deutsch-französische Gespräche, p.152). Zur Polemik gegen Jaspers siehe im vorliegenden Band auch den Beitrag von Rudolf Walter Leonhardt (13). 25 Relevant ist der Band des Heidelberger Kolloquiums auch, weil er die Diskussionen integral abdruckt reichesMaterial für eine Sozialgeschichte der wissenschaftlichen Enkel und Großenkel von Curtius. Hier wird nicht nur über Curtius debattiert. Curtius regt auch an, zur Reflexion über das eigene literaturwissenschaftliche Tun, über die Erfahrungen in der Lehre. Viel Anregendes, Persönliches, Anekdotisches und einiges, was man unter der Rubrik ,Jahrmarkt der Eitelkeiten> verbuchen kann.
